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Impressum
® 2010, pro familia Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e. V., Bundesverband, Stresemannallee 3, 60596 Frankfurt am Main, Telefon
069 / 63 90 02, Telefax 069 / 63 98 52, E-Mail: [email protected], www.profamilia.de
Der pro familia-Bundesverband wird gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)
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Inhalt
Zum Thema ...................................................................................................... 5
Zusammenfassung ............................................................................................ 6
Ungleichheiten in sexuellen Beziehungen von Jugendlichen –
Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt „Schwangerschaft und
Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen Frauen“ ....................................... 7
Präventionsarbeit mit sozial benachteiligten Jugendlichen in pro familiaBeratungsstellen in Nordrhein-Westfalen.......................................................... 13
Sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte – Bildungsinhalte
zur Umsetzung des Achtungs-anspruchs auf sexuelle Selbstbestimmung .......... 18
Menschenrechtsbildung und Sexualpädagogik – Ansätze und methodische
Perspektiven für rechtebasiertes Empowerment in der Schule .......................... 24
Diskussion ...................................................................................................... 28
Literatur ......................................................................................................... 33
TeilnehmerInnenliste ....................................................................................... 34
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Zum Thema
Das Fachgespräch „Ungleichheiten in sexuellen Beziehungen von Jugendlichen und ihre
Auswirkungen auf das Verhütungsverhalten“ fand am 13. November 2009 in Frankfurt am
Main statt.
Fachleute aus Wissenschaft, der Sexualpädagogik und der Menschenrechtsbildung stellten
Erkenntnisse und Erfahrungen zum Thema vor und diskutierten die Folgen daraus für ein
geplantes sexualpädagogisches Projekt zur Prävention von Jugendschwangerschaften.
Ausgangspunkt für das Fachgespräch waren die Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt
„Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen Frauen“, das pro
familia gemeinsam mit dem Institut für Sexualforschung der Universität Hamburg zwischen
2005 und 2008 durchgeführt hat. Die Studie hat innerhalb der Gesamtgruppe der schwangeren jungen Frauen drei besonders vulnerable Gruppen benannt, in denen mehr Paare
gar nicht oder schlecht verhütet haben. Dies waren: 1. Paare aus einem Umfeld sozialer
Benachteiligung, 2. Paare, bei denen ein Machtungleichgewicht in der Partnerschaft besteht, das den jungen Frauen ein selbstbestimmtes Handeln erschwert, und 3. emotionale
und sexuelle Unvertrautheit der Partner.
Das geplante sexualpädagogische Projekt zur Vermeidung von Jugendschwangerschaften
soll sich an SchülerInnen in Haupt- und Förderschulen (bzw. an analogen Schulen) richten,
die besonders häufig aus einem Umfeld kommen, das von sozialer Benachteiligung geprägt
ist.
Die Vermittlung des rechtebasierten Ansatzes (sexuelle und reproduktive Gesundheit und
Rechte – SRGR) soll in den Mittelpunkt gerückt werden.
Durch die Betonung des Empowerment-Ansatzes in der Sexualpädagogik sollen die Rechte
des Einzelnen gestärkt und Ungleichheiten entgegengewirkt werden.
Im Workshop wurden folgende Fragestellungen bearbeitet:
Was kann man aus der Arbeit mit sozial benachteiligten Jugendlichen lernen insbesondere im Hinblick auf das Ziel, Jugendliche in ihrem Verhütungsverhalten zu
stärken?
Welche Veränderungsimpulse gehen für die Sexualpädagogik von dem SRGRAnsatz aus?
Wie können insbesondere Jugendliche aus sozial benachteiligten Kontexten mit
dem Rechtansatz erreicht werden?
Was kann die Sexualpädagogik aus der Menschenrechtsbildung lernen?
Das Fachgespräch war der zweite Teil in einer dreiteiligen Veranstaltungsreihe des pro
familia Bundesverbandes. Vorausgegangen war ein W orkshop mit SexualpädagogInnen
(Dokumentation des Workshops vom 5. September 2009 unter www.profamilia.de), den
Abschluss bildete ein weiterer Workshop.
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Zusammenfassung
Vier Referate spannten den inhaltlichen Bogen für die Diskussion im Fachgespräch.
Silja Matthiesen, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Studie „Schwangerschaft und
Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen Frauen“, erläuterte die Ergebnisse der Studie zum sozialen Umfeld und innerhalb welcher Beziehungskonstellationen Jugendliche
besonders häufig ungewollt schwanger werden.
Annelene Gäckle, Sexualpädagogin bei der pro familia Köln, berichtet aus der Projektarbeit
mit sozial benachteiligten Jugendlichen in Nordrhein-W estfalen und verknüpfte die praktischen Erfahrungen mit aktueller wissenschaftlicher Forschung. Jugendliche aus sozial
benachteiligten Kontexten – der Anteil an Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist hier
hoch – zeigen häufiger von Ungleichheit geprägte Vorstellungen der Männer- und Frauenrollen. Auch überholte sexuelle Moralvorstellungen sind in diesem Umfeld häufiger anzutreffen. Gleichzeitig haben diese Jugendliche nicht selten ein W issensdefizit in Bezug auf
Sexualität und Körper.
Daniel Kunz, Professor an der Hochschule Luzern, öffnete den Blick auf die sexuellen und
reproduktiven Rechte und skizzierte eine rechtebasierte Sexualpädagogik mit Bezug auf
die Charta der sexuellen und reproduktiven Rechte, die 1996 von der International Planned
Parenthood Federation (IPPF) formuliert wurde. Die hier formulierten sexualitätsbezogenen
Menschenrechte stellen den Bezugsrahmen für die pro familia. Sie fordern, schützen und
fördern die Gleichberechtigung der Geschlechter und eine selbstbestimmte Sexualität sowie die Menschenwürde und den Achtungsanspruch jedes Einzelnen in den Grenzen des
jeweils Anderen.
Sandra Reitz, Expertin für Menschenrechtsbildung bei Amnesty International und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Frankfurt, öffnete den Blick für die Parallelen
zwischen Menschenrechtsbildung (Amnesty International) und Sexualpädagogik. Die Ziele
der Menschenrechtsbildung sind Empowerment und Solidarität – das Erfassen der eigenen
Rechte, das Erlernen von Kompetenzen zur Durchsetzung dieser Rechte und die Solidarität
mit den Rechten Anderer. Methodisch sind dabei die folgenden drei Ebenen zu beachten:
die kognitive Ebene zur W issensvermittlung, die Einstellungsebene zur Vermittlung von
Werten und die Handlungsebene zur Vermittlung von Kompetenzen.
In der Diskussion wurde deutlich, dass die Konzepte und Methoden der Menschenrechtsbildung, wie die von Amnesty International, und die von der IPPF im „Framework for
comprehensive sexuality education“ formulierte sexualpädagogische Konzeption Parallelen
aufweisen. Bei der Gestaltung eines sexualpädagogischen Projektes, sollten deshalb beide
Konzeptionen aufeinander bezogen werden.
Aber im Gegensatz zu dem vielfältig vorhandenen didaktischen Material, das es zur Vermittlung „klassischer“ Menschenrechtsthemen (z. B. Todesstrafe, Recht auf Bildung und
Verbot von Kinderarbeit) gibt, sind ebensolche Materialien für sexualitätsbezogene Themen
nicht vorhanden – ganz besonders gilt das für besonders benachteiligte Jugendliche.
Es scheint wichtig und wünschenswert diese Lücke zu füllen. Das Material könnte die Ergebnisse und die Fallbeispiele aus der Studie „Schwangerschaften und Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen Frauen“ einbeziehen und mit der Praxis der Sexualpädagogik
verknüpfen (die bei dem Workshop vom 4.9.2009 beschrieben wurde). Bei der Entwicklung
und Evaluation neuer Programme sollte die Partizipation von Jugendlichen ein wesentlicher
Bestandteil sein.
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Ungleichheiten in sexuellen Beziehungen von Jugendlichen –
Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt „Schwangerschaft und
Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen Frauen“
Dr. Silja Matthiesen, Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie der
Universität Hamburg
Mein heutiger Vortrag behandelt Ungleichheiten in sexuellen Beziehungen und insbesondere die Frage, ob solche Ungleichheiten das Risiko minderjähriger Frauen, schwanger zu
werden, erhöhen. Die Daten, die ich im Folgenden vorstellen möchte, beziehe ich aus dem
Forschungsprojekt „Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen
Frauen“, das der pro familia-Bundesverband von 2005 bis 2008 zusammen mit dem Institut
für Sexualforschung der Universität Hamburg durchgeführt hat und das inzwischen publiziert vorliegt 1. Im Rahmen dieses Forschungsprojektes wurden knapp 2300 schwangere,
minderjährige Frauen, die Beratungsstellen der pro familia und des Diakonischen Werks
aufsuchten, in einer Kurzbefragung deutschlandweit befragt. Zusätzlich wurden Interviews
mit 62 minderjährigen Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch und mit elf Partnern
dieser Frauen geführt. Die quantitative Umfrage zielte darauf, Basisdaten zu erheben,
während die qualitative Studie eine Vertiefung erbringen und vor allem die Bedürfnisse von
Jugendlichen bei einem Schwangerschaftsabbruch näher beleuchten sollte.
Die Ergebnisse der Studie bestätigen Erfahrungen, die aus der Praxis bereits bekannt sind.
Das Risiko einer minderjährigen Frau, ungewollt schwanger zu werden, ist umso höher je
größer ihre soziale Benachteiligung ist. 2
Vorab sei noch kurz erwähnt, dass sozial benachteiligte, junge Frauen die Schwangerschaft deutlich häufiger austragen als Frauen mit guten Bildungschancen und stabilem
familiärem Hintergrund. Es ist leicht einsehbar, dass die Mutterrolle Frauen, die für sich
wenig Zukunftschancen sehen, weil sie keinen Schulabschluss oder Ausbildungsplatz haben, besonders attraktiv erscheinen kann, da sie ihnen eine Aufgabe und damit soziale
Akzeptanz beschert, manchmal sogar eine finanzielle Basissicherung oder einen Ausweg
aus oft schwierigen Familienverhältnissen. Es ist wichtig, die Situation dieser Frauen nicht
aus den Augen zu verlieren, wenn man sich näher mit der Verhütungsproblematik beschäftigt.
Die Korrelation zwischen sozialer Benachteiligung und Jugendschwangerschaft liegt nicht
etwa darin begründet, dass sozial schwache Frauen früh Kinder bekommen möchten, dies
lehrt die Studie, wo von 2278 Frauen nur 4 % angaben, dass sie gewollt schwanger wurden. Frauen aus Hauptschulen, Förderschulen oder ohne Schulabschluss haben allerdings
im Durchschnitt etwa sieben bis acht Monate früher ihren ersten Sex als die Vergleichsgruppe mit höheren Bildungsabschlüssen, wodurch sich die koitusaktive Zeit vor dem 18.
Geburtstag und damit das Risiko, schwanger zu werden, erhöht. Der zentrale Faktor für die
hohe Quote von Jugendschwangerschaften in diesem Milieu liegt jedoch im Verhütungsverhalten der Frauen begründet. Diese Zusammenhänge möchte ich im Folgenden näher
beleuchten.
1
Matthiesen/Block/Mi x/Sch mid t 2009.
Als Maß für soziale Benachteiligung wurde in der Studie auf Kriterien wie Schulbildung, Arbeits- oder Ausbildungsplatz bzw. Arbeitslosigkeit von Jugendlichen, deren Partnern und Eltern zurückgegriffen.
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7
Gründe für inkonsistentes Verhütungsverhalten
Beim Koitus, der zur Konzeption führte, haben 35 % der befragten Frauen schlecht verhütet, im Vergleich lässt sich in der Gesamtpopulation der 14- bis 17-Jährigen nur bei 5 %
inkonsistentes Verhütungsverhalten feststellen. Immerhin zwei Drittel der jungen Frauen,
die schwanger geworden sind, haben so genannte „sichere“ Verhütungsmittel, das heißt
Pille und / oder Kondom, angewandt, was darauf schließen lässt, dass Anwendungs- und
Methodenfehler in der Verhütung bei Jugendlichen häufig vorkommen, dass hier also ein
Informationsdefizit besteht. Dabei scheint die Pille im Vergleich zum Kondom das sicherere
Verhütungsmittel für diese Altersgruppe.
Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob es Bedingungen gibt, die ein unsicheres Verhütungsverhalten bei Jugendlichen befördern.
In der Studie wurde deutlich, dass sich mit zunehmender sozialer Benachteiligung der
Anteil derjenigen annähernd verdoppelt, die nicht oder unsicher verhüten. Innerhalb der
Gruppe sozial benachteiligter Frauen und Männer mit Ausbildungsplatz bzw. Arbeitsplatz
verhüten rund ein Viertel schlecht oder gar nicht, wenn aber beide Partner keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz haben, verdoppelt sich dieser Anteil fast und steigt auf 45%.
Ein zweiter Faktor, der schlechte Verhütung befördert, sind nicht-egalitäre Geschlechterverhältnisse. Innerhalb dieser Gruppe kann der Anteil inkonsistenter Verhütung von 35 %
bei allen Befragten bis auf 60 % ansteigen. An der Spitze dieser Gruppe stehen Paare, bei
denen der Sex männerdominiert, also massiv auf Initiative des Mannes oder sogar gegen
den W illen der Frau, zustande kam. Auch der kulturelle Hintergrund spielt hier eine Rolle:
So ist beispielsweise innerhalb der Gruppe der Musliminnen der Anteil derjenigen, die nicht
verhüten, erhöht (54 %) 3 und auch wenn die Frau oder ihr Partner aus einem Land mit
geschlechtertraditionellem Rollenverständnis (Osteuropa (nicht EU), Türkei, Afrika) stammen, wird häufiger nicht oder schlecht verhütet. Schließlich ist es auch in Beziehungen mit
großer Altersdifferenz, wenn die Frau deutlich jünger ist, offensichtlich schwieriger, Verhütung sicher zu organisieren (45 %).
Fallbeispiel: Cora 4, eine 16-jährige Gymnasiastin, wird mit ihrem festen
Freund schwanger. Er ist Tischler, 23 Jahre alt, und kommt aus einem
afrikanischen Land. Sie weiß nicht genau, bei welchem Sex es zur Konzeption kam, schildert aber im Interview sehr detailliert den ersten Sex
mit ihrem Freund. Der Freund überredet sie, das Kondom, das neben
ihnen liegt, nicht zu benutzen. Eigentlich möchte Cora mit Kondom verhüten, aber die Umsetzung dieser Intention beim Sex erfolgt nicht. „Ja,
also, so eigentlich bin ich ja generell erst mal für Verhütung. Das erste
Mal haben wir nicht verhütet und das war für mich total schlimm. Gerade das erste Mal, das war bei mir sowieso schrecklich. Die Kondome
lagen neben uns, aber T. hat halt gesagt: „Das ist schöner ohne.“ Ich
hab das bestimmt hundert Mal in der BRAVO gelesen und in der Schule
hatten wir das – Rausziehen ist keine sichere Methode. Aber wir haben
das halt immer so gemacht. Weil, das ist voll komisch, der kann irgendwie komisch drüber reden. Eigentlich bin ich überhaupt nicht dafür.
Aber er kann das irgendwie immer so gut, mich überreden: „Ja, ja, ich
nehme, ich nehme.“ Und dann ist er irgendwie drin und dann irgendwann sagt man halt nichts mehr.“ Cora schläft über einen längeren Zeit3
Dennoch ist i m Verhältnis zur Gesa mt bevölkerung der Anteil der Musliminnen bei den minder jährigen sch wangeren
Frauen nicht erhöht, weil Musliminnen im Schnitt z war häufiger nicht oder unsicher verhüten, aber auch später mit
de m Se x beginnen.
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Alle Na men wurden geändert.
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raum regelmäßig mit diesem Freund und die Initiative geht meistens
von ihm aus, sie fühlt sich nicht sehr wohl mit dieser sexuellen Beziehung, willigt aber ein, weil sie sehr verliebt ist und den Eindruck hat,
dass sie ihn sonst nicht halten kann. Coras Verhütungsabsicht scheitert
in dieser Geschichte vordergründig an der hartnäckigen Weigerung ihres Freundes, das Kondom zu benutzen. Aber es wird auch deutlich,
dass es Schieflagen oder Machtverhältnisse in dieser Beziehung gibt,
die mit dem großen Alters- und Erfahrungsunterschied – es ist ihr erstes Mal, er hatte schon viele Sexualpartner –, dem unterschiedlichen
emotionalen Engagement und auch den unterschiedlichen kulturellen
Hintergründen zusammen hängen.
Schließlich scheint auch sexuelle und emotionale Unvertrautheit der Partner das Misslingen von Verhütung zu befördern: Bei Sexualität außerhalb von festen Beziehungen, beim
Fremdgehen, One-Night-Stands, beim Seitensprung, wenn man den Partner erst kurze Zeit
kennt und beim ersten Sex mit jedem neuen Partner wird häufiger schlecht oder gar nicht
verhütet.
Fallbeispiel: Ines, eine 17-Jährige mit erweitertem Hauptschulabschluss, jobbt gerade und wartet auf ihren Ausbildungsplatz. Sie wird
von einem Jungen schwanger, in den sie sich außerhalb ihrer festen
Partnerschaft verliebt hat und mit dem sie eine Affäre anfängt. Auch er
hat eigentlich eine feste Beziehung mit einer anderen Frau. Nach wochenlangem Flirten kommt es an einem Abend, an dem beide recht viel
getrunken haben, dazu, dass sie miteinander schlafen. Ines ist einerseits sehr verliebt und sie fürchtet, den Jungen nicht halten zu können,
wenn sie nicht mit ihm schläft. Andererseits passt es nicht zu ihrem
Selbstbild, fremd zu gehen und ihren Partner zu betrügen. Über Verhütung hat sie in der Situation gar nicht gesprochen, sie sagt dazu: „Ja,
ich bin eigentlich auch so sehr zurückhaltend. Ich sage eigentlich gar
nichts.“ Sie traut sich nicht, das Thema Verhütung anzusprechen, weil
sie glaubt, dass der Partner keine Kondome nehmen möchte. Sie sagt
dazu: „Na ja, ich wollte es ja eigentlich, habe mich aber nicht getraut,
das zu sagen oder so, weil ich hab da noch nicht so viel Erfahrung und
ich hab gedacht, er wollte es nicht, also nicht mit Verhütung und so.“
Sie befürchtet, den Partner mit einem offensiv geäußerten Wunsch nach
Verhütung zu überfordern und zu verschrecken. Während des Geschlechtsverkehrs denkt sie noch: „Jetzt könnte es gerade passieren“,
spricht ihre Befürchtung aber nicht aus. Die „Pille danach“ kennt sie
nicht. Mit ihrem Freund verhütet sie mit Kondomen, für die aber er zuständig ist. Ines hat in all dem, was sie erzählt hat, wenig Motivation
erkennen lassen, sich selbst aktiv um Verhütung zu bemühen.
„Verhütungskarrieren“
Bisher ging es um das Verhütungsverhalten bei dem einen Koitus, bei dem die von uns
befragten jungen Frauen schwanger wurden, die Studie sagt aber darüber hinaus auch
einiges über das übliche Verhütungsverhalten dieser jungen Frauen aus. Im Mittelpunkt
sollen im Folgenden nicht Frauen stehen, die sich nur dieses eine Mal nachlässig verhalten
haben, sondern Frauen, die von Beginn ihrer sexuellen Aktivität an bis zur Befragung dauerhaft keine zuverlässige Verhütung aufbauen konnten, die also in jungen Jahren schon
negative „Verhütungskarrieren“ hinter sich haben. Die permanente Unfähigkeit, adäquat für
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Verhütung zu sorgen, tritt, auch das wurde in der Studie deutlich, auffällig häufig in besonders schwierigen sozialen und familiären Verhältnissen auf, gekennzeichnet durch Konflikte in der Beziehung zu Eltern und Familie, Fremdunterbringungen und Heimaufenthalten,
Erfahrungen mit Gewalt oder sexuellem Missbrauch in Partnerschaft oder Elternhaus, auffälligen Schullaufbahnen und wenig oder keinen Perspektiven für die berufliche Zukunft.
Die Vernachlässigung der Verhütung war dabei insbesondere an Probleme in folgenden
Bereichen gekoppelt:
Wenn junge Frauen oder ihre Partner Probleme mit der Sexualität haben, kann dies
leicht dazu führen, dass sie die Verhütung vernachlässigen.
Fallbeispiel: Carola wird mit ihrem 17-jährigen Freund schwanger, mit dem
sie seit neun Monaten zusammen ist. Die Beziehung ist für sie sehr wichtig,
sie fühlt sich von ihrem Freund geliebt und hofft, auch dauerhaft mit ihm
zusammen zu bleiben. Ihre vorherige, erste Beziehung war sehr unglücklich. Ihr Ex-Freund war drogenabhängig und hat Carola gezwungen, sich
für ihn zu prostituieren. Im Rahmen dieser erzwungenen Beschaffungsprostitution ist sie ein Mal vergewaltigt worden. Das Gerichtsverfahren, in dem
sie in diesem Zusammenhang aussagen muss, steht noch aus. Nach dieser
extrem belastenden Erfahrung wollte Carola eigentlich keine Beziehung
mehr eingehen, trotzdem hat sie sich in ihren Freund verliebt und ist zurzeit sehr glücklich mit ihm. Carola und ihr Freund haben in den neun Monaten ihrer Beziehung bis zur Konzeption nie verhütet. Die Pille wollte sie
nicht nehmen, weil sie davon deutlich zugenommen hat, sie hatte das ausprobiert. Kondome kamen nicht in Frage, weil sie fürchtete, ihren Freund
damit zu überfordern. Beim ersten gemeinsamen Sex, der für ihn der erste
Sex überhaupt war, wollten sie mit Kondomen verhüten und das hat nicht
geklappt. Sie beschreibt nicht explizit, was nicht geklappt hat, aber es
klingt an, dass der Freund Erektionsschwierigkeiten hatte, die mit der Aufregung in der Situation des Ersten Males zusammenhing. Nach diesem
Versuch kommen Kondome für beide nicht mehr in Frage. Obwohl Cora sexuell erfahren und über Verhütung informiert ist, spricht sie mit ihrem
Freund nicht darüber. Sie hat Angst angesichts seiner massiven Scham
und Versagensangst, ihn zu überfordern.
Wenn junge Paare problematische und unsichere Beziehungen haben, in denen
manchmal auch Gewalt eine Rolle spielt, scheint die Sorge um adäquate Verhütung
nachgeordnet.
Fallbeispiel: Britta (17 Jahre, Realschulabschluss, berufsvorbereitendes
Jahr) weiß nicht genau warum und wann sie schwanger geworden ist. Sie
vermutet Wechselwirkungen mit Medikamenten (Kreislauftropfen) oder unregelmäßige Einnahme der Pille. An das Wochenende, an dem sie vermutlich schwanger wurde, kann sie sich nicht genau erinnern. Sie war mit ihrem Freund und anderen Freunden unterwegs und hat sehr viel getrunken.
Sie hält es für möglich, dass der Alkohol die Wirkung der Pille beeinflusst
hat. Mit ihrem Freund hat sie hin und wieder mit Kondom verhütet, wenn
sie die Pille vergessen hatten. Ihren jetzigen Partner lernte sie über ihren
Ex-Freund kennen. Es ist ihre zweite feste Beziehung. Sie ist sehr konfliktreich und von kurzzeitigen Trennungen begleitet. Im Laufe der letzten Monate wurde Britta zweimal von ihrem Freund geschlagen. Nach solchen und
ähnlichen Krisensituationen kam es zu sexuellen Kontakten mit ihrem ExFreund und anderen Partnern. Britta spricht emotionslos über diese sexuellen Erlebnisse. Bei ihrem ersten Geschlechtsverkehr verhütet Britta mit
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Kondom, kurz darauf lässt sie sich die Pille verschreiben. Britta hat schon
mehrfach ohne Verhütung mit unterschiedlichen Partnern geschlafen. Mit
15 Jahren wurde Britta das erste Mal mit ihrem Ex-Freund schwanger. Britta erfährt erst von dieser Schwangerschaft, als es nach wenigen Wochen
zur Fehlgeburt kam.
Wenn junge Frauen in schwierigen Familienkonstellationen oder überhaupt in problematischen Lebensverhältnissen leben, wird sichere Verhütung zu einem nachrangigen
Problem.
