Aktuelles Forum Faschismus und Nationalsozialismus im

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Aktuelles Forum Faschismus und Nationalsozialismus im
Aktuelles Forum
»Mario und der Zauberer« von Thomas Mann: einer der meistgelesenen Texte in
der Sekundarstufe II. Was lässt sich mit ihm noch gewinnen? Marc Andreoli und
Andreas Bär setzen sich mit der Frage auseinander, wie die Besonderheit eines
bestimmten Werks die Lust am Text erzeugen kann. Einem zum Schematischen
neigenden Einordnen in Kontexte arbeiten sie entgegen, indem sie zeigen, wie die
Erzählstrategien den Lesenden selbst zum Objekt von Manipulationen machen,
wenn er es zulässt. Es braucht Distanz, um dagegen vorzugehen. Mit dieser Erfahrung wird die Aufgabe, die Erzählung zu analysieren, auch subjektiv plausibel,
und das exemplarische Arbeiten gewinnt eine neue Bedeutung: Das Werk wird
nicht auf die Illustrierung eines Epochenproblems oder -kontexts reduziert,
sondern eine Epochen- bzw. Zeitproblematik lässt sich durch Analyse gleichsam
entdecken.
Gisela Beste
Faschismus und Nationalsozialismus im Spiegel der
Literatur – Thomas Manns Novelle »Mario und der
Zauberer« im Kontext1
Marc Andreoli und Andreas Bär
Folgt man dem Planungsprinzip des Zentralabiturs, Thomas Manns Novelle
»Mario und der Zauberer«2 im Kontext des Epochenumbruchs vom 19. zum
20. Jahrhundert zu erarbeiten, geht es offenkundig darum, das Werk vornehmlich
1 Der Beitrag ist eine Ausarbeitung des Unterrichtsmodells, das die Autoren auf der
im Rahmen des so genannten kleinen Germanistentages am 30. 10. 2010 gehaltenen
Fortbildung zu Thomas Manns Novelle »Mario und der Zauberer« präsentierten. Die
Teile zur textimmanenten Erschließung der Novelle wurden nicht in den Beitrag aufgenommen. Soweit notwendig und sinnvoll, wurde für den fachwissenschaftlichen
Kommentar die neueste Forschungsliteratur herangezogen. Bis dato veröffentlichte
Unterrichtsmodelle zur Novelle wurden nicht berücksichtigt.
2 Alle im Text unmittelbar mit Seitenzahlen belegten Zitate finden sich in: Thomas
Mann: Tonio Kröger. Mario und der Zauberer. Frankfurt a. M. 2010.
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als Dokument seiner Zeit zu verstehen, das mit bestimmten Inhalten und Formen
auf bestimmte Phänomene und Probleme der Zeit reagiert, diese literarisch
verarbeitet und gegebenenfalls einer – zumindest denkbaren – Lösung zuführt.
Die Schüler sollen die Novelle insbesondere als Zeugnis dieses Epochenumbruchs verstehen, als Dokument, das in einen komplexen sozial-, ideen- und
literarhistorischen Kontext gestellt ist und dabei nur eine von vielen Möglichkeiten literarischer Formgebung bildet. Der Unterricht hat somit nicht mehr
prinzipiell einer Werkzentrierung zu folgen, sondern einer Themen- und Problemorientierung. »Epochenbegriffe dienen hier dann nur noch zur Charakteristik von Strömungen und Positionen innerhalb des grundsätzlich problemorientiert angelegten Portraits einer ›Umbruchszeit‹.«3 Das Werk wird damit nicht
nur nicht mehr als Einheit betrachtet, dessen Kunstmäßigkeit im Fokus der unterrichtlichen Betrachtung steht, es verliert auch seinen exemplarischen, eben
›epochalen‹ Charakter und steuert lediglich eine von vielen anderen Auffassungen »zu einem Problem bei, das auch in anderen Werken aufgegriffen und womöglich anders bewertet wird.«4
Für die Bearbeitung der Novelle heißt dies insbesondere, nach Kontexten
Ausschau zu halten, die eine möglichst textnahe und umfassende Erschließung
des Werkes erlauben. Der historische Kontext liegt dabei auf der Hand. Denn als
Umbruchserfahrung darf um 1930 sicher der aufkommende Faschismus und
Nationalismus nicht nur Deutschlands betrachtet werden, der in den Zeitraum
der sogenannten Stabilisierungsphase der Weimarer Republik (1924 – 1932) fällt.
Den italienischen Faschismus erlebte Thomas Mann auf einer Urlaubsreise nach
Forte dei Marmi am eigenen Leib. In einem Brief an Hugo von Hofmannsthal
spricht er von »kleinen Widerwärtigkeiten […], die mit dem derzeitigen unerfreulichen überspannten und fremdenfeindlichen nationalen Gemütszustand
zusammenhingen«.5 Mag er sich diesen Vorfällen gegenüber auch gelassen verhalten haben, immerhin hielt er sie wenige Jahre später einer literarischen Verarbeitung wert. Eine Zeit, die auch Deutschland nicht ungenutzt ließ, faschistische und nationalsozialistische Tendenzen zu ›kultivieren‹, was bekanntlich zum
Untergang der Weimarer Republik beitrug und zur Machtergreifung Hitlers
führte.
Mit dem historischen Kontext des Untergangs der Weimarer Republik, der
Konjunktur des Faschismus und Nationalsozialismus bietet sich zudem ein
ideengeschichtlicher Kontext an: die Bedeutung der ›Masse‹ im frühen 20. Jahrhundert, ohne die der Aufschwung totalitärer Systeme nicht möglich gewesen
3 Karlheinz Fingerhut: »Didaktik der Literaturgeschichte«, in: Grundzüge der Literaturdidaktik. Hg. Klaus-Michael Bogdal / Hermann Korte. München 2002, S. 147 – 165,
hier S. 160.
4 Ebd., S. 162.
5 Zitiert aus Rudolf Vaget: Thomas Mann – Kommentar zu sämtlichen Erzählungen.
München 1998, S. 222.
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wäre. Die wachsende Bedeutung der ›Masse‹ auch für die Wissenschaft dokumentiert Le Bons Werk »Psychologie der Massen« aus dem Jahr 1895. Nicht nur
Sigmund Freud gehörte seinerzeit zu den interessierten Lesern dieses Werkes.
Man sagt bekanntlich auch Hitler nach, Le Bons Thesen gekannt und genutzt zu
haben. »Mario und der Zauberer« von Le Bon aus zu lesen, ist überdies zu einem
Gemeinplatz der Forschung geworden – freilich nicht, ohne dabei auf das Eigentümliche der Rezeption entsprechender Theoreme durch Thomas Mann
einzugehen: Wenn von dem Verhältnis zwischen ›Masse‹ und ›Führer‹ bei Mann
die Rede ist, dann im Zusammenhang mit der ihm eigenen ›Künstlerproblematik‹.
Die Novelle »Mario und der Zauberer« im Kontext literarischer Gestaltungen
des Faschismus und als Dokument eines Epochenumbruchs zu lesen, bedeutet
allerdings, mit den Schülern eine Lesart aufzubauen, die Thomas Mann durchaus
kritisch sah. Wie immer man aber die Vielzahl an Selbstauskünften Thomas
Manns zur politischen Dimension seiner Novelle deuten mag6, eine politische
Lesart scheint mindestens rezeptionsästhetisch legitim. Den Schülern wird der
Bezug zum Faschismus und Nationalismus bereits aufgrund ihrer ›vorwissenschaftlichen‹ Rezeptionshaltung einleuchten, ist diese doch von der Kenntnis der
nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands entscheidend geprägt.
