Ist das Kind reif für die Schule

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Ist das Kind reif für die Schule
„Ist das Kind reif für die Schule? - Ist die Schule reif für das Kind?
Wie der Übergang aus dem Kindergarten in die Unterstufe aus heutiger Sicht gestaltet werden
sollte.
Hansheini Fontanive, Fachpsychologe FSP
„Ist das Kind reif für die Schule?“ Diese Frage ist uns vertraut und wird jedes Frühjahr in den
Gesprächen rund um den Schuleintritt immer wieder gestellt. Die andere Frage: „Ist die Schule
reif für das Kind?“ tönt ungewohnt und weist auf eine andere Sichtweise im Zusammenhang
mit dem Schuleintritt hin. Der folgende Artikel untersucht beide Standpunkte und gibt Hinweise
für die konstruktive Gestaltung des Übergangs eines Kindes vom Kindergarten in die Schule.
Wie entwickeln sich Kinder?
In dieser Frage stecken wesentliche Diskussionsgrundlagen im Zusammenhang mit dem Übergang
eines Kindes vom Kindergarten in die Schule.
Heute hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die kindliche Entwicklung kein Programm ist, das
gleichsam automatisch, nach einem inneren Plan abläuft. Im Gegenteil: Kind und Umwelt stehen auf
verschiedenen Ebenen in einem hoch komplexen wechselseitigen Beeinflussungsprozess,
einem Entwicklungsprozess, an dem das Kind aktiv beteiligt ist. So entwickelt sich beispielsweise
auch die Intelligenz in Abhängigkeit von Umweltanregungen und Dauer des Schulbesuchs.
Durch familiäre und gesellschaftliche Veränderungen (z.B. Trend zur Ein-Kind-Familie, hohe
Scheidungs- und Trennungsraten usf.) mangelt es unseren Kindern zunehmend an realer,
unmittelbarer Lebenserfahrung, ihr Handlungsspielraum ist deutlich enger geworden. Kindergarten
und Schule können somit nicht mehr davon ausgehen, dass alle Kinder ausreichend
Bewegungserfahrungen, aber auch Sozial- und Gruppenerfahrungen mitbringen.
Die Kindheit ist heute viel eher durch eine starke Reizüberflutung (Medien; Lebensstil usw.) geprägt,
die viele Kinder nicht mehr adäquat verarbeiten können, was im Kindergarten und der Schule zu den
vielfältigsten Reaktionen und Auffälligkeiten führen kann.
Aus diesen Gründen ist es für die kindliche Entwicklung ausgesprochen wichtig, dass Mädchen und
Knaben auch ausserhalb ihrer Herkunftsfamilien möglichst früh Anregungen und Orientierungshilfen
erhalten, um sich neuen, altersgerechten Herausforderungen stellen zu können.
Schulreife - Schulfähigkeit - Schulbereitschaft: Begriffe wandeln sich!
Im Verlauf der vergangenen vierzig Jahre hat sich das Verständnis von „Schulreife“ und
„Schulfähigkeit“ grundlegend verändert. Ein ähnlicher Begriff ist die „Schulbereitschaft“.
Bis etwa 1960 wurde die kindliche Entwicklung primär als Ergebnis von Reifungsprozessen
verstanden, die relativ unabhängig von Entwicklungsanreizen aus der sozialen Umwelt, wie z.B. der
Familie und der Schule, voranschreitet.
Dementsprechend wurde in ersten Schulreifetestverfahren anhand mehr oder weniger klar definierten
Kriterien die „Schulreife“ festgestellt.
Erreichte ein Kind die geforderten Kriterien nicht, wurde es als „unreif“ befunden. Das Kind wurde vom
Schulbesuch zurückgestellt. Es wurde davon ausgegangen, dass das Kind im Rückstellungsjahr
„heranreift“ und dadurch seine Defizite aufholen kann.
© 4 / 2004 Hansheini Fontanive
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Nach etwa 1960 wurde der Begriff „Schulreife“ allmählich durch jenen der „Schulfähigkeit“ (oder
Schulbereitschaft) abgelöst. Man orientierte sich nun zunehmend an einem lernorientierten
Entwicklungskonzept. Die Schulfähigkeit wurde neu auch als abhängig von frühkindlichen und
vorschulischen Lernerfahrungen verstanden und als Zusammenwirken von kognitiven (geistigen),
motivationalen (Arbeitsverhalten) und sozialen Voraussetzungen definiert. Die Unterscheidung nach
Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz (wie dies im neuen Kindergartenlehrplan des Kantons Schwyz
festgelegt ist) macht inhaltlich eine ähnliche Einteilung.