Fallbeispiel: Keisha hat die Hauptschule abgebrochen, sie lebt bei ihrer
Mutter, die Eltern sind seit einem Jahr getrennt. Sie bezeichnet sich
selbst als Problemkind, sie wird gegenwärtig von keiner Schule mehr aufgenommen. Ihr Vater hat eine neue Freundin und mit dieser ein Baby. Die
Mutter ist vor Kurzem mit ihrem Freund zusammen gezogen, mit dem sich
Keisha nicht versteht. Im Zusammenhang mit der Trennung ihrer Eltern
ist sie jetzt etwa seit einem Jahr unterwegs. Sie war erst bei ihrer Mutter,
dort eskalierten die Konflikte, dann ging sie zu ihrem Vater, dort hieß es,
sie hätte geklaut, so dass sie seit einiger Zeit bei ihrem Bruder lebt, der
sehr streng ist, weswegen sie zu ihrer Mutter zurück möchte. In diesen
Verhältnissen gelingt es ihr nicht, sich regelmäßig um Verhütung zu
kümmern, gleichzeitig sind ihre Partnerschaft und ihr Freund für sie sehr
wichtig und die einzige Stütze, die sie hat.
Wenn junge Menschen in hoch problematischen Verhältnissen leben und sich Schwierigkeiten gegenüber sehen, die sie alleine nicht bewältigen können, wie dies in unseren Fallbeispielen so plastisch deutlich wurde, scheint die Sorge um Verhütung – und damit ein Stück
weit auch die Sorge um sich selbst – hinter schwerwiegenderen Problemen zurückzutreten.
Ein Modellprojekt
Abschließend möchte ich noch kurz einige Vorschläge machen, welche Richtung meiner
Ansicht nach ein auf den Erkenntnissen der Studie basierendes Modellprojekt zur Prävention von Jugendschwangerschaften nehmen sollte.
Zielgruppe einer solchen Präventionsmaßnahme sollten junge Frauen aus Haupt- und Förderschulen sein, Schulabbrecherinnen und Frauen, die nicht mehr bei ihren Familien leben,
sowie deren Partner.
Zur Vorbereitung eines Präventionsprojektes im genannten Bereich sollte man sich über
folgende Fragen klar werden:
Wie finde ich Zugang zur Zielgruppe, um die betroffenen Frauen und ihre Partner mit
Informationen und Kompetenzen auszustatten und dadurch Anwendungsfehler bei Pille
und Kondom, als Hauptgrund für ungewollte Schwangerschaften Minderjähriger, zu reduzieren?
Wie kann ich die Jugendlichen darin beraten, ein für sie geeignetes Verhütungsmittel
zu finden? Gerade Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen sind oft nicht
in der Lage, Pille und Kondom konsistent zu nutzen.
Welche Planungs- und Organisationshilfen kann ich den Frauen und Männern zur
Verfügung stellen? Bei der dauerhaften und erfolgreichen Verhütung mit der Pille ist
eine hohe Planungskompetenz gefragt, die Frauen, die andere gravierende Probleme
in ihrem Leben haben, häufig nicht aufbringen können.
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Wie kann ich diesen Frauen und Männern Kommunikations- und Interaktionskompetenzen vermitteln? Häufig sind die Jugendlichen nicht in der Lage, ihre Interessen dem
Partner gegenüber zu artikulieren und die Interessen des anderen anzuerkennen.
Wie kann ich Jugendliche für Machtungleichgewichte zwischen den Geschlechtern
sensibilisieren? Durch emotionale oder finanzielle Abhängigkeiten oder rollenspezifische Prägungen entstehen Machtungleichgewichte, die die Frauen darin behindern, ihre Position auch in Verhütungsfragen dem Partner gegenüber durchzusetzen.
Abschließend ist es mir noch ein Anliegen, darauf hinzuweisen, dass wir uns auch der
Grenzen sexualpädagogischer Arbeit bewusst sein sollten. In der Studie wurde deutlich,
dass überdurchschnittlich häufig diejenigen minderjährigen Frauen schwanger werden,
denen sich in verschiedenen Lebensbereichen schwer wiegende Probleme entgegen stellen, die in prekären sozialen Umständen leben, keine familiäre Unterstützung erfahren, die
kaum Zukunftschancen für sich sehen, weil sie in der Schule versagen, keine Ausbildung
und keinen Arbeitsplatz haben. Mögliche Lösungsansätze sind in solchen Fällen eher in
der Bildungspolitik, der Arbeitsmarktpolitik und Ausbildungsförderung zu suchen als in
sexualpädagogischen Programmen.
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Präventionsarbeit mit sozial benachteiligten Jugendlichen
in pro familia-Beratungsstellen in Nordrhein-Westfalen
Annelene Gäckle, Dipl. Sozialpädagogin und Mitarbeiterin
(Sex education and family planning) pro familia Köln
Mit meinem heutigen Vortrag möchte ich einen Beitrag aus der Praxis sexualpädagogischer
Arbeit mit sozial benachteiligten Jugendlichen leisten und damit die wissenschaftlichen
Erkenntnisse, die meine Vorrednerin in Bezug auf das Verhütungsverhalten dieser Jugendlichen so überzeugend dargelegt hat, um eine Komponente aus der Praxis bereichern.
Präventionsangebote in Nordrhein-Westfalen
Sowohl in der praktischen sexualpädagogischen Arbeit als auch aus der wissenschaftlichen
Studie über Jugendschwangerschaften 5 wird deutlich, dass sozial benachteiligte, junge
Frauen und ihre Partner besonders dringend Informationen und Kompetenzstärkung im
Bereich Sexualität und Familienplanung benötigen. Dem treten die Beratungsstellen in
Nordrhein-W estfalen mit Präventionsangeboten im Bereich von Familienplanung und sexualisierten Übergriffen entgegen.
In Nordrhein-W estfalen entwickelte sich in den vergangenen drei bis vier Jahren eine breite
Landschaft an Präventionsprojekten, die das bestehende Spektrum sexualpädagogischer
Arbeit in den Beratungsstellen deutlich erweiterten. Auch aufgrund der eben vorgestellten
wissenschaftlichen Studie über Teenagerschwangerschaften gab es aus dem öffentlichen
Bereich Finanzierungsmöglichkeiten für Projekte dieser Zielrichtung, allerdings leider meist
nur befristet.
Als Beispiele möchte ich folgende drei längerfristig angelegte Projekte nennen:
Das Baby-Bedenkzeit-Projekt in Köln-Chorweiler (20 Stunden / W oche, Baby-CareGruppen, Präventionsarbeit für potentielle Mütter und Väter);
das Projekt für sozial benachteiligte Mädchen in Bonn (10 Stunden / W oche, Arbeit mit
Mädchen in Haupt- und Förderschulen);
mein Projekt „Was geht“ in Köln (10 Stunden /Familien- und Lebensplanung, primär
Mädchen, Arbeit in Haupt- und Förderschulen)
sowie folgende kürzere oder einmalige Projekte:
Das Filmprojekt „Ketchup-Effect“ in Bochum und Köln;
einmalige Aktionen in Schwimmbädern in Aachen und Köln: Dr. Hochsommer mit „Mein
Körper gehört mir“;
Teilhabe an kommunalen Youth-W ork-Angeboten oder bundesweiten Aktionen, wie die
Aktion „Komm auf Tour“ (BZgA) zur Förderung der Berufswahl.
Ein wichtiges Charakteristikum dieser Präventionsmaßnahmen ist, dass sie sich im Vergleich zu den klassischen sexualpädagogischen Angeboten der Beratungsstellen meist
mehr Zeit für die Arbeit mit den Jugendlichen nehmen. Dadurch lässt sich der Beziehungsaufbau stärken und Diskussionen über individuell-emotionale und soziale Fragestellungen
werden möglich. Der inhaltliche Fokus dieser Projekte liegt auf dem Erlernen sexueller
Rechte (Selbstbestimmtheit von Sexualität), der Möglichkeiten und Grenzen bei sexuellem
5
Matthiesen, Block, Mix, Schmidt 2009.
13
Mobbing oder Jugendpornographie und der Vermittlung grundlegender Informationen zu
Sexualität und Fruchtbarkeit. Bei den Jugendlichen sollen Eigenverantwortung und sexuelle Autonomie gestärkt werden. Analog der personellen Ausstattung richten sich einige
Angebote nur an Mädchen, grundsätzlich ist aber ein Aufbruch zu koedukativen Angeboten
zu beobachten, da so der partnerschaftliche Austausch gefördert und erlernt werden kann
(so beispielsweise beim Baby-Care-Projekt).
Faktoren für Ungleichheiten in sexuellen Beziehungen
Wie in der Studie „Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen
Frauen“ deutlich wurde, erleben wir auch in der täglichen sexualpädagogischen Arbeit die
Gruppe der sozial benachteiligten Jugendlichen mit deutlichen strukturellen Unterschieden
in ihren sexuellen Beziehungen im Vergleich zu anderen Gruppen. Im Folgenden möchte
ich diese Unterschiede aus meiner Sicht kurz benennen, gegliedert nach gesellschaftlich
vorgegebenen, beziehungsrelevanten und individuell bestimmten Faktoren.
Extrapersonale Faktoren
Die Jugendlichen in den Haupt- und Förderschulen erleben im Gegensatz zu den Schülerinnen und Schülern der weiterbildenden Schulen eine deutlich verkürzte Postadoleszenz. 6
Sie treten nach der Schule direkt in die Ausbildung oder in eine ausbildungsfördernde
Maßnahme ein und führen in dieser Zeit wenige, aber ernsthafte Beziehungen. In Gesprächen mit Jugendlichen aus sozial schwachem Umfeld höre ich oft, dass aufgrund dieser
frühen Ernsthaftigkeit in Beziehungen auch eine potentielle Elternschaft nicht prinzipiell
abgelehnt wird. Die gesellschaftlich vorgegebene Notwendigkeit einer konsequenten Verhütung erschließt sich den Mädchen damit nicht zwangsläufig, da sie diese zum Teil emotional nicht nachvollziehen können.
Jugendliche aus sozial benachteiligtem Milieu besuchen häufiger Haupt- und Förderschulen als Jugendliche aus anderen Schichten, auch wenn ihr Potential eigentlich eine andere
Schulkarriere erlauben würde. 7 Aufgrund des niedrigen Bildungsabschlusses finden sie
anschließend häufig schwerer eine Lehr- oder Arbeitsstelle, manchmal sogar gar nicht. In
dieser Situation kann die Alternative der Familiengründung insbesondere für Frauen in
frühen Jahren bestimmend werden: Die Mutterrolle gibt ihrem Leben einen Sinn und bringt
ihnen gesellschaftliche Anerkennung. Hinzu kommt, dass diese Jugendlichen häufig die
Familienbiographie nachleben: Sie übernehmen ein tradiertes Rollenverhalten, das den
Vater zum Ernährer und die Mutter zur Hausfrau bestimmt. Auch dieses Denken kann unbewusst zu inkonsistentem Verhütungsverhalten beitragen.
Zudem ist der Anteil an Jugendlichen mit Migrationshintergrund an den Haupt- und Förderschulen in Nordrhein-W estfalen sehr hoch, dies bedingt ein breites Spektrum unterschiedlicher kultureller und religiöser Wertvorstellungen, die wiederum großen Einfluss auf Beziehungsgestaltung und Familienplanung haben. So gibt es zum Beispiel das Jungfräulichkeitsgebot bei sehr katholischen und muslimischen Jugendlichen, eine starke Familienorientierung in der Herkunftsfamilie, die Ablehnung von Schwangerschaftsabbruch als Mord,
aber auch der Adoption. Da die Jugendlichen zumeist wenige wertneutrale Informationen
haben, können sie kaum eine selbstbestimmte Haltung entwickeln und übernehmen die
kulturell und religiös geprägte Sexualmoral aus dem Freundes- und Familienkreis. In diesem Umfeld kann das Reden über Sexualität noch immer ein Tabu darstellen.
6
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Zu diesem Abschnitt Heß-Meining/Tölke 2005, S. 215 ff.
Shell-Jugendstudie 2006.
Jugendliche aus sozial benachteiligtem Umfeld sind hingegen meiner Erfahrung nach häufig mit den Fiktionen von Sexualität vertraut, wie sie in Pornofilmen verbreitet werden.