Der sozialhistorische Kontext – Die Novelle als Zeitdokument des
Faschismus
Sofern die Einstiegsphase des Unterrichtsvorhabens, die ›Erstbegegnung‹ der
Schüler mit dem Text, als Phase der von Kreft so genannten »bornierten Subjektivität« gestaltet wird, lassen sich entsprechende Ergebnisse nutzen, um zum
Thema ›Faschismus‹ überzuleiten.
Mag den Schülern der Bezug zum Faschismus und Nationalismus des frühen 20.
Jahrhunderts auch unmittelbar einsichtig sein, differenzierte Kenntnisse von den
Merkmalen faschistischer Gesellschaften sind zunächst nicht zu erwarten, in
größerem Umfang zur Analyse der Novelle aber auch nicht notwendig. Zur Erarbeitung der Darstellung faschistischer Elemente in der Novelle reichen zentrale
Begrifflichkeiten aus. Daher empfiehlt sich ein deduktives Vorgehen: Im ersten
Arbeitsschritt sollen die Schüler Merkmale faschistischer Systeme erarbeiten, um
in einem zweiten Schritt anhand von Textbeispielen nachzuweisen, inwiefern in
der Novelle diese Merkmale literarisch gestaltet werden.7
6 Vgl. hierzu z. B. Dichter über Dichtungen. Thomas Mann, Tl. 2: 1918 – 1943. Hg.
Hans Wysling. Frankfurt a. M. 1979, S. 370 f.
7 Eine brauchbare, ausreichend sachhaltige und vor allem für Schüler leicht erreichbare Quelle ist die Internetpräsenz der Bundeszentrale für politische Bildung:
http://www.bpb.de/popup/popup_lemmata.html?guid=IM938R.
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Als das hervorstechendste Merkmal des Faschismus ergibt sich so zunächst die
Fremdenfeindlichkeit am Strand von Torre di Venere. »Es war Mitte August, die
italienische Saison stand noch in vollem Flor; das ist für Fremde der rechte Augenblick nicht, die Reize des Ortes schätzen zu lernen.« (75) Bereits hier, besonders wirkungsvoll durch die Inversion der Negationspartikel, macht der Erzähler deutlich, wie man im besagten italienischen Urlaubsort zu den Urlaubern,
den Fremden, steht. Die Atmosphäre empfindet der Erzähler als dergestalt
»national« (76), dass »der Fremde […] sich isoliert und augenblicksweise wie ein
Gast zweiten Ranges vorkommen mag.« (76) Man enthält der Familie einen
Sitzplatz auf der Veranda vor, der die Kinder des Erzählers vor allem durch
»rotbeschirmte Lampen« (79) besticht, mit dem Verweis darauf, »daß jener anheimelnde Aufenthalt ›unserer Kundschaft‹«, (76 f.) also den italienischen Urlaubsgästen, vorbehalten sei, und weist den Fremden einen »allgemein und
sachlich beleuchteten Saaltische« (77) zu. Gemäß dem strengen Aufbau der
Novelle erfahren gerade derartige Fremdenfeindlichkeiten, mit denen sich die
Familie des Erzählers konfrontiert sieht, eine Steigerung, eine Radikalisierung
sozusagen, die zunächst bekanntlich zum Umzug in die Pension Eleonora führt,
nachdem die »Restspuren eines Keuchhustens« (77) der Kinder eine Dame des
römischen Hochadels so in Aufregung versetzt hat, dass der Hotelmanger eine
»Umquartierung in den Nebenbau des Hotels« für eine »unumgängliche Notwendigkeit« (78) hält.
Bereits wesentlich subtiler, für Schüler der Oberstufe aber dennoch erkennbar,
ist die Darstellung des »Einsatz[es] von Gewalt«8 in faschistischen oder faschistoiden Systemen. Gewaltsamen Übergriffen ist die Familie freilich nicht ausgesetzt. Der Fuggiro allerdings führt beispielhaft Gewaltakte vor, indem er, von
der Attacke des Taschenkrebses erholt, »unter dem Scheine der Unabsichtlichkeit […] anderen Kindern die Sandbauten« (82) zerstört. Den Bezug zum Faschismus stellt der Erzähler selbst her:
»Dabei gehörte jener Zwölfjährige zu den Hauptträgern einer öffentlichen Stimmung,
die, schwer greifbar in der Luft liegend, uns einen so lieben Aufenthalt als nicht geheuer
verleiden wollte. Auf irgendeine Weise fehlte es der Atmosphäre an Unschuld, an
Zwanglosigkeit; dies Publikum ›hielt auf sich‹ – man wußte zunächst nicht recht, in
welchem Sinn und Geist, es prästabilierte Würde, stellte voreinander und vor dem
Fremden Ernst und Haltung, wach aufgerichtete Ehrliebe zur Schau – , wieso? Man
verstand bald, daß Politisches umging, die Idee der Nation im Spiele war.« (82)
Es ist endlich die Badeanzugepisode, die einen deutlichen Bezug zu den Merkmalen des Faschismus aufweist. Nicht nur, dass sich die Familie des Erzählers
wegen der kurzweiligen Nacktheit der Tochter alsbald in den Fängen der offen8 Ebd., Schubert, Klaus/Klein, Martina: Das Politlexikon. Bd. 4, aktual. Aufl., Bonn
2006.
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kundig streng hierarchisch strukturierten italienischen ›Strandbürokratie‹ wieder
findet, laut Koopmann ein Anzeichen für die »Eingriffe des Staates in Privates«9
(ein Abbild der »Unterwerfung unter das Führerprinzip«10 mag hier ebenfalls von
den Schülern gesehen werden), aus der Perspektive des Erzählers zeigt sich an
dem Strandvorfall so etwas wie eine »Auflösung der traditionellen […] Wertordnung«11. In der »Philippika«, der Kampfrede also, der sich der Erzähler ausgesetzt sieht, stellt sich für den Erzähler »alles Pathos des sinnenfreudigen Südens
[…] in den Dienst spröder Zucht und Sitte« (83).
Bei ausreichend genauer Lektüre der Novelle dürfte es den Schülern mit Hilfe
des deduktiven Zugangs zum Thema »Faschismus« auch nicht schwer fallen, die
entsprechenden Merkmale des Faschismus im zweiten Teil der Novelle dingfest
zu machen. Da Cipolla selbst seine Beziehung zum Publikum und das Verhältnis
von Befehlen und Gehorchen mit dem Verhältnis von Führer und Volk vergleicht
(vgl. 107), ist er leicht zumindest als Entsprechung jener »charismatischen, autoritären Führerfigur«12 auszumachen, die für den Faschismus signifikant ist. Und
auch die »Idee der Nation« findet sich im zweiten Teil der Novelle. Sei es die
Schelte, die zwei Italiener ob ihres Analphabetismus über sich ergehen lassen
müssen (vgl. 98), oder seien es die »patriotische[n] Betrachtungen« (102), die
Cipolla im Kontext der arithmetischen Versuche anstellt: Das Nationale und
Patriotische bleibt, neben dem Somnambulen und Irrationalen, das bestimmende
Moment.
Problematisch an diesem deduktiven Zugang ist allerdings, dass das Eigene
und Eigentümliche der Novelle und damit der Faschismusanalyse Thomas
Manns13 nicht eingeholt bzw. operationalisiert werden kann. Es ist eben das bereits in den ersten Sätzen der Novelle prononcierte atmosphärisch Unangenehme,
das Irrationale und Widervernünftige in der Stimmung und im Verhalten der
italienischen Urlaubsgäste wie der Bewohner Torre di Veneres – besonders
sinnfällig in der Keuchhustenepisode –, das in der Applikation der politikwissenschaftlichen Begrifflichkeit zunächst reduziert wird. Daher ist es notwendig, in
einem weiterführenden Unterrichtsgespräch die Beschreibung der Atmosphäre
des Urlaubsortes mit den Schülern zu thematisieren.
