Murder, Ink.
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Murder, Ink.
Hartmut Retzlaff Murder, Ink. “True crime” in Amerika “Blood has no aroma”, Ed McBain (Ax) Zwei New Yorker Erzählungen aus dem Sommer 1999 (Dinner-Konversation): 1.) Senior einer etablierten Sozietät von Wirtschaftsanwälten: Farbige Panamenserin, seit fünfzehn Jahren in der Sozietät tätig (“tüchtige Mitarbeiterin, allseits geschätzt”), seit kurzem geschiedene Tochter mit Baby. Die Tochter lebt seit der Scheidung bei ihrer Mutter, wo sie auch das Baby bekommen hat. Eines Abends taucht in der Wohnung der Freund des derzeitigen Gefährten der Tochter auf, es kommt zum Streit, die Mutter versucht, Tochter und Enkelkind zu schützen, wird niedergeschossen, das Baby ebenfalls. Nur die Tochter wird schwerverletzt überleben. 2.) Lehrerin einer liberalen Privatschule der Oberklasse: Einer ihrer Schüler tritt seinen Ferienjob an der Bar eines Golf-Clubs an, kein materielles Bedürfnis (“die Kinder sollen das Leben kennenlernen” etc.). Ein Paar kommt herein, der Mann geht auf die Toilette, die junge, offenbar äußerst attraktive Frau wechselt mit dem Bürschchen ein paar Worte, der Mann kommt in die Bar zurück, sieht die Frau “mit einem anderen” sprechen und schießt den Jungen kurzerhand über den Haufen. Einige Gemeinsamkeiten der hier nur im Abriß wiedergegebenen Geschichten seien kurz aufgezählt: — Mehr oder weniger haben sich die Begebenheiten so ereignet, wie sie erzählt werden. Die Toten haben Namen, sind wirklich tot, die Erzählungen schließen detaillierte Berichte über die Beerdigungen ein, an denen die Erzähler teilgenommen haben, es finden anhand von Aufwand und Stil der Zeremonien Genauigkeit beanspruchende Schätzungen des materiellen und sozialen Status der Opfer statt. — Beide Erzählungen weisen blinde Flecken auf, auch auf Nachfragen nicht zu tilgen: 1.) Von wem war das Baby? Wie war, in bezug auf die Tochter der Panamenserin, das Verhältnis der Männer zueinander gewesen? 2.) Handelte es sich wirklich nur um eine Theken-Konversation? — Beide Erzählungen werden mit einem Kommentar über die “Sinnlosigkeit” des Geschehenen beschlossen. Diese “Sinnlosigkeit” tritt umso stärker in den Vordergrund, als durchweg auf Komplettheit und Konsistenz des Erzählten verzichtet wird (“blinde Flecken”). — Beide Erzählungen verbinden den Aspekt der “Sinnlosigkeit” mit der Grundannahme einer allgemeinen Gefährdung, die auch vor sozialen Schranken nicht haltmacht: 1.) “Unsere Sozietät gehört zu den angesehensten der City.” 2.) “Auch Sigourney Weaver und Steven Spielberg schicken ihre Kinder auf unsere Schule.” # Der Begriff “Großstadtlegende” (urban legend) wurde 1968 von Richard Mercer Dorson geprägt, nachdem er zuvor von urban belief tales gesprochen hatte. Jan Harold Brunvand hat in einer Vielzahl 1 von Veröffentlichungen darauf hingewiesen, daß diese Geschichten zwar das Großstadtleben reflektieren, nicht aber notwendig daran gebunden sind. Aufgrund Brunvands Überlegungen lassen sich vier wesentliche Grundmerkmale der Großstadtlegenden herausarbeiten: — ihr unkontrollierbares Auftauchen und ihre schnelle Verbreitung in immer neuen Variationen; — sie enthalten Elemente des humor or horror, letzterenfalls haben sie moralisierenden Charakter, der Horror hat punitive Funktion für gesellschaftliche Normverstöße; — sie ergeben eine gute Geschichte; — sie müssen nicht unbedingt erfunden sein, obwohl sie es meistens sind — was an ihnen interessiert, ist das narrative Nachleben der Fakten. 1 Jan Harold Brunvand: Folklore. A Study and Research Guide. New York 1976; vgl. a. seine zahlreichen Beispielsammlungen, zuerst: The Vanishing Hitchhiker. New York / London 1981. 