Auch wenn dies im wissenschaftlichen Diskurs häufig anders beschrieben wird, erlebe ich
in der Praxis gerade bei Jugendlichen ohne sexuelle Erfahrungen zum Teil eine große
Verwirrung; sie haben offensichtlich Probleme damit, die sexuelle Fiktion in diesen Filmen
als solche zu entlarven. Da in den meisten Pornos Verhütung und die Verbindung von
Sexualität und Fertilität keine Rolle spielt, kann auch dies Auswirkungen auf das Verhütungsverhalten haben.
Interpersonale Faktoren
Neben den strukturellen Einflüssen der Gesellschaft als Ganzes begegnen wir in der Arbeit
mit sozial benachteiligten Jugendlichen wichtigen individuellen und beziehungsrelevanten
Faktoren, die sich als Ungleichheiten in sexuellen Beziehungen niederschlagen.
Die Studie hat verdeutlicht, dass häufiger schlecht oder gar nicht verhütet wird, wenn die
Partner emotional nicht miteinander vertraut sind. Auch in der sexualpädagogischen Arbeit
zeigt sich, dass eine gelungene Kommunikation über W ünsche in der sexuellen Interaktion
eine Hürde gerade für sozial benachteiligte Jugendliche darstellt. Aus Scham und Angst
scheuen die Jugendlichen ernsthafte Auseinandersetzung über Themen der Sexualität und
Verhütung und nehmen stattdessen zu Ausreden Ausflucht („Der Mann kümmert sich
schon“, „Beim ersten Mal kann man nicht schwanger werden“, „Die Pille muss ich nur ein
Mal nehmen, dann bin ich komplett geschützt“ oder „Rausziehen soll man nicht machen,
dann lasse ich es ganz“).
Erfahrungen aus den Projekten mit sozial benachteiligten Jungendlichen zeigen zudem,
dass in diesem Milieu deutliche geschlechtsspezifische Macht- und Ohnmachtsverhältnisse
bestehen. Den Jungen wird klischeehaft unterstellt, dass sie mehr sexuelle Erfahrungen
haben und deswegen den Ablauf von Sexualität bestimmen können, den Mädchen wird
hingegen die langfristige Familienplanungsmacht zugeschrieben („Er hat ja dann die Erfahrung und weiß, wie Sex geht“, „Sie dreht mir dann das Kind an und ich muss zahlen.“)
Demgegenüber wird die eigene Macht in der Geschlechterbeziehung gar nicht wahrgenommen. Insbesondere bei den Jungen ist die Kultur des Nein-Sagens zu wenig ausgebildet. Die Sorge um Verhütungsmittel wird zumeist nicht gemeinsam getragen – unsichere
Frauen überlassen sie gerne dem Mann, bei längeren Beziehungen liegt sie eher beim
weiblichen Part 8 – und dadurch wird Verhütung zwangsläufig weniger sicher, aber auch ein
Faktor für Machtungleichheiten in der Beziehung.
Intrapersonale Faktoren
Manche Faktoren, die Ungleichheiten in sexuellen Beziehungen von sozial benachteiligten
Jugendlichen befördern, sind im Wissen und in den Einstellungen der Jugendlichen selbst
begründet.
So ist Wissen über die Abläufe ihres Körpers und über ihre Fruchtbarkeit bei diesen Jugendlichen zwar vorhanden, aber in wichtigen Punkten geschlechtsspezifisch verteilt und
es gibt deutliche Wissenslücken. Besonders Jugendliche aus einem Elternhaus mit niedrigem Bildungsniveau haben häufig keinen Vertrauens- oder Ansprechpartner für sexuelle
Fragen. 9
8
9
BZgA 2006, S. 103 ff.
BRAVO-Studie 2009 und BZgA 2006.
15
Aus diesen Gründen gelingt es diesen Jugendlichen häufig erst spät, ein Bewusstsein über
den Zusammenhang von Fertilität und Sexualität zu entwickeln, was direkte Auswirkungen
auf ihr Verhütungsverhalten hat. Auch eine selbstbestimmte Auswahl der Verhütungsmittel
ist unter solchen Umständen kaum möglich, da die Jugendlichen meist nur darauf zurückgreifen können, was ihnen von ihrem direkten Umfeld empfohlen wird. Besonders im Bereich des W issens um sexuelle und reproduktive Rechte besteht ein deutlicher Unterschied
zwischen Mädchen und Jungen.
Strategien für die Präventionsarbeit
Für die Präventionsarbeit mit sozial benachteiligten Jugendlichen möchte ich aus meinen
praktischen Erfahrungen heraus einige Anregungen geben, die vielleicht für das geplante
rechtebasierte Modellprojekt zur Prävention von Jugendschwangerschaften wichtig sein
könnten.
In der Präventionsarbeit sollten wir strukturelle Benachteiligungen mit den Jugendlichen
reflektieren und dabei eine Perspektive entwickeln, die auch das jeweilige Umfeld, Eltern,
Beziehungen, die strukturell limitierenden Vorgaben beachtet. Im Zentrum des Projektes
sollte die Rechte- und W issensvermittlung zur Egalisierung des Geschlechterverhältnisses
stehen sowie die Förderung der sexuellen Mündigkeit beider Partner und eine Mentalität
der gegenseitigen Unterstützung.
In der Praxis bietet sich zur Umsetzung dieser Ziele ein Drei-Schritte-System an:
1.
Im ersten Schritt werden konkrete Lebenssituationen abgefragt, in denen die Jugendlichen sexuelle Ungerechtigkeit gespürt oder sich erfolgreich dagegen zur W ehr gesetzt
haben. Dieses Vorgehen ist bei sozial benachteiligten Jugendlichen besonders wichtig,
da sie nur begrenzt für abstrakte Gedanken und Wissenskonstrukte zugänglich sind.
2.
Im zweiten Schritt erfolgt dann die kognitive Vermittlung der sexuellen und reproduktiven Rechte, die auf die Erfahrungen der Jugendlichen abgestimmt sein sollte. Methodisch ist es hier wichtig, Selbstlernverfahren oder Peer-to-Peer-Vermittlung zu initiieren, um die mitgebrachten Kompetenzen der Jugendlichen einzusetzen und zu stärken.
3.
Im dritten Schritt kann dann die Kompetenzerweiterung erfolgen: Die Jugendlichen
sollen darin unterstützt werden, ihre sexuellen Beziehungen selbstbestimmt zu gestalten. Dies kann beispielsweise durch Übungen zu sozialem und partnerschaftlichem
Verhalten erfolgen, zur Stärkung des bewussten „Ja-Sagens“ bei Mädchen und des
bewussten „Nein-Sagens“ bei Jungen oder zur Achtung der eigenen Rechte, aber auch
der Rechte der Anderen. Methodisch sollten wiederum die Alltagssituationen der Jugendlichen Ausgangspunkt für die Übungen sein auf Grundlage einer ernsthaften, die
Lebenswelten der Jugendlichen respektierenden Gesprächshaltung.
Aus meiner Sicht ist innerhalb eines solchen Präventionsprojektes auch die Möglichkeit
des Diskurses zwischen den Geschlechtern, also das Arbeiten in gemischtgeschlechtlichen
Kleingruppen ein wichtiger Aspekt, der das Erlernen geschlechtsspezifischer Macht- und
Ohnmachtsverhältnisse erweitert. Dennoch sollte der bewährte Ansatz geschlechtsspezifischer sexualpädagogischer Arbeit weiter bestehen bleiben.
Ein zentraler Punkt für das Gelingen eines Präventionsprojektes in diesem Bereich scheint
mir eine erweiterte Projektzeit. Nur so ist das Aufbauen einer Beziehung zu den Jugendlichen möglich und damit neben der Wissensvermittlung auch die Diskussion und Reflexion
sozialer und emotionaler Faktoren – hier bieten sich organisatorisch Veranstaltungsreihen
an.
16
Dabei sollte stets beachtet werden, dass Jugendliche aus sozial schwachem Umfeld häufig
eher eine Lernbegabung im praktischen Bereich mitbringen, zum Teil begegnen wir in den
Förderschulen auch konkreten Lerneinschränkungen. Die Veranstaltungen müssen also
konkret erlebbar, methodisch dicht, inhaltlich eher einfach und gerne auch repetitiv konzipiert sein.
17
Sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte –
Bildungsinhalte zur Umsetzung des Achtungsanspruchs auf sexuelle Selbstbestimmung
Prof. Daniel Kunz, Diplomsozialarbeiter, Hochschule Luzern – Soziale Arbeit,
Luzern (Schweiz)
Mein heutiger Vortrag wird zunächst die Entwicklung und Formulierung der sexuellen und
reproduktiven Rechte als Teil der Menschenrechte kurz skizzieren, um dann einige Beispiele für den argumentativen Einsatz dieser Rechte innerhalb der Sexualerziehung anzuführen. Schließlich soll ausgehend von der theoretischen Konzeption einer umfassenden
Sexualerziehung, wie sie die International Planned Parenthood Federation (IPPF) vorgelegt
hat, gezeigt werden, wie ein rechtebasierter Ansatz in der Sexualpädagogik bei pro familia
meiner Ansicht nach aussehen könnte, der im praktischen Handeln nachvollziehbar und vor
allem nützlich und hilfreich in der Arbeit des Gesamtverbandes wäre.
Einführung: Sexuelle Rechte als Menschenrechte
Die UN-Bevölkerungskonferenz, die 1994 in Kairo stattfand, hat Sexualität, Reproduktion
und Gesundheit mit den allgemeinen Menschenrechten verknüpft. Im Zentrum der Diskussion stand in Kairo in diesem Zusammenhang erstmals nicht das Bevölkerungswachstum
der Staaten, sondern der individuelle Anspruch eines jeden Menschen, selbstbestimmt
Sexualität zu leben, über den Zeitpunkt von Reproduktion zu entscheiden und zu diesem
Zweck frei von Zwang und Diskriminierung aufgrund familiärer oder institutioneller Eingriffe
Dienstleistungen aufzusuchen. Dies bedeutete einen fundamentalen Paradigmenwechsel:
weg von Verhütungspolitik als Steuerungselement des Bevölkerungswachstums und hin zu
einem Menschenrechtsansatz, bei dem das Individuum in seiner Selbstbestimmtheit im
Zentrum steht. So wurde beispielsweise in Kairo auch erstmals das Recht von Jugendlichen auf Sexualaufklärung breit abgestützt anerkannt.
Auf dem Hintergrund der Ergebnisse von Kairo hat die IPPF eine Charta der sexuellen und
reproduktiven Rechte erstellt, die 1996 in Englisch erschien und 1997 in der deutschen
Übersetzung publiziert wurde. Diese Charta stellt für alle Mitglieder der IPPF, also auch für
pro familia, den Bezugsrahmen, innerhalb dessen sie den sexuellen und reproduktiven
Rechten gesellschaftlich zum Durchbruch verhelfen und ihre Einhaltung schützen und einfordern.
Zehn Jahre später wurde basierend auf den sexuellen und reproduktiven Rechten die
IPPF-Erklärung zu den sexuellen Rechten entwickelt, die einen speziell auf die Sexualität
bezogenen Orientierungsrahmen formulierte. In der IPPF-Erklärung zu den sexuellen Rechten sind die reproduktiven Rechte subsumiert – hier floss die zuvor häufig geäußerte Kritik
ein, dass es auch sexuelle Praktiken und Verhaltensweisen fern der Reproduktion gäbe.
Die IPPF-Erklärung setzt sich für eine W elt ein, in der Geschlecht und Sexualität nicht
mehr Ursache von Ungleichheit und Stigmatisierung sind:„Zur Erreichung des bestmöglichen Gesundheitsstandards müssen Menschen in der Lage sein, über ihr sexuelles und
reproduktives Leben selbst zu entscheiden und das Gefühl haben, ihre eigene sexuelle
Identität frei und selbstbewusst ausdrücken zu können.“ 10 Hier wird deutlich, dass sexuelle
Rechte sexualitätsbezogene Menschenrechte sind. Sie stellen somit Rechtsansprüche dar,
die den Respekt vor und die nachhaltige Verwirklichung von einem Anspruch auf Gleichberechtigung der Geschlechter sowie eine individuelle, selbstbestimmte Sexualität, frei von
10
18
IPPF 2009 a, S. 5.
