Angst und Ambivalenz im Kinderschutz
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Angst und Ambivalenz im Kinderschutz
Fachkongress: »Euch werden wir helfen … !« Kinderschutz zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Wo steht die Jugendhilfe zwei Jahre nach Einführung des § 8a SGB VIII? 31. Oktober – 1. November 2007 in Hamburg Willige Helfer? Störrische Eltern? Über den Umgang mit Angst und Ambivalenz im Kinderschutz Pieter Hutz, Berlin Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme der Einladung der Kinderschutz-Zentren, hier heute über Angst und Ambivalenz im Kinderschutz zu sprechen, gerne nach; damit hatte ich als langjähriger Mitarbeiter des Berliner Kinderschutz-Zentrums selber viel zu tun – mit meinen eigenen Ängsten und mit den von Kolleginnen und Kollegen. Heute beschäftigt mich das Thema in meiner Praxis als Supervisor und Organisationsberater und als Ausbilder von Kinderschutzmitarbeitern. Aus beiden Zeiten werde ich 1 hier meine Erfahrungen einbringen. Willige Helfer? Störrische Eltern? ist aber der Titel eines anderen Vortrags; den habe ich vor einiger Zeit in Wien gehalten und der gehört überhaupt nicht hier her. Auf irgendeine Weise hat er sich in den Köpfen des Veranstalters so fest gesetzt, dass er plötzlich im Programm auftaucht. Sie merken schon: Kinderschutz und Kommunikation sind kein spannungsfreies Begriffspaar, dazu aber später etwas mehr und konkreter. Einleitung Ich möchte vorweg sagen, dass ich nicht über ein neues Thema spreche. Es ist vielmehr eines, das denn Kinderschutz begleitet, seit es ihn gibt – vielleicht begleitet es ihn nicht nur, sondern prägt ihn – mehr als ihm lieb sein kann, als ihm gut tut. Einerseits brauchen wir unsere Ängste, sozusagen als Signalgeber für mögliche Gefahren; andererseits behindern uns Ängste bei der Arbeit – manchmal können sie einem das Denken und Abwägen ja regelrecht außer Kraft setzen. Vielleicht kann man die Entwicklungen des Kinderschutzes schon immer auch als einen Versuch verstehen, die in ihm wirksamen Ängste auf mehr oder weniger glückliche Weisen zu bewältigen oder wenigstens einzudämmen. Es gibt eine bedeutende Arbeit von Georg Devereux, dem französischen Ethno-Psychoanalytiker, zu diesem Thema. Er untersucht die Entwicklung von Theorien und Methoden und von institutionellen Regeln unter dem Aspekt der Angstbindung und Angstbewältigung. Der Titel des Suhrkampbuches lautet Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, kein neues Buch mehr, aber ein wichtiger Klassiker. Angst scheint immer dort eine große Rolle zu spielen, wo es um viel geht, viel gewonnen oder verloren werden kann, wo Entwicklung gesichert oder beschädigt werden kann – letztlich wo die eigene Existenz auf dem Spiel steht – und die anderer. Im Kinderschutz geht es immer wieder um sehr viel – Risiko und Angst sind tägliche Begleiter von Kinderschutzmitarbeitern. Die Kinderschutzentwicklung ist seit einigen Jahren (nicht zuletzt durch die Neufassung des § 8a) mit einer Zunahme von Verantwortungsforderungen im Hilfesystem geprägt. Und wie es nicht anders sein kann, wird die Verantwortungswahrnehmung im Hilfesystem vor allem durch die Schaffung von 1 Jubiläumsvortrag Kinderschutz-Zentrum Wien am 11.05.07 in Wien. sogenannten objektive Standards und messbaren Fakten gesucht. Der Stuttgarter Kinderschutzbogen und seine diversen Nachfolger und Abwandlungen sind beredte Beispiele davon. Ich will an dieser Stelle gleich einem möglichen Missverständnis vorbeugen: Ich selber habe zu lange, vor allem in der Arbeit mit Familien, in denen Kinder vernachlässigt wurden, im Kinderschutz gearbeitet, um fachliche Standards nicht zu schätzen. Und ich habe sie auch selber mit entwickelt. Diese Objektivierungsversuche sind wichtig, und sie sind zugleich trügerisch, vor allem dann, wenn es zu einem Missverhältnis von erfasster Datenmenge und gewonnener Einsicht in mögliche Ressourcen und Gefährdungen in Kinderschutzfällen kommt. Deshalb haben die Veranstalter mich gebeten, über Angst und Ambivalenz zu sprechen. Welche Rolle spielen sie im Hilfesystem und was sind Möglichkeiten, mit ihnen umzugehen? Ich muss an der Stelle einschränkend sagen, auch weil es mir beim Schreiben selber aufgefallen ist: Über viele wichtige Kinderschutzaspekte, die beim Gelingen von Kinderschutz eine Rolle spielen, werde ich nicht sprechen, ich versuche mich an mein Thema zu halten. Ausgangssituation Die Neufassung des § 8a definiert neue Gruppen von abgestufter Kinderschutzverantwortlichkeit und trägt dazu bei, dass kritische Situationen gegenwärtig häufiger erlebt werden oder Situationen als kritisch interpretiert werden. Mit der Erweiterung des Schutzauftrags an neue Kinderschutzmitwirkende kommen Risiken der Hilfe (zumindest vorübergehend) häufiger und mit schärferer Dynamik vor. Es hat sich eine typische Situation entwickelt, in der neue Hilfen auch neue Hilfe-Risiken mit sich bringen: Die Erweiterung des Schutzauftrags mit den nun bekannten Nebenwirkungen trägt dazu bei, dass ein höheres Risiko in der Beziehungsgestaltung zwischen Helfern und Eltern entsteht. Der Kinderschutz kommt aber ohne die Eltern nicht aus, und er steht z. B. mit solchen Tagungen vor der Aufgabe, die selber geschaffenen Risiken zu mindern. Steht der Kinderschutz also, so wie in jüngerer Zeit, vor neuen Aufgaben, so wächst der Druck, ihnen gerecht werden zu müssen. Damit