Politik und Öffentlichkeit Deutschunterricht als Anleitung zum
Transcrição
Politik und Öffentlichkeit Deutschunterricht als Anleitung zum
Politik und Öffentlichkeit Deutschunterricht als Anleitung zum Selbstdenken Waltraud ›Wara‹ Wende Am Anfang war das Wort. Menschen denken und handeln in Sprache. Worte, Sätze, Texte strukturieren die Welt, in der Menschen leben, sie ermöglichen zwischenmenschliche Kommunikation und Interaktion, sie sind der Baustein jeder Kultur. Ohne eine gemeinsame Sprache gibt es kein kulturelles, kein soziales, kein gesellschaftliche Miteinander. Sprache konserviert Vergangenes, sie ordnet und gestaltet Gegenwart und sie eröffnet neue Horizonte für die Zukunft. Ideen und Vorstellungsbilder, Normen und Werte, Wissensbestände, Überzeugungen und Glaubensfragen – all dies manifestiert sich in sprachlicher Form. Guter Deutschunterricht rückt den Zusammenhang von Sprache-DenkenWirklichkeit in den Mittelpunkt. Er ist deshalb mehr und anderes als lediglich die Beschäftigung mit Ausdrucks-, Rechtschreib- und Grammatikfragen und er ist auch mehr und anderes als die Auseinandersetzung mit Gattungen, Erzählformen oder den Etappen deutscher Literaturgeschichte. Guter Deutschunterricht ist nichts Geringeres als die Eintrittskarte der Schüler und Schülerinnen zur differenzierten und wahrnehmungssensiblen Auseinandersetzung mit sich selbst, mit anderen und mit der sie umgebenden Welt. Guter Deutschunterricht ist der Katalysator, der die Schüler und Schülerinnen dazu befähigt, die Voraussetzungsbedingungen und die Deutungsmuster des kulturellen Miteinanders kritisch zu reflektieren und sie in ihrer historischen Genese genauso wie in ihrer historischen Veränderbarkeit zu begreifen. Deutschunterricht initiiert Bildungsprozesse, ermöglicht den Schülern und Schülerinnen das Lernen des Lernens, regt sie zum »Selbstdenken« (Kant) an und bestärkt sie darin, einen »freien Geist« (Nietzsche) zu entwickeln. Schüler und Schülerinnen müssen in die Lage versetzt werden, die kulturellen Rahmungen ihres Lebens wahrnehmungssensibel zu reflektieren, sie müssen dazu befähigt werden, das nur scheinbar Konstante ihrer kulturellen Lebenswelt als veränderbar zu begreifen, und sie müssen – last but not least – stark dafür gemacht werden, dass der Wandel die einzige Gewissheit ist, von der Menschen ausgehen können. Ein zentrales Ziel des Deutschunterrichts sollte darin bestehen, den Schülern und Schülerinnen deutlich zu machen, dass der Mensch als »Kulturwesen eine Welt von Bedeutungen erzeugt« (Friedrich H. Tenbruck). Im Fokus muss stehen, Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen 219 Wolfgang Thierse dass außersprachliche Ereignisse erst durch kulturspezifische Interpretationsakte mit Sinnhaftigkeit aufgeladen werden. Das ›Normale‹, ›Gute‹ und ›Richtige‹ ist nicht aus sich selbst heraus ›normal‹ ›gut‹ und ›richtig‹, sondern es wird erst über Kommunikations- und Interpretationsprozesse »mit Sinn und Bedeutung bedacht« (Max Weber). Die Denkbilder, Vorstellungsmuster und Wertorientierungen, das Denken und Fühlen, die Träume, Wünsche und Hoffnungen der Menschen, anthropologische Basisthemen, Liebe und Tod, Geschlechtlichkeit, Fremdheit und Krankheit, Herrschaft und Macht, Wissen und Glauben sind deshalb auch nicht zeitlos, sondern vielmehr überaus kultur- und zeitabhängig. Daraus folgt: Zukunftsfähiger Deutschunterricht hat die Aufgabe, die Schüler und Schülerinnen mit der historischen Relativität und kulturellen Veränderbarkeit von ›wahr‹ und ›falsch‹, ›gut‹ und ›böse‹, ›moralisch‹ und ›unmoralisch‹ zu konfrontieren. Als Quellengrundlage können nicht-fiktionale und fiktionale, literarische, journalistische, politische, philosophische, juristische, pädagogische und religiöse Texte aus unterschiedlichen Zeiten dienen, die wahrnehmungssensibel und sprachlich differenziert auf die Historizität der gebotenen Deutungsmuster und Sinnorientierungen hin reflektiert werden müssen. Prof. Dr. Waltraud ›Wara‹ Wende ist Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftlerin. Seit Juni 2012 hat sie (parteilos) das Amt der Ministerin für Bildung und Wissenschaft des Landes Schleswig-Holstein inne. Email (Vorzimmer): [email protected]. Warum Deutsch? Wolfgang Thierse Der Rückzug der deutschen Sprache als Wissenschaftssprache ist weit vorangeschritten. Im Fach Chemie, das einst von deutschen Forschern dominiert wurde, erschienen Mitte der 90er Jahre nur noch knapp zwei Prozent der Publikationen auf Deutsch, über 80 Prozent auf Englisch. Die Vorteile einer gemeinsamen internationalen Wissenschaftssprache liegen auf der Hand. Problematisch ist aber, dass zugleich die Weiterentwicklung der nationalen Wissenschaftssprachen vernachlässigt wird. Die Wissenschaftslandschaft wird dabei ärmer, sie verliert im wahrsten Sinne des Wortes ihre Vielstimmigkeit, ihre Vielfalt. Der Rückzug wird längst selbst von den Geisteswissenschaften nachvollzogen – in denen unsere Sprache im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch Weltgeltung hatte. Manche Entwicklungen sind hausgemacht: Während meines Besuches in 220 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen Politik und Öffentlichkeit – Warum Deutsch? Japan im Jahre 2010 klagten Hochschullehrer und Vertreter der japanischen Germanistik darüber, dass das vom Deutschen Institut für Japanstudien (DIJ) in Tokio herausgegebene Periodikum künftig nicht mehr auf Deutsch bzw. nicht mehr zweisprachig erscheinen werde. Der neue Institutsdirektor hatte entschieden, nur noch ein englischsprachiges Journal herauszugeben. Auch die im Namen des Periodikums angelegte Bindung an das deutsche Institut ging verloren: Statt Japanstudien heißt es heute Contemporary Japan. Finanziert mit deutschen Steuergeldern! Der Sprachenwechsel rief in der internationalen Japanforschung Unverständnis hervor und löste eine heftige Debatte aus. Die Deutschdozenten an japanischen Universitäten erklärten, dass es nun noch schwieriger werde, Nachwuchswissenschaftler zum Deutschlernen zu motivieren. Warum auch sollten Studierende in Japan diese Sprache erlernen, wenn selbst die von der Bundesrepublik geförderten Institutionen dem Deutschen keinerlei Bedeutung beimessen? Auch wenn Sprachpolitik häufig tabuisiert wird, findet sie doch unablässig statt. Die geschilderte Entscheidung des Institutsdirektors war eine sprachpolitische Entscheidung – getroffen mit einer ganz selbstverständlichen Arroganz. Man zieht sich den Vorwurf der Selbstprovinzialisierung zu und gerät in den Geruch hilfloser konservativer Kulturkritik, wenn man das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Sprache als – freundlich ausgedrückt – ein Verhältnis der Lieblosigkeit bezeichnet. Oder etwas schärfer: als ein Verhältnis der Verachtung großer Teile der Wissenschaftselite gegenüber ihrer Muttersprache. Und dieses Verhältnis der Verachtung macht die deutsche Sprache dann tatsächlich zu einer provinzlerischen Sprache. Wenn immer wieder erklärt wird, die deutsche Sprache sei das wichtigste Mittel der Integration und des sozialen Aufstiegs in Deutschland, die Aufstiegsbereiten, Aufstiegswilligen aber zugleich sehen, dass die Eliten die deutsche Sprache zutiefst verachten, sie nämlich beruflich nicht mehr verwenden wollen, dann ist das keine Einladung zur Integration per Sprache, sondern das genaue Gegenteil. Es geht nicht darum, Englisch als allgemeine Verständigungssprache der Wissenschaft zu bekämpfen, das wäre Donquichotterie. Es geht vielmehr um die Frage, ob Englisch die einzige Wissenschaftssprache in Europa und in der Welt sein soll oder ob Mehrsprachigkeit verteidigt werden kann und Deutsch darin eine Chance hat. Wenn ich lese, Deutsch sei mit etwa 300.000 Wörtern des allgemeinen Sprachgebrauchs die wortreichste Sprache, frage ich mich, ob mit dem Verzicht auf das Deutsche und auf die Mehrsprachigkeit in den Wissenschaften nicht auch ein substanzieller Verlust an Erkenntnis- und Vermittlungsgewinnen