Zwang und Ausbeutung, einfordern, fördern und schützen. Die sexuellen Rechte der IPPF
beruhen auf grundlegenden, internationalen Menschenrechtsabkommen, Erklärungen und
anderen internationalen Standards, in denen Rechtsansprüche in Zusammenhang mit der
menschlichen Sexualität enthalten sind beziehungsweise aus denen solche abgeleitet
werden können. Die Menschenrechte haben unsere Gesetze schon mehrfach grundlegend
beeinflusst, ich erinnere nur an die „Mutter aller Menschenrechtsdokumente“, die allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, auf der auch das deutsche Grundgesetz fußt,
oder an die UN-Kinderrechtskonvention, die sich deutlich im deutschen Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) spiegelt.
Ebenso wie die Menschenrechte können die sexuellen Rechte auf zwei Ebenen betrachtet
werden: einerseits vom juristischen Blickwinkel aus als Rechtsgewährleistungen und andererseits – und diese Sicht möchte ich im Folgenden näher beleuchten – als Idee, d.h. Bildungsinhalt und ethischer Bezugsrahmen, zur Vermittlung dieser rechtlichen Ansprüche.
Sexuelle Rechte als Menschenrechte sind Mittel zur Durchsetzung und zum Schutz der
Menschenwürde. 11 Die Menschenwürde beinhaltet den Achtungsanspruch eines jeden Einzelnen – alle Menschen sollen die Möglichkeit haben, in gleichem Maße anders sein zu
können. Hier geht es also nicht etwa, wie häufig unterstellt, um eine Normierung der Kinder
und Jugendlichen, sondern gerade um den Schutz sexueller Vielfalt, in den Grenzen des
Gegenübers und der Gesellschaft, frei nach Plato: „Es ist das Glück des Menschen, ein
Anderer unter Gleichen zu sein.“ Hinzu kommt außerdem das Bewusstsein vom Recht auf
aktive Gestaltung des eigenen Lebens bei gleichzeitiger Einhaltung der Rechte Anderer.
Hier hat der Menschenrechtsansatz einen emanzipatorischen Charakter, der Imperativ
heißt: „Du kannst dein Leben wagen! “ Gemeint ist hier auch ein Bewusstsein für das
Durchsetzen von situativen Rechten im Alltag beziehungsweise der Schutz vor Machtmissbrauch durch Eingriffe anderer Individuen und Organisationen und das Bewusstmachen von
Unrechtserfahrungen.
Die Menschenrechte haben also eine doppelte Funktion: Sie dienen der Durchsetzung der
Rechte und gleichzeitig dem Schutz der Menschenwürde. Die Menschenwürde stellt die
Basis für Freiheit und Gleichheit dar. Der zentrale Bildungsinhalt für die Vermittlung von
sexuellen und reproduktiven Rechten steht für: „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das
füg‘ auch keinem Anderen zu.“
Sexuelle Rechte und Sexualpädagogik – konkrete Anknüpfungs-punkte
Die sexuellen Rechte fordern Schutz, Förderung und Respekt für den Einzelnen: Sie schützen das Individuum vor Unrechtserfahrungen und Machtübergriffen Dritter, fördern Individualität, damit es so sein kann, wie es ist, bei gleichzeitigem Respekt vor der Individualität
der Anderen.
Anhand einiger Beispiele möchte ich vorstellen, was dieser rechtebasierte Ansatz für die
sexualpädagogische Arbeit konkret bedeuten kann.
In der Schweiz soll eine flächendeckende, schulische Sexualerziehung für Kinder und Jugendliche vom vierten bis zum fünfzehnten Lebensjahr im Lehrplan verankert werden, ein
Projekt, an dem ich selbst mitarbeite. Das Projekt wird inhaltlich und formal heiß diskutiert,
so führen beispielsweise Themen wie Homosexualität und Schwangerschaftsabbruch zu
Widerstand und Einspruch von bestimmten gesellschaftlichen Gruppierungen, obwohl diese
Aspekte gesetzlich eindeutig geregelt sind. Innerhalb dieser Diskussion sind die sexuellen
Rechte für uns Bezugspunkt und Argumentarium, zumal sie belegen, dass schulische Se11
Vgl. zum Folgenden Bielefeldt 2007.
19
xualerziehung nicht fakultativ ist. Konkret werden von uns folgende Argumente in die Diskussion eingebracht: 1. Schutz: Die sexuellen Rechte schützen die Kinder und Jugendlichen vor Nicht-Information im Bereich menschlicher Sexualität; 2. Förderung: Die sexuellen
Rechte fördern die Kinder und Jugendlichen in ihrer Mündigkeit, so dass sie mit Hilfe einer
altersadäquaten und faktenbasierten Sexualerziehung sowie durch das Bewusstsein ihrer
Rechte informiert handeln können; 3. Respekt: Die sexuellen Rechte respektieren eine
altersadäquate Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in der Umsetzung der Inhalte in
den Lehrplänen und gleichzeitig die Grenzen des Gegenübers.
Ein weiteres Beispiel ist die vor drei Jahren in Deutschland geplante Strafrechtsreform zur
Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie, durch die
das Schutzalter auf 18 Jahre angehoben werden sollte 12. Der Rückzug des Gesetzesentwurfs wurde aufgrund fachlicher Einwände von Nicht-Regierungs-Organisationen und wissenschaftlichen Gesellschaften erreicht. Diese griffen in ihrer Argumentation auf die sexuellen Rechte beziehungsweise die Menschenrechte zurück: Die sexuellen Rechte schützen
die Jugendlichen vor einem unverhältnismäßigen, staatlichen Eingriff in ihre altersadäquate
Entwicklungsphase, sie schützen das Recht der Jugendlichen auf Sexualität unter Gleichaltrigen und damit fördern sie die Jugendlichen in ihrem Recht, selbstbestimmt und einvernehmlich sexuelle Erfahrungen machen zu können. Der Respekt vor den sexuellen Rechten
der Jugendlichen diente als Argument für die Aufforderung, den Entwurf zurückzuziehen,
was dann auch passierte.
Deutlich wird an diesen beiden Beispielen, dass die sexuellen Rechte konkrete Auswirkungen auf die Gestaltung von Sexualität in der Gesellschaft und die sozialen Verpflichtungen
von Sexualität haben, was wiederum konkrete Auswirkungen auf die Sexualpädagogik
haben sollte.
Im Fokus der heutigen Veranstaltungen stehen Ungleichheiten in sexuellen Beziehungen
Jugendlicher, da es innerhalb solcher Beziehungen laut der neuesten, heute Vormittag
bereits breiter vorgestellten Studie über Jugendschwangerschaften häufiger zu ungewollten
Schwangerschaften Jugendlicher kommt 13. In einer solchen Konstellation werden verschiedene sexuelle Rechte verletzt, die ich nachfolgend überblicksartig aufzeigen möchte. Zum
Beispiel: das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit (Art. 3 der IPPFErklärung), das Recht auf individuelle Selbstbestimmung (Art. 5) und das Recht auf freie
Entscheidung für oder gegen die Ehe und für oder gegen die Gründung und Planung einer
Familie sowie das Recht zu entscheiden, ob, wie und wann Kinder geboren werden sollen
(Art. 9).
Ich möchte dies an einige Zahlen und Fakten der erwähnten Studie anbinden. 24 % der
jungen, schwangeren Frauen, die in der Studie befragt wurden, suchten erst nach der 12.
Woche eine allgemeine Schwangerschaftsberatung auf, einige dieser Frauen hatten sich
bewusst für ein Kind entschieden, aber immerhin ein Drittel hatte gar keine anderen Optionen, da sie die Schwangerschaft erst nach Ablauf der 12-Wochen-Frist bemerkt hatten. In
diesen Fällen könnte das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit betroffen
sein. Diese Frauen sahen sich genötigt, eine ungewollte Schwangerschaft auszutragen,
woraus eine Überforderung und schwere Selbstzweifel resultieren könnten, da sie sich
nicht in der Lage sehen, bereits die volle Verantwortung für ein Kind zu tragen. Durch fehlende materielle Möglichkeiten könnten weitere körperliche und psychische Belastungen
entstehen. Auch das Recht auf individuelle Selbstbestimmung könnte verletzt werden, da
die eigenen Perspektiven und Entwicklungen (Schule / Lehre / Ausbildung) durch die
Schwangerschaft beeinträchtigt sein könnten bzw. die jungen Frauen in Abhängigkeiten
12
13
20
Zeitschrift für Sexualforschung, 2008, S. 181-184.
Mathiesen/Block/Mix/Schmidt 2009.
von Familie oder Jugendamt und deren Transferleistungen geraten. Ihr Recht auf eigene
Entwicklung haben interessanterweise viele Frauen aus den qualitativen Interviews der
oben genannten Studie, die sich für einen Abbruch entschieden haben, als Begründung
ihrer Entscheidung genannt und damit eine sehr selbstbewusste Einsicht in ihre Rechte
offenbar gemacht. Das Recht auf freie Entscheidung für oder gegen die Ehe und für oder
gegen eine Familiengründung wird in den heute Morgen schon näher bezeichneten Gruppen mit geringer Schulbildung, die in prekären sozialen Verhältnissen leben, häufiger als in
anderen Gruppen angetastet. In diesem sozialen Umfeld treten Konzeptionsrisiken laut der
Studie auffällig häufig innerhalb von nicht egalitären Geschlechterverhältnissen auf (männerdominierter Sex, geschlechtertraditoneller kultureller Hintergrund, große Altersdifferenzen); dort wird besonders oft gar nicht oder schlecht verhütet, es fehlt an Wissen über
Verhütungsmittel beziehungsweise über die „Pille danach“.
Abschließend sei erwähnt, dass sich viele dieser Rechtsverletzungen auch auf den Kindsvater beziehen ließen, denn auch auf ihn kommen Vaterpflichten zu, die sein Recht auf
seelische Unversehrtheit beschneiden können, dies nur um dem häufig erhobenen Vorwurf
vorzubeugen, sexuelle Rechte seien Frauenrechte.
An diesen Punkten kann eine Sexualpädagogik ansetzen und durch entsprechende sexualpädagogische Lehrinhalte und -methoden den jungen Menschen zu ihrem Recht verhelfen
– eine solche rechtebasierte Konzeption möchte ich im Folgenden näher ausführen.
Sexuelle Rechte und Sexualpädagogik – ein Konzept und seine Realisierung
Eine rechtebasierte sexualpädagogische Konzeption rückt Individuen in ihrer Lebensumwelt in den Mittelpunkt und befähigt sie durch Bildungsinhalte, ihre sexuellen Rechte in den
Grenzen ihres Gegenübers wahrzunehmen und zu akzeptieren sowie Verantwortung für
das eigene Handeln in Partnerschaft und Gesellschaft zu übernehmen. Pädagogische Arbeit in diesem Sinne entspricht gleichzeitig dem ethischen Bezugsrahmen von pro familia
als Menschenrechtsorganisation, die sich für sexuelle und reproduktive Gesundheit einsetzt, so dass sich die theoretische Grundlage in der praktischen Arbeit spiegeln würde.
Der Fokus einer solchen Sexualpädagogik läge stärker auf so genannten lebenskundlichen
beziehungsweise gesellschaftlichen Aspekten. In der sexualpädagogischen Praxis würden
Ungleichheiten in sexuellen Beziehungen faktenbasiert zum Thema gemacht und Wege zu
einer einvernehmlichen Ausgestaltung sexuellen und partnerschaftlichen Verhaltens aufgezeigt.
Die IPPF hat eine solche Konzeption unter dem Begriff einer umfassenden Sexualerziehung bereits entworfen. Eine umfassende Sexualerziehung ist laut IPPF unter anderem ein
Werkzeug des Empowerments Jugendlicher, es dient der Unterstützung im Verständnis
ihrer Rechte und Rollen als junge Frauen beziehungsweise Männer und gibt ihnen Möglichkeiten an die Hand, aktiv Verantwortung für die individuelle Sexualität und Entwicklung
zu übernehmen und dabei die Rechte und Grenzen Anderer wahrzunehmen und zu respektieren. Die IPPF nennt sieben essentielle Inhalte, die dieser Grundidee entsprechen: Gender (soziales Geschlecht), sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte, inkl. HIV und
AIDS, „sexual citizenship“ (sexuelle Bürgerrechte), Lust, Gewalt, Vielfalt und Beziehungen.