9 Helmut Koopmann: »Führerwille und Massenstimmung. Mario und der Zauberer«,
in: Interpretationen. Thomas Mann. Romane und Erzählungen. Hg. Volkmar Hansen,
S. 151 – 185, hier S. 163.
10 http://www.bpb.de/popup/popup_lemmata.html?guid=IM938R
11 Ebd.
12 Ebd.
13 Vgl. Helmut Koopmann, »Führerwille und Massenstimmung…« (wie Anm. 7),
S. 154.
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Der ideengeschichtliche Kontext – Das Verhältnis von ›Führer‹
und ›Masse‹. Cipolla und sein Publikum
Hat man mit den Schülern erarbeitet, dass und inwiefern Thomas Manns Novelle
als Zeitdokument und Cipolla als Darstellung oder Sinnbild einer Führerfigur zu
verstehen ist, lässt sich zur Thematisierung des Verhältnisses von ›Führer‹ und
›Masse‹ übergehen, das heißt zur Untersuchung des Verhältnisses zwischen
Cipolla und dem Publikum. Im Zentrum der Untersuchung sollte die Frage stehen, wie es Cipolla gelingt, sich das Publikum dienstbar zu machen. Was macht
Cipolla so erfolgreich? Die Sozialpsychologie Le Bons, dessen Rezeption seitens
Thomas Manns mittlerweile als gesichert gilt und entsprechend erforscht ist, stellt
hier ein brauchbares Analyseinventar zur Verfügung.14 Le Bon bietet den Schülern aber nicht nur ein quasi-literaturwissenschaftliches Analysegerüst, sondern
zugleich ein begriffliches Instrumentarium, ein gesellschaftliches Phänomen nicht
nur des frühen 20. Jahrhunderts zu beschreiben. Mit Massenphänomenen sind
Schüler hinlänglich vertraut. Seien es Besuche von Diskotheken, Fußballspielen,
Demonstrationen, Konzerten, so genannter Massenveranstaltungen eben, oder
einfach nur der Besuch einer Großstadt: Sie sind regelmäßig Teil jener Massen,
die Le Bon beschreibt und denen gegenüber der Erzähler der Novelle sich unverhohlen kritisch und abwertend verhält, zu deren Teil er gleichwohl im Verlauf
der Vorstellung selbst wird.
Die lebensweltliche Verankerung massen- oder sozialpsychologischer Phänomene sollte genutzt werden, um den Schülern einen an ihre eigenen Erfahrungen und ihren eigenen Kenntnisstand anknüpfenden Zugang zu Le Bons
Thesen zu ermöglichen.
In einer hinführenden Phase könnten die Schüler zunächst ihre eigenen Erfahrungen mit Massen und als Teil von Massen diskutieren. Die Ergebnisse
sollten in Form eines Ideensterns an der Tafel oder auf Folie festgehalten werden,
um nach der Erarbeitung der Theorie Le Bons auf diese zurückgreifen zu können.
Der Schwerpunkt sollte vor allem auf so genannten gruppendynamischen
Prozessen liegen und freilich auf der Rolle der »Führer« von Massen. Es ist nicht
notwendig, vielleicht sogar hinderlich, den Begriff »Führer« bereits im Vorhinein
politisch zu konnotieren. Entscheidend ist, dass die Schüler sich dessen bewusst
werden, was ihnen als Teil einer Masse widerfährt. Ergänzend oder alternativ zum
Ideenstern kann man den Schülern eine kreative Annäherung an die Problematik
offerieren, indem sie in Form einer kurzen Erzählung oder einer Schilderung
eigener Erfahrungen darstellen, wie sie sich als Teil einer Masse gefühlt, was sie
empfunden haben und wie sie mit dem Verhalten anderer Menschen in einer
Menschenmasse umgegangen sind oder sie beurteilt haben.
14 Zu einer ausführlichen Analyse von »Mario und der Zauberer« mit Bezug auf Le
Bon vgl. Regine Zeller: Cipolla und die Masse. Zu Thomas Manns Novelle ›Mario und
der Zauberer‹. St. Ingbert 2006.
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Erst dann sollten entsprechende Textauszüge aus Le Bons Schrift »Psychologie
der Massen«, in der Le Bon unter anderem sowohl das Sein der Masse wie auch
die Rolle des Führers und dessen Methoden der Beeinflussung und Überzeugung
bestimmt, in einem weiteren Arbeitsschritt von den Schülern erarbeitet werden.
Die eigenen Erfahrungen und Deutungen der Erfahrungen können dann mit
Hilfe der massenpsychologischen Begrifflichkeit Le Bons verglichen und reflektiert werden, um dann, in einem anschließenden Arbeitsschritt, das Verhältnis
zwischen Cipolla und dem Publikum zu untersuchen.
Was macht eine Masse als Masse aus? Und was widerfährt dem Individuum,
wenn es in den Bannkreis einer Masse gerät?
Von zentraler Bedeutung in der Bestimmung der Masse ist das von Le Bon so
genannte »Gesetz der seelischen Einheit der Massen«15. Die Masse »bildet ein
einziges Wesen«16. Wird eine Ansammlung von Menschen zu einer Masse im
eigentlichen Sinne des Wortes, also zu einer »organisierten Masse«17, schwindet
laut Le Bon die »bewußte Persönlichkeit«18 der Individuen, die Teil der Masse
sind. Das heißt, »die Gefühle und Gedanken aller einzelnen sind nach derselben
Richtung hin orientiert«19, gleichsam gleichgeschaltet; das Individuum verliert
die Kontrolle und sich selbst.
»Die Hauptmerkmale des einzelnen in der Masse sind also: Schwinden der bewußten
Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewußten Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung, Neigung zur unverzüglichen Verwirklichung der eingeflößten Ideen. Der einzelne ist nicht mehr er
selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt
hat.«20
Die Hauptursache der Entpersonalisierung der Einzelnen und der Entstehung
der »seelischen Einheit der Massen« ist Le Bon zufolge die »Beeinflußbarkeit
(suggstibilit)«21. Le Bon sieht in diesem Phänomen eine Gemeinsamkeit mit der
Hypnose:
»Wir wissen heute, daß ein Mensch in einen Zustand versetzt werden kann, der ihn seiner
bewußten Persönlichkeit beraubt und ihn allen Einflüssen des Hypnotiseurs, der ihm sein
Bewußtsein genommen hat, gehorchen und Handlungen begehen läßt, die zu seinem
Charakter und seinen Gewohnheiten in schärfstem Gegensatz stehen. Sorgfältige Be15 Gustav Le Bon: Psychologie der Massen. Mit einer Einführung von Dr. Helmut
Dingeldey. Stuttgart 1973, S. 10.
16 Ebd.
17 Ebd.
18 Ebd.
19 Ebd.
20 Ebd., S. 17.
21 Ebd., S. 16.
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obachtungen scheinen nun zu beweisen, daß ein einzelner, der lange Zeit im Schoße einer
wirkenden Masse eingebettet war, sich alsbald – durch Ausströmungen, die von ihr
ausgehen, oder sonst eine noch unbekannte Ursache – in einem besonderen Zustand
befindet, der sich sehr der Verzauberung nähert, die den Hypnotisierten unter dem
Einfluß des Hypnotiseurs überkommt.«22
Verstand, Vernunft, alle widerstandsfähigen Kräfte des Individuums würden in
der Masse »lahmgelegt«, der Mensch werde »der Sklave seiner unbewußten
Kräfte, die der Hypnotiseur nach seinem Belieben« lenke, »Willen und Unterscheidungsvermögen« fehlten.23 Widerstehen lässt sich der Macht der Masse laut
Le Bon nicht. Selbst Menschen, »die eine hinreichend starke Persönlichkeit
haben, um dem Einfluß zu widerstehen«24, würden von der Masse absorbiert; »der
Strom reißt sie mit«, da sie zahlenmäßig unterlegen seien.