einhergeht?! In einem immer enger zusammenwachsenden Europa ist es weder bürgernah noch einleuchtend, ausgerechnet auf eine Sprache zu verzichten, die die größte Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen 221 Wilhelm Krull Zahl an Muttersprachlern und die zweitgrößte Gesamtsprecherzahl – also Mutter- und Fremdsprachler – in der Europäischen Gemeinschaft aufweist. Internationalität des wissenschaftlichen Denkens muss nicht Monolingualität heißen, sondern sollte intensiven Austausch zwischen Sprachen und Kulturen bedeuten. Kulturelle und sprachliche Unterschiede der Forschenden ermöglichen einen Reichtum kognitiver und emotionaler Art, der sich auch in der Qualität der Forschung niederschlagen kann, vorsichtig ausgedrückt. Das mag gewiss unterschiedlich sein zwischen mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen einerseits und historisch-kulturwissenschaftlichen Disziplinen andererseits. Es geht aber auch um die Aufrechterhaltung der Verbindung von Wissenschaft und Gesellschaft und damit um die Verteidigung des demokratischen und pluralen Charakters von Wissenschaft. Es ist eben die Frage, ob wir uns mit den Einseitigkeiten der internationalen wissenschaftlichen Kommunikation abfinden, mit der faktischen Hegemonie der Wissenschaftskultur der USA in der globalisierten Wissenschaft, also durchaus mit einer bestimmten Art von »Wissenschaftsimperialismus«. Es geht auch um wirkliche Chancengleichheit und Fairness im internationalen Wettbewerb. Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD) ist seit 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages. Zuletzt war er bis 2013 dessen Vizepräsident. Email: [email protected]. Deutsch plus – Plädoyer für eine multilinguale Wissenschaft Wilhelm Krull »Warum Deutsch?« – Mit der Titelfrage dieses Heftes ist der Generalsekretär einer wissenschaftsfördernden Stiftung in erster Linie konfrontiert, wenn es um die Sprache der Wissenschaft geht. In den Natur- und Lebenswissenschaften ist Englisch in den Labors deutscher Universitäten schon lange nicht nur Publikations-, sondern auch alltägliche Arbeitssprache. In Evaluationskommissionen wird die Publikation in internationalen – und das meint dann immer auch: englischsprachigen – Zeitschriften selbst bei der Bewertung geisteswissenschaftlicher Einrichtungen zunehmend angemahnt. Schon 1985 forderte der Konstanzer Zoologe (und spätere Präsident von DFG und MPG) Hubert Markl: »Nicht nur deutsche Spitzenforschung, deutsche Wissenschaft ganz allgemein muss sich in klarem und 222 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen Politik und Öffentlichkeit – Deutsch plus gutem Englisch artikulieren.« Und in der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder wurde auch von Geistes- und Sozialwissenschaftler(inne)n verlangt, ihre Anträge in englischer Sprache einzureichen. Klares und gutes Englisch zu sprechen und zu schreiben ist nun allerdings leichter gefordert als umgesetzt. Man muss nur einmal eine beliebige internationale Fachtagung besuchen, um sich von der Wahrheit des Bonmots von George Bernard Shaw zu überzeugen: »English is the easiest language to speak badly«. Die durchgängige Verwendung einer Sprache, die für den größeren Teil der Kommunizierenden nur Zweit- oder gar Drittsprache ist, führt zu einem Ungleichgewicht in der Kommunikation und zu einer Verflachung des wissenschaftlichen Diskurses. »Es entfällt alles, was eine Sprache reich macht, nämlich Sarkasmus, Selbstironie und kleine politische Unkorrektheiten, zugunsten einer ›interkulturellen Kommunikation‹ auf kleinstem verbalem Nenner«, so formulierte es Claus Leggewie. Und wie linguistische Untersuchungen zeigen, verfehlen selbst gut Englisch sprechende Redner oft die angestrebte Wirkung ihrer Vorträge, weil ihre Zuhörer schon die Pointen der zwar in Englisch verfassten, aber deutsch gedachten Einleitungen nicht verstehen. Dabei sollen die Vorteile einer Verwendung des Englischen als Universalsprache