21
Diese Inhalte ordnen sich wiederum in einen übergeordneten gesellschaftlichen Rahmen
ein, entsprechend müssen zum erfolgreichen Erhalt sexueller und reproduktiver Gesundheit laut IPPF folgende vier Ansätze sexualpädagogisch vermittelt werden: der rechtebasierte, der gender-sensitive, der citizenship-orientierte und der sexualitätspositive Ansatz. 14
Diese von der IPPF entworfene, theoretische Konzeption möchte ich nun auf die sexualpädagogische Praxis der pro familia beziehen.
Die Sexualpädagogik bei pro familia ist im Bereich der sexualitätspositiven Gestaltung
stark. Die Sexualpädagoginnen und Sexualpädagogen vermitteln eine positive Haltung zur
Sexualität, sie stellen sexuelle Lust als Bereicherung des persönlichen W ohlbefindens und
Glücks dar und dies auch für Gruppen, die häufig unter Diskriminierungen zu leiden haben.
Auch beim gender-sensitiven Ansatz hat pro familia deutliches Potential: Die Sexualpädagoginnen und Sexualpädagogen leiten die Jugendlichen an, sich mit den sozialen Faktoren
von Geschlecht und tradierten Rollenzuschreibungen kritisch auseinanderzusetzen; dabei
sind die jeweiligen geschlechtsspezifischen Sichtweisen im Rahmen der sexualpädagogischen Arbeit gut und ausführlich formuliert. Es wäre jedoch zu wünschen, dass die Zielformulierungen in der Arbeit mit geschlechtsheterogenen Gruppen stärker diskutiert und deutlicher in den Veröffentlichungen von pro familia kommuniziert würden.
Bei pro familia scheint mir hingegen der citizenship-orientierte Ansatz weniger beachtet,
der die Förderung von Fähigkeiten des kritischen Denkens und verantwortungsvollen Handelns beinhaltet – innerhalb von Beziehungen aber auch in Beziehung auf die Gesellschaft.
Sexualität ist nicht nur eine biologische Steuerung der Lust, sondern hat auch soziale Verpflichtungen. Heute sind hohe kommunikative Kompetenzen und eine ausgeprägte Verhandlungsmoral die Voraussetzung für eine einvernehmliche, d. h. beidseitig bejahte, Sexualität. Diese Kompetenzen sollten durch die sexualpädagogische Arbeit gestärkt werden.
An Gewicht gewinnen könnte auch der rechtebasierte Ansatz bei pro familia, der die zentralen W erte und Prinzipien der Menschenrechte und verbindliche Rechtsansprüche vermitteln und damit die individuelle sexuelle Selbstbestimmung, die Gleichbehandlung und Möglichkeiten der Mitbestimmung garantieren soll. Viele Bereiche, die der rechtebasierte Ansatz beinhaltet, sind in Deutschland schon in Gesetzen fixiert, so die Gleichwertigkeit der
Geschlechter und der sexuellen Orientierungen sowie der Schutz vor sexueller Gewalt,
aber beispielsweise auch, dass Kinder und Jugendliche über den Bereich, der sie betrifft,
selbst bestimmen können (KJHG, § 8). Dies sollte an die Jugendlichen weitergegeben
werden.
Um eine umfassende Sexualerziehung im Sinne der IPPF zu erreichen, bedarf es der Stärkung des citizenship-orientierten und des rechtebasierten Ansatzes bei pro familia. Eine
solche Neubewertung sexualpädagogischer Arbeit würde auch den Abschied von der ausschließlichen Idee bedeuten, das Individuum aus seiner gesellschaftlichen und sexuellen
Unmündigkeit zu befreien, wie sie die emanzipatorische Sexualpädagogik vertrat und bis
heute vertritt. Mein Vorschlag wäre hingegen, das Individuum zu befähigen, mit der Freiheit
und Gleichheit, auch im Sexuellen, einvernehmlich im Rahmen individueller und gesellschaftlicher Grenzen umzugehen. Der Gedanke, dass sexuelle Vielfalt als Teil der Menschenwürde Achtung und Schutz verdient, bedeutet auch eine Neukonnotation des Themas
sexuelle Selbstbestimmung. Teilweise scheint sich dieses Umdenken unter Jugendlichen
und jungen Erwachsenen bereits vollzogen zu haben, so entsprechen beispielsweise in der
aktuellen Studie über Jugendschwangerschaften die jugendtypischen Sexualmuster in
vielem dem Konzept, das in den 1990er Jahren von englischen und amerikanischen Soziologen als „intimate citizenship“ entworfen wurde: Männer und Frauen begegnen sich auf
14
22
IPPF 2009 b, S. 3-8.
Augenhöhe und beanspruchen die gleichen Rechte, auch wenn dies in der Realität nicht
immer gleich gut gelingt.
Fazit
„Die Freiheit ist ein gutes Pferd, aber man muss wissen, wohin man es reiten will“
(Matthew Arnold)
Eine Sexualpädagogik unter Berücksichtigung des rechtebasierten Ansatzes trägt dazu bei,
dass Kinder und Jugendliche mündige und freie Bürgerinnen und Bürger werden, die den
Wert des menschlichen Bedürfnisses nach Anerkennung in Sexualität und Beziehungen
erkennen, von anderen anerkannt werden und diese ihrerseits anerkennen. Sexuelle und
reproduktive Rechte sind kein Allheilmittel, aber sie können Maßstab für eine vernunftgeleitete Sexualpädagogik sein und die Möglichkeit bieten, sexuelle Vielfalt, die Unterschiedlichkeiten im Erleben, Denken und Fühlen, im Rahmen der Gesellschaft gestalten zu lernen.
23
Menschenrechtsbildung und Sexualpädagogik –
Ansätze und methodische Perspektiven für
rechtebasiertes Empowerment in der Schule
Sandra Reitz, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Goethe-Universität,
Frankfurt am Main
Mein beruflicher Schwerpunkt liegt in der Menschenrechtsbildung und in diesem Feld engagiere ich mich auch bei Amnesty International. Zwar wird mein Arbeitsbereich klassischer Weise nicht mit Sexualpädagogik verbunden, dennoch konnte ich heute einige interessante Parallelen feststellen und denke insofern, dass sich ein interdisziplinärer Ansatz
auch hier als fruchtbar erweisen könnte. In meinem Vortrag möchte ich nun die theoretischen und praktischen Grundlagen meines Arbeitsfeldes kurz charakterisieren und werde
dabei insbesondere auch auf die sexuellen Rechte hinweisen.
Rechtebasierte Ansätze
Rechtebasierte Ansätze verlassen die wohltätige, paternalistische Betrachtungsweise und
entwickeln eine neue Perspektive auf Menschen als Inhaber von Rechten, als Subjekte.
Damit vertreten sie eine Haltung, die sich mit dem Stichwort „from charity to justice“ umschreiben lässt. Die Menschenrechte werden innerhalb von rechtebasierten Ansätzen meist
zugleich als Mittel und Ziel der Entwicklung betrachtet. Zumindest perspektivisch beinhalten rechtebasierte Ansätze die Einklagbarkeit der entsprechenden Rechte. Hier spielen die
Elemente der „Accountability“, dass nämlich Staaten eine Rechenschaftspflicht haben zur
Umsetzung der Rechte, und des „Empowerment“, der Stärkung der Individuen in Hinsicht
auf ihre Rechte, eine Rolle.
Folgende Grundsätze rechtebasierter Ansätze lassen sich differenzieren: partizipative
Ansätze, Rechenschaftspflicht, Nicht-Diskriminierung, Transparenz, Menschenwürde, Empowerment und Rechtsstaatlichkeit. 15 Beispiele für diese Ansätze finden sich allgemein in
der Entwicklungszusammenarbeit, konkret lassen sich die wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte (WSK) nennen, insbesondere das Recht auf Nahrung, aber auch beispielsweise die Rechte bestimmter Gruppen, wie Menschen mit Behinderung oder MigrantInnen.
Die International Planned Parenthood Federation (IPPF) hat den rechtebasierten Ansatz in
Bezug auf die Sexualerziehung folgendermaßen beschrieben: „Sexualerziehung als rechtebasierter Ansatz stattet junge Menschen mit grundlegendem Wissen und den Fähigkeiten,
Fertigkeiten und W erten aus, die sie benötigen, um ihre Sexualität bzw. die Freude daran,
sowohl physisch, psychisch wie auch emotional zu erfahren. Sexualerziehung soll jungen
Menschen helfen, korrekte Informationen zu erhalten, Lebensfähigkeiten zu entwickeln und
positive Einstellungen und W erte wachsen zu lassen.“ 16
Die rechtebasierten Ansätze werden aber in der Diskussion auch kritisch gesehen. Einige
Autoren 17 kritisieren, dass man mit dieser Herangehensweise einer Mode folge, sie als
Rechtfertigung bereits bestehender Programme verwende, die man dann entsprechend
anpassen müsse. Divergent diskutiert wird auch die Frage, ob für die Arbeit auf Grundlage
rechtebasierter Ansätze eine Rechtsstaatlichkeit bereits gegeben sein muss oder ob diese
auch Ziel sein kann. Dies ist beispielsweise in der Entwicklungshilfe relevant, in Ländern,
in denen die Menschen zwar ein Recht auf Nahrung haben, aber keine Realisierungsmög15
16
17
24
Ekwall / Knuth 2007.
IPPF 2006, S. 9.
Zum Folgenden: Nyamu-Musembi / Cornwall 2004.
lichkeiten dieses theoretischen Rechtes, oder auch in der Arbeit mit sozial benachteiligten
Jugendlichen oder MigrantInnen, bei denen unter Umständen die grundlegende Akzeptanz
der Rechtsstaatlichkeit fehlt. Außerdem kann die Konzentration auf den Rechteansatz
Fragen der gesellschaftlichen Machtverteilung verdecken, so auf die Notwendigkeit der
Stärkung der Rechte sozial Benachteiligter. Ebenso kann der Blick auf mangelnde gesellschaftliche Wertschätzung verstellt werden, zum Beispiel in Bezug auf Menschen mit Behinderung.
Menschenrechte
Zunächst kurz ein Blick auf die Geschichte der Menschenrechte. Bekannt ist die eurozentristische Perspektive, von England mit der Magna Carta (1215) und der Bill of Rights
(1689) über die 1776 verabschiedete Virginia Bill of Rights und die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika aus dem gleichen Jahr bis hin zur Erklärung der
Menschenrechte in Frankreich 1789. Die gesellschaftliche Realität entsprach diesen Idealen im 18. Jahrhundert allerdings keineswegs: Die Sklaverei war noch verbreitet und eine
Vorreiterin für Frauenrechte wie Olympe de Gouges, die 1791 die „Erklärung der Rechte
der Frau und Bürgerin“ verfasst hatte, wurde zwei Jahre später guillotiniert. So scheint es
rechtmäßig, auch andere Dokumente, die üblicherweise außerhalb des Fokus unserer
Geschichtsschreibung liegen, hier anzuführen. So die um 622 geschriebene Verfassung
von Medina, die revolutionär für den Aspekt der Religionsfreiheit war, die circa 250 vor
Christus verfassten Edikte des Ashoka aus dem heutigen Indien, die aus der buddhistischen Lehre zu Toleranz und Respekt gegenüber Anderen auffordern, und schließlich der
zwar umstrittene, aber von den UN als ältestes Menschenrechtsdokument anerkannte,
altpersische Kyros-Zylinder, von circa 538 v. Chr.
Nun zu den Charakteristika der Menschenrechte: Sie sind angeboren und unveräußerlich,
egalitär, unteilbar und universell.
Trotz dieser Grundsätze sind die Menschenrechte – abgesehen von ihren Kerninhalten
(Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) – realiter einschränkbar, denkt man
beispielsweise an Notstandsgesetzgebungen. Zudem sind sie umstritten und werden in
Teilen unterschiedlich interpretiert. Obwohl sie generell gelten sollen, sind sie einem Wandel unterlegen: Moderne Technologien oder neue Verantwortlichkeiten können einen solchen Wandel bedingen, so lag die Verantwortung für die Durchsetzung der Menschenrechte traditionell bei den staatlichen Gewalten, in letzter Zeit werden auch Wirtschaftsunternehmen und Individuen stärker in die Verantwortung genommen.