wächst aber auch die Angst, sie nicht erfüllen zu können – versagen zu können wird zu drohenden Phantasie. Oft ist jedoch nicht richtig klar, worin das Versagen eigentlich bestünde, und das macht die Kinderschutzarbeit nicht leichter. Kinderschutz ist eine anspruchsvolle und verantwortungsvolle Aufgabe, und es ist eine schwierige Arbeit. Er wird aber oft dadurch noch schwieriger, dass Emotionen in ihm eine große Rolle spielen. Nicht selten wird er von ihnen beherrscht, was ihm nicht gut tut. Die Emotionen haben zumeist eine Ventilfunktion, sie sollen die enormen Mengen an Identifikation auf der einen und Ablehnung auf der anderen Seite ausdrücken und den Druck in der Arbeit mindern. Nur so viel an dieser Stelle: Jeder, der im Kinderschutz etwas zu sagen hat, will definieren, was andere richtig zu machen hätten. Im Kinderschutz wird also auch viel gestritten. Ich selber kann mich davon nicht ganz ausnehmen. Ich will aber bei meinen Gedanken einen Irrtumsvorbehalt machen, und ich möchte gerne über das, was ich Ihnen hier anbiete, ins Gespräch kommen. Was hat es mit Angst und mit Ambivalenz im Kinderschutz auf sich? Vorab etwas zu den Ängsten der Beteiligten: Bei Kindern denkt man sofort an die Angst, von Misshandlungen und Vernachlässigungen bedroht zu sein, zwei Ängste sind für sie kaum trennbar miteinander verbunden: Die um ihren Schutz, um ihre körperliche und seelische Unversehrtheit und über die mögliche Trennung von den Eltern. Sicherlich sorgen und ängstigen sie sich, wenn es um ihren Schutz gehen soll: Dient der Schutz wirklich ihrer Hilfe, oder bedroht er die Sicherung ihrer Entwicklungsbedürfnisse? Elternängste Sie werden mir wahrscheinlich auch weitgehend zustimmen, dass Eltern enorme Ängste haben und dass vieles dessen, was sie tun und lassen der kurzfristigen Bewältigung dieser Ängste dient. Sie haben natürlich Angst, wozu sie im Umgang mit ihren Kindern fähig sind und sie haben natürlich die Angst vor den Folgen. Eltern werden deshalb den Kinderschutz immer ambivalent erleben: Sie wünschen die Hilfe und sie fürchten sie. Sie wünschen die Veränderung; zumeist aber zweifeln sie, ob sie gemeinsam mit ihren Helfern wirklich eine Wende in ihrem familialen Leben zustande bringen. Ich frage mich gerade, ob nicht auch Mutlosigkeit ein häufiger Begleiter von Kinderschutz ist. Aber was ist mit den Helfern? Haben sie Angst, haben wir Angst bei unserer Arbeit, welche Rolle spielt Angst bei unserem Tun und Lassen? Welche Ängste sind wirksam, worin besteht ihre Wirksamkeit, und welche Möglichkeiten haben Helfer und Hilfesysteme, mit Angst umzugehen? Darauf, dass es nicht ein Thema alleine der einzelnen Helfer ist, lege ich Wert – es ist vor allem ein Thema der Hilfesysteme. Es gibt dabei im Rahmen dieses Vortrags für mich zwei Stränge, und sie sind natürlich eng miteinander verflochten: Das eine ist der persönliche Umgang mit Angst und Ambivalenz. Darüber werde ich jetzt sprechen. Der andere sind die institutionellen Rahmenbedingungen für gelingende Kinderschutzarbeitsprozesse, das wird der zweite Teil meines Vortrags sein. Zur Sache Jeder Kinderschutzfall beinhaltet ein Risiko. Es ist ein Risiko mit besonderem Charakter: Die körperliche und psychische Unversehrtheit eines Kindes stehen auf dem Spiel, und sie scheint ganz unmittelbar an unserem Tun und Lassen zu hängen. Und jetzt kommt das schwierige: Das Wohl des Kindes hängt eben nicht alleine vom dem ab, was zwischen dem Kind und uns selber geschieht, sondern auch von dem, was sich zwischen uns, dem Kind und den Eltern entwickelt. Möglicherweise auch noch von anderen Beteiligten: Der eigene Vorgesetzte, die Familienrichter, der Amtvormund, die Presse – um nur einige zu nennen, deren Handeln und Einfluss häufig unwägbar ist. Vor diesem Hintergrund wird klar: Das besondere des Risikos besteht aus einer Kombination eines sehr hohen Gutes in einer gleichzeitig relativ unübersichtlichen Situation. Und es kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu: Wenn ein Kind gefährdet ist, sind wir emotional dicht dran, nicht selten verstrickt. Um es genauer zu sagen: Über eine Identifikation mit den Wünschen des Kindes nach Unversehrtheit und Entwicklung sind unsere emotionalen und gedanklichen Spielräume eingeschränkt, nicht selten scheint es bei der Misshandlung eines Kindes um unser eigenes „Kindeswohl“ zu gehen, emotional ums eigene Überleben. Die nicht ohne weiteres zu beantwortende Frage lautet dann: Um wessen Gefährdung geht es eigentlich? Ausschließlich um die des Kindes, auch um unsere eigene (des Kindes in uns) oder vielleicht auch nur um das unbewusste Erleben unserer eigenen Gefährdung? Die Situation ist sachlich, beziehungsmäßig und emotional komplex, bei hoher Verantwortung und begrenzten Mitteln, sie rational zu durchschauen. In einer solchen Situation ist Angst ein ganz natürlicher Begleiter; das bei nüchterner Betrachtung mit dem Fall verbundene Risiko kann in der eigenen Vorstellung zu einer Panik werden. Die Wirkung von Ängsten in Kinderschutzfällen Ich will versuchen, eine relativ typische Situation zu entwickeln, wie ich sie aus meiner eigenen früheren Praxis kenne: Für einen zuständigen Helfer ist die konkrete Verletzung eines Kindes schwerwiegend, eine Wiederholung sollte ausgeschlossen sein. Die Eltern des Kindes sind verschlossen, sie haben nach eigenen Angaben mit der Verletzung des Kindes