Welche Rolle spielt nun der Führer in Menschenmassen? Er übernimmt alle
psychischen Funktionen, die der Mensch in der Masse verloren hat. Vor allem
wird laut Le Bon sein Wille zum die Masse lenkenden und bestimmenden Organ.
»Sein Wille ist der Kern, um den sich die Anschauungen bilden und ausgleichen. Die
Masse ist eine Herde, die sich ohne den Hirten nicht zu helfen weiß. […] Die Menge hört
immer auf den Menschen, der über einen starken Willen verfügt. Die in der Masse
vereinigten einzelnen verlieren allen Willen und wenden sich instinktiv dem zu, der ihn
besitzt.«25
Was den Führer zur Führung der Massen befähigt, fasst Le Bon in den zentralen
Begriff des Nimbus. Dieser Nimbus
»ist in Wahrheit eine Art Zauber, den eine Persönlichkeit, ein Werk oder eine Idee auf
uns ausübt. Die Bezauberung lähmt alle unsere kritischen Fähigkeiten und erfüllt unsere
Seelen mit Staunen und Ehrfurcht. Die Gefühle, die so hervorgerufen werden, sind
unerklärlich wie alle Gefühle, aber wahrscheinlich von derselben Art wie die Suggestion,
der ein Hypnotisierter unterliegt.«26
Anwendung Le Bons
Bereits intuitiv dürften die Schüler nun Parallelen zwischen Le Bons »Psychologie
der Massen« und Thomas Manns Novelle »Mario und der Zauberer« erkennen.
Insbesondere die Bedeutung der Hypnose für den Zustand der Masse, die Le Bon
22
23
24
25
26
Ebd.
Ebd.
Ebd., S. 17.
Ebd., S. 84.
Ebd., S. 93.
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wiederholt anführt, zeigt sich in der Novelle; Cipolla selbst wird als Hypnotiseur
bezeichnet, der mit Hilfe seiner Reitpeitsche den Willen des Publikums unterwirft. Cipolla wird damit als eine Führerfigur im Sinne Le Bons ausgewiesen. Es
sind aber auch seine rhetorischen Fähigkeiten, die Cipollas Nimbus ausmachen,
Worte mit einer »große[n] suggestive[n] Macht«27, die den Einfluss Cipollas begründen und zur Anerkennung seitens des Publikums führen:
»›Lavora bene!‹ Wir hörten die Feststellung da und dort in unserer Nähe, und sie bedeutete den Sieg sachlicher Gerechtigkeit über Antipathie und stille Empörung.« (105)
Auch das »Gesetz der seelischen Einheit der Massen« werden die Schüler schnell
identifiziert haben. Der zweite Teil der ›Zaubervorstellung‹ gelangt ja zu einem
ersten Höhepunkt, als sich das Publikum ohne direkte Einwirkung Cipollas
mitreißen lässt:
»[A]uch im Saale selbst gab es allerlei Beweglichkeit, und eine Angelsächsin mit Zwicker
und langen Zähnen war, ohne daß der Meister sich auch nur um sie gekümmert hätte, aus
ihrer Reihe hervorgekommen, um im Mittelgang eine Tarantella aufzuführen.« (118 f.)
Diese – zunächst oberflächlichen – Ergebnisse könnten bereits im Anschluss an
die Sicherung und Diskussion der Thesen Le Bons in einem Unterrichtsgespräch
festgehalten werden. Für eine vertiefende Anwendung der Gedanken Le Bons ist
aber ein weiterer Arbeitsschritt notwendig. Zu bedenken bleibt nämlich, dass
nach Le Bon nicht jede Ansammlung von Menschen eine »organisierte Masse«
ist. Und dies gilt gleichermaßen für das Publikum Cipollas. Die Charakteristika
dessen, was Le Bon auch »psychologische Masse« nennt, finden sich beim Publikum erst gegen Ende der Vorstellung. Das Publikum musste also erst zu einer
homogenen Menschenmasse gemacht werden. Dementsprechend sollten die
Schüler in einem weiteren Arbeitsschritt untersuchen, wie es Cipolla gelingt, aus
dem Publikum eine Masse zu machen, die dem »Führer« als Masse dienstbar wird.
Die Schüler könnten so herausstellen, dass Cipolla eine bestimmte Strategie
anwendet.28 Nachdem er sein Publikum zunächst über Gebühr lange warten ließ,
nutzt er gleich die erste Gelegenheit, seine Macht unter Beweis zu stellen, indem
er den Giovanotto dazu bringt, die Zunge herauszustrecken. Er versucht, »die
Kluft zwischen Podium und Zuschauerraum aufzuheben« (97). Ebenso wie er
»Vertreter des Publikums auf die Bühne nötigte« (ebd.), begibt er sich vom Podium herab, »um persönliche Berührung mit seinen Gästen zu suchen« (ebd.); ein
Vorgehen, das, wie alle Unterwerfungstechniken, »zu seinem Arbeitsstil« (ebd.)
gehört. Im Rahmen der arithmetischen Versuche übt er sich zunächst in der Be27 Ebd., S. 84.
28 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Regine Zeller: Cipolla und die Masse… (wie
Anm. 12), S. 68 – 80.
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einflussung Einzelner, die ihm dann eine gebührende Anerkennung beim Publikum verschafft, um im Rollentausch – nun ist Cipolla der ausführende Teil, das
Publikum der lenkende – ein Gemeinschaftsgefühl herzustellen, das ihm ermöglicht, einen Gemeinschaftswillen auszuführen. Im zweiten Teil der Vorstellung, der »ausschließlich auf den Spezialversuch, die Demonstration der Willensentziehung und –aufnötigung, gestellt« ist (112), entführt Cipolla zunächst
Frau Angiolieri zeitweise aus dem Wirkungskreis ihres Gatten und ficht dann mit
dem römischen Herrn, der sich vehement gegen den von Cipolla befohlenen Tanz
wehrt, um die »Vollendung seiner Herrschaft« (116). Und er gewinnt den Kampf.
Mario und der Erzähler
Zwei Figuren, die in der Masse des Publikums eine besondere Position einnehmen, sind freilich Mario und der Erzähler. Mit ihnen werden mögliche Formen des
Widerstands gegen Cipolla und somit gegen faschistisch-totalitäre Systeme
überhaupt zur Diskussion gestellt. Mario, das letzte Opfer der entwürdigenden
Willensentziehungen durch Cipolla, sorgt für das »Ende mit Schrecken«, das der
Erzähler seinerseits als »befreiendes Ende« empfindet (127). Nachdem Cipolla
Mario glauben gemacht hat, er sei Marios unglückliche Liebe Silvestra und sich so
einen Kuss von Mario erschleicht, streckt Mario den Zauberer mit zwei Schüssen
nieder. Damit ist die ›unerhörte Begebenheit‹ bedeutet, die die Erzählung zur
Novelle macht.
Da die Beweggründe Marios eine Leerstelle bilden, empfiehlt sich ein produktionsorientierter Zugang zu dieser Figur. Die Schüler bekommen die Aufgabe, einen inneren Monolog zu verfassen, den Mario nach der Tat hält. In diesem
Monolog sollen die Schüler aus der Perspektive Marios darüber nachdenken, wie
er sich nach dem Erwachen aus der Hypnose gefühlt und aus welchen Motiven
und Beweggründen er den Zauberer erschossen hat. Nach der Präsentation der
Monologe sollten diese zunächst, so weit möglich, auf ihre Stimmigkeit mit der
Textgrundlage hin überprüft werden, um dann im nächsten Arbeitsschritt die
Monologe in einem Unterrichtsgespräch zu reflektieren. Entscheidend für die
Lehrperson ist, dass sie an geeigneter Stelle der Reflexion der Ergebnisse Marios
Tat als politische Tat zur Diskussion stellt: Was würde Marios Tat für einen politischen Führer bedeuten? Die Schüler erkennen so die politische Dimension des
Widerstands Marios und können Konsequenzen für faktische totalitäre Systeme
ableiten und diskutieren beispielsweise, inwieweit Cipolla sich zu weit in das
Privatleben Marios eingemischt hat und ob faschistische und totalitäre Herrschaft
die Grenze ihrer Macht in den Grenzen des Intimen und Privaten findet.29 Ebenso
29 Vgl. Hartmut Böhme: »Thomas Mann: Mario und der Zauberer. Position des Erzählers und Psychologie der Herrschaft«, in: Stationen der Thomas-Mann-Forschung.