Die staatlichen Pflichten in Bezug auf die Menschenrechte sind die folgenden:
Achtung der Menschenrechte durch den Staat. Der Staat ist verpflichtet, den einzelnen
Menschen nicht an der Ausübung seiner Rechte zu hindern.
Schutz vor Eingriffen Dritter in die Menschenrechte. Der Staat ist verpflichtet, den
einzelnen Menschen vor Eingriffen Dritter in seine Rechte zu schützen.
Erfüllung / Gewährleistung der Menschenreche durch staatliche Leistungen. Der Staat
ist verpflichtet, die Ausübung der Menschenrechte durch positive Leistungen zu ermöglichen.
Die Vereinten Nationen haben seit ihrer grundlegenden Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UDHR) von 1948 eine ganze Reihe von Menschenrechtsabkommen verabschiedet, in letzter Zeit waren das: das Übereinkommen über die Rechte des Kindes von
25
1989/90 (CRC) und das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung
von 2006/08.
Um den Bezug zu unserem heutigen Thema herzustellen, möchte ich zwei Artikel aus diesen Dokumenten zitieren, die sich mit dem Recht auf Gesundheit und Familienplanung
beschäftigen und zeigen, dass diese Belange in die genannten Konventionen eingeflossen
sind:
Artikel 10 aus dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung
der Frau (CEDAW ) von 1979/81: „Zugang zu spezifischen Bildungsinformationen, die
zur Gesunderhaltung und zum W ohlergehen der Familie beitragen, einschließlich Aufklärung und Beratung in Bezug auf Familienplanung.“
Artikel 24 aus dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC): „(1) Die Ver-
tragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit an (…) (2) bemühen sich, die volle Verwirklichung dieses Rechtes sicherzustellen und treffen insbesondere geeignete Maßnahmen, um (…) (f) die Gesundheitsvorsorge, die Elternberatung sowie die Aufklärung und die Dienste auf dem Gebiet der
Familienplanung auszubauen.“
Menschenrechtsbildung – Definitionen
Die Menschenrechtsbildung ist ein sehr weites Feld, das je nach Hintergrund und Ziel different ausgelegt wird. 18 So kann man die legalen oder die ethischen Aspekte fokussieren.
Umstritten ist auch, ob Menschenrechtsbildung als umfassender Terminus gelten kann, um
den sich dann andere Bildungsinhalte, wie politische Bildung, Umwelterziehung und interkulturelle Bildung, gruppieren oder ob umgekehrt die Menschenrechtsbildung als Teil der
„citizenship education“ gesehen werden sollte mit dem Nachteil, dass diese nur für den
Staatsbürger und nicht für alle Menschen gilt.
Aus der Perspektive der staatlichen Organisationen, der Regierungen und der UN, soll
Menschenrechtsbildung einen Beitrag zu sozialer Ordnung, Frieden und Kontinuität leisten.
Die NGOs legen ihren Fokus auf den pädagogischen Aspekt des „Empowerment“ und sehen die Chancen der Menschenrechtsbildung auch darin, soziale Gerechtigkeit zu fördern,
bestehende Machtstrukturen aufzubrechen und staatliche Macht zu begrenzen. Die W issenschaft konzentriert sich hingegen mehr auf die moralischen und ethischen Hintergründe
der Menschenrechtsbildung.
Für die Methodik der Menschenrechtsbildung ist eine Dreiteilung meiner Ansicht nach zentral:
1.
Die kognitive Ebene (W issen über Menschenrechte). Bei der Vermittlung von W issen
über Menschenrechte ist es wichtig, einen partizipativen Ansatz zu berücksichtigen,
die Bedeutung der Menschenrechte im Alltag zu vermitteln und keinen Frontalunterricht zu machen.
2.
Die Einstellungsebene (W erte durch Menschenrechte). Motivationen und Emotionen
lassen sich sehr gut über Bilder und Filme vermitteln, allerdings ist hier die Gefahr der
Manipulation gegeben. Es soll um Reflexion und Diskussion gehen und darum, Vorbilder zur Verfügung zu stellen.
18
26
Zum Folgenden Flowers 2000.
3.
Die Handlungsebene (Fähigkeiten für Menschenrechte). Bei der Einübung von Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Umsetzung der Menschenrechte kann man beispielsweise
partizipativ eine Menschenrechtserklärung für eine Schule entwickeln. Hier tritt dann
manchmal ein Gruppenzwang auf, dem entgegenwirkt werden sollte, indem das Ausprobieren und die Sensibilisierung im Umgang miteinander in den Mittelpunkt gerückt
werden.
Insgesamt kommt es in der Menschenrechtsbildung darauf an, eine Balance zwischen
Empowerment und Solidarität zu finden – Solidarität als der Respekt vor den Rechten der
Anderen und darüber hinaus mit den Menschen, die ihre Rechte vielleicht nicht verwirklichen können, und Empowerment im Sinne einer Bewusstwerdung der eigenen Rechte und
der Befähigung zur Durchsetzung dieser Rechte. Die Gewichtung der Aspekte differiert
entsprechend dem Umfeld. In der nordwestlichen Hemisphäre, wo Menschenrechtsbildung
meist in der Schule stattfindet, liegt der Schwerpunkt häufig auf der Solidarität, in Südamerika, Afrika und Asien hingegen haben viele Menschen keinen Zugang zu schulischer Bildung, weswegen die Empowerment-Ansätze in den Vordergrund rücken, insbesondere in
Gruppen, die selbst von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind.
Menschenrechtsbildung – Beispiele
Abschließend möchte ich noch einige Beispiele auflisten, um einen konkreten Einblick in
die Lehrmethoden und -materialien der Menschenrechtsbildung zu geben:
Menschenrechts-Activity. Ein Fragespiel für Jugendliche zum Thema Menschenrechte,
das neben der W issensebene, auch die Einstellungs- und Handlungsebene (Debattieren, Pantomime, Zeichnen etc.) anspricht (http://www.epizberlin.de/?Mediothek/module =biblio,vewentry,6061);
Amnesty macht Schule. Eine Broschüre, die die 30 Artikel der allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte für den schulischen Unterricht aufbereitet. Menschenrechtsbildung ist eine Querschnittsaufgabe schulischer Bildung, weswegen neben Unterrichtsvorschlägen für gesellschaftswissenschaftliche Fächer auch Beispiele für naturwissenschaftliche und sprachliche Fächer enthalten sind (http://www.amnestybildung.de/Main/Materialien?action=download&upname=Amnesty_macht_Schule.pdf);
DIMR (Deutsches Institut für Menschenrechte). Broschüre u.a. über Frauenrechte als
Menschenrechte (http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/
user_upload/Publikationen/Unterrichtsmaterialien/unterrichtsmaterialien_frauenrechte_
sind_menschenrechte.pdf);
Amnesty International zu Frauenrechten. Materialien der Amnesty-Gruppe, die sich
speziell mit Frauenrechten auseinandersetzt (auch zum Beispiel mit familiärer Gewalt)
(http://www.amnesty-frauen.de/Seiten/Materialien/materialien.htm);
KOMPASS „Let’s talk about sex“. KOMPASS ist ein vom Europarat entwickeltes Werkzeug zur Menschenrechtsbildung für Jugendliche und jungen Erwachsene. „Let’s talk
about sex“ ist eine der 49 dort angebotenen Gruppenübungen und fokussiert das
Recht zu heiraten und eine Familie zu gründen, das Recht auf Schutz vor Diskriminierung und auf gleiche Behandlung und das Recht auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit (http://kompass.humanrights.ch
/cms/front_content.php?idcatart=322).
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Diskussion
Die Diskussion vertiefte die in den Vorträgen ausgebreiteten Themenfelder, insbesondere
Aspekte aus der Debatte über die sexuellen und reproduktiven Rechte, deren Bedeutung
für pro familia und W ege und Möglichkeiten, diese Rechte in die sexualpädagogische Arbeit methodisch zu integrieren. Außerdem wurden konkretisierende Vorschläge für das
geplante Modellprojekt zur Prävention von Jugendschwangerschaften bei Haupt- und FörderschülerInnen zusammengetragen. Eine abschließende Feedback-Runde gab den Teilnehmenden die Möglichkeit, einen persönlichen Schwerpunkt innerhalb dieses Themenfeldes zu formulieren.
Einleitend wurden zwei Projekte näher vorgestellt und diskutiert:
„Was geht“. Annelene Gäckle charakterisierte an ihren Vortrag anknüpfend das von ihr
geleitete Projekt „W as geht“ nochmals näher. Es findet in Haupt- und Förderschulen als
Veranstaltungsreihe mit fünf bis sechs Doppelstunden statt. Zielgruppe sind Jahrgangsstufe acht oder neun, ein Alter, in dem das Risiko früher Schwangerschaften besteht und auch
erste Partnerschaften eingegangen werden. Die Lehrerschaft wird im Vorfeld angesprochen
und auch anschließend in Auswertungsgespräche einbezogen. Idealerweise arbeiten eine
Sexualpädagogin und ein Sexualpädagoge mit 14 bis 16 SchülerInnen in geschlechtsgetrennten Gruppen, die für bestimmte Elemente zusammengeführt werden. Anfangs findet
eine Abfrage der Anliegen statt, die dann mit den darauf zugeschnittenen Methoden bearbeitet werden. W ichtig ist die partizipative Arbeit. Beispielsweise werden für den Bereich
„Partnerschaft“ Porträtfotos ausgelegt, die SchülerInnen suchen sich ein Traumpaar aus
und entwickeln dann deren Beziehung. Durch die ausgedehnte Projektzeit und die geringe
Schülerzahl kann auch auf die SchülerInnen individuell eingegangen werden und zum Beispiel erarbeitet werden, welches Verhütungsmittel zu wem passt.
Baby-Care-Projekte. Baby-Care-Projekte betreffend äußerte eine Teilnehmerin Bedenken,
dass diese Projekte für die Paare in ein Erlebnis persönlichen Scheiterns münden könnten
oder dass dies sogar Ziel der Projekte wäre. Dagegen wurde eingewandt, dass innerhalb
dieser Projekte durchaus auch positive Seiten der Elternschaft gezeigt werden sollten und
dass jungen Paaren nicht etwa zur Abschreckung ein Schreikind mitgegeben werden sollte.
Ziel des Projektes sei es, jungen Paaren alle Facetten der Elternschaft zu zeigen, damit sie
eine selbstbestimmte Entscheidung treffen könnten. Allerdings sei die Entscheidung für ein
Baby nicht zu erwarten und natürlich auch nicht Ziel der Projekte.
Im Einzelnen thematisierte die daran anschließende Diskussion folgende Fragen:
Wozu brauchen wir sexuelle und reproduktive Rechte in der Sexualpädagogik bei pro familia?
Es herrschte Konsens darüber, dass die sexuellen und reproduktiven Rechte als Argumentationsgrundlage und Bezugsrahmen für pro familia eine wichtige Bereicherung seien.
Insbesondere auf politischer Ebene könnten mit Hilfe einer rechtebasierten Argumentation
Zugangsschwellen, zum Beispiel für die „Pille danach“, gesenkt werden.
Einige Teilnehmer glaubten allerdings, dass die Berufung auf Rechte in Konfliktsituationen,
insbesondere im Geschlechterkonflikt, auch problematisch sein könne, wenn nämlich zwei
Rechte aufeinandertreffen und man einem den Vorrang geben müsse. Zudem wurden ge-
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wisse Vorbehalte dagegen geäußert, die Sexualität unter das Dach der Menschenwürde zu
stellen und damit die anarchische Kraft der Sexualität, die auch gegen Etabliertes geht und
bestehende Normen erschüttern kann, zu kanalisieren.
Dem wurde entgegengesetzt, dass man den Ausgleich zwischen dem Lust- und dem Realitätsprinzip suchen müsse. Mit dem rechtebasierten Ansatz könne man die soziale Verpflichtung von Sexualität wiedergewinnen. Sexualpädagogik sei im Moment stark auf das
Lustprinzip fixiert und die Rechte würden dabei ausgeklammert, den Jugendlichen, insbesondere den sozial benachteiligten, würde die kognitive Fähigkeit abgesprochen, ihre
Rechte zu begreifen. Dem müsse man entgegenarbeiten, dabei müsse man dann auch in
Kauf nehmen, dass vielleicht manche lustgesteuerten Handlungen nicht rechtskonform
seien, weil sie gegen Rechte Anderer verstießen.