nichts zu tun, sie schließen eine erneute Verletzung dennoch kategorisch aus. Der Helfer hingegen ist von der Verletzung des Kindes und von dem verschlossenen Verhalten der Eltern alarmiert. Er ist empört über das „Mauern“ der Eltern, über den Widerstand, den sie der Hilfe entgegen bringen. Er reagiert untergründig aggressiv über die Verletzung des Kindes durch die Eltern und über die Art und Weise, wie sie die Situation verharmlosen. Er kommt sich für dumm verkauft vor und er spürt mindestens untergründig, dass der Kontakt den er braucht, um die Gefährdung des Kindes verlässlich einzuschätzen, dünner und dünner wird – je länger er redet und sich anstrengt. In diesem Moment von Verantwortungsgefühl und Kontaktstörung entsteht Angst. Die Angst, der Verantwortung (jetzt nach der Novelle des § 8a KJHG) nicht gewachsen zu sein. Diese Angst kann Unsicherheit, kann Panik bewirken; es entsteht eine diffuse emotionale Situation von unklarer Gefährdung, von Druck, eine Gefährdung auszuschließen, von unsicherem Kontakt mit den Bezugspersonen, von Aggression und Versagensangst. Alles zusammen mit der nicht auszuschließenden Folge, dass die verlässliche Gefährdungseinschätzung misslingt. Am Ende solcher gedanklicher und emotionaler Ketten steht die Gefahr von Schuld: Ich bin Schuld, wenn dem Kind wieder etwas passiert, wenn es erneut misshandelt wird, bin ich schuldig. Die nüchterne Frage nach dem wirklichen Maß der eigenen Verantwortung ist dann nur mit großer Anstrengung zu stellen. Diese komplexe Angstsituation führt nun dazu, dass der Helfer sich eine Klärung der Gefährdung wirklich nicht mehr vorstellen kann. Seine Angst vergrößert das für ihn und führt dazu, dass die Klärungschancen nicht mehr wahrgenommen werden können. Es entsteht eine Situation nach dem Muster der sich selbst erfüllenden Annahme: Die Vorstellung, dass die Eltern nicht kooperativ seien, schränkt den Kontakt zu ihnen so ein, dass ihre Kooperationsressourcen nicht mehr wahrgenommen werden können. Die Hilfe wird dadurch belastet, dass der mögliche Beitrag der Eltern zum Schutz ihres Kindes nicht berücksichtig werden kann. Im ungünstigen Fall werden sie dies als eine Absage der Hilfe an ihre Mitwirkungsbereitschaft verstehen. Zurück zu der Situation nach der Misshandlung Es gibt in dieser Begegnung zwischen dem Kind, seinen Eltern und dem Helfer keine Möglichkeit, die Angst der Eltern vor Beschuldigungen, vor der Wegnahme des Kindes und vor einer Bestrafung öffnend und beruhigend zu thematisieren. So beginnt ein Kreislauf, den wir im Kinderschutz gut kennen: Die Eltern können Ihre Angst nicht offen ausdrücken; sie spielen Normalität vor in der Hoffnung, sich einer Bedrohung entziehen zu können. Sie leugnen die Misshandlung auch deshalb, weil sie das fortwährende Gefühl, sich von der Hilfe bedroht zu fühlen, nicht aushalten. Mit ihrer Verleugnung tragen sie jedoch zu einer für den Helfer, für das Kind und letztlich auch sich selber bedrohlichen Lage bei. Aus der Angst, er könnte die Kontrolle über den Prozess verlieren, versucht auch der Helfer, die Wahrnehmung seiner eigenen Angst zu unterdrücken: Sein Ziel ist es, das Risiko der Hilfesituation so gering wie möglich zu halten. Das geringste Risiko scheint zu sein, kein Risiko einzugehen: Das Kind wird in Obhut zu nehmen. Die Inobhutnahme bannt die Angst des Helfers um die Sicherheit des Kindes, sie macht sie sozusagen überflüssig, er ist erleichtert – vorübergehend. Mir ist es wichtig herauszustellen, dass es einen untergründigen Zusammenhang zwischen den Ängsten der beteiligten Personen gibt. Die Eltern verhalten sich so: Wir werden unsere Angst nicht offen ansprechen, wir würden damit ja etwas zugeben, und wir würden uns dem (dem Helfer, dem Hilfesystem) ausliefern. Wir werden uns beherrschen, wir werden dem doch nicht zeigen, wie viel Schuldgefühle wir haben, für das, was uns da passiert ist. Er wird es schon nicht entdecken, dafür sorgen wir. Wir werden uns auch nicht anmerken lassen, dass wir Angst haben: Wenn der kommt, sind wir zu wie ein Schweizer Skihaus im Sommer. Der Helfer, der glaubt, die Situation unter Kontrolle halten zu müssen, wird ebenfalls seine Angst und deren Wahrnehmung unterdrücken; sinngemäß könnte er denken: Wenn ich hier jetzt auch noch Angst kriege, dann gehe ich unter. Die Situation wird dadurch komplizierter, dass die Eltern untergründig die Angst des Helfers spüren: Sie spüren sie in der Art und Weise, wie er versucht die Kontrolle über die Situation herzustellen. Sie erkennen seine Angst und sein Misstrauen an seinem forschen Auftreten, an seiner starren Haltung, in der nur noch ein formelhaftes Gespräch möglich ist; an der Ankündigung der Inobhutnahme, schon daran, dass sie, die ultima ratio, so rasch ins Spiel kommt. Seine Angst besteht wahrscheinlich darin, dass die Situation ihm entgleiten könnte, dass er nicht mehr Herr seiner Gedanken ist: Er könnte unsicher werden, könnte sich verführen lassen, könnte die Situation nicht mehr verstehen. Die Angst vor dem Kontrollverlust, vor dem Gefühl ich bin dieser Situation nicht mehr gewachsen, lässt ihn hart und fest werden. Niemand der Beteiligten kann den möglicherweise erlösenden Satz sagen: Wir alle hier in diesem Raum haben doch Angst: Sie haben Angst, von mir beschuldigt zu werden. Sie wissen aus der Presse von Strafverfahren und davon, wie schlecht Eltern in der Öffentlichkeit