der Wissenschaft nicht geleugnet werden: Forschungsergebnisse können weltweit verfolgt und diskutiert werden, internationale Wissenschaftskooperationen werden erleichtert, und die Mobilität von Forscherinnen und Forschern wird begünstigt. Es empfiehlt sich aber, zwischen verschiedenen Kommunikationsebenen zu unterscheiden, wenn man sich der Frage zuwendet, welche Rolle Deutsch als Wissenschaftssprache heute noch spielen sollte. Im internationalen Kontext hat sich Englisch als Wissenschaftssprache insbesondere in den Natur- und Lebenswissenschaften aus verständlichen Gründen durchgesetzt. Dass auch internationale germanistische Fachtagungen auf Englisch abgehalten werden, versteht sich hingegen keineswegs von selbst. Denn das sprachlich und kulturell geprägte wissenschaftliche Denken in den Geistes- und Sozialwissenschaften lässt sich nicht ohne Verluste in eine andere Sprache übertragen. Besonders fragwürdig wird es, wenn beispielsweise ein Hegel-Kongress nicht nur auf Englisch abgehalten wird, sondern auch noch die englischen Übersetzungen seiner Werke Grundlage der Diskussion sind. Auch die Verwendung von Englisch als alleiniger Konferenzsprache bei deutschen Kongressen ist alles andere als selbstverständlich. Und betrachtet man die Lehre, so bringt die Einführung von Englisch als Vorlesungssprache zwar Vor-, aber auch Nachteile mit sich. Sie erleichtert zwar die Internationalisierung unserer Hochschulen und ermöglicht die Anwerbung ausländischer Studierender. Für die einheimischen Studierenden wird jedoch, wie Studien in den Niederlanden, Schweden und Norwegen gezeigt haben, der Wissenserwerb durch das Unterrichten in einer Fremdsprache deutlich erschwert. Oft sind weder die Sprachkenntnisse der Lehrenden noch die der Lernenden ausreichend, um einen optimalen Lehr- und Lernerfolg zu erzielen. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen 223 Volker Meyer-Guckel Eine sehr wichtige Rolle spielt Deutsch zudem für die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Hier kommt es darauf an, die unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachsprachen in ein verständliches Deutsch zu übersetzen, um der Gesellschaft die Teilhabe an den Ergebnissen der Forschungstätigkeit zu ermöglichen. Dies gilt auch für die angesichts globaler Herausforderungen immer wichtiger werdende wissenschaftsbasierte Politikberatung, die ebenfalls eine Übersetzungsleistung von der Wissenschaft erfordert. Aus meiner Sicht ist somit die Rolle des Deutschen als Wissenschaftssprache keineswegs ausgespielt. Es kommt vor allem darauf an, den Weg zu einer intelligenten Mehrsprachigkeit zu bahnen. Mit diesem Ziel hat die VolkswagenStiftung mit ihrer Förderinitiative »Deutsch plus« versucht, dem Deutschen als Wissenschaftssprache und den in deutscher Sprache erarbeiteten wissenschaftlichen Erkenntnissen international angemessenen Raum und mehr Gewicht zu geben. Dies muss auch eine Aufgabe der akademischen Germanistik bleiben, die sich nicht nur auf die Vermittlung von ›Deutsch als Fremdsprache‹ reduzieren lässt, sondern einen wesentlichen Anteil daran haben sollte, eine adäquate Begriffsbildung im Deutschen voranzutreiben. Dr. Wilhelm Krull ist Generalsekretär der VolkswagenStiftung Hannover und Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen. Er hat in Bremen und Marburg Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften studiert. Im Herbst 2013 erscheint der Sammelband Krieg – von allen Seiten. Prosatexte 1912 bis 1922 im Wallstein Verlag. Email: [email protected]. The Times, They Are a-Changin oder: Zu kämpfen lohnt immer, nur nicht für eine Renaissance des Deutschen in der Wissenschaft Volker Meyer-Guckel »Deutsch als Wissenschaftssprache gilt derzeit nach verschiedenen Darstellungen als obsolet; Repräsentanten deutscher Wissenschaftspolitik, naturwissenschaftlicher Forschungsinstitutionen und einzelner Disziplinen befördern durch unterstützende Maßnahmen sein Verschwinden«, schrieb 