Die traditionelle Sichtweise von Schulfähigkeit, bei dem das Individuum im Mittelpunkt steht, hat sich
zunehmend durch eine systemische Perspektive erweitert.
Der Schuleintritt als Übergang
Kind und Umwelt stehen also in einem ständigen, wechselseitigen Beeinflussungs- und
Austauschprozess. Je nach ihren sozialen und materiellen Umweltbedingungen können sich Kinder
unterschiedlich entwickeln. Entwicklung erfolgt das ganze Leben lang im Austausch zwischen
Individuum und Umwelt (ökosystemisches Beziehungsgeflecht), ist also ein lebenslanger Prozess.
Aus dieser Perspektive eines Lebenslaufs handelt es sich beim Schuleintritt um einen Übergang von
einem Lebensbereich (System) in einen andern, wie ihn Kinder, Jugendliche und Erwachsene im
Verlaufe ihres Lebens immer wieder bewältigen müssen. Weitere ökologische Übergänge sind u.a.
der Eintritt ins Berufsleben, die Geburt des ersten Kindes, die Pensionierung und eine ganze Reihe
weiterer Übergänge, die von Individuum zu Individuum unterschiedlich wahrgenommen und bewältigt
werden müssen.
Durch die Konfrontation mit neuen Lebensbedingungen werden im positiven Fall bereits vorhandene
Entwicklungspotentiale gefördert und neue geweckt. Im negativen Fall kann jedoch auch eine
krisenhafte Entwicklung ausgelöst werden. Dies ist dann der Fall, wenn beispielsweise die neuen
Forderungen und die damit einhergehenden Anpassungsleistungen für das Kind zu komplex sind. In
der Folge kann eine erfolgreiche Bewältigung des Übergangs misslingen. Bei einem nicht optimal
verlaufenden Schuleintritt könnte dieser Fall eintreten.
Ökopsychologisches Schulfähigkeitsmodell
Halten wir einige gesicherte Erkenntnisse fest:
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Die kindliche Entwicklung verläuft nicht automatisch, allein nach einem inneren
Reifungsprogramm ab, sondern erfolgt in der permanenten Interaktion zwischen Individuum und
Umwelt
Kinder haben, je nach soziokulturellem Hintergrund, sehr unterschiedliche Ausgangspositionen
und Entwicklungschancen im Hinblick auf einen erfolgreichen Schulbesuch
Schulreifetests liefern nur begrenzt Hilfestellungen in der Frage, ob ein Kind in die Schule
eintreten soll oder nicht, da, wie wir weiter unten sehen werden, die Schule selber massiv
mitentscheidet, ob die Einschulung erfolgreich verlaufen wird oder nicht
Rückstellungen können nur in Einzelfällen und bei bestimmten Rahmenbedingungen (z.B.
therapeutische Unterstützung) eine Lösung sein, um Schulschwierigkeiten,
Klassenwiederholungen usf. einigermassen ausschliessen zu können
In diesem Zusammenhang ist grundsätzlich zu beachten, dass jedes Kind sein individuelles
Entwicklungstempo besitzt oder sich nicht alle Entwicklungslinien gleichmässig weiterentwickeln.
Alle am Einschulungsprozess beteiligten Personen besitzen ihre subjektiven Theorien über die
Schulfähigkeit und / oder den allenfalls nötigen Förderbedarf eines Kindes und gehen von ganz
unterschiedlichen Entscheidungskriterien bezüglich Schuleintritt aus (z.B. künftige Klassengrösse,
Förderangebote, etc.). Dabei spielen ihre ganz persönlichen Leistungsmassstäbe und
Leistungsbeurteilungen eine massgebliche Rolle.
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Solche Überlegungen zeigen eindrücklich, dass die Schulfähigkeit keine feststehende Grösse ist,
die sich ausschliesslich aus dem aktuellen Entwicklungsstand des Kindes ergibt.