gemacht werden können. Vielleicht fürchten sie, Sie könnten sich selber nicht in die Augen sehen – geschweige denn, sich gegenseitig ansehen – nach dem, was geschehen ist. Ich habe Angst, hier rauszugehen und einen Fehler gemacht zu haben. Ich könnte dann ebenfalls morgen auf der Anklagebank sitzen, vor meinen Vorgesetzten, vor meinen Kollegen vor der Öffentlichkeit als Richter. In letzter Zeit hat es Kollegen immer wieder getroffen. Ihr Kind schließlich hat auch Ängste: Die eine besteht darin, hier bei Ihnen zu bleiben, ohne zu wissen, ob es die nächste Nacht sicher und unversehrt übersteht oder ob Sie einmal mehr die Kontrolle über sich verlieren und Ihr Kind erneut verletzen – und Ihr Kind mich als Versager ansehen muss, weil ich das nicht verhindert habe. Nicht genug, hat es natürlich auch noch die Angst, heute Nacht nicht in seinem eigenen Bett schlafen zu können und fürchten zu müssen, dass es nicht so rasch wieder nach Hause kommt. Was bedeutet das? Ich habe eine Situation ausgesucht, um das Thema Angst und Ambivalenz zu verdeutlichen. Im Grunde haben alle Angstsituationen, in die Helfer in Kinderschutzfällen kommen können, eine ähnliche Dynamik. Sei es, wir hier beschrieben im Jugendamt, sei es in einer Kindertagesstätte oder einer Klinik oder auf dem Abenteuerspielplatz. Es geht immer um zwei unterschiedliche Angstthemen deren Bewältigung eng miteinander verbunden ist: Es geht zum einen um die Angst davor, mit einer Misshandlung emotional überhaupt in Berührung zu kommen – Misshandlungen, von denen sie erfahren, sind für Helfer schmerzhaft, die bewusst empfunden Schmerzen sind noch bewältigbar, schwieriger und von größerer Wirkung auf den Hilfeprozess sind die unbewusst gebliebenen schmerzhaften Berührungen durch die Misshandlung, die ein Klientenkind erleiden muss. Die Situation des Helfers ist dann mit ambivalenten Gefühlen verbunden: Er will helfen, will sich aber unter Umständen vor dem schmerzhaften Berührtwerden durch die Wahrnehmung der Misshandlung schützen. Das andere mit Angst verbundene Thema ist die Verantwortung für den Fall, für den Schutz des Kindes – auch das kann Angst machen. Die hilfepraktische Schwierigkeit ist folgende: Wenn man sich der Angst vor dem von der Misshandlung Berührtwerden nicht stellt, gelingt kein richtiger Zugang zu der Angst vor der Verantwortung. Mit diesem Problemkreis sind alle Versuche kooperativer Kinderschutzarbeit im Team befasst. Was ist zu tun? Was kann man überhaupt tun? Man kann nicht sehr viel tun, es gibt keine Zaubermittel, auch wenn manche das in aufwendigen Erhebungsverfahren für Gefährdungsdaten versuchen. Das aber, was man tun kann, ist hoch wirksam. Das Gelingen von Kinderschutz überhaupt, das jedes einzelnen Kinderschutzfalles, egal wo er stattfindet, baut auf Teamkompetenz. Man kommt mit dem hohen Maß an Verantwortung, mit den eigenen Ambivalenzen und dem ambivalenten Erleben der anderen Fallbeteiligten, vor allem aber mit den auftauchenden Ängsten nicht wirklich gut alleine klar. Eine gruppenanalytische Kollegin von mir, 2 erfahren und weise, sagt gerne: Allein, fällt einem nicht so recht was ein! Mit schwierigen Situationen alleine gelassen zu sein, wirkt ohnehin schon angstauslösend, und mit der Angst setzen dann u. U. die angstmindernden Abwehrmechanismen ein und schaffen unversehens vollendete Tatsachen: Plötzlich hat man die Nummer der Polizei, die dann alles in die Hand nimmt, schon gewählt; ehe man nur beginnen konnte zu denken und eine Gefährdungslage wirklich prüfen konnte, hat man schon eine Unterbringungsentscheidung getroffen. Plötzlich hat man aber auch Eltern, die einem immer kooperativ vorkamen, einen Persilschein ausgestellt – weil man nicht glauben will, wozu sie fähig waren – so kann man sich doch nicht getäuscht haben. In Kinderschutzfällen helfen natürlich Kolleginnen und Kollegen – solche, denen man etwas erzählen kann, die aufmerksam zuhören, die das Maß an emotionalem Stress, in dem man steht, wahrnehmen. Die nicht davor zurückschrecken, sondern ruhig, empathisch aber auch kritisch zuhören und die die Situation des Falles und die des Helfers einzuschätzen helfen. Wenn man ein solches Team nicht hat, dann kann man sich einen Kinderschutzdienst suchen, der genau über diese Fähigkeiten verfügt. In Berlin und in Hamburg würde ich immer in ein Kinderschutz-Zentrum gehen – man darf mit Kinderschutzfällen nicht alleine bleiben. Nach meinem Eindruck, von mir selber, von meinen früheren Kollegen und heute aus den Supervisionen braucht es eine spezifische Teamkompetenz: Sie besteht in einem sorgfältigen Einfühlen in einen Kollegen und einer nüchternen Einschätzung seiner Fähigkeiten. Das Einfühlen ist wichtig, um ihm zu helfen, seine inneren Konflikte in diesem Fall zu verstehen und zu bewältigen. Die nüchterne Einschätzung durch das Team braucht es, weil die Situationen oft zu komplex sind, um sie alleine verstehen zu können. Teams, die an diesen Stellen drum herum reden, sind nicht wirklich eine Hilfe und tun einem fallführenden Kollegen keinen Gefallen, den Klienten ohnehin nicht. Mit anderen Worten: Kinderschutzqualität steigt mit zunehmender Teamentwicklung. Teams können eine enorme Hilfe sein, mit Anforderungsdruck umzugehen. Die meisten Unsicherheiten in Kinderschutzfällen entstehen heute nicht mehr bei der Beurteilung, ob eine Verletzung die Folge eines Unfalls ist oder eine zugefügte