2000 Konrad Ehlich, der kurz darauf Vorsitzender des Deutschen Germanistenverbandes wurde. Seine Zustandsbeschreibung markierte den vorläufigen Tiefpunkt einer Entwicklung, 224 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen Politik und Öffentlichkeit – The Times, They Are a-Changin die sich seit 100 Jahren abgezeichnet hatte. »Gestern hieß es Bononia docet. Heute heißt es Germania docet. Es mag sein, dass es morgen heißen wird: America docet. Jedenfalls haben wir allen Grund, unsere Kräfte anzuspannen, dass es nicht so werde«, warnte 1908 der Berliner Nationalökonom Adolph Wagner. Tatsächlich ist es aber genau so gekommen. Der Fall war tief: »Wer die deutsche Sprache versteht und studiert, befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Ware anbieten, er spielt den Dolmetscher, indem er sich selber bereichert«, schrieb 1827 Johann Wolfgang von Goethe an den schottischen Historiker Thomas Carlyle. Die Deutschen waren zu diesem Zeitpunkt die Dolmetscher der Welt; sie übersetzten die wichtigen Texte aus allen Sprachen und machten sie dadurch den übrigen Europäern bekannt. Der Vorrang des Deutschen galt auch in der Wissenschaft. Denn Deutsche hatten die Begriffe geprägt, mit deren Hilfe überhaupt erst wissenschaftliche Gespräche möglich wurden, die sich von einer »verplauderten Tabakrunde mit Portwein in Oxford« oder »einer geistreich-pointenlüsternen Konversation in Paris« unterschieden, wie es der Historiker Eberhard Straub so schön formuliert hat. Die Zeiten haben sich geändert, muss man sagen, oder besser: The Times, They Are a-Changin, wenn man überall verstanden werden will. Denn Englisch ist zur Weltsprache der Wissenschaft geworden, und am Deutschen kommt man heute eigentlich sehr gut vorbei. Sogar in Deutschland: Immer mehr Kurse an deutschen Hochschulen werden auf Englisch gehalten, Doktorarbeiten auf Englisch verfasst. Beim jüngsten Wettbewerb des Stifterverbandes, bei dem bezeichnenderweise »MOOC Production Fellowships« vergeben werden, wurde die Hälfte der Anträge auf Englisch eingereicht, obwohl die überwältigende Mehrheit der Antragssteller aus Deutschland kam. Und das ist auch gut so. Die Wissenschaft braucht eine Umgangssprache. Das war früher Latein, dann eine Zeitlang Deutsch und heute kann es nur Englisch sein, das auch außerhalb der Wissenschaft zur unumstrittenen Weltsprache geworden ist und deshalb überall auf der Welt privilegiert gelehrt und daher auch gesprochen und verstanden wird. Es mag ja sein, dass der Verlust an Vielsprachigkeit unter den Akademikern in Deutschland und dem Rest Europas zu beklagen ist, wie es Eberhard Straub mit guten Gründen tut. Er will an die »verlorenen Zeiten« anknüpfen, in denen ein Student mindestens vier Sprachen, darunter Altgriechisch und Latein, gründlich zu kennen hatte: »Was damals einmal möglich war, kann doch heute kaum unzumutbar sein.« Ist es aber, und vor allem: Es hilft ja nichts. Die Welt ist auch in der Wissenschaft viel größer geworden, als sie zu Goethes Zeiten schien. Altgriechisch und Latein befördern den Diskurs zwischen Deutschen und Chinesen, Indern und Brasilianern ebenso wenig wie Französisch oder Italienisch. Vielsprachigkeit mag viele Vorteile haben, die Beförderung des internationalen Dialogs gehört nicht unbedingt dazu. Dass sich Forscher aus allen Erdteilen auf Englisch schnell, präzise und mit einheitlichen Definitionen austauschen können, hat gerade die Naturwissenschaften erheblich beschleunigt und vorangebracht. Das sollte den Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen 225 Roswitha Budeus-Budde Geisteswissenschaften zu denken geben. Gerade ihnen würden ein wenig mehr Internationalität und ein intensiverer Austausch mit der Welt gewiss nicht schaden. Dass dafür heute nun einmal Englisch die Sprache der Wahl ist, mag man beklagen – wegdiskutieren lässt es sich nicht. Mit ›America docet‹ hat das gerade dann nichts zu tun, wenn die Deutschen die Herausforderung annehmen, Englisch wie selbstverständlich beherrschen lernen und konsequent einsetzen, wo es der Wissenschaft und ihrer Verbreitung dient. Daraus entsteht dann noch lange kein kultureller oder gedanklicher Einheitsbrei. Oscar Wilde, der es wissen musste, hat einmal geschrieben: »Wir haben nahezu alles mit Amerika gemeinsam, außer natürlich die Sprache.