Aufsätze seit 1970. Hg. Hermann Kurzke, S. 166 – 189, hier S. 178. Böhme sieht in der
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ließe sich überlegen, ob das Ende Cipollas nicht auf ein grundsätzlich unantastbares Gut verweist, nämlich die Liebe. Selbst für den ›Führer‹ springt noch etwas
dabei heraus, könnte das Unterrichtsgespräch doch ergeben, dass ein politischer
Führer Freiheiten zu wahren oder zumindest die Illusion von Freiheit aufrechtzuerhalten hat, will er seinen Machtanspruch nicht einbüßen. Jedenfalls sollte
diese Phase nicht abgeschlossen werden, ohne die Tauglichkeit des Widerstands
Marios oder alternative Formen der Widersetzung zu diskutieren.
Diese Auseinandersetzung mit Mario bildet dann zugleich den Übergang zur
Thematisierung der Erzählerfigur. Denn auch diese Figur wirft die Frage nach
Möglichkeiten des Widerstands auf. Eine Überleitung kann gezielt durch die
Diskussion des Erzählerkommentars zum »Ende mit Schrecken« erfolgen. Wieso
empfindet der Erzähler das Ende als befreiend? Befand sich der Erzähler überhaupt im Bannkreis Cipollas? Hätte er dieses Ende überhaupt nötig gehabt oder
wäre er kraft eigenen Willens in der Lage gewesen, der Macht Cipollas zu widerstehen?
»Nicht weil der Erzähler Ausländer ist, bleibt er frei von den Bedrückungen des Zauberabends, sondern weil er Intellektueller ist und den faulen Zauber durchschaut, bei aller
Bewunderung für das Erreichte, und seine kühle Distanz niemals aufgibt.«30
Diese These Koopmanns ist freilich von der Forschung nicht unwidersprochen
hingenommen worden.31 Umso weniger müssen die Schüler dieser These zustimmen. Allerdings, und dies bildet den Kern der Auseinandersetzung mit der
Erzählerfigur an dieser Position der Reihe, sollten die Schüler, ganz im Sinne
eines wissenschaftspropädeutischen Arbeitens, diese These diskutieren und begründet Stellung nehmen. Besonders gut geeignet wäre diese Aufgabe als Hausaufgabe, denn es kommt bei der Auseinandersetzung mit Koopmanns Position auf
eine genaue Textarbeit an. Die Hausaufgaben sollten dann zunächst in Kleingruppen von den Schülern besprochen werden. Die Argumente für und gegen
diese These sollten auf Folie gesichert werden, um sie in einem nächsten Schritt im
Plenum auswerten zu können.
Novelle eine »Dialektik von Herrschaft und Widerstand«, die mit dem Sieg über den
Herrn aus Rom zum Stillstand gekommen sei. Mario zum Kuss zu nötigen, sei die
Übertretung der »›immanente[n]‹ Schranke der Macht. Diese Schranke aber wird gebildet von dem zutiefst bürgerlichen Moment der Intimität und Privatsphäre.«
30 Helmut Koopmann, »Führerwille und Massenstimmung…« (wie Anm. 7), S. 173.
31 Gegen Koopmann vgl. Regine Zeller: »›Die beherrschende Kraft eines stärkeren
Wollens‹ – der Cavaliere Cipolla und die Verführung der Masse«, in: Thomas Manns
›Mario und der Zauberer‹. Hg. Holger Pils / Christina Ulrich. Lübeck 2010, S. 53 – 69, bes.
S. 62 ff.
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Die »Künstlerproblematik«
Die Bearbeitung der Novelle und der Kontexte, in die sie eingelassen ist, bliebe
freilich unvollständig, behandelte man die so genannte Künstlerproblematik
nicht, die vor allem mit dem Themenkomplex des Verhältnisses zwischen
»Masse« und »Führer« aufs Engste verbunden ist.
Inwiefern ist Cipolla ein ›Künstler‹? Er ist, so wird er auf Plakaten angekündigt, »ein Unterhaltungskünstler, Forzatore, Illusionista und Prestidigitatore«
(86). ›Künstler‹ ist er wohl auch aufgrund seiner rhetorischen Fähigkeiten, mit
denen er – neben dem hypnotischen und psychologischen Geschick – die Menschen zu beeindrucken und zu manipulieren weiß. Eben diese Manipulation rückt
Cipollas ›Künstlertum‹ in die Nähe des Verbrechertums, des Kriminellen. ›Kriminell‹ sind seine andauernden Entwürdigungen des Publikums genauso wie die
Tatsache, dass er, wie der Erzähler erkennt, ein Scharlatan ist. (vgl. 90)
Die Komplizenschaft von Künstlertum und Verbrechertum ist bekanntlich
auch die Problemstellung des Essays »Bruder Hitler« aus dem Jahre 1939. Dieser
Essay ist daher besonders geeignet, die politische Dimension des Künstlerproblems mit den Schülern näher zu beleuchten.
Warum ist Hitler ein Bruder des Künstlers und damit ja auch Thomas Manns,
wenn auch ein »etwas unangenehmer und beschämender«32 ? »Es ist,« so lautet
Manns Antwort,
»auf eine gewisse beschämende Weise, alles da: die ›Schwierigkeit‹, Faulheit und klägliche Undefinierbarkeit der Frühe, das ›Nicht-unterzubringen-Sein‹, das ›Was-willst-dunun-eigentlich?‹, das halb blöde Hinvegetieren in tiefster sozialer und seelischer Boheme, das im Grunde hochmütige, im Grunde sich für zu gut haltende Abweisen jeder
vernünftigen und ehrenwerten Tätigkeit – auf Grund wovon? Auf Grund einer dumpfen
Ahnung, vorbehalten zu sein für etwas ganz Unbestimmbares, bei dessen Nennung, wenn
es zu nennen wäre, die Menschen in Gelächter ausbrechen würden. Dazu das schlechte
Gewissen, das Schuldgefühl, die Wut auf die Welt, der revolutionäre Instinkt, die unterbewußte Ansammlung explosiver Kompensationswünsche, das zäh arbeitende Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, zu beweisen, der Drang zur Überwältigung, Unterwerfung,
der Traum, eine in Angst, Liebe, Bewunderung, Scham vergehende Welt zu Füßen des
einst Verschmähten zu sehen […]. Aber auch die Unersättlichkeit des Kompensationsund Selbstverherrlichungstriebes ist da, Ruhelosigkeit, das Vergessen der Erfolge, ihr
rasches Sichabnutzen für das Selbstbewußtsein, die Leere und Langeweile, das Nichtigkeitsgefühl, sobald nichts anzustellen und die Welt nicht in Atem zu halten ist, der
schlaflose Zwang zum Immer-wieder-sich-neu-beweisen-Müssen…«33
32 Thomas Mann: »Bruder Hitler«, in: Thomas Mann. Essays. Bd. 4: Achtung Europa. 1933 – 1938. Hg. Hermann Kurzke / Stephan Stachorski. Frankfurt a. M. 2007,
S. 305 – 314, hier S. 309.
33 Ebd., S. 308.
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Tatsächlich nimmt sich der Essay angesichts dieser und anderer Stellen »wie eine
das Grauenhafte, Gespenstische, zutiefst Unheimliche benennende Nachschrift«34 zu »Mario und der Zauberer« aus. Es ist, als hätte Thomas Mann eine
nachträgliche Charakterisierung und Analyse Cipollas geliefert. Die additiv aneinander gereihten Gemeinsamkeiten zwischen Künstler und Hitler sind Psychologie des Künstlers und faschistischen Führers in Einem. Es sind vor allem der
von Mann erwähnte Überwältigungs- und Unterwerfungsdrang und die wohl
damit im Zusammenhang stehende Kompensation, die an Cipolla mahnen.