Verletzung. Sie treten dann auf, wenn es darum geht, eine tragfähige Helfer-Klient-Beziehung herzustellen, eine Beziehung, die von Empathie für alle Beteiligten und von Standfestigkeit in der Sache geprägt ist. Ich nenne ein paar Gesichtspunkte, die einem Team, z. B. in einer Fallkonferenz, helfen können zu prüfen, an welchen Stellen ein Kollege Unterstützung bei der Bewältigung eines Kinderschutzfalles braucht: • Zeigt der fallführende Kollege ein Übermaß an Affekten, die es ihm schwer machen, eine Gefährdung einzuschätzen und einen tragfähigen Kontakt mit Kind und Eltern einzugehen? • Fehlen die normalerweise bei einem Fall aufkommenden Emotionen gänzlich und damit auch die emotionale Schwingungsfähigkeit des Kollegen in dem Fall? • Ist der Kollege, die Kollegin, noch fähig, zu beiden Beteiligten einen emotionalen Kontakt zu halten oder führt eine einseitige Identifikation mit Kind oder mit einem Elternteil zu blinden Flecken? • Kann er noch Gedanken formulieren, mit denen er z. B. ein Gespräch mit den Eltern über die Gefährdungseinschätzung führen kann? • Ist das Team aus der Fallschilderung in der Lage, den Fall zu verstehen oder bleibt die Darstellung unverständlich? • Ist der Kollege in der Lage, dem zu folgen, was die Teammitglieder als Gedanken entwickeln oder ist er in seiner verengten Wahrnehmungswelt gefangen? • Ist er/sie von Angst beherrscht und kann nicht mehr oder nur noch eingeschränkt denken? 2 Dietlind Köhncke, Gruppenanalytikerin. • Besondere Aufmerksamkeit, das ist sozusagen der Knackpunkt, verdient seine Fähigkeit, zu dem Kind und zu den Eltern gleichzeitig eine empathische Beziehung halten zu können. Dies sind einige Gesichtspunkte, auf die zu achten meine Kolleginnen und Kollegen und ich in unseren Intervisionsgruppen gelernt haben. Sie bilden keine Checkliste sondern sind vielmehr Anlass zu einem empathischen Ansprechen dessen, was den Teammitgliedern auffällt und bei dessen Bewältigung das Team der Kollegin dem Kollegen helfen kann. Die Formel für das Maß an Angst bzw. Angstminderung für Kollegen wie für Klienten ist einfach: Je angemessener, also inhaltlich stimmiger sich Klienten und Kollegen in ihren Ängsten und Ambivalenzen verstanden fühlen, umso geringer wirken diese Ängste, umso weniger heftig sind die Ambivalenzschwankungen z. B., wenn es um Zwangshilfe und freiwillige Zusammenarbeit geht. Umso ruhiger können beide Seiten sich auf den schwierigen Hilfeprozess einlassen. Was einem Kollegen oder einer Kollegin also hilft, ist das Verständnis für den Verantwortungsdruck, für die Ängste zu versagen, für die uneingestandenen Aggressionen, die ihrerseits wieder Schuldgefühle mobilisieren. Und für die emotionalen Konflikte, in die man kommt, wenn man einen helfenden Kontakt zu beiden Seiten, zum misshandelten Kind und den misshandelnden Eltern, halten muss. Teams können helfen, die ungeminderte Denkfähigkeit wiederherzustellen, Kinderschutzpraxis mit Denken auszustatten, statt es, wie am Anfang bemerkt, von Emotionen überfluten zu lassen, ist ein Fokus von Kinderschutzarbeit. Individuelle Selbstfürsorge in der professionellen Arbeit Es gibt natürlich ein paar Dinge, die kann man individuell tun. Mann kann versuchen, auf sein Maß an Stress zu achten, man kann Selbsterfahrung machen, Therapie, all das, was einem hilft, sich selber besser kennen zu lernen und seine eigenen Lebensthemen von denen der Klienten unterscheiden zu können. Es hilft, eine erfüllende Freizeitbeschäftigung zu haben, eine, die einen auf andere Gedanken bringt, eine, die einem hilft, sich zu entspannen – die Arbeitsanspannung aus Geist und Körper rauszubekommen. Da wir unsere Arbeit in aller Regel aber in komplexen institutionellen Zusammenhängen machen, baue ich eher auf funktionierende Teams. Ich weiß, ich weiß, auch Teams können manchmal ganz schrecklich und überhaupt nicht hilfreich sein; aber grundsätzlich haben sie das Potential, der eigenen Arbeit ein haltendes Sicherungs- und Entwicklungsmilieu zu bieten. Ich führe hier den Milieubegriff ein, weil es ganz klar ist, dass Kinderschutz nur gelingen kann, wenn seine Organisationen ihn zu einem institutionellen Milieu von Hilfe machen. Einem Milieu der Hilfe, das dem Milieu in dem die Misshandlungen geschehen, entgegenwirkt. In diesem Zusammenhang beginne ich jetzt über Prozessbedingungen für wirksamen Kinderschutz zu sprechen. Über die Bedingungen, deren Erfülltsein darüber entscheidet, ob Kinderschutz gelingt. Kinderschutz, auch die Arbeit am konkreten Fall, ist kein heroisches Projekt Einzelner; er ist nicht individuell zu leisten, sondern ist das Werk solidarisch, und das schließt das Kritische mit ein, aufeinander bezogener Teammitglieder. Den Rahmen bildet eine auf die Arbeitsaufgaben zugeschnittene Organisation. Wahrscheinlich wird ihnen vieles von dem, was ich Ihnen jetzt vortrage, altbekannt vorkommen – aber vielleicht nicht der Zusammenhang, in den ich es hier stelle. Für diese anspruchsvolle Arbeitssituation braucht es gute Prozessbedingungen, Bedingungen, die dazu beitragen, dass es zu einem gedeihlichen Hilfeprozess kommt. Ich gebe keiner der folgenden Erfolgsbedingungen einen Vorzug; man soll nicht glauben, dass man auch nur auf einen Teil davon für eine erfolgreiche Kinderschutzarbeit verzichten könne. Ihre Gesamtheit und Ihr Zusammenwirken machen den Erfolg von Hilfe aus. 1. Es braucht natürlich gute Ausbildungen, Ausbildungen mit Lehrkräften, die verlässliche Begleiter eines nicht zu kurzen Ausbildungsweges sind. Das Erleben von Kontinuität in der persönlichen Veränderung ist von eminenter Bedeutung für die spätere Fähigkeit, mit den Fragmentierungen umzugehen, den Beziehungs- und Lebensbrüchen, die die Beziehungen der Klienten so überaus stark und häufig prägen. Ich betone die Verlässlichkeit deshalb so sehr, weil sie eine enorme Bedeutung bei der Bewältigung eigener Angst und der Angst von Klienten hat. Mangelnde Verlässlichkeit ist nicht nur in Familien sondern auch in Hilfebeziehungen angstbildend. Verlässlichkeit erlebt und ihre Bedeutung erfahren zu haben trägt dazu bei, anderen ein Partner in schwierigen und konflikthaften Beziehungen sein zu können – und es macht sensibel für die häufig diskreten Beziehungsbrüche in den Beziehungen zwischen Klienten und Helfern. Verlässlichkeit in der Ausbildung ist wichtig, weil alles andere sowieso kommen wird: Die Konflikte, die Entmutigungen, die Selbstzweifel, ebenso wie die Rettungsphantasien und Ausflüge in die Grandiosität mit denen man versucht, den Konflikten und Zweifeln zu entkommen. Um dies alles zu bewältigen, braucht es geduldige und beharrliche auf das Lernen und die Persönlichkeitsentwicklung der Studenten orientierte Lehrer und Lernbedingungen. Thematisch betone ich hier einige Spezialkenntnisse, deren Fehlen nicht selten zu Fehlentscheidungen führt – z. B. bei der Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen und der Beurteilung von Trennungsfolgen: • Es geht um die Entwicklungspsychologie des Kindes, insbesondere um die Bedingungen von Bindungsqualität und von Objektbeziehungen, dieses Wissen ist wichtig, um die Tragweite von Hilfeentscheidungen ermessen zu können. • Es geht ebenso um ein tieferes Verständnis von Familien- und Beziehungsdynamik als man es mit Familienaufstellungen erreichen kann – diese Familien sind kompliziert und brauchen einen sorgfältigen Blick auf ihre familiären Strukturen und ihre oft schwer verständliche Dynamik. • Es geht um fundierte Kenntnisse und um praktische Kompetenzen der sozialpädagogischen und der psychologisch fundierten Krisenintervention. • Nicht zuletzt geht es um gute Kenntnisse und Verhaltenskompetenzen in der oft komplizierten Dynamik von Institutionen und kooperativen Beziehungen. Es ist immer wieder beeindruckend, wie sehr die Fähigkeit, institutionelle Zusammenhänge zu verstehen, und sich auf dem institutionellen Parkett verhalten zu können, über den Erfolg von Kinderschutzarbeit entscheiden. 2. Kinderschutzmitarbeiter brauchen eine gute, ausführliche Selbsterfahrung. Eine Selbsterfahrung, in der nicht nur etwas „erlebt“ wird, sondern die ein differenzierendes Empfinden und Denken in Stresssituationen entwickeln hilft. Eine, die einen eingehend mit der Dynamik und Struktur der eigenen Herkunftsfamilie und den damit verbundenen Entwicklungskonflikten vertraut macht. Drei Lebenserfahrungen stehen dabei, gerade, weil sie für die berufliche Tätigkeit wichtig sind, im Mittelpunkt: Die Reflexion und die Verarbeitung von selbst erlittener Gewalt, die von frühen Trennungen und die Bewältigung von Macht und Ohnmachtserfahrungen. Diesbezügliche Lebenserfahrungen beeinflussen die eigene Persönlichkeitsentwicklung; sie werden in der Arbeit tagtäglich berührt und spielen natürlich in den Helfer-Kind-Eltern-Beziehungen eine große Rolle. Es geht in ihnen ja nicht selten um Leben und Tod, mindestens aber um Macht und Ohnmacht. Je besser diese eigenen Erfahrungen verarbeitet werden konnten, umso weniger werfen aktuelle Macht- und Ohnmachtskonflikte einen aus der Bahn, umso besser können Angst und Ambivalenzen in der Arbeit bewältigt werden. 3. Kinderschutz ist zu anstrengend und auch zu gefährlich für schlechte Arbeitsbedingungen, in ihm steht jeden Tag zu viel auf dem Spiel. Kinderschutzarbeit braucht Bedingungen, die die Diskrepanz zwischen dem, was erlebt wird, und dem, was davon verarbeitet werden kann, gering halten. Ungenügende Arbeitsbedingungen schaden dem Ergebnis und natürlich auch demjenigen, der es erbringen soll. Da schlechte Arbeitsbedingungen unmittelbar auf die Psyche schlagen – und die ist entgegen anderen Behauptungen das Hauptarbeitswerkzeug – wird die Qualität der geforderten Arbeit von den Bedingungen unmittelbar beeinflusst. Ein Unmaß von Erlebtem und dem, was man davon verarbeiten kann, zeigt den Betroffenen auch nur, dass ihre Arbeitskraft zwar gebraucht, aber nicht wirklich geschätzt wird. Das macht es schwer, in den schwierigen Beziehungen zu den Klienten alles zu geben, was nötig ist – auch die beziehungsmäßigen Risiken einzugehen, die diese Arbeit erfordern. Ich spreche hier nicht von einem Idealzustand. Die Arbeitsbedingungen müssen aber so sein, dass sie es ermöglichen, eine gute Ausbildung und eine gut entwickelte Selbstreflexivität auch wirklich für den Erfolg in der Arbeit zu nutzen; und nicht nur dafür, ungenügende Arbeitsbedingungen zu kompensieren. Mangelt es an einigen der bisher genannten Bedingungen, so merkt man es z. B. an hohen Krankenständen in den vielen Fällen, in denen Klienten und Kooperationspartner öfters mit der Krankheitsvertretung der Krankheitsvertretung zu tun haben, statt mit den eigentlichen fallführenden Kooperationspartnern. Dabei ist in der Hilfe für Lebensverhältnisse, die von Unterbrechung oder Zerstörung von