1 In den eingangs wiedergegebenen Erzählungen spielt der moralisierende Gehalt eine wesentliche Rolle. Beide Male wurde ein Sexualtabu angerührt, relativ offen bei der geschiedenen Tochter mit ihrem ungeregelten Beziehungsleben, unterschwellig bei der Konversation des unreifen Jungen mit der weiblichen Beutefigur. Die erzählerische Ausgestaltung dieser wie anderer Begebenheiten trug entscheidend zum “Gelingen” des Abends bei, einzig die anonyme Autorschaft bleibt als Grundmerkmal der urban legend unerfüllt (was aber durch Weitererzählen bald erledigt sein dürfte). Doch erfüllen diese Erzählungen auch in einem tieferen Sinne den Tatbestand der Legende. Ob der Mensch gut oder böse sei, bleibt, solange er seine Güte oder Bosheit nicht in gute oder böse Taten umsetzt, bloße Meinungssache. Er muß erst handeln: “Im Verbrechen unterscheidet sich der Verbrecher qualitativ von den anderen Bösen.”2 Für Jolles sind insofern Heilige und Verbrecher “Personen, in denen sich Gut und Böse in einer bestimmten Weise vergegenständlichen”3. Der böse Handelnde ist hier Vergegenständlichungsmodus einer abstrakten Größe, des Bösen ‘an sich’. Die narrative Appropriation der Vergegenständlichung und ihre wirklichkeitsmächtige Perpetuierung in Gedächtnis und Lebensführung der Allgemeinheit nennt Jolles im Vergegenständlichungsmodus des Heiligen “Legende”: “Benennend, erzeugend, schaffend, deutend bildet die Sprache unter der Herrschaft einer Geistesbeschäftigung eine Gestalt, die, aus dem Leben hervorgegangen, überall in das Leben eingreift.”4 Im Vergegenständlichungsmodus des Verbrechers spricht er von “Antilegende”: “Dem Nachahmenswerten, Unnachahmbaren muß sich eine Figur gegenüberstellen lassen, der wir unter keiner Bedingung folgen sollen, die uns das konkrete Bewußtsein dessen gibt, was wir nicht nachahmen dürfen. Dem Heiligen muß ein Unheiliger, der Legende eine Antilegende gegenüberstehen.”5 Es ist nun aber gerade die Bindung an Figur des “Unheiligen”, was die Legende (hier: Antilegende) Jollesscher Fassung von der Großstadtlegende scheidet. Denn wenn die moderne Großstadt den Inbegriff moderner Vergesellschaftung darstellt, im Unterschied zur “gefühlten (...) Zusammengehörigkeit der Beteiligten” in der Vergemeinschaftung6, und wenn Vergesellschaftung sich wesentlich durch Tausch, Zweck- und Wertrationalität charakterisiert7, so sind hier abstrakte Charakteristika aufgezählt. Unter der Präponderanz des Abstrakten ruht der Vergegenständlichungsmodus immer weniger auf dem Täter, an dem kaum noch erkennbar wird, was er denn nun eigentlich personalisiere, als vielmehr auf dem Opfer, das als Leiche, mit all ihren Mutilationen und Violationen der körperlichen Integrität, konkreter nicht zu denken ist. Bedarf der Heilige des Wunders und der Verbrecher der Tat, um sich in der Welt der Lebenden abzuzeichnen, so ist die Leiche immer schon da und bedarf lediglich der Tatortsicherung, um ihrerseits signifikativen Charakter zu erhalten. Sie ist das zentrale Moment dessen, was Seltzer8 als wound culture bezeichnet: die unheroische Alltäglichkeit der Wunde seit etwa 1900. Dem tritt das Gefährliche Individuum gegenüber, das den Verbrecher, als heroische Figur bereits von Hegel als prästaatlich abgestempelt9 , im Verlauf des 19. Jahrhunderts abgelöst hat (so Seltzer10 im Anschluß an Foucault). Der Lebensweg dieses Individuums beschreibt dann eine Parabel, deren Bahn von den Körpern zufälliger, nicht prädestinierter Opfer gekreuzt wird. Dies macht die “Sinnlosigkeit” des Mordes in seiner modernen Erzählung aus: “If murder is, where bodies and history cross, ‘senseless’ murder is where our most basic senses of the body and society, identity and desire, violence and intimacy, are secured, or brought to crisis.”11 2 André Jolles: Einfache Formen. Tübingen 1930, S. 29. Jolles, (wie Anm. 2), S. 35. 