Cipolla, der sich in der Beschreibung des Erzählers ja geradezu als eine Ausgeburt
an Hässlichkeit ausnimmt, kompensiert diese Hässlichkeit, die ihn als einen im
Sinne Nietzsches Schlechtweggekommenen qualifiziert. Es ist aber auch die
»unsäglich inferiore, aber massenwirksame Beredsamkeit, dies platt hysterisch
und komödiantisch geartete Werkzeug«, das Cipolla mit Hitler und somit jedem
faschistisch-nationalsozialistischen Führer gemeinsam hat.
Um das Künstlertum Hitlers zu bestimmen, greift Mann auf eine antithetische
Begrifflichkeit zurück, die bereits aus anderen Werkkontexten Manns bekannt
ist. Wie dem Künstlertum überhaupt, so ordnet Mann auch dem Künstlertum
Hitlers den Begriff des Lebens zu, der dem Begriff des Geistes und damit auch der
Moral opponiert. An einem Künstlertum, das sich dem Leben verschrieben hat,
hält Mann aber fest. Und er vermag dem Faktum ›Hitler‹ auch etwas Gutes
abzugewinnen, denn
»es ist auch eine beruhigende Erfahrung, daß trotz aller Erkenntnis, Aufklärung, Analyse,
allen Fortschritten des Wissens vom Menschen – an Wirkung, Geschehen, eindrucksvoller Projektion des Unbewußten in die Realität jederzeit alles möglich bleibt auf
Erden.«35
Zum Verbrechertum wird Hitlers Künstlertum nach Mann aber dadurch, dass
eine Übergewichtung des Unbewussten und Instinktiven in Primitivität abgleitet,
dass »Primitivismus in seiner frechen Selbstverherrlichung gegen Zeit und Gesittungsstufe« zur »›Weltanschauung‹« wird.36 Die Ignoranz dem erreichten Grad
an Kultur und Zivilisation gegenüber, Mangel an Geist bedingt Kunst als Verbrechen.
Damit bezeichnet Mann zugleich die Differenz, die ihn vom ›Künstler‹ Hitler
trennt. Auch Mann ist zwar ein Fürsprecher des Lebens, aber »als ironischer
Parteigänger des Lebens«37, der um den endgültigen Verlust und die Unmög34 Helmut Koopmann: »Der Künstler als Scharlatan. Bruder Cipolla und seine Vorgänger«, in: Thomas Manns ›Mario und der Zauberer‹. Hg. Holger Pils / Christina Ulrich.
Lübeck 2010, S. 37 – 51, hier S. 48.
35 Thomas Mann: »Bruder Hitler«… (wie Anm. 31), S. 309.
36 Ebd.
37 Ebd.
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lichkeit der »Vereinfachung der Seele«38 weiß. Hitlers Kunst dagegen ist für Mann
»geistig unkontrollierte Kunst, Kunst als schwarze Magie und unverantwortliche
Instinktgeburt«39.
Thomas Mann ist freilich weit davon entfernt, allein dem Geist, zumal als
Instanz von Sittlichkeit und Moralität, das Feld der Kunst zu überlassen, denn
»Moral, sofern sie die Spontaneität und Unschuld des Lebens beeinträchtigt, [ist]
nicht unbedingt Sache des Künstlers.«40 Er plädiert allerdings für ein ausgewogenes Verhältnis von Rationalität und Irrationalität, von Geist und Leben:
»Kunst ist freilich nicht nur Licht und Geist, aber sie ist auch nicht nur Dunkelgebräu und
blinde Ausgeburt der tellurischen Unterwelt, nicht nur ›Leben‹. Deutlicher und glücklicher als bisher wird Künstlertum sich in Zukunft als einen helleren Zauber erkennen
und manifestieren: als ein beflügelt-hermetisch-mondverwandtes Mittlertum zwischen
Geist und Leben. Aber Mittlertum selbst ist Geist.«41
Der Anklang aufklärerischen Gedankenguts ist unüberhörbar. Mag Thomas
Manns Verhältnis zur Aufklärung auch von je her problematisch gewesen sein,
spätestens mit dem Erstarken von Irrationalismus und Faschismus und seinem
damit verbundenen politischen Bekenntnis zur Weimarer Republik lassen sich in
verschiedenen seiner Essays Anleihen bei der Aufklärung finden.42 Aber auch
bereits weit vor der Abfassung der Novelle »Mario und Zauberer« und des Essays
»Bruder Hitler« bediente sich Mann bei der Aufklärung, um seine eigene
Kunstpraxis, die er selbst als durch und durch ›vergeistigt‹, als analytisch und
kalkulierend und eben damit als nicht minder manipulativ ansah, zu legitimieren.
Die Aufnahme des Geistes in die Kunst gewährte die Moral, das Sittliche. »Schön
schreiben«, so Thomas Mann in seinem Essay »Der Künstler und der Literat« aus
dem Jahre 1913,
»heißt beinahe schön denken, und von da ist nicht weit mehr zum schönen Handeln. Alle
Sittigung – das ist billig festzustellen – alle sittliche Veredelung und Steigerung des
Menschengeschlechts entstammt dem Geiste der Literatur, und schon den Volkspädagogen der Alten galt das schöne Wort als der Erzeuger der guten Tat.«43
Über den Begriff des Geistes und des Lebens sind also die Novelle und der Essay
38 Ebd., S. 310.
39 Ebd., S. 312.
40 Ebd., S. 309.
41 Ebd., S. 312.
42 Vgl. Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche-Werk-Wirkung. 4., überarbeitete
Auflage. München 2010, S. 228.
43 Thomas Mann: »Der Künstler und der Literat«, in: Thomas Mann. Essays. Bd. 1:
Frühlingssturm. 1893 – 1918. Hg. Hermann Kurzke / Stephan Stachorski. Frankfurt a. M.
1993, S. 158 – 165, hier S. 160.
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»Bruder Hitler«, über den Begriff des Geistes beide mit der ›Epoche‹ der Aufklärung verbunden. Gegen Hitler spricht und schreibt der ›Aufklärer‹ Thomas
Mann. Diesen Konnex sollte man nutzen, um eine epochenübergreifende Kontextuierung mit dem Gedankengut der Aufklärung im Unterricht vorzunehmen.
Den Schülern kann so einmal mehr deutlich werden, dass ›Epochen‹ keine isolierten und in sich abgeschlossenen Kontinuen sind, sondern Autoren immer auch
aus vergangenen ›Epochen‹ schöpfen, um sich künstlerisch und ›weltanschaulich‹
zu positionieren, zumal wenn sich Problemüberhänge ergeben. Denn das problematische Verhältnis von Geist und Leben, das Thomas Mann Zeit seines Lebens umtrieb, ist der Aufklärung bekannt als die problematische Beziehung von
Vernunft und Neigung, die – man denke an den historischen Kontext der »ästhetischen Erziehung« Schillers – ebenso politisch relevant werden kann wie das
Verhältnis von Geist und Leben im frühen 20. Jahrhundert.
Bei der Erarbeitung der genannten Bezüge ist zunächst von der Novelle selbst
auszugehen. In einem vom Lehrer moderierten Unterrichtsgespräch sollte die
Bedeutung des Geistes in »Mario und der Zauberer« erarbeitet werden. Die
Intellektualität des Erzählers kann hier ebenso zur Sprache kommen wie der
Rationalismus Cipollas selbst. Insbesondere auf diesen allerdings kommt es in
dem ersten Arbeitsschritt an. Welche Bedeutung hat ›Geist‹ für Cipolla? Was hat
das, was Cipolla unternimmt, mit ›Geist‹ zu tun?