Beziehungen gekennzeichnet sind, nicht vieles so wichtig, wie die Sicherheit entwicklungs- und arbeitsmäßiger Kontinuität. Einen Satz noch zu den Mitarbeitern: Er stammt aus den 80er Jahren aus dem Berliner KinderschutzZentrum und lautet: Wer Kindern helfen will, muss Helfer und Hilfesysteme verändern. Der gilt nach wie vor, auch, wenn es im Kinderschutz viele produktive Entwicklungen gegeben hat. Er ist in einer Hinsicht heute besonders aktuell: Wer anderen bei der Bewältigung ihrer beziehungsmäßigen Ohnmacht, die ja bei der Gewalt eine so große Rolle spielt, helfen will, muss seiner selbst mächtig sein. Die gute Selbsterfahrung ist hier natürlich die notwendige Bedingung – niemand kann seiner selbst mächtig werden, der nicht, von seiner Persönlichkeit her, über sich selbst verfügen kann. Die für Selbstmächtigkeit hinreichende Bedingung ist aber eine andere: Man braucht in dieser Arbeit eine transparente und mit Vernunft vertretene Hierarchie und man braucht die Selbstmächtigkeit, sich in diesen schwierigen Hilfeprozessen professionell verhalten zu können. Man braucht also einen Arbeitsrahmen, der diese schwierige Arbeit ausdrücklich respektiert und schützt. Vielleicht hilft zum Verständnis dieses Gedankens ein paradox anmutendes Bild: Es braucht Hierarchie, die Eigenständigkeit gewährleistet und entwickeln hilft. In den Organisationsformen psychosozialer Dienste, nicht in den Beziehungen der Mitarbeiter untereinander, ist dieser Respekt zuweilen schwer aufrechtzuerhalten. 4. Welche Anforderungen stellt Kinderschutzarbeit an die Leitung ihrer Organisationen? Abstrakt bediene ich mich hier erst einmal der Unterscheidungsmöglichkeit, die das Englische bietet. Es geht darum, Working-Conditions zu schaffen. Das Englische unterscheidet feinsinnig zwischen work und labour: Labour meint das schlichte Verausgaben von Arbeitskraft; Work dagegen meint die Art von Arbeit und Arbeitsweise, die dem Arbeitsgegenstand angemessen ist: In unserem Fall ist das Vermögen und die Bereitschaft, die Arbeitsbedingungen zu schaffen, die für den Schutz von Kindern und die Hilfe für Familien nötig sind. In diesem Zusammenhang spreche ich im Folgenden skizzenhaft über zwei Gesichtspunkte, der eine ist die Organisationsform der Arbeit der andere ist das Leiterverhalten. Die gängigen Organisationsentwicklungsmodelle der großen Anbieter (ich nenne Mc Kinsey und Berger) taugen zur Reorganisation von psychosozialen Organisationen wenig. Sie übertragen unreflektiert Formen der schlanken Organisation auf Projekte und Institutionen, die auf das engste mit ihrem Arbeitsgegenstand verwoben sind. In jeder Organisationsentwicklung psychosozialer Dienste geht es deshalb darum, den inneren Zusammenhang zwischen dem Arbeitsgegenstand und seiner Konfliktdynamik und ihren Auswirkungen auf die Organisation und ihre Mitarbeiter zu verstehen und bewältigbar zu machen. Dafür braucht es die Kombination von profunder psychosozialer Kompetenz und Kenntnis der Organisationsentwicklung oder anders formuliert: Es braucht eine Organisationsform, die eine Beschäftigung mit dem unbewussten Zusammenspiel von Arbeitsgegenstand, von Konfliktdynamik und von Organisationsstruktur und -dynamik gewährleistet. Dies ausführlich zu entwickeln wäre ein Thema eines eigenen Vortrags. Ich will hier aber wenigstens skizzieren, welches Leiterverhalten für eine Kinderschutzorganisation 3 hilfreich ist, die mit der Bewältigung derart schwieriger Themen befasst ist. Ulrich Schultz-Venrath , der selbst eine angesehene psychotherapeutische Klinik in Deutschland leitet, nennt drei Fähigkeiten, die für die Leitung von Organisationen insbesondere im psychosozialen Sektor wichtig sind und die eine Leitung in ihrem Verhalten sozusagen verkörpern sollte. Es sind die Fähigkeiten des Containments, der Verbindungskompetenz und der Trauerfähigkeit. • Containment ist vielleicht durch kleinianische Psychoanalysebeiträge bekannt. In Bezug auf den Kinderschutz meint es die persönliche und organisationale Fähigkeit, das bewusste und unbewusste unverdauliche Material der Arbeit einem Prozess des Verdauens in der Organisation zugänglich zu machen. Persönlich erfordert dies von Leitern, sich vor dem Arbeitsgegenstand, der Arbeit und ihren Nebenwirkungen nicht zu verschließen, sondern sich haltend und fördernd am Prozess der Arbeits-Verarbeitung – in gewisser Weise einem Kompostieren – zu beteiligen. Bei genauerem Hinsehen steht die Leitung beim Gelingen solcher Prozesse immer im Zentrum der Verarbeitung. Hier ist der Zusammenhang zwischen Containment und dem Vermögen, projektive Prozesse einzuschränken – und dann auch Ängste und Ambivalenzen zu verarbeiten – offenkundig. Ausreichendes Containment stärkt die Fähigkeit, Angst und Ambivalenzen zu bearbeiten, schafft Ruhe und Sicherheit in schwierigen Kinderschutzfällen. • Verbindungskompetenz, Verbindungsaktivität meint die Fähigkeit, Wesentliches zum Funktionieren der Organisation und der Arbeitsfähigkeit der Mitarbeiter miteinander zu verbinden – es ist die Grundlage jeder funktionalen Kommunikation im Betrieb. Zum einen geht es darum, Leute, Fähigkeiten und Aufgaben miteinander in Beziehungen zu bringen und sie in Beziehung zu halten. 