« Umgekehrt gilt das erst recht: Nur weil wir miteinander eine Sprache sprechen, sind wir noch lange nicht gleich. Dr. Volker Meyer-Guckel ist stellvertretender Generalsekretär des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Er studierte Anglistik, Chemie und Philosophie in Kiel, Belfast und New York. Email: [email protected]. Moral versus Ästhetik. Zur aktuellen Debatte über political correctness in der Kinder- und Jugendliteratur Roswitha Budeus-Budde Im Jahr 1984 schrieb der Amerikaner Nat Hentoff ein Jugendbuch unter dem Titel The day, they came to arrest the book, das in Deutschland im Alibaba Verlag erschien und jetzt als Ravensburger Taschenbuch auf dem Markt ist – Der Tag, an dem sie das Buch verhaften wollten, eine authentische Geschichte um political correctness. Sie spielt an einer highschool, in der die Elterninitiative »Besorgte Bürger. Eltern für Gesunde Moral in den Schulen« immer mehr in die Bestände der Schulbibliothek eingreift, um Lektüre, die nach ihren Vorstellungen den Kindern schaden könnte, aus den Regalen zu entfernen. In diesem zensorisch fundamentalistischen Klima – es werden sogar Der Fänger im Roggen und Teile aus der Bibel konfisziert – besteht der Vater eines schwarzen Schülers darauf, dass auch Huckleberry Finn nicht mehr als Lektüre zur Verfügung stehen solle, weil das Wort »Nigger« eine Beleidigung für alle Schwarzen sei. In der öffentlichen Diskussion prallen die Meinungen heftig aufeinander, hier die Vision der Freiheit des Einzelnen, die auch jungen Lesern die Möglichkeit gibt, sich mit den unter- 226 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen Politik und Öffentlichkeit – Moral versus Ästhetik schiedlichsten Ideen auseinanderzusetzen, um sich eine eigene Meinung bilden zu können, auf der anderen Seite die Angst vor zu viel Gedankenfreiheit der Wächter über Sitte und Moral: »Individuelle Freiheiten sind zu kontrollieren, damit sie nicht ausufern, alle sollen dasselbe denken und zwar, was diese denken«, ist der wütende Kommentar der Bibliothekarin in der Schülerbücherei. Die Methode, die die selbsternannten Moralapostel und besorgten Eltern und Erzieher zur Begründung ihrer Forderungen anwenden, beruht darauf, dass Zitate aus dem Zusammenhang gerissen, Worte, wie hier Nigger, absolut ohne historischen Kontext gesehen werden und die Intention des Textes nicht berücksichtigt wird. Mit einer Verzögerung von fast 30 Jahren hat diese Debatte auch die deutsche Öffentlichkeit erreicht. Obwohl es immer schon zur Tradition der Kinder- und Jugendliteratur zählte, dass Texte, besonders aus der klassischen Abenteuerliteratur, verändert und für die jungen Leser bearbeitet wurden (in guten Ausgaben mit Quellenangaben), geschah dies doch fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit. So konnte Pippi Langstrumpfs Vater vom Negerkönig zum Südseekönig umbenannt oder die ursprüngliche Ausgabe von Kalle Blomquist sprachlich verändert und sogar gekürzt werden. Doch erst seitdem in der Öffentlichkeit heftig über political correctness diskutiert wird und sich der pädagogische Druck in Folge des Pisa-Schocks auch in der Kinder- und Jugendliteratur erhöht hat, erstaunt es nicht, dass nun auch hier mit moralischem statt literarischem Anspruch geurteilt wird. Das prominenteste Beispiel ist die Diskussion um Die kleine Hexe von Otfried Preußler. Anstoß genommen wurde an einer Faschingsszene, in der sich »kleine Negerlein« tummeln. Undenkbar, so etwas heute vorzulesen! Gegen eine Zensur, die mit Moral zum Wohle des Kindes argumentiert, haben Urheberrecht und ästhetisch-literarischer Anspruch keine Chance. Der Thienemann-Verlag