Feststellung der Schulreife

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Feststellung der Schulreife
Feststellung der Schulreife
HR Dr. Mathilde Zeman
Leiterin der Abteilung
Schulpsychologie-Bildungsberatung
Schulreife als entwicklungspsychologisches Konstrukt
Jedes Kind bringt ein individuelles Leistungspotential im Alter des Schuleintrittes mit.
Bezogen auf die Anforderungen der Schule kann man von Schulreife (Schulfähigkeit)
sprechen.
Entwicklungspsychologisch gibt es Phasen (Entwicklungsschritte) in der Entwicklung
der verschiedenen Leistungsbereiche
→ Schulreife ist damit ein Entwicklungsprozess (siehe Ch. u. K. Bühler, Piaget,
Oerter *)
Dynamisches Begabungsmodell
(Zeman, 2001, 2002, 2007)
Schicksalhafte
Ereignisse
Familie
Schule
Medien
Motivation
Musikalität
Kritisches
Denken
Intelligenz
Motorik
Soziale
Resonanz
Sozialer
Status
Konzentration
Emotionale
Stabilität
Kreativität
Bildner
Fähigkeiten
Introversion /
Extraversion
Angeborene Entwicklungspotentiale
Aus dem dynamischen Begabungsmodell ist ersichtlich:
Entwicklungsprozess ist ein komplexes Zusammenwirken von Anlage und Umwelt
(Fördereinflüssen)!
Heterogenität (unterschiedliche Leistungspotentiale) ist Normalität
(„Heterogenität ist Naturprinzip“, Stadelmann, 2008)
Für den Schuleintritt (Schuleinschreibung) sind besonders wichtig
-
Soziale Kompetenz
(Fähigkeit, sich in eine Gruppe einzuordnen, Regelbewusstsein, eigene
Wünsche/Bedürfnisse zurückstellen können)
-
Emotionale Reife
(Interesse und Neugierverhalten, Erfolgsmotivation, psychische Stabilität,
realistische Einschätzung der eigenen Leistung, Selbstständigkeit)
-
Kognitive Reife
(Bestimmte Denkoperationen durchführen, Merkfähigkeit, Sprachkompetenz,
Grundfunktionen der Wahrnehmung, numerische Fähigkeiten)
-
Körperliche Reife
(allgemeiner Entwicklungsstand, Körpergröße, Proportionen, neurofunktionelle
Reifung, motorische Geschicklichkeit)
Sprachkompetenz
Warum wird in der Bildungsdiskussion die Sprachkompetenz so
sehr in den Mittelpunkt gerückt? Dies geht aus den verschiedenen Funktionen
hervor, die Sprache hat
-
Ausdruck des Denkens (Denken in -abstrakten- Begriffen)
Ausdruck der Kultur und Identität eines Menschen
Kommunikation → soziale Funktion
Die Funktionen der Sprache bzw. der jeweiligen Wechselwirkungen lassen sich
veranschaulicht darstellen:
Intelligenz
Kommunikation
Denken
Sprache
Emotionale
Befindlichkeit/
Stabilität
Identität
Kultur
Was sollte ein Kind bei Schuleintritt können?
1. Sprachentwicklung (Loos, 2004)
4 Jahren
•
•
•
Mit zirka vier Jahren sprechen die Kinder
in überwiegend vollständigen und
grammatikalisch richtigen Hauptsätzen.
Das Bilden und Verstehen von
Passivsätzen fällt den Kindern noch
schwer.
Die ersten Nebensatzkonstruktionen
werden gebildet, wobei sich diese jedoch
vorwiegend auf Zeitbestimmungen oder
Begründungsangaben beziehen.
6 Jahren
•
Die Kinder bilden einfache Sätze und
Satzreihen, die durch „und“ oder „dann“
verbunden sind.
10 bis 13
Jahren
•
Erst im Schulkindalter werden die
Variationsmöglichkeiten, Sätze zu bilden,
größer.
Verneinungen, Passivsätze und
Relativsätze werden zunehmend richtig
angewendet.
Nebensatzbildungen mit den
Verbindungswörtern „da“ und „weil“
kommen regelmäßig vor, Nebensätze mit
„obwohl“ und „deshalb“ kommen
zunehmend vor.
Schwierige Satzkonstruktionen werden
jedoch erst im Alter von zehn bis dreizehn
Jahren fehlerfrei benutzt.