4 Jolles, (wie Anm. 2), S. 50. 5 Jolles, (wie Anm. 2), S. 51. 6 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Aufl. Tübingen 1972, S. 21. 7 Weber, (wie Anm. 6), S. 22. 8 Mark Seltzer: Serial Killers. Death and Life in America’s Wound Culture. New York / London 1998. 9 Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 93. Zusatz. 10 Seltzer, (wie Anm. 8), S. 4. 11 Seltzer, (wie Anm. 8), S. 2. 2 3 Foucaults dictum: “Le crime, outre sa victime immédiate, attaque le souverain”12, gilt nach wie vor, wenn man unter dem souverain auch die demokratische Gesellschaft zu verstehen vermag. Allein Alewyns Formel: “die ganze Welt ist in einen Ausnahmezustand versetzt”13, trifft wohl eher ein festumrissenes und formalisiertes literarisches Genre. Dagegen: “La littérature policière transpose à une autre classe sociale cet éclat dont le criminel avait été entouré. Les journaux, eux, reprendront dans leurs faits divers quotidiens la grisaille sans épopée des délits et de leurs punitions. Le partage est fait; que le peuple se dépouille de l’ancien orgueil de ses crimes; les grands assassinats sont devenus le jeu silencieux des sages.”14 Diese grisaille, aus der der Detektiv- und Kriminalroman in seine literarischen Weihen ausgewandert ist, heißt im amerikanischen Englisch true crime; nur true crime, die großstädtische Antilegende ohne Heroen, soll hier thematisch werden. # True crime bezeichnet im Grunde nur eine Sortimentskategorie für Buchhändler, die an Buchumschlag oder Lieferschein (“File under ‘true crime’!”) ersehen, in welches Regal sie die eingetroffene Ware einstellen (z.B. nicht bei “crime fiction”). Die hier versammelte Literatur, meist aus der Feder von bekannten Polizeireportern und pensionierten Kriminalbeamten dreht sich fast ausschließlich um Mord. Sie antwortet damit auf ein öffentliches Interesse an Mord und Totschlag, das die typisch amerikanische Figur des Polizeireporters (im Unterschied zum gravitätischen Gerichtsreporter europäischen Typus’) überhaupt erst hervorbringt; negativ-mythisch: als feige Gegenfigur zum heroischen Einzelkämpfer Privatdetektiv, die bezeichnenderweise (wie Hyänen und Schakale) immer im Rudel auftritt, Bourbon und Tinte statt Blut in den Adern hat, sich einen Dreck darum schert, ob man auf dem nassen Asphalt durch Regen- oder Blutlachen watet, und um einen scoop seine Seele verkauft; pragmatisch: als Teil der polizeilichen Öffentlichkeitsarbeit, mit eigenen, technisch wohlausgestatteten Arbeitsräumen bei den Polizeidienststellen, trotzdem darauf angewiesen, sich die wirklich interessanten Nachrichten selbst zu besorgen: “Make notifications by telephone if possible (police radios are often monitored by the press).”15 Die “cultural interestedness” am Mord16 wird in jüngster Zeit durch umfassende Veränderungen im Bereich der Massenmedien verstärkt, die auch für Europa als “the transformation of the media landscape” beschrieben worden ist, “most notably by the widespread declcine of public broadcasting since the 1980s and the growing concentration of ownership in the press and broadcasting. Alongside such changes at the national level has been the increasing global dominance in the past decade of transnational multi-media enterprises”17. Auf die amerikanische Situation übertragen, die in diesem