reagierte mit dem Versprechen, diese Szene zu streichen. Doch was passiert mit den anderen kostümierten Kindern auf dem Marktplatz, den »Türken mit roten Mützen und weiten Pluderhosen, den gräulich bemalten Indianern, die ihre langen Speere schwingen und dem Hottentottenhäuptling, der Uaah!Uhaah brüllt«? Losgelöst vom Faschingsgetümmel sind das sehr diskriminierende Beschreibungen. Sie sollten auch gestrichen werden. Auf diese Art ist an jedem Buch etwas auszusetzen, ganz einfach, weil man die Intention negiert, zum Beispiel hier bei der Kleinen Hexe die spielerisch-emanzipatorische Grundidee des Autors einfach nicht sehen will. Man kann auch kleinen Kindern sehr gut erklären, dass Sprache einem Wertewandel unterliegt, sich die Bedeutung von Begriffen ändert. Als Otfried Preußler in den 70er Jahren seine Bücher gegen die antiautoritäre Szene verteidigte – er wurde ein sehr erfolgreicher Autor, auch wenn er nicht in diese ideologische Phase der Kinderliteratur passte –, konnte er nicht ahnen, dass gerade falsch verstandene Moral seinem Werk wirklich schaden wird. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen 227 Martina Kayser »Das Buch hat pädagogischen Mundgeruch«.1 Beschreibt dieses Verdikt des Illustrators und Autors Egbert Herfurt die Zukunft der Literatur für die jungen Leser? Roswitha Budeus-Budde ist verantwortliche Redakteurin für die Kinder- und Jugendliteratur in der Süddeutschen Zeitung. Fünf Jahrhunderte Deutsch Martina Kayser Beginnen wir mit Schlusssätzen. Mit Schlusssätzen, die fünf Jahrhunderte deutscher Geistesgeschichte evozieren. Mit Schlusssätzen aus Werken, die als intellektuelle Schöpfungen Menschheitskultur befördert, wenn nicht sogar revolutioniert haben. Mit Schlusssätzen von Autoren, die maßgeblich abendländische Kultur mitgeprägt haben. Mit Schlusssätzen, in denen sich das Deutsche als Weltsprache für den intellektuellen Austausch und die Wissenschaften etabliert hat. Das Sendschreiben Von der Freiheit eines Christenmenschen aus dem Jahr 1520 schließt: »Siehe, das ist die rechte geistliche, christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, welche alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde. Gebe uns Gott, dass wir diese Freiheit recht verstehen und behalten.« Die Kritik der reinen Vernunft von 1781 endet: »Der kritische Weg ist allein noch offen […] [auf dass] dasjenige, was viele Jahrhunderte nicht leisten konnten, noch vor Ablauf des gegenwärtigen erreicht werden möge: nämlich die menschliche Vernunft in dem, was ihre Wissbegierde jederzeit, bisher aber vergeblich, beschäftigt hat, zur völligen Befriedigung zu bringen.« Und ein gutes halbes Jahrhundert später der Schluss aus dem Manifest der Kommunistischen Partei von 1847/48: »Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« 1 Hans-Joachim Gelberg: Die Worte die Bilder das Kind. Über Kinderliteratur. Weinheim: Beltz&Gelberg 2005, S.149. 228 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen Politik und Öffentlichkeit – Fünf Jahrhunderte Deutsch Und wieder ein halbes Jahrhundert darauf der Schlusssatz der Traumdeutung von 1900: »Und der Wert des Traums für die Erkenntnis der Zukunft? Daran ist natürlich nicht zu denken […] Indem uns der Traum einen Wunsch als erfüllt vorstellt, führt er uns allerdings in die Zukunft; aber diese vom Träumer für gegenwärtig genommene Zukunft ist durch den unzerstörbaren Wunsch zum Ebenbild jener Vergangenheit gestaltet.« Und schließlich die Schlussworte der kleinen, 1916 erschienenen Schrift Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie: »Es ist die Überzeugung vorherrschend, dass die experimentell gesicherte Doppelnatur (Korpuskulare und Wellenstruktur) nur durch solche Abschwächung des Relativitätsbegriffs erzielbar sei. Ich denke, dass ein so weitgehender theoretischer Verzicht durch unser tatsächliches Wissen einstweilen nicht begründet ist und dass man sich nicht davon abhalten lassen soll, den Weg der relativistischen Feldtheorie zu Ende zu denken.