•
•
•
1500 Wörter
2500 Wörter
6000 Wörter
2. Entwicklung des Denkens (Piaget, Aebli, Oerter, ))
Formal - logisches Denken
Volksschulzeit
Denken in konkreten Operationen
(Eingleisigkeit und Abhängigkeit von
augenblicklichem Vorstellungsablauf wird
überwunden, aber sprachlich formulierte – formale Probleme bereiten große Probleme)
Schuleintritt
(5-6 Jahre)
Anschauliches Denken
(wachsende Verbegrifflichung, aber: Begriffe haben
anschaulichen Charakter und Denken ist noch
eingleisig; Anschauung verführt und erklärt
Denkfehler)
Vorbegriffliches und symbolisches Denken
Sensomotorische Intelligenz
(früheste Form des intelligenten Verhaltens, eigentlich: Voraussetzung
für intelligentes Verhalten)
3. Vorläuferkompetenzen für Rechnen (Numerische Fähigkeiten)
•
Zahlwortreihe aufsagen (→ Zahlwörter)
Schuleintritt: Meist bis 10 sicher, bis 20 unsicher
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
•
Mengen - Zahlen - Kompetenzen (Mengenverständnis)
•
Simultane Mengenerfassung („Subitizing“)
4 Einheiten sicher
•
Größer - Kleiner Vergleich
1 3
Differenzierung nur nach 1 Merkmal sicher!
Schulreife kann nicht unabhängig von der „Kindgerechtheit“ des
Schulsystems gesehen werden
-
Wie erfolgt die „Schuleinschreibung“
(Förderdiagnose)
-
Wie (mit welchen pädagogischen Modellen/Konzepten) erfolgt allgemein die
Begabungsförderung?
Wie wird in Schuleingangsphase mit Stärken und Schwächen der Kinder
umgegangen? (pädagogische Modelle/Konzepte)
-
Antwort auf die Frage
„Gibt es die Schulreife?“
JA
Von entwicklungspsychologischen und neurophysiologischen Erkenntnissen her gibt
es die Schulreife!
ABER: Es gibt unterschiedliche pädagogische Modelle und Konzepte, wie auf das
individuelle Leistungspotential von Kindern bei Schuleintritt reagiert wird → Dabei hat
es laufend Veränderungen im Schulsystem gegeben!
Es stellen sich damit die nachfolgenden Fragen:
What Organizational Model will be using?
What Pedagogical Models will guide our work?
(Renzulli, 2008)
Schuleinschreibung
•
Schuleinschreibung ist nicht nur Formalakt, sondern hat Funktion der
Prognose (fundierte Voraussage hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen für
die Bildungslaufbahn eines Kindes bzw. adäquater Förderung)
Schuleinschreibung hat derzeit formale Konsequenzen
(Entscheidung über adäquate Förderung: Regelunterricht, vorschulische
Förderung, Sonderpädagogischer Förderbedarf; Klassenzusammensetzung,
personelle und materielle Ressourcen planen *)
•
Bei Schuleinschreibung kommt es zur:
Überprüfung der Lern- und Leistungsvoraussetzungen eines Kindes im
- kognitiven
- sozialen
- emotionalen Bereich
Aus der Praxis für die Praxis
•
Kindgerechte Atmosphäre schaffen
(→ affektive Situation)
•
Zwei „BeobachterInnen“ (SchulleiterIn, erfahrene LehrerIn)
•
Einzel- und Gruppensituation vorsehen
•
Erfassen der Entwicklungs- und vorschulischen Fördergeschichte eines
Kindes (wichtig für das Verstehen des Verhaltens, der Reaktionen, der
Stärken und Schwächen *)
•
Erfahrungsaustausch; Materialienaustausch der SchulleiterInnen bzw.
LehrerInnen
•
Katalog der Beobachtungsbereiche
Beobachtungskatalog bei Schuleinschreibung
Strukturierte Beobachtung des Sozial- und Leistungsverhaltens
• Sozialverhalten
- Grundstimmung des Kindes (Verlauf!)
- Kontaktfreudigkeit vs. Kontakthemmung (z.B. geht spontan auf
SchulleiterIn / LehrerIn / andere Kinder zu, zurückhaltend und
distanziert in Kontaktnahme, gehemmt und isoliert von anderen
Kindern, bricht Kontakt rasch ab, usw.)
- Eigenständigkeit vs. Abhängigkeit (insbesondere von KM/KE)
- Beachten von Aufgabeninstruktionen und Regeln (→ kurze
Spielsituation)
• Leistungsbereich
- Neugierverhalten und Interesse
- Konzentration und Aufmerksamkeit (bleibt bei der jeweiligen
Aufgabe/Spiel, wird nicht durch Geräusche, Eindrücke permanent
abgelenkt, beginnt mit immer neuen Aufgaben/Spielen usw.)
- Selbststeuerung vs. Abhängigsein (von Anleitung, Ermutigung,
wiederholte Aufforderung durch SchulleiterIn, / LehrerIn / KM)
- Sorgfalt vs. Oberflächlichkeit (→ eigenes Anspruchsniveau)
- Einschätzung der eigenen Leistung (z.B. Zeichnung fertig gestellt,
Muster genau nachgezeichnet, Perlenkette in derselben Reihenfolge
gefädelt usw.)
• Weitere Beobachtungsbereiche
- Sprache (Sprachfreudigkeit, spontanes Sprechen, Wortschatz,
Satzbildung, Sprachfehler, Dialektfärbung)
- Bewegungsabläufe (Grob- und Feinmotorik)
- Stifthaltung und Strichführung
Was ist für die Effektivität der Förderung wichtig?
•
Effektivitätsfaktoren vorschulischer Förderung
(frühe und aktuellste Forschungsergebnisse weisen darauf hin)
- Punktuelle Programme bewirken wenig
- Programme müssen umfassend und
- langdauernd sein
- Gute Schulung der „Förderer“
- Emotional positive Beziehung Kind-Pädagoge
(Basis für Lernmotivation und Erfolgsorientierung)
- Förderung der aktiven Tätigkeit des Kindes
(Sprachentwicklung: Ermutigung zum Sprechen)
- Einbeziehung der Eltern
(Verständnis, Verstehen, Verbesserung der familiären
Sozialisationsverhältnisse)
Wertvolle Hinweise für
Elterngespräch
Sprachstandsfeststellung im Rahmen der Schuleinschreibung
Handreichung für Schulleiterinnen und Schulleiter (2005)
Feststellung der sprachlichen Fähigkeiten im Rahmen der Schuleinschreibung
Unterlagen des bm:ukk an alle LSR/SSR (Oktober 2008)
www.sprich-mit-mir.at
Erläuterungen
Sprachliche Fähigkeiten von Schulanfängern
Zum Schuleintritt: 6 Jahre
Gängige Kommunikationsformen und Kommunikationsregeln (Begrüßung, kurze
und zu kindgemäßen Situationen passende Dialoge) beherrschen.
Sprachverständnis für alltägliche Aufgabenstellungen und Sachverhalte wird
bereits ab dem 4. Lebensjahr deutlich und sollte um das sechste Lebensjahr
keine Probleme mehr bereiten.
Grundwortschatz in der Muttersprache:
im aktiven Wortschatz: 2000 bis 2500 Worte
im passiven Wortschatz: je nach Sprachangebot (Förderung!) wesentlich höher
Kinder nicht deutscher Muttersprache:
Aktiver Wortschatz wesentlich geringer, passiver Wortschatz eindeutig besser
ausgebildet
(wichtig
für
Aufgaben-
und
Instruktionsverständnis
u.a.
bei
Schuleinschreibung, Beurteilung der Schulreife)
Alle Laute und Lautverbindungen der Muttersprache sollten beherrscht werden
(ab dem 5. Lebensjahr möglich). Kinder nicht deutscher Muttersprache müssen
gegebenenfalls für sie unübliche Laute oder Lautverbindungen erlernen.
Satzbau und Satzgliederung sollten – zumindest – der lokalen Umgangssprache
entsprechen:
Subjekt, Prädikat, Objekt im vierten Fall und Präpositionalobjekt (3. und 4. Fall)
sollten richtig verwendet werden. Zeiten der Verben sollten situationsadäquat
richtig verwendet werden können.
Anschauliches Denken
1. Wachsende
Verbegrifflichung,
Charakter.
Wegen
dieser
aber
Begriffe
Eigenart
erfährt
haben
das
noch
anschaulichen
Denken
bestimmte
Einschränkungen. Ein Kind auf diesem Niveau geistiger Leistungen kann nur den
tatsächlichen Ablauf der Ereignisse verfolgen, diesen aber in Gedanken nicht
ohne weiteres umdrehen und rückläufig verfolgen.
Verschiedenfärbige Kugeln
rot, blau, gelb
durch Tunnel ziehen
abc
Reihenfolge auf der anderen Seite? a, b, c
Reihenfolge nach Umkehrung zurück durch Tunnel an Ausgangsort gezogen?