Nach dem ökosystemischen Schulfähigkeitsmodell wird die Schulfähigkeit eines Kindes von vier
Teilkomponenten mitbestimmt:
1. Von der Schule
Sie beeinflusst die Schulfähigkeit eines Kindes u.a. durch:
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Lehrpläne, allgemeine Forderungen
Unterrichtsbedingungen, Qualität des Unterrichts
Klassengrösse, Klassenzusammensetzung
Kompetenz und Haltung der Lehrperson
Art des schulischen Fördermodells (Separation versus Integration z.B.)
weitere Aspekte
2. Vom Schüler / der Schülerin
Er / sie beeinflusst die Frage der Schulfähigkeit durch seine / ihre individuellen
Lernvoraussetzungen, wie:
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körperliche (Leistungsfähigkeit generell, Grob-, Feinmotorik, Gesundheitszustand usf.)
geistige (Denkfähigkeit, Wahrnehmung, Sprachkompetenz usw.)
motivationale (Anstrengungsbereitschaft, Interessen, Arbeitsverhalten u.a.)
3. Von der Ökologie
Diese umfasst verschiedene häusliche und schulische Umweltfaktoren, wie:
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schulische Lernumwelt (materielle und personelle Ausstattung einer Schule)
vorschulische Lernumwelt (Lerninhalte; Spielgruppe; Gleichaltrigengruppe)
häusliche, bezw. familiäre Lernumwelt ( Anregungsgehalt, materielle Ressourcen,
Bildungsnähe – Bildungsferne u.a.m.)
4. Vom gesellschaftlichen Hintergrund
Dieser prägt die Auseinandersetzung mit der Schulfähigkeit durch:
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allgemeine Ziele und Wertvorstellungen
Einstellungen zum Leistungsverhalten
den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen
u.a.m.
Eine fehlende oder ungenügende Schulfähigkeit wäre nach diesem Modell also nicht allein auf
individuelle Schwächen eines Kindes zurückzuführen, sondern liegt ebenso in einer fehlenden oder
ungünstigen Passung zwischen dem Lernangebot der Schule und dem Entwicklungsstand des
Kindes:
Schule und Kind passen in einem solchen Fall nicht oder nur teilweise zusammen!
Auf dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen verschiebt sich der Brennpunkt bei der Diskussion
um die Einschulung zunehmend auf die Frage, ob die Schule nicht stärker als bisher die Aufgabe hat,
die Schulfähigkeit der Kinder aktiv entwickeln zu helfen und weniger, die Schulfähigkeit als
Eingangsbedingung vorauszusetzen. Dies auch aufgrund der Tatsache, dass „Heterogenität heute
als neue Norm – als Selbstverständlichkeit verstanden“ wird, wie dies im neuen
Kindergartenlehrplan des Kantons Schwyz festgehalten ist.
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Unschwer ist daraus zu erkennen, dass die künftige Basisstufe (wie sie auch immer ausgestaltet sein
wird) viele dieser Aspekte aufnehmen wird und einen fliessenderen Übergang vom Kindergarten in die
Unterstufe der Primarschule gewährleisten will. Leistungsfähigere Kinder haben die Möglichkeit, die
Basisstufe rascher zu durchlaufen, als jene, die langsamer lernen oder eine spezielle Förderung (z.B.
logopädische Behandlung) benötigen.
Passen Schule und Kind zusammen? Konsequenzen für die Praxis
Der Übergang vom Kindergarten in die Schule wird als ein längerer Prozess verstanden, der praktisch
mit dem Eintritt des Kindes in den Kindergarten beginnt und ein Stück weit ins erste Schuljahr der
Primarschule hineinreicht.