« Die Urheber dieser Schlussworte hatten bereits ihr deutsches Idiom, in dem sie schrieben, bewusst oder unbewusst gegen eine Konkurrenz verteidigen müssen. Die Frage, »Warum Deutsch?«, hatten sie sich nicht ausdrücklich gestellt, sie haben sie aber faktisch beantwortet, jeder auf seine Weise und mit je eigenem Erkenntnisinteresse, mit je eigenem Aufklärungswillen. Sie schrieben in unterschiedlichen Sprachen und doch in ein und derselben Sprache. Jeder sprach in seinem eigenen Modus das aus, was wir mit Wilhelm von Humboldt als die je eigene Weltansicht begreifen können. Martin Luther, Immanuel Kant, Karl Marx, Sigmund Freud, Albert Einstein hätten als würdige Kronzeugen in Erscheinung treten können auf der Podiumsdiskussion in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 29. Januar 2013 und ebenso auf dem Kongress »Deutsch in den Wissenschaften« in Essen 2011. Beide Veranstaltungen versuchten die Frage nach der Zukunft von Deutsch als Wissenschaftssprache zu beantworten. Peter Andr Alt, der Präsident der Freien Universität Berlin, ermahnte auf der Podiumsdiskussion dazu, Vielfalt und Nuanciertheit des individuellen Ausdrucks auch dort zu erhalten, wo es um scheinbar exklusive Forschung geht. Nur so könne Wissenschaft durch die Klarheit ihrer Aussagen breit wirken und eine ihrer vorzüglichsten Aufgaben erfüllen: die, »ein Vorbild zu sein für genaues Denken«. Und Ralph Mocikat vom Arbeitskreis Deutsch als Wissenschaftssprache bekräftigte: Mit dem Verschwinden anderer Sprachen, als es das Englische ist, drohten ganze Wissenschaftstraditionen, deren Inhalte und damit die geistige Vielfalt Europas in Vergessenheit zu geraten. Internationalität bedeute nicht nur grenzenlose Kommunikation. Sie verlange auch den Erwerb interkultureller Kompetenzen, also das Verstehen der Menschen anderer Kulturkreise, ihrer Traditionen, Sprachen und Denkweisen. Gegen die gegenwärtige Hegemonie der Weltsprache Englisch plädierten Mocikat wie Alt für Multilingualität, also auch für die Evaluierung des Deutschen als führendes Medium von Intellektualität und Wissenschaft. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen 229 Martina Kayser Die Herausforderungen, auf die beide Kongresse zu antworten versucht haben, waren schon seit Jahrhunderten akut. Martin Luther musste sein geliebtes Deutsch als Theologe gegen die Weltsprache Latein und als Übersetzer gegen die heilige Sprache des Hebräischen durchsetzen. Er tat dies triumphal. Immanuel Kant hatte es zugleich mit dem Französischen und dem Englischen in Gestalt von Rousseau, Locke und Hume zu tun, Karl Marx schrieb sein Deutsch auf dem Fundament der englischsprachigen Nationalökonomie; Sigmund Freud, der hervorragend Englisch schrieb und sprach, und ebenso Albert Einstein schrieben in ihrer Muttersprache, als das Englische als Sprache des Imperiums bereits seine Weltherrschaft angetreten hatte. Warum Deutsch? Die gegenwärtige Diskussion um Rang, Wertigkeit und Priorität innerhalb des Weltsprachenensembles mündet in der Forderung nach Multilingualität. In dem erhofften neuen Zeitalter einer zivilen Weltgesellschaft und transkultureller Kommunikation sollte sich das Deutsche als Sprache der Weltkulturen erhalten und behaupten können. »Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht«, so fragte man sich 2011 in Essen. Pragmatische Dominanz und Funktionstüchtigkeit des Englischen müssten nicht angetastet werden, das Deutsche als zentrales Element der kulturellen Artenvielfalt sollte aber weiter gedeihen. Das Deutsche war und ist ein Modus von Weltwahrnehmung. Man kann gar nicht genug unterschiedliche Weltwahrnehmungen machen. Dr. Martina Kayser leitet das Programm »Geisteswissenschaften« im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Sie promovierte in der Germanistik mit einer Arbeit über Robert Musil und Marcel Proust. Email: [email protected]. 230 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen