Stiefel raus! - Katharina von der Leyen

Transcrição

Stiefel raus! - Katharina von der Leyen
Nr. 50
DIE ZEIT
„LEBEN“
S. 69
SCHWARZ
CYAN
MAGENTA
GELB
69
Leben
Foto: Jens Schwarz für ZEIT Leben
DIE ZEIT Nr. 50 6. Dezember 2001
Finnlandisiert
Seit die traditionelle Papierfabrik
Haindl nach Helsinki verkauft wurde,
ist Augsburg von der Rolle
72
Stiefel
raus!
DICHTER DRAN
ABC-Schützen
Jetzt stehen sie wieder vor
der Tür. Eine Empfehlung,
nicht nur zum Nikolaustag
MORITZ RINKE, 34,
Schriftsteller, zuletzt: »Der
Blauwal im Kirschgarten«
VON KATHARINA VON DER LEYEN
as trägt man dieses Jahr? Ein einziges Wort
genügt. Alle Wege führen dorthin. Gehen
Sie nicht über »los«. Gehen Sie direkt zum
nächsten Schuhladen. Kaufen Sie Stiefel.
Kaufen Sie Stiefel, bevor Sie irgendetwas anderes kaufen.
Ohne Stiefel kommen Sie nicht durch den Winter.
Der Stiefel ist der Schuh der Saison. Keine Fessel soll
in diesem Jahr unverpackt bleiben: Stiefel für alle mit allem. Es spielt keine Rolle, welche Sorte Stiefel bevorzugt
Ihr Bein schmücken soll – Motorradstiefel, Reitstiefel, Militärstiefel, Cowboystiefel, Fuck-me-Stiefel, paillettenbesetzte Disco-Stiefel, Stiefel bis zum Oberschenkel, flache
Stiefel, Stiefel mit hohen, dünnen Absätzen, Stiefel mit
schweren Absätzen, Stiefeletten, Stiefel mit Spitze, Stiefel
mit Schnallen – Stiefel in jeder Form, in jeder Farbe, aus
jedem Material. Man trägt sie zu kurzen Röcken, langen
Röcken, zum Kleid und zur Hose sowieso. Stiefel sind das
wichtigste Kleidungsstück in diesem Winter.
Und das ist auch kein Wunder. Ich meine: Die Schuhe der letzten Jahre konnten ja beim besten Willen nicht
mehr kleiner werden. Das, was man in den letzten Jahren
unter die Fußsohlen schnürte, waren ja praktisch nur noch
Materialseufzer. Der Abendschuh der letzten Jahre? Eine
Sommersandale auf Absätzen. Als könnte die einen über
Eis und Matsch erheben. In Ermangelung eines vernünftigen Herbst- und Winterschuhs tat man also das ganze
Jahr so, als wäre Sommer. Und nun plötzlich von der Ahnung eines Schuhs zum voll verpackten Fuß, Knöchel und
Bein – die Kälte kann kommen. Die Kälte soll sogar endlich kommen: Stiefel sind nicht nur warm und praktisch,
sie nehmen auch »dem Outfit vom letzten Jahr das Tussihafte«, wie Exdesigner Wolfgang Joop erklärt. Und sie
rücken eine erotische Zone ins Blickfeld, die in den letzten Jahren völlig in Vergessenheit geraten war: Stiefel betonen das freie Stück zwischen Stiefelrand und Rocksaum
und lassen auf warme, glatte, ein bisschen feuchte Waden
hoffen, die sich irgendwann aus dem Stiefel schälen.
Stiefel sind ein Sexsignal, das weiß man ja seit Barbarella. Jede Frau, die einmal in Reitstiefeln einkaufen ging,
kennt das Phänomen: Man muss gar keine Reitpeitsche in
der Hand halten, um ein bisschen plötzlicher bedient zu
werden. Und je lebensgefährlicher der Absatz, desto nachhaltiger der Eindruck. Joop kennt sich da aus: »Alles, was
eine Frau behindert, finden Männer geil. Wenn sie da in
ihren spitzen, superhohen Pythonstiefeln steht, denkt der
Mann: Sie könnte darin leicht nach hinten kippen. Auf
ein Bett zum Beispiel. Alles bestens.«
Das ist natürlich ein Irrtum: Frauen in Stiefeln haben
Stehvermögen. In Stiefeln tritt einem so leicht keiner auf
die Zehen.