Wichtig ist das Beachten folgender Aspekte für die erfolgreiche Bewältigung dieses Übergangs vom
Kindergarten in die Schule:
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gute Kooperation aller beteiligten Personen als gleichwertige Partner - die Unterstufenlehrkraft
eingeschlossen - anstreben; diese Zusammenarbeit soll das Fundament für die optimale
Gestaltung des Einschulungsprozesses bilden
die Einschulungsfrage aus verschiedenen Blickwinkeln (Eltern, Kind, Schule) betrachten und
angehen
den Einschulungsprozess bewusst langfristig planen und auf geeignete Beobachtungsinstrumente
abstützen
die Frage der Einschulung mehrdimensional diskutieren (Ebene Kindergarten, Ebene Schule,
Ebene Familie)
eine weniger norm-orientierte, dafür eine mehr entwicklungsorientierte Haltung einnehmen; es
sollte weniger die Frage im Zentrum stehen, was das Kind bereits kann oder eben nicht
beherrscht, sondern was für ein Entwicklungspotential es hat und unter welchen Bedingungen es
dieses optimal ausschöpfen kann
Zur erfolgreichen Gestaltung des Überganges Kindergarten – Schule können verschiedene Mittel
angewandt werden:
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wiederholte Gespräche (falls nötig) der Betroffenen miteinander (Kindergartenlehrperson,
Unterstufenlehrkräfte, Eltern, allenfalls weitere Fachpersonen) durchführen
Haltung bezüglich pädagogischer Ziele und Arbeitsweisen zwischen Kindergarten- und
Unterstufenlehrperson, aber auch der Eltern klären
einen klar definierten Raster als Strukturierungshilfe für den gesamten Einschulungsprozess, ab
Kindergarteneintritt bis ins erste Semester der ersten Primarklasse (Abläufe, Inhalte, Termine,
Verantwortlichkeiten usf.) verwenden
gut aufgebaute Frage- und Beobachtungsbogen zu verschiedenen Zeitpunkten anwenden
gegenseitige Besuche von Kindergarten und Unterstufe durchführen
gemeinsame Projekte und Vorhaben von Kindergarten und Unterstufe realisieren
gemeinsame Elternorientierungsabende (Kindergarten und Unterstufe) abhalten
Besuchstage für Eltern im Kindergarten und der Unterstufe einrichten
systematischer Erfahrungsaustausch bezüglich der Kinder nach erfolgtem Übertritt in die
Unterstufe durchführen
gesamtes Übertrittsverfahren Kindergarten – Schule evaluieren (Stichwort „Qualitätssicherung“)
wenn nötig, frühzeitig weitere Fachleute beiziehen
Die veränderte Rolle der Schulpsychologie bei Einschulungsfragen
Entsprechend den veränderten Ansichten im Zusammenhang mit der Schulfähigkeit haben sich auch
die Ziele und Arbeitsweisen der Schulpsychologinnen und Schulpsychologen in den Fragen rund um
die Einschulung gewandelt.
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Traten die Schulpsychologen in früheren Jahren in der Rolle als Expertin oder Experten in den
jeweiligen Diskussionen um die Einschulung eines Kindes auf - und haben vielleicht fast allein über
die Einschulung oder die Rückstellung eines Kindes entschieden - gehen die Schulpsychologinnen
und –psychologen heute mit einem anderen Verständnis ihrer Rolle die Auseinandersetzung um
Einschulungsfragen an.
Sie sehen heute ihre Hauptaufgabe verstärkt darin, die betroffenen Eltern und
Kindergartenlehrpersonen zu unterstützen und zu begleiten, so dass diese selber kompetent jenen
Weg festlegen können, der für das betreffende Kind und seinen aktuellen Entwicklungsstand die
besten Weiterentwicklungschancen bietet. Ein Schuleintritt glückt dann am besten, wenn alle
beteiligten Personen den gemeinsam erarbeiteten Entscheid unterstützen und eine bestmögliche
„Passung“ zwischen allen Systemeinheiten hergestellt werden kann.
Nur bei speziellen Fragen finden Einzelabklärungen des Kindes statt. Eine Ausnahme bilden die
Fragen nach einer vorzeitigen Aufnahmen eines Kindes in den Kindergarten oder in die Schule. Diese
Fragestellungen erfordern, nach den aktuell gültigen gesetzlichen Regelungen, eine Einzelabklärung
des betreffenden Kindes.
Schulpsychologinnen und Schulpsychologen definieren ihre Rolle somit heute viel stärker als
Prozesshelferinnen und Prozesshelfer.
Ihr Hauptinteresse gilt einem konstruktiven Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess. Die
Hauptverantwortung für einen „guten“ Entscheid liegt jedoch klar bei den Erziehungsverantwortlichen,
den Eltern und der Kindergartenlehrperson, die das Kind im Alltag begleiten.
Verwendete Literatur:
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Barth Karlheinz (1997): Lernschwächen früh erkennen. Ernst Reinhardt, München
Erziehungsdepartement Schwyz (o.J.): Lehrplan Kindergarten
Hopf Arnulf et.al. (3. Auflage, 2004): Vom Kindergarten in die Grundschule. Beltz, Weinheim
Oerter R. / Montada L. (2. Auflage, 1987): Entwicklungspsychologie. Psychologie-Verl.-Union, München
Nickel H. / Schmidt-Denter U. (5. Auflage, 1995): Vom Kleinkind zum Schulkind. Ernst Reinhardt, München
Stapf Aiga (2003): Hochbegabte Kinder. München, C.H. Beck
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