»Allein mit den Kräften meiner Seele und meines Geistes meistere ich das Leben, was ja
immer nur heißt: sich selbst bemeistern, und schmeichle mir, mit meiner Arbeit die
achtungsvolle Anteilnahme der gebildeten Öffentlichkeit erregt zu haben.« (94)
Ausgehend von dieser Kernstelle der Novelle, in der die Opposition von Geist
und Leben aufgebaut wird, sollte man mit den Schülern das ›Geistige‹ an Cipollas
›Kunst‹ herausarbeiten. Er nutzt den Geist, um das Leben zu meistern. Und nach
der Erarbeitung der Unterwerfungsstrategien Cipollas in der vorangegangenen
Sequenz müssten die Schüler zu dem Ergebnis kommen, dass sich Cipolla nicht
nur seines eigenen Lebens bemächtigt, sondern auch des Lebens anderer, zumal
Cipolla selbst hier auch keinen Unterschied sieht. Er setzt seine Macht, seine
psychologisch-hypnotischen Kenntnisse rational, d. h. demagogisch kalkulierend,
ein und scheint es mithin geradezu auf das Schöne und Vitale – nämlich in der
Gestalt des Giovanotto – abgesehen zu haben.
Hat man mit den Schülern geklärt, dass ›Geist‹ für Cipolla das vorrangige
Instrument von Kontrolle und Unterwerfung ist, sind in einem zweiten Arbeitsschritt die Merkmale einer aufgeklärten Persönlichkeit zu erarbeiten, wie sie sich
in Kants und Lessings Schriften finden, damit die Schüler im darauf folgenden
Schritt aufklärerische Elemente der Ästhetik Manns, wie sie in dem Essay
»Bruder Hitler« anklingen, erarbeiten können.
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Die auch im Unterricht oft zitierte und behandelte Definition Kants ist bekannt:
»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu
bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht
am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner
ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen
Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen,
nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter majorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht
wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe
ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat,
einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.«44
Selbstständig schlussfolgernd und logisch korrekt, vor allem selbstständig denkend muss die aufgeklärte Persönlichkeit nach Kant sein. Sie zeichnet sich durch
eine verantwortungsvolle Lebensführung und durch einen vernünftigen Umgang
mit dem eigenen Körper aus. Das sind Attribute, mit denen Cipolla sich gewiss
nicht charakterisieren lässt. An den Maßstäben Kants können die Schüler freilich
auch das Publikum messen. Dass die hypnotisierten Zuschauer unmündig handeln, da ihre eigenen Verstandeskräfte, ihre bewusste Persönlichkeit, wie Le Bon
formulieren würde, außer Kraft gesetzt sind, leuchtet ein. Handeln sie aber auch
selbstverschuldet unmündig? Glaubt man dem Erzähler, ist der Wille zum Widerstand beim Publikum jedenfalls weniger ausgeprägt, als es ein erster Blick auf
das Geschehen im Vorstellungssaal vermuten lässt. Der Erzähler wird den Eindruck nicht los, »daß alles gewissermaßen auf Übereinkunft beruhte, und daß
sowohl die beiden analphabetischen Dickhäuter wie auch der Giovanotto in der
Jacke dem Künstler halb und halb zur Hand gingen, um Theater zu produzieren.«
(99) Der »Jüngling«, der in der zweiten Hälfte der Vorstellung als Sitzbank Cipollas dient, »schien«, so der Erzähler,
»in der Hörigkeit sich ganz zu behagen und seine armselige Selbstbestimmung gern los zu
sein; denn immer wieder bot er sich als Versuchsobjekt an und setzte sichtlich Ehre
darein, ein Musterbeispiel prompter Entseelung und Willenlosigkeit zu bieten.« (116)
44 Immanuel Kant: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: Kant. Werke.
Bd. VI. Hg. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1966, S. 51 – 61, hier S. 51.
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Schuldig ist also nicht allein Cipolla, sondern auch das Publikum trägt Verantwortung für den Erfolg der eigenen Unterwerfung.45
Kants Ausführungen zur Aufklärung sollten um Gedanken Lessings ergänzt
werden, in denen die Bedeutung des ›Geistes‹ für eine aufgeklärte Persönlichkeit
deutlich wird.
»Der Mensch ward zum Tun und nicht zum Vernünfteln erschaffen. Aber eben deswegen,
weil er nicht dazu erschaffen ward, hängt er diesem mehr als jenem nach. Seine Bosheit
unternimmt allezeit das, was er nicht soll, und seine Verwegenheit allezeit das, was er
nicht kann. Er, der Mensch, sollte sich Schranken setzen lassen? […]
Der weiseste unter den Menschen, nach einem Ausspruche des Orakels, in dem es sich am
wenigsten gleich war, bemühte sich die Lernbegierde von diesem verwegenen Fluge
zurückzuholen. Törichte Sterbliche, was über euch ist, ist nicht für euch! Kehret den Blick
in euch selbst! In euch sind die unerforschten Tiefen, worinnen ihr euch mit Nutzen
verlieren könnt. Hier untersucht die geheimsten Winkel. Hier lernet die Schwäche und
Stärke, die verdeckten Gänge und den offenbaren Ausbruch eurer Leidenschaften. Hier
richtet das Reich auf, wo ihr Untertan und König seid! Hier begreifet und beherrschet das
einzige, was ihr begreifen und beherrschen sollt: euch selbst.«46
Freilich legt Lessing besonders Gewicht auf den Aspekt der Selbstkontrolle und
Selbstdisziplinierung, die auch Cipolla nicht fremd sind. Entscheidend ist aber,
dass der aufgeklärte Mensch nicht in einer theoretischen Haltung aufgehen soll –
das »Vernünfteln« verbietet sich dem aufgeklärten Menschen nach Lessing –,
sondern seine Einsichten sollen sich in moralisch gutes Handeln umsetzen. Bereits Lessing sieht die Gefahr einer moralischen Verwahrlosung durch eine einseitige oder schlicht verfehlte Ausbildung geistiger Fähigkeiten. Nicht die Beherrschung der Mitmenschen sollte angestrebt werden, sondern die Beherrschung des Selbst. Was sich so kritisch gegen Cipolla wenden lässt, trifft freilich
auch Hitler; und gerade in diesem Punkt ist Thomas Mann ›Aufklärer‹.
Ein Votum für Geist und Vernunft und gegen eine Übergewichtung der Leidenschaften und Empfindungen spricht Lessing auch im 49. Literaturbrief aus:
»Die Wahrheit läßt sich nicht so in dem Taumel unsrer Empfindungen haschen! Ich
verdenke es dem Verfasser [der in Kopenhagen erschienenen moralischen Wochenschrift
»Der nordische Aufseher«] sehr, daß Er sich bloß gegeben, so etwas auch nur vermuten zu
können.
Er steht an der wahren Quelle, aus welcher alle fanatischen und enthusiastischen Begriffe
von Gott geflossen sind. Mit wenig deutlichen Ideen von Gott und den göttlichen Voll-
45 Vgl. Helmut Koopmann: »Führerwille und Massenstimmung…« (wie Anm. 7),
S. 167.
46 Gotthold Ephraim Lessing: »Gedanken über die Hernhuter«, in: Lessing. Werke
und Briefe. Bd. I. Hg. Wilfried Barner / Klaus Bohnen u. a.. Frankfurt a. M. 1985,
S. 936 – 939.
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kommenheiten setzt sich der Schwärmer hin, überläßt sich ganz seinen Empfindungen,
nimmt die Lebhaftigkeit derselben für deutliche Begriffe, wagt es, sie in Worte zu kleiden«.47
Bei der Anwendung aufklärerischer Theoreme dürfte den Schülern problemlos
auffallen, dass Cipolla durchaus Merkmale einer aufgeklärten Persönlichkeit
besitzt. Es ist ja gerade die Herrschaft des Geistes, die die Aufklärung fordert und
die Cipolla ausübt. Im Unterrichtsgespräch sollten die Schüler daher durch entsprechende Impulse zu der Erkenntnis geführt werden, dass Cipolla doch eine
Kernkompetenz des aufgeklärten Menschen fehlt: Moralität.