Richtige Reihenfolge: c, b, a (-), Kinder: auch b könnte als erstes ankommen!
2. Auch ist das Denken noch sehr „einseitig“. Sobald zur Lösung eines Problems
zwei oder mehr Tätigkeiten zugleich nötig sind bzw. zwei oder mehr Faktoren
zugleich
beachtet
werden
müssen,
versagt
das
Kind
noch!
20 Holzperlen, 3 weiße und 17 braune. Frage: Mehr Holzperlen oder mehr
braune? Antwort: Mehr braune (Oberbegriff: alle sind Holzperlen zerfällt und
kann nicht mehr als Ganzes gesehen werden).
3. Invarianzen: Quantität einer Menge ist unveränderlich (= invariant) auch wenn sie
den verschiedenen qualitativen Transformationen unterliegt. Erkennen solcher
Invarianzen ist nach verschiedenen Forschern ein zentraler Punkt der geistigen
Entwicklung.
Hängt mit gleichzeitiger Beachtung von mehreren Faktoren zusammen Kind
zentriert nur einen Faktor, nämlich den für die Anschauung vordergründigsten und
aufdringlichsten (Phänomengebundenheit)!
Denken in konkreten Operationen
(Volksschulzeit)
Denken überwindet die Eingleisigkeit, stiftet Beziehungen derart, dass Handlungen
mit oder an Objekten oder wahrnehmbaren Gegebenheiten koordiniert und in
umfassendere Systeme integriert werden können. Konkret operatorisches Denken ist
bewegliches Denken.
Numerische Fähigkeiten
1. Zahlwortreihe aufsagen (Zahlwörter) verbale Kompetenz, Merkfähigkeit
Verknüpfung Wort mit Ziffer (Ziffernlesen)
2. Mengen – Zahlen – Kompetenzen (Mengenverständnis) mathematische
Kompetenzentwicklung (verläuft in Phasen, siehe u.a. Landerl & Kaufmann, 2008;
Krajewski, 2003; Fritz et al, 2007).
Ebene I: Numerische Basisfertigkeiten
Kind verfügt über relativ undifferenzierten Mengenbegriff („wenig/viel“); Zahlwörter
werden erworben; ebenso erste Zählprinzipien (Eins-zu-eins Prinzip und Prinzip
der stabilen Zahlwortabfolge); Noch nicht erfasst wird Kardinalitätsprinzip
(Zahlwörter
werden
auf
dieser
frühen
Ebene
noch
nicht
mit
den
korrespondierenden Mengen in Verbindung gebracht).
Ebene II: Verknüpfung der Zahlen mit dem Mengenkonzept (hinter den Zahlen
stehen ganz bestimmte Mengen).
Für kleine Mengen ist dies bereits ab 3 bis 4 Jahren möglich.
Anfangs repräsentieren Zahlwörter noch keine exakten Mengen, allerdings wird
bereits verstanden, dass es Zahlen gibt, die eine kleine Menge (eins, zwei, drei =
wenig) eine große Menge (z.B. hundert = sehr viel) repräsentieren (ohne dass
das Kind bereits imstande wäre, bis 100 zu zählen, wobei laut Krajewski, das
Kind „viel“ gleichsetzt mit „viel zählen müssen“). Erreichen der zweiten Ebene II
ist das Verständnis für das Kardinalprinzip.
Ebene III: Anzahlrelationen
Verständnis für Mengenrelationen wird mit dem Anzahlkonzept verknüpft.
Relationen innerhalb einer Menge (siehe 20 Holzperlen) oder zwischen zwei
Mengen werden als diskrete Anzahlen begriffen, die durch Zahlen abgebildet
werden können.
3. Simultane Zahlerfassung („Subitizing“) exakter: Simultane Mengenerfassung
Kleine Anzahlen können offensichtlich auf einen einzigen Blick erfasst werden,
basiert auf der visuellen Verarbeitung, verbales Zählen dürfte keine Rolle spielen.
Erst ab etwa 4 oder 5 Punkten reicht dieser nonverbale Mechanismus offenbar
nicht aus, sodass bei größeren Mengen zumindest subvokal jeder einzelne Punkt
verbal
gezählt
werden
muss,
wodurch
sich
der
systematische
Reaktionszeitanstieg ergibt (Ausnahme: Würfelanordnung).
Subitizing ist möglicherweise (rein hypothetisch!) eine direkte Fortführung des
angeborenen Startermechanismus zur Verarbeitung von Numerositäten.

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