3 Ulrich Schultz-Venrath: „Das Krankenhaus als ‚Kriegsschauplatz’ und/oder als Ort für die Gruppenanalyse und ihre Anwendungen“. In: Haubl, Heltzel, Barthel-Rösing (Hg.): „Gruppenanalytische Supervision und Organisationsberatung“. Gießen 2005. Eigene Mitarbeiter miteinander und auch mit Externen zu verbinden, bietet die Gewähr dafür, dass nötige Arbeiten erledigt und vor allem Entwicklungsschritte getan werden. Diese, mit hoher Prozessaufmerksamkeit verbundene Tätigkeit hat im Kinderschutz eine besondere Bedeutung: Kindesmisshandlungen und insbesondere Vernachlässigungen ist ja eine spezifische Wirkung eigen: Sie unterbrechen oder zerstören Beziehungsprozesse nicht nur in den Familien, in denen sie stattfinden. Auch in den Organisationen der Hilfe können sie verheerend wirken; sie tragen dazu bei, dass Kommunikation erlahmt, dass Arbeitsbeziehungen über scheinbar unbearbeitbare Konflikte gestört werden, dass insgesamt Verständigung über Wesentliches schwierig wird. Darauf die Aufmerksamkeit zu richten und festgefahrene oder unterbrochene Arbeitsbeziehungen wieder arbeitsfähig zu machen, gehört ebenfalls zu der Tätigkeit des Verbindens. Diese Fähigkeit kommt in der leitend kommunikativen und verknüpfenden Aufmerksamkeit für alltägliche Arbeit zum Tragen. Sie wirkt auch in der Konzeptualisierung von Entwicklung. Z. B. ist es heute eigentlich nicht sinnvoll, die Qualitätsentwicklung von Kinderschutzarbeit im Jugendamt ohne die kooperierenden Freien Träger zu machen. Der andere Modus des Verbindens betrifft die Arbeitsprozesse selber: Kinderschutzorganisationen laufen unter dem Eindruck von Gewalt und ihren Abwehrprozessen dagegen Gefahr, ihre eigenen Arbeitsprozesse zu fragmentieren. Diese Fragmentierungen sind eine institutionelle Abwehrreaktion auf die von den Klientensystemen in die Organisation hineingetragene Gewalt. Gute Leitung verkörpert die Fähigkeit, dem standzuhalten. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf die inhaltliche und personale Kontinuität von Arbeitsprozessen, sie sucht gerade zu den Lücken, in denen die Kontakte zwischen Mitarbeitern (untereinander) und zwischen Mitarbeitern und Klienten zu verschwinden drohen. Solchen Fähigkeiten und Bewältigungsprozessen sind allerdings Grenzen gesetzt. Wenn eine Organisation erfolgreich arbeitet, dann gelingt es ihr, diese Grenzen und damit ihre Handlungs- und Bewältigungsspielräume zu erweitern. Die Grenzen und Spielräume sind jedoch nicht beliebig bewältigbar, Kinderschutz bleibt immer schwierig, das zeigen auch die Krisen relativ erfolgreicher Kinderschutzdienste. • Die dritte Fähigkeit, die des Trauerns, setzt gerade an diesen Grenzen ein: Trauer zuzulassen, sie zu initiieren und durchzuhalten, meint hier die Fähigkeit, eigene Grenzen anzuerkennen – auch und besonders die Grenzen der eigenen Organisationen. Es ist also die kritische und gleichwohl wohlwollende Auseinandersetzung mit dem, was einem nicht gelingt. Diese Grenzen zu missachten und sie entweder in narzisstischer Verblendung zu überspielen oder sie depressiv zu überhöhen, schadet der Fähigkeit der Organisation, ein realistisches Verhältnis zu den Aufgaben und den eigenen Möglichkeiten zu bekommen. Wenn solche Spannungszustände nicht bewältigt werden können, so entwickeln sich in Organisationen nicht selten paranoide Züge, die Pegel der Angst in der Mitarbeiterschaft steigen und Ambivalenzen werden ständig vorschnell nach einer Seite aufgelöst. Mitarbeiter fühlen sich von ihren Klienten verfolgt bzw. tendieren ihrerseits dazu, verfolgende Einstellungen zu entwickeln, weil die Organisation sie nicht halten kann. Trauerfähigkeit und die Aufmerksamkeit der Leitung auf ihre Bedeutung ist also für eine realistische Einstellung zur Arbeit der Organisation von großer Bedeutung. In der Bewältigung solcher Spannungen kommt der Leitung einer Einrichtung eine ihrer vornehmsten Aufgaben zu. Sie besteht darin, die Dinge unumwunden beim Namen zu nennen und die Prozesse voranzubringen, die der Organisation helfen, Wahrheiten anzunehmen sowie Scham und die Schuldgefühle (und deren Abwehr) zu überwinden. Somit stehen Leiterinnen und Leiter von Einrichtungen und Organisationen auch vor der Aufgabe, ihre eigenen Scham- und Peinlichkeitsgefühle zu überwinden und ihrer Organisation zu einem realistischeren Verhältnis zu sich und zur eigenen Arbeit zu verhelfen. Es gibt eine feinfühlige Verbindung zwischen der Fähigkeit eines Leiters und seiner Organisation, diese drei Leitungseigenschaften wirksam werden zu lassen und dem Potential der Mitarbeiter, die in der Arbeit immer wieder vorkommenden projektiven Prozesse und emotionalen Spannungen zu erkennen und zu bearbeiten. Hier ist eine komplexe Über-Ich-Fähigkeit der Leitung, ja der ganzen Organisation gefragt, und damit komme ich zum Schluss: Stellt man Normen und vernunftbegründete Forderungen für die Arbeit auf, dann kann es ja leicht passieren, dass das Über-Ich als verfolgend und strafend erlebt wird, im Kinderschutz hätte das eine verheerende Wirkung. Das Über-Ich hat aber eine andere Funktion: Neben dem Bemühen um die Wahrheit, ist es die der Fürsorge und des Wissens 4 darum, wie schwierig diese Arbeit ist. Herman Beland , der Berliner Psychoanalytiker, spricht in 4 Hermann Beland: „Sorge für Wahrheit und Leben – Ethische Grundsätze und ihre Begründung im Werk von Sigmund Freud und Wilfred Bion“. Unveröffentlichtes Manuskript Dezember 2005. diesem Zusammenhang von der mitleidigen Vernunft gegenüber der bewussten und unbewussten Hilflosigkeit. Die braucht es bei dieser Arbeit allemal.