Im nächsten Schritt sollten die Schüler Manns Essay »Bruder Hitler« oder
geeignete Auszüge erarbeiten, indem sie stichwortartig herausstellen, inwiefern
der Essay Gedanken der Aufklärung aufnimmt. Die Ergebnisse sollten an der
Tafel festgehalten werden, z. B. durch eine Gegenüberstellung der Begriffe
»Geist« und »Leben«. Den Schülern soll deutlich werden, dass Thomas Mann auf
die Aufklärung verweist.
Bleibt nun noch im letzten Arbeitsschritt, die Bezüge zwischen dem Essay und
der Novelle zu thematisieren, indem die Schüler anhand geeigneter Textstellen
aufzeigen, welche Kriterien von Kunst, die Mann in seinem Essay benennt,
Cipolla erfüllt und welche nicht. In einem Tafelbild, z. B. einer Strukturskizze,
sollte dann festgehalten werden, dass sich Cipollas Künstlertum ebenso wie
Hitlers durch einen Mangel an Geistigkeit auszeichnet. Dabei ist unter Geistigkeit, das hat der Weg über die Aufklärung ergeben, nicht allein Intellektualismus
zu verstehen, denn diesen hat Cipolla ja bis zur Perfektion ›kultiviert‹. Vielmehr
dissoziiert Cipolla Geist und Moral, wodurch das Geistige bei ihm einzig in Form
einer instrumentellen Vernunft verbleibt. Thomas Manns Novelle kann so von
den Schülern auch als ein Werk gelesen werden, das die Probleme aufzeigt, die
sich aus der Verabsolutierung der intellektuellen Fähigkeiten und der Indienstnahme von Kunst jenseits humanistischer (was im Selbstverständnis Thomas
Manns heißt: bürgerlicher) Grundwerte des Menschen ergeben. Der Mangel an
Geist, an moralischer Regulation der Kunst Cipollas, zeigt sich neben der Unterwerfung des Publikums im Rauschhaften: Der Konsum von Nikotin und Alkohol, die Tanzorgie oder der Rollentausch, der Cipolla selbst in einen somnambulen Zustand versetzt – sofern nicht auch dieser ›kalkuliert‹ ist – sind Indizien für jene »schwarze Magie«, die nach Mann auch Hitlers Kunst auszeichnet.
47 Ebd., Bd. IV, S. 609.
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Der Erzähler
Aus der konstruktivistischen Didaktik und Methodik ist der Wert von Irritationen, die an passenden Stellen des Lernprozesses gesetzt werden, bekannt. Irritiert
wird zum Zweck eigenständiger Wissens- und Urteilskonstruktionen. In diesem
Sinne irritierend für die Schüler dürfte die Frage sein, ob und inwiefern Thomas
Mann selbst – in der Novelle vermittelt über den Erzähler – zum ›Diktator‹ oder
›Führer‹ wird, d. h. zum Cipolla, der sein Publikum respektive seine Leser steuert
und lenkt. Irritierend ist diese Frage, da die vorangegangene Sequenz aufklärerische, also moralische Momente der Ästhetik Manns herausgestellt hat, die nun
in Frage gestellt werden können. Ist der ›Aufklärer‹ ein ›Diktator‹? Zeigt sich in
Thomas Manns Novelle ein ›Hitlertum‹, wie sich an Hitler und Cipolla eben
›Künstlertum‹ zeigte?
Damit die Schüler sich diese Fragen sachkompetent beantworten können, erhalten sie die Aufgabe, die Erzähltechnik der Novelle zu untersuchen, um sie in
einem weiteren Arbeitsschritt auf das Künstlerproblem zu beziehen.
Als Ich-Erzähler ist der Erzähler zugleich erlebende und erzählende Figur, die
in einer Retrospektive von den Erlebnissen eines Urlaubs in Torre di Venere
berichtet. Dabei wird bereits im ersten Teil der Novelle seine ablehnende Haltung
gegenüber den Menschen und dem Urlaubsort, d. h. gegenüber der gereizten und
nationalen Atmosphäre deutlich. Gegenüber den erfahrenen Ungerechtigkeiten
(Verandaepisode, Badeanzugepisode) bleibt er aber weitgehend passiv. Kritik übt
er nur dem Leser gegenüber. Er fügt sich in das von ihm selbst so gesehene
schicksalhafte Geschehen, übt sich in Zurückhaltung, weicht den Konflikten
sogar aus, indem er sich zum Umzug in die Pension Eleonora entschließt. Die
kritische Haltung setzt sich im zweiten Teil der Novelle fort. Hier wird Cipolla
zum Gegenstand ablehnender und kritischer Erzählerkommentare, was freilich
der Logik der Verbindung beider Novellenteile entspricht, denn
»[e]s ging hier geradeso merkwürdig und spannend, gerade so unbehaglich, kränkend und
bedrückend zu wie in Torre überhaupt, ja, mehr als geradeso: dieser Saal bildete den
Sammelpunkt aller Merkwürdigkeit, Nichtgeheuerlichkeit und Gespanntheit, womit die
Atmosphäre des Aufenthalts geladen schien; dieser Mann, dessen Rückkehr wir erwarteten, dünkte uns die Personifikation von alldem.« (111)
Unabhängig davon, wie man Cipolla beurteilt, das Urteil über ihn ist schwerlich
ein freies. Es ist seinerseits durch die Strategien des Erzählers beeinflusst. Gerade
die Technik der Leserlenkung müssen die Schüler herausarbeiten, um abschließend ein Urteil fällen zu können über die Novelle im Kontext der Künstlerproblematik. Zusätzlich zu den bekannten Analyseverfahren für Erzähltexte empfiehlt es sich, Redestrategien, wie man sie aus der Rhetorik kennt, den Schülern an
die Hand zu geben. So können sie erkennen, dass der Erzähler wiederholt mit
kämpferischen Strategien wie der Diffamierung arbeitet, polarisierend das Le-
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serurteil zu lenken versucht und durch direkte Ansprache des Lesers eine Art
Wir-Gefühl herzustellen versucht, um den Leser zu ›manipulieren‹.
Damit ist freilich noch kein Urteil gesprochen über die Legitimität oder Illegitimität dieses Versuchs, aber es ist eine Lesart anvisiert, die auf kritische Distanz
gegenüber den Verfahren des Erzählers – was in diesem Kontext auch heißt: der
Kunst überhaupt – setzt, die eine Beurteilung der Strategien erst ermöglicht.48
Marc Andreoli, Andreas-Vesalius-Gymnasium Wesel,
[email protected]
Andreas Bär, Andreas-Vesalius-Gymnasium Wesel,
[email protected]
48 Vgl. Hartmut Böhme: »Thomas Mann: Mario und der Zauberer…« (wie Anm. 27),
S. 180. Neben den Erzähl- oder Redestrategien untersucht Böhme auch die geschlossene
Novellenform unter der Fragestellung der Leserlenkung und kommt zu dem Ergebnis,
dass im »Zusammenhang von ›epischer Vorausweisung‹, ›Verifikation‹ und ›Wiedererkennen‹ […] nichts anderes als die ideologische Legitimation des Erzählers sich herstellt«, zu deren Affirmation der Leser, da er in die Geschlossenheit der Novelle »miteingebaut ist«, gezwungen werde.
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