Sinne kein öffentlich-rechtliches Fernsehen europäischen Musters kennt, bedeutet das für die 80er Jahre: — Auflösung des TV-Triopols (abc / CBS / NBC) durch Hinzutreten weiterer Anbieter sowie Spartenkanäle etc.; — Aufkommen reiner Nachrichtenkanäle (CNN); — Auftreten von global players (Rupert Murdoch), die auf dem Gebiet des Fernsehens (Fox-TV) und anderer Medien unter erheblichem Kapitaleinsatz angreifen; — Erweiterung der typisch amerikanischen Presselandschaft von eher lokal gebunden Tageszeitungen auch im oberen Segment (Boston Globe, Chicago Tribune, Los Angeles Times, New York Times, San Francisco Examiner, Washington Post) durch die wider Erwarten erfolgreiche Lancierung eines auf den nationalen Absatz ausgerichteten mid-market-Organs (USA Today); 12 Michel Foucault: Surveiller et punir. Naissance de la prison. Neuausg. Paris 1999, S. 58. Richard Alewyn: Probleme und Gestalten. Frankfurt 1974, S. 391 f. 14 Foucault, (wie Anm. 12), S. 82 f. 15 Vernon J. Geberth: Practical Homicide Investigation Checklist and Field Guide, Boca Raton 1997, S. 8. 16 Sara L. Knox: Murder. A Tale of Modern American Life. Durham / London 1998, S. 18; vgl. a.: Wendy Lesser: Pictures at an Execution. An Inquiry into the Subject of Murder. Cambridge 1993, S. 1: “ I’m interested in our interest in murder.” 17 Philip Schlesinger / Howard Tumber: Reporting Crime. The Media Politics of Criminal Justice. Oxford 1994, S. 7f. 3 13 — zusätzliches Hinzutreten des Internet mit seinen nicht mehr zählbaren Nachrichtenanbietern in den 90er Jahren18. Die Anbieter der Ware Nachricht haben sich also vervielfacht. Aus einem übersichtlichen Markt mit stabilen Strukturen hat sich ein Verdrängungswettbewerb entwickelt, wo im Verbund unterschiedlicher Medien täglich um audience und Absatz gerungen wird. Da dieser Wettbewerb hauptsächlich durch Aufmerksamkeitswerte ausgetragen wird, sind Nachrichten über spektakuläre Verbrechen hier besonders tauglich. Hinzu kommt, daß die Strafverteidiger großer Prozesse ausnahmslos von PRExperten beraten werden und aktive Medienpolitik als Teil ihrer Prozeßstrategie betreiben19. Durch diese ständige Thematisierung von Kriminalität durch professionelle Agenten der öffentlichen Meinung, denen sich noch Ein-Punkt-Initiativen, Bürgergruppen und Lobbies zugesellen, sieht sich die Regierung ihrerseits einem Legitimationsdruck ausgesetzt, dem sie durch offensive, von spin doctors orchestrierte Kommunikationspolitik zu begegnen sucht: “(...) discourse about crime and criminal justice is produced by contending actors that range from government departments through to pressure groups.”20 In diesem medialen Kontext ist true crime anzusiedeln. Es handelt sich um eine Nach-Erzählung, die in doppeltem Sinne Anspruch auf Wirklichkeit erhebt: einmal, weil sie ihren Ausgang von Tatsachen nimmt, zum andern, weil sie selbst wirklichkeitsmächtig ist, Wirklichkeit schafft. # Atlanta, Georgia, hat in den 80er Jahren politischen Symbolwert. Beispielhaft für den unverhofft prosperierenden Süden (sun-belt) der USA, Heimat eines weltumspannenden Limonadekonzerns sowie aufstrebender junger Firmen, ist Atlanta mehrheitlich von Schwarzen bewohnt und hat einen ehemaligen schwarzen Bürgerrechtler zum Stadtoberhaupt. 