Recht auf Wissen / Schutz vor Nicht-Wissen. Das Recht auf Information beinhaltet auch
den Schutz vor Nicht-W issen und insbesondere das Recht auf Zugang zu wissenschaftlich
fundiertem Wissen, der im Bereich der Sexualität keinesfalls überall gegeben ist. So ist
beispielsweise der Zugang zu Sexualaufklärung in manchen Staaten der USA verstellt. Die
politische Durchsetzung des Rechtes auf Information und der Schutz vor Nicht-W issen
appelliert an Vereine wie pro familia, die in der Sexualaufklärung tätig sind. Als besonders
wichtig wurde in der Diskussion unterstrichen, dass dieses Recht auf Wissen in alle Gruppen der Bevölkerung hineingetragen werden müsse, auch in die Gruppe der sozial benachteiligten Jugendlichen. Die Studie „Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen Frauen“ 19
hat gezeigt, dass bei diesen Jugendlichen besonders wenig Aufklärung ankommt. Zudem
haben diese Jugendlichen häufig kein Bewusstsein ihrer eigenen Rechte, fühlen sich von
vielen Rechten ausgeschlossen und sind dies realiter auch. Deswegen ist es besonders
wichtig, diese jungen Menschen über ihre Rechte aufzuklären und ihnen Möglichkeiten an
die Hand zu geben, diese auch einzufordern.
Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Differente Moralvorstellungen, insbesondere auch
bei Menschen mit Migrationshintergrund, und hoher sozialer Druck üben einen starken
Einfluss auf die sexuelle Selbstbestimmung aus. Für die SexualpädagogInnen stellt sich
die Frage, wie man auf diese Probleme reagieren soll. Es steht bislang kein theoretischer
Hintergrund zur Verfügung, es fehlen Kriterien, was sexuelle Selbstbestimmung eigentlich
ist, so dass man auf die eigenen Einstellungen zurückgreifen müsse.
Sollte Verhütung als partnerschaftliche oder individuelle Aufgabe vermittelt
werden?
Die Frage, ob Verhütung als partnerschaftliches oder individuelles, eigenverantwortliches
Problem gehandhabt werden sollte, wurde länger diskutiert. Einerseits müsse jeder Einzelne sich um Verhütung kümmern, andererseits sei Verhütung langfristig eine partnerschaftliche Verantwortung, innerhalb derer man auch Verantwortung abgeben müsse. Einige
vertraten die Auffassung, dass eine partnerschaftliche Verhütung als Vision unbedingt an
die Jugendlichen weiterzugeben sei.
Es sei auch als Erfolg der Sexualpädagogik zu sehen, dass junge Männer sich mehr und
mehr um Verhütung bemühten. Ihnen müsse auch weiter vermittelt werden, dass sie keinen
Einfluss auf den Ausgang einer Schwangerschaft haben und ihnen deswegen nur die Hand19
Matthiesen/Bloch/Mix/Schmidt 2009.
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lungsoption bliebe, ein Kondom zu benutzen, wenn sie kein Kind wollten. Zu bedenken sei
auch, dass viele Beziehungen von Jugendlichen gar nicht lange genug hielten, um ein
partnerschaftliches Verhüten sinnvoll möglich zu machen. Hier scheinen auch romantische
Vorstellungen von Liebesbeziehungen das Bild von partnerschaftlichem Verhüten zu prägen, das den Jugendlichen dann als Realität vermittelt werde.
Welches Ziel verfolgt pro familia mit dem Modellprojekt zur Prävention von
Jugendschwangerschaften?
Einige pro familia-MitarbeiterInnen berichteten, dass die sexualpädagogischen Regelprogramme bei ihnen die Vermittlung sexueller Rechte schon einbezögen, was bei der Zielgruppe häufig auch sehr positiv wahrgenommen werde. Dies sei aber nicht fester Bestandteil und werde auch nicht methodisch differenziert vermittelt.
Hier scheinen zunächst eine grundsätzliche Bestandsaufnahme und ein Austausch über die
Inhalte von Sexualpädagogik nötig.
Vorsicht sei auch geboten, ein Modellprojekt für Haupt- und Förderschulen zu entwickeln
und damit diese Zielgruppe aus dem sexualpädagogische Standardprogramm hinauszusetzen. Man brauche gerade für diese Zielgruppen fest etablierte Angebote ohne zeitliche
Befristung.
Es wurde der W unsch geäußert, dass das Modellprojekt als zeitintensiveres, eigenständiges Projekt tragfähig sein solle, aber dass bestimmte Bausteine sich auch in die Regelprogramme integrieren lassen sollten. Insgesamt müssten Methoden gefunden werden, wie
man den rechtebasierten Ansatz speziell an die Gruppe sozial benachteiligter Jugendlicher
vermitteln könne.
Betont wurde auch die W ichtigkeit des politischen Ansatzes. pro familia mache sich zum
Anwalt der Menschen, vertrete deren sexuelle und reproduktive Rechte und bemühe sich
darum, diese zu realisieren. Ganz konkret hieße das: Für die Rezeptfreiheit der Pille kämpfen, für kostenlose Schwangerschaftstest als Angebot der Beratungsstellen, aber auch
beispielsweise für die kostenlose Vergabe von Kondomen.
Welche Elemente sollte ein Modellprojekt aufnehmen?
Zielgruppe:
SchülerInnen in Haupt- und Förderschulen.
Organisation:
Zeitfaktor. Als wichtige Rahmenbedingung für ein Modellprojekt wurde die Möglichkeit einer
intensiven Zusammenarbeit genannt. Besonders sozial Benachteiligte haben häufig ein
langsameres Lerntempo. Wichtig ist hier auch die Möglichkeit, ein Vertrauensverhältnis
aufbauen zu können, erst dann kann man sich den Ansichten der Jugendlichen tatsächlich
nähern und bekommt nicht nur vorgefasste Antworten.
Veranstaltungsreihen. Es bietet sich an, das Programm auf mehrere Stunden aufzuteilen,
damit die Jugendlichen Zeit zur Reflexion und zum erneuten Nachfragen haben. Besonders
sozial benachteiligte Jugendliche brauchen diese Zeit, sind dann aber auch häufig sehr
interessiert und engagiert.
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Methodik
Erlebbarkeit des Lernstoffes. Eine Bindung an persönliche Erlebnisse ist besonders bei
Haupt- und FörderschülerInnen wichtig, die abstrakte Gedanken nur bedingt aufnehmen
können.
Repetitive Elemente. Wichtig bei der Arbeit mit sozial benachteiligten Jugendlichen ist
auch die W iederholung der gleichen Lerninhalte in unterschiedlicher pädagogischer Aufbereitung. So können Erfolgserlebnisse und fundiertes Lernen gefördert werden.
Kompetenztraining. Sammeln von Erfahrungen, die die Jugendlichen mit Macht- und Ohnmachtssituationen gemacht haben, Herausarbeiten der Rechte, die sie wahrgenommen
haben oder die verletzt wurden. Bewusstmachen des eigenen Machtradius, aber auch der
Rechte des Gegenübers.
Rollenspiele, Nachstellen von Situationen. Für nachhaltiges Lernen gerade mit sozial benachteiligten Jugendlichen sollte man sich in deren Lebenssituation bewegen.
Vorgeben von Modellsituationen / antizipatives Training typischer Risikosituationen. Typische Risikosituationen (Schwierige Sexualität, schwierige Beziehungen, schwierige Familienverhältnisse) sollten exemplarisch vorgestellt werden, auch wenn sie nicht aus der
Gruppe kommen. Hier sollte man sich von der rein angebotsorientierten Arbeitsweise trennen und Mut zur eigenständigen Vorgabe von Lerninhalten entwickeln.
Nachhaltigkeit:
Entwicklung einfacher Broschüren. Es wurde vorgeschlagen, für die hier fokussierte Zielgruppe einfache Broschüren zu entwickeln mit vielen Bildern und wenig Text. Gerade lernschwache Jugendliche bräuchten klare Handlungsanweisungen, dabei müsse man auch
vereinfachen und Informationen auswählen, um sie überhaupt für diese Gruppe rezipierbar
zu machen. Dagegen wurden Bedenken geäußert, da gerade das Weglassen von Information auch rechtliche Konsequenzen haben könne. Bei der Erstellung der Broschüre sollte
man die Zielgruppe einbeziehen, um deren Sprache, Interesse und Auffassungsfähigkeit
besser einschätzen zu können.
Persönlicher Kontakt. Gerade FörderschülerInnen und Jugendliche aus der Behindertenhilfe überwinden ihre Schwellenängste nur, wenn sie einen persönlichen Ansprechpartner
haben. Personelle Kontinuität sei insofern wichtig.
Offene Jugendsprechstunde. Die Einrichtung einer offenen Jugendsprechstunde, wie es sie
ja schon in vielen pro familia-Beratungsstellen gibt, könne die nachhaltige Wirkung einer
solchen Präventionsmaßnahme ebenso unterstützen.
Beratungsstelle an den Schulen. Auch dies wäre ein denkbarer Rahmen für eine Vertiefung
des Kontaktes zu den SchülerInnen, allerdings könnten sich die Hemmschwellen auch
erhöhen, da die Schule keinen geschützten Raum darstelle.
Abschließend beantworteten alle TeilnehmerInnen die Frage, was für sie Kernpunkte der
Veranstaltung waren. Einige betonten, dass sie Impulse für ihre sexualpädagogische Arbeit
bekommen hätten, so für den Ausbau bestehender Projekte, dass ihnen deutlich geworden
wäre, wie wichtig gerade bei der Zielgruppe sozial benachteiligter Jugendlicher zeitliche
und personelle Intensität der Angebote wäre, dass die Entwicklung von Kommunikationskompetenz in der Partnerschaft ein zentraler Punkt sexualpädagogischer Angebote sei und
dass man hier auch spezielle Zielgruppen, so MigrantInnen, beachten müsse. Dabei spiel-
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ten jedoch die Frage der Partizipation der Zielgruppe und die Frage der Evaluation der
sexualpädagogischen Programme bislang eine zu geringe Rolle. Andere TeilnehmerInnen
empfanden den Austausch über den rechtebasierten Ansatz als besonders positiv, sexuelle
und reproduktive Rechte seien in der Praxis sexualpädagogischer Arbeit häufig schon
präsenter als das theoretisch und in den Verbandsgremien wahrgenommen werde und
würden nach und nach zum festen Bestandteil der Sexualpädagogik bei pro familia. Es
wurde auch geäußert, dass in der Veranstaltung Parallelen zwischen Menschenrechtsbildung und Sexualpädagogik in den Ansätzen, den Methoden und den Forderungen greifbar
geworden wären. Daraus könne man Mut zur Agenda ziehen, denn ähnlich wie Amnesty in
der Menschenrechtsbildung könne auch pro familia künftig mit dem klaren Ziel der Vermittlung sexueller und reproduktiver Rechte in die Schulklassen gehen.
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Literatur
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Bonn
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TeilnehmerInnenliste
ReferentInnen
Annelene Gäckle, pro familia Köln
Daniel Kunz, Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
Dr. Silja Matthiesen, Institut für Sexualforschung und forensische Psychiatrie
der Universität Hamburg
Sandra Reitz, Goethe Universität Frankfurt am Main
TeilnehmerInnen
Stefanie Amann, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Köln
Holger Erb, pro familia Landesverband Nordrhein-W estfalen
Kathrin Hettler, pro familia Bundesverband Frankfurt am Main
Doris Lenz, pro familia Bundesverband Frankfurt am Main
Hildegard Müller, pro familia Landesverband Niedersachsen, Hannover
Bettina Niederleitner, pro familia München
Helmut Paschen, pro familia Landesverband Schleswig-Holstein, Flensburg
Renate Pawellek, pro familia Bochum
Sebastian Riedel, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
(BMFSFJ), Bonn
Gerhard Tschöpe, pro familia Freiburg
Dr. Eva-Verena W endt, Ludwig-Maximilians-Universität, München
Moderation
Oliver W olf, calaidoskop Leipzig
Dokumentation
Dr. Claudia Caesar, freie Lektorin
Projektleitung
Sigrid Weiser, pro familia Bundesverband, Frankfurt am Main
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