Es gibt in diesem Jahr sogar Stiefel für Frauen, die eigentlich keine Stiefel leiden mögen: Stiefel aus durchsichtigem Netz, in Gold oder Haut, mit Lederbändern, die direkt vom krummsäbeligen Absatz zur verletzlichen Kniekehle zu zeigen scheinen – oder Manolo Blahniks Spitzenstiefeletten, die gerade bis zum Knöchel gehen, schwarze
Spitze über den nackten Fuß gezogen, eine Art SpitzenString-Tanga für den Fuß, Lord have mercy.
Hatte man Ihnen auch diese Stiefelregeln beigebracht?
Dass beispielsweise die Stiefelhöhe von der Länge der Kleidungsstücke vorgegeben sei, die der Stiefel begleiten soll?
Also kniehohe Stiefel zum knielangen Rock, wadenhohe
Stiefel (klassische Cowboystiefelhöhe) für weite Röcke,
Stiefel, die übers Knie reichen, zum ultrakurzen Minirock
und nur wenn man ein ganz bestimmtes Gewerbe ausübt,
Stiefeletten zu ganz langen Röcken oder langen Hosen.
Und das Material der Kleidung bestimmte die Stiefelmachart: zu tweedigen langen Röcken flache Stiefel mit
vernünftigem Absatz, zu feineren, eleganteren Materialien
schmale, edle Stiefelchen, die handschuhartig am Bein sitzen, mit Killerabsatz.
Die meisten Frauen schätzen ja Moderegeln: Sie helfen
einem beim Einkaufen, sie verhindern, dass man inmitten
der vielen verschiedenen Trends der völligen Verwirrung
zu Opfer fällt. Und sie entledigen einen, Gott sei Dank,
der modischen Eigenverantwortung. Ich meine, hey, da
draußen herrschen die Gesetze des Dschungels.
Dieses Jahr werden allerdings alle Regeln über Bord geworfen, die man mal über Stiefel gelernt hat. Als einzige
Regel gilt noch: Ein Paar ist nicht genug. In diesem Jahr
passen Stiefel in allen Formen, Farben und Materialien zu
allem – und man läuft kaum Gefahr, des schlechten Geschmacks bezichtigt zu werden. Tom Ford zeigte bei Gucci seine kleinen schwarzen Holly-Golightly-Cocktailkleider mit glänzenden reptiliengemusterten Overknees mit
flachem Absatz. Keine Angst, der Auftritt könnte zu martialisch geraten: Man trägt flache Armeestiefel zu kleinen
Chiffon-Nebelschwaden, Stöckelstiefeletten zum schmalen Kleid und spitze Cowboystiefel-Motorrad-bootMischlinge aus abgewetztem Leder zum kurzen, engen
schwarzen Rock. Und zur Hose vorzugsweise wadenhohe
Stiefeletten mit Mörderabsatz oder – halten wir uns fest –
Hosen in die Stiefel. Wissen Sie noch? Lange genug war
das ein modisches no-no, jetzt ist es eine modische Epiphanie. So ändern sich die Zeiten. Mode ist nicht blöd.
W
Foto: Joachim Gern für ZEIT Leben
An der Petersberg-Konferenz im Jahre 2001 nahmen
teil: die Tadschiken, die Turkmenen, die Usbeken, die
Hazara und die Paschtunen. 1. Ordnen Sie die Teilnehmer und deren Interessen. 2. Erklären Sie, warum
dann doch am Ende die Amerikaner Afghanistan
kolonialisierten. 3. Mit wessen Hilfe? A: Turandot?
B: Thüringen? C: Thyssen? Oder D: Taliban?