1979/80 werden innerhalb von zweiundzwanzig Monaten achtundzwanzig farbige Kinder getötet. “(...) according to the police report, none of the crimes was sexual. Yet, a great deal depends on what one makes of the word, sexual — what one supposes sexual to mean — for, also, according to the police report, the child’s body was stripped and bathed, then in one way or other (cause of death!), murdered and left, in some visible place to be found”21. “(...) someone in the medical examiner’s office announced that hair and fibers found on Patrick Baltazar’s body matched those found on five of the previous victims. (...) And something clicked with me. He’s going to start dumping bodies in the river. (...) Unlike the previous victims, most of whom had been found fully clothed, these three bodies had been stripped to their underwear, another way of removing hair and fiber.”22 “While I was in Atlanta, bodies were being found in all kinds of places, including the river, and some were decomposing. If the murderer changed his “pattern” upon the probable use of fiber evidence, it would be interesting to know in what time span this discovery occured since some of the bodies were found in the river before that famous splash on the bridge and some 23 bodies were not found for something like a year.” Zur systematischen Unterbewertung der Mordserie gehört die geflissentliche Verkennung nicht nur ihrer sexuellen Konnotation24, sondern auch der Rassenzugehörigkeit der Opfer: “(...) murder, by its statistical nature, becomes matter of race.”25 Ein männlicher Afroamerikaner hat eine achtmal so 18 Im Bereich crime besonders interessant: apbonline.com. Vgl. Susanne A. Roschwalb / Richard A. Stack: Courting Public Opinion. Littleton, Co. 1995. Zum Thema gibt es auch seit zwanzig Jahren eine Fachzeitschrift: “Communications and the Law”. 20 Schlesinger / Tumber, (vgl. Anm. 18), S. 11. 21 James Baldwin: The Evidence of Things not Seen. New York 1985, S. 75. 22 John Douglas: Mindhunter. Inside the FBI Serial Crime Unit. New York 1995, S. 211 f. 23 Baldwin, (wie Anm. 21), S. 73 f. 24 Douglas, (wie Anm. 22), schweigt sich über den sexuellen Aspekt des Falles völlig aus, obwohl z.B. bei einem vorübergehend Verdächtigen Sperma-Proben analysiert werden. 25 Knox, (wie Anm. 16), S. 157. 4 19 große Wahrscheinlichkeit, eines gewaltsamen Todes zu sterben, wie ein Weißer. Bei einer schwarzen Frau ist diese Wahrscheinlichkeit immer noch fast fünfmal so hoch wie bei einer weißen Geschlechtsgenossin26. “A city dominated by the middle class”27 wie Atlanta will davon absehen. Das FBI greift überhaupt erst beim dreizehnten Opfer ein, das nicht mehr wie die anderen aus den Armenquartieren der inner city stammt. Dies und die Tatsache, daß die Mutter eines der getöteten Kinder ein Bürgerkomitee gründet, ruft die Behörden auf den Plan, die die Mordserie bis dahin mit ostentativem Desinteresse behandelt haben. “Thirteen-year-old Clifford James was not, like the previous victims, one of the Atlanta poor. He was from out of town, out of state and, quite simply, not out of mind to the authorities as the other children had been.”28 “Many of these kids lived in conditions of obvious poverty. In some of the houses we found no electricity or running water. (...) These kids were so desperate for survival, they’d do just about anything for five dollars.”29 “(...) it was a Black woman, Ms. Camille Bell, who blew the whistle in Atlanta. That whistle forced Authority to enter, control, and close a case concerning slaughtered Black children, most of them males, a banality with which (and I am a whitness) they had never, previously, been remotedly concerned.”30 “(...) the Atlanta Police Department still hadn’t made anything out of six black children either missing or turning up dead.”31 Es ist nun dieses Komitee, das das, was den Kriminalbeamten “Tatmuster” (pattern) ist, als tödliche Gefahr für die Kinder der Inner City auffaßt und “the official indifference to the slaughter of the children” mit “the economic status of the victims” begründet32. “This development works its way up to the director of the FBI, to the attourney general, all the way to the White House. All of them are anxiously waiting to make the announcement that we’ve got the Atlanta child killer.”33 Und nun geschieht folgendes: “the anxious need of the authorities to aggregate, contain, and explain”34 führt zur Identifizierung des Gefährlichen Individuums, das mit den “Atlanta Child Killings” belasted wird. “Wayne Williams fit our profile in every key respect, including his ownership of a German shepherd. He was a police buff (...)”35 Erste Inkongruenz, die Inkommensurabilität der Todesursachen: gun shot wounds, strangulation, undetermined, strangled, strangled, undetermined, head injury, undetermined, undetermined, asphyxiation, stabbed, strangled. Soweit die Bestandsaufnahme beim Eingreifen des FBI36: bei neun identifizierten Todesursachen fünf verschiedene Todesarten, bei den wegen fortgeschrittener Verwesung nicht feststellbaren weiteren vier Todesursachen Möglichkeit weiterer Todesarten. “(...) while we did find a strong linkage, it didn’t seem to apply to all the cases. (...) other aspects of the evidence led us to believe we weren’t dealing with a single killer. (...) Aside from the obvious political problems with such a statement, any case seperated from the 26 U.S.Department of Justice (Bureau of Justice Statistics): Violent Crime. Washington, D.C. 1994, S. 3: “Black males had the highest homicide rate (72 per 100,000 population), followed by black females (14 per 100,000), white males (9 per 100,000), and white females (3 per 100,000).” 27 Baldwin, (wie Anm. 21), S. 74. 28 Knox, (wie Anm. 16), S. 152. 29 Douglas, (wie Anm. 22), S. 203 f. 30 Baldwin, (wie Anm. 21), S. 85. 31 Douglas, (wie Anm. 22), S. 200. 32 Baldwin, (wie Anm. 21), S. 54. 33 Douglas, (wie Anm. 22), S. 209. 34 Knox, (wie Anm. 16), S. 155. 35 Douglas, (wie Anm. 22), S. 213. 36 Baldwin, (wie Anm. 21), S. 39f. 5 Missing and Murdered list made that family ineligible to recieve any of the funds that were starting to be contributed by groups and individuals around the country.”37 Zweite Inkongruenz, die Inkommensurabilität des Angeklagten. Nach mehreren Observationen über die Persönlichkeit des Angeklagten (mangelnder physique du rôle des Angeklagten, seine charakterliche Dispositionierung) erhebt Baldwin den schwerstwiegenden Einwand: “Wayne Williams was arrested for murder of two grown men. Once he was placed on trial for these two murders (if they were murders) he was accused of twenty-eight murders (of children) and, once he was condemned to prison, for life, seven cases were closed, leaving him guilty, then, of twenty-one murders: murders for which he was not arrested.”38 “Although we felt he was good for at least twelve of the child killings, Williams was being tried on only two murder counts — Nathaniel Cater and Jimmy Ray Payne. Ironically, both of these young men had been in their twenties.”39 Dieser Inkongruenzen ungeachtet greift die Öffentlichkeit die Präsentation des Gefährlichen Individuums begierig auf: “I was astonished (...) that so many people appeared to believe that Wayne Williams was guilty — were relieved to think of him as guilty. It was, precisely, this relief that caused in me a chilly wonder, less concerning the accused than those who were so anxious to accuse and condemn him.”40 Über die Schillersche Kritik an der “Preisgabe des vermeintlich Kontingenten (...) angesichts einer absoluten Größe” (hier: der “Staatsraison”)41 