Tja, wie das wohl sein wird, wenn in 100 Jahren die
Schüler in den Schulen sitzen – falls wir 2101 noch
Schüler haben werden –, und wie die dann in Geschichte die Petersberg-Konferenz durchnehmen, so
wie ich die Jalta-Konferenz von 1945 durchnehmen
musste? Vielleicht wird man auch im Leistungskurs
(LK) »Fundamentale Widersprüche der US-Außenpolitik« über Folgendes sprechen. Aufrüstung der Taliban, Kampf gegen die Taliban, Aufrüstung der Nordallianz, Kampf gegen die Nordallianz, wieder Aufrüstung der Taliban – und ab und zu wird ein Schüler aufstehen und sagen: »Herr Lehrer, ich versteh das
nicht?!«, und dann kriegt er eine Eins, falls der Lehrer noch ein Basis-Grüner ist, also, falls es die Grünen , mit oder ohne Basis, dann überhaupt noch gibt.
Besonders an den Kopf fassen werden sich die
Schüler in diesem LK: »Wie der radikale Islamismus
letzten Endes doch noch die Globalisierung mit ihren
eigenen Mitteln schlug!«, da müssen sie auch zum
besseren Verständnis die alten Schriften von SchollLatour im Original lesen oder in Deutsch die Apokalypse in Versen von Durs Grünbein, schließlich haben
wir uns auch durch Tacitus oder Seneca gequält.
Super ist auch der Bio-LK: 1. Wer gab den früheren
Menschen, nachdem ihnen die Globalisierung um die
Ohren geflogen war, auch noch auf biologisch-evolutionärem Sektor den Rest? A: Die eigenen Kinder?
B: Die ewigen Schinder? C: Die fremden Inder? D: Die
ganzen Rinder? Die richtige Antwort ist natürlich wie
schon bei »Taliban« D, weil die Menschen um die
Jahrtausendwende plötzlich mit einem Schlag BSE
(Bovine Spongiforme Enzephalopathie) verdrängten,
vergaßen, aber trotzdem aßen, und das hatten sie
nun davon: schwammartige Erkrankungen aller Gehirne! Sehr lachen werden sie auch im Kunst-LK, weil
die Deutschen auf den alten Gemälden jetzt irgendwie alle so idiotisch aussehen, da es nämlich der Sozialdemokrat Otto Schily 2005 tatsächlich per »law
and order« geschafft hatte, die Personalausweise
gleich auf die Stirn der Menschen zu tätowieren.
Es kam noch schlimmer. Die Schüler hatten nämlich
seit der 2001 vom Ethikrat verabschiedeten und dann
radikal weiterentwickelten Praxis des »therapeutischen Klonens« zwar schon genialerweise ab dem
Embryonalzustand ALLES genetisch intus: die Petersberg-Konferenz, die Globalisierung, die USAußenpolitik inklusive Islam, Scholl-Latour und
»Harry Potter« – dies aber brachte jetzt andere Probleme mit sich: Die CDU hatte zwar endlich für die
Bundestagswahl 2030 eine geklonte K-Lösung parat, aber das alte Wettbewerbs- und Benotungssystem von Eins bis Sechs im LK funktionierte nicht
mehr, weil ja alle sowieso eine Eins plus bekamen,
sodass man am Ende andere Mittel einsetzen musste, um herauszukriegen, wer der Beste war. Aber leider vernichteten sich dabei viele genauso wie zuvor
ihre ungeklonten Vorgänger. Schade, schade.
Kollateralschaden!
Nächste Woche schreibt an dieser Stelle:
Steffen Kopetzky
Fotos: Nico Hesselmann für ZEIT Leben
ANZEIGE
Schwarze Stiefel von Gucci vor ROTER AUFZUGTÜR
in einem Hochhaus am Leipziger Platz
Weiße Stiefel von Sigerson Morrisson
vor BLAUER DIXIEKLO-TÜR auf einer
Baustelle am Potsdamer Platz
Blumige Stiefel von Dolce & Gabbana vor der
TÜR EINES REIHENHAUSES in Westberlin
Goldene Stiefel von Karla Otto vor einer
WOHNUNGSTÜR in Prenzlauer Berg
Rote Stiefel von John Galliano
vor der GLASTÜR eines Plattenbaus
am Platz der Vereinten Nationen
Schwarze Schnürstiefel von Louis Vuitton auf
einem GULLYDECKEL am Potsdamer Platz
Nr. 50 DIE ZEIT „LEBEN“
S. 69
SCHWARZ
CYAN
MAGENTA
GELB

Documentos relacionados