hinaus, formuliert Baldwin hier eine genuin idealistische Kritik an der Konstruktion des Kriminellen als Vorbedingung der Selbstvergewisserung der Gesellschaft ex negativo: “The way of the transgressor is hard, indeed, but it is hard because the community produces the trangressor in order to renew itself.”42 # Was hier einander gegenübersteht, sind nicht nur verschiedene — teils kongruente, teils divergierende — Versionen eines Kriminalfalls, einmal aus der Sicht des amtlich beteiligten Kriminalbeamten, einmal aus der Sicht des innerlich beteiligten Schriftstellers. Wir sind hier an das Kernproblem der Morderzählung geraten, das Problem ihrer doppelten Urheberschaft (“authority”43): Dem Urheber des Mordes tritt der Urheber der Morderzählung zur Seite. Fiktive Morderzählungen positionieren üblicherweise das Problem der Urheberschaft textextern und gehorchen damit dem traditionellen Postulat der Werkautonomie. Es ist true crime, wo die Urheberschaft prekär wird. Unter der Autonomie-Prämisse hat das Werk lediglich sein Gelingen zur Intention, als Wirkung begnügt es sich mit seiner Realisation im Rezepienten, und als Kommunikation ist es intransitiv: es 44 “kommuniziert nicht etwas, sondern sich selber” . Dadurch wird jedoch der Werktext zu einem semiotischen System, das auf ein anderes, “eigentliches” verweist, welches sich allerdings nicht textuell materialisiert, sondern allein diesen Verweis zur Daseinsform hat. Erzeugung von “Sinn” ist nun Sache des Lesers, und Textrhetorik schlägt in die Rhetorik des Lesens um. In dieser Erkenntnis liegt der wohl entscheidende Beitrag des Dekonstruktivismus. 37 Douglas, (wie Anm. 22), S. 204. Baldwin, (wie Anm. 21), S. 98. 39 Douglas, (wie Anm. 22), S. 216. 40 Baldwin, (wie Anm. 21), S. 56. 41 Rolf-Peter Janz: “Schillers theoretische Schriften”. In: Friedrich Schiller: Theoretische Schriften. Frankfurt/M. 1992, S. 1130. 42 Baldwin, (wie Anm. 21), S. 122. 43 Knox, (wie Anm. 16), S. 4. 44 Eckhard Lobsien: Das literarische Feld. Phänomenologie der Literaturwissenschaft. München 1988, S. 99. Alewyns “Ausnahmezustand” träfe demnach wirklich nur die literarische “Welt”. 6 38 True crime zieht nun die fiktive Trennung von Urheber (Autor des Textes) und Subjekt (“Ich” des Textes) wieder ein. Der Urheber wird selbst zu einer der Spielfiguren des Textes und das Ich präsentiert seine eigenen Fiktionen. Denn die zeitgenössische proaktive Kriminalistik mit ihren Tatmustern und Täterprofilen arbeitet eingeständlich mit Fiktionen, “unlike the traditional FBI agent who dealt with ‘Just the facts, ma’am’”45. “(...) our antecedents actually do go back to crime fiction more than crime fact. C. August (sic!) Dupin, the amateur detective hero of Edgar Allan Poe’s 1841 classic ‘The Murders in the Rue Morgue,’ may have been history’s first behavioural profiler. This story may also present the first use of a proactive technique by the profiler to flush out an unknown subject and vindicate an innocent man imprisoned for the killings.” Douglas geht aber noch weiter bis zur Metaphorisierung, eigentlich Domäne der literarischen Fiktion: “I always tell my agents, ‘If you want to understand the artist, you have to look at the painting.’ We’ve looked at many ‘paintings’ over the year and talked extensively to the most ‘accomplished’ ‘artists’.”46 Was Douglas’ Morderzählung dennoch eigentümlich bieder daherkommen läßt, ist ihr angestrengtes Bemühen um narrative Kohärenz. Die Stringenz der der Erzählung entspricht keiner Stringenz der Fakten. Insofern erfüllt sie die Vergegenständlichungsabsicht der Legende und präsentiert auch konsequent das Gefährliche Individuum. Was gilt’s, daß Douglas in einem schwachen Moment gesteht, er selbst halte es für möglich, die meisten der von ihm untersuchten Fälle der Atlanta childkillings könnten nichts mit dem Verurteilten zu tun haben47? Das letzte Wort haben das von ihm ersonnene Täterprofil und die Beweiskraft von “about seven hundred pieces of hair and fiber evidence”48, so daß am Ende das Resumee lautet: “[We] helped put another killer behind bars.”49 # Mit dem Entwerfen von Täterprofilen wird ein Jahrhundert kriminologischer Aufklärung endgültig begraben. Es ist gerade die Reduktion des Täters auf einen Typus, mit der Thomas Byrnes 1886 in seiner bahnbrechenden Studie “Professional Criminals of America” gebrochen hatte: “Byrnes claimed that, contrary to popular opinion, criminals did not necessarily convey by their physical appearance”50, wobei die heutige Typisierung von der physischen Erscheinung geflissentlich absieht. Gleichzeitig ist die Typisierung der Täterperson einer Gesellschaft adäquat, in der alles standardisiert ist und das Gefährliche Individuum zur statistischen Person transmutiert. Die statistische Person hat aber als solche jeden kriminalistischen Wert verloren: “(...) the profilers have in all been generally ineffectual in tracking down killers. As one ex-agent in serial homicide investigation put it, ‘I mean, how many serial killer cases has the FBI solved - if any!’”51 Außerdem impliziert das Täterprofil in seiner konkreten Handhabung ein Determinationsmodell, das wieder auf das 19. Jahrhundert zurückverweist: “Simply being poor does not necessarily lead you to the place where you torture children in basements.”52 In der Regel dokumentieren sich Serientäter ausführlich in Fachliteratur und vor allem true crime darüber, was den echten Serientäter ausmacht, bevor sie zur Tat schreiten53. Gleichfalls ist die Regel, daß Serientäter im Hinblick auf die Repercussionen der Öffentlichkeit handeln — in den Worten eines 45 Douglas, (wie Anm. 22), S. 17. Douglas, (wie Anm. 22), S. 32. 47 Douglas, (wie Anm. 22), S. 222. 48 Douglas, (wie Anm. 22), S. 217. 49 Douglas, (wie Anm. 22), S. 224. 50 Sandra S. Phillips: “Police Pictures. The Photograph as Evidence”. In: Grey Gazette vol. 1, no.1 (spring 1998), S. 7. 51 Seltzer, (wie Anm. 8), S. 13. 52 Kate Millett: The Basement. Meditations on a Human Sacrifice. New York 1979, S. 58. 53 Seltzer, (wie Anm. 8), S. 14. 7 46 Killers: “I want crowds around me to listen to my solitude”54. So ist der serial killer perfekter Ausdruck der Mediengesellschaft, selbsterzeugt aus Informationen, wirksam durch Information. # Die Anziehungskraft, die true crime auf Autoren der high-brow-Kultur ausübt, besteht in seinem wenig formalisierten Genre-Charakter. Diese grundsätzliche Offenheit der Morderzählung gestattet ihrem Urheber, seine textexterne Positionierung aufzugeben und sich selbst als Subjekt ins Spiel zu bringen — bis hin zur Selbstdiffusion, zur Verschmelzung mit dem Opfer, mit dem Urheber des Mordes: “(...) I was Sylvia Liken. She was me.” “I become Gertrude. I invent her, conceive her, enter into her, even into the long afternoons of her end (...).”55 Die Abkehr von traditioneller Urheberschaft am Text geht einher mit Veränderungen im lebensweltlichen Wertehorizont, der narrative Kohärenz immer obsoleter erscheinen läßt. Autoritätskritik und Krise der Autorschaft koinzidieren. De toute façon, la maîtrise littéraire disparaît, l’écrivain ne peut plus faire parade. D’autre part et ensuite, mai 68 a manifesté la crise de l’enseignement: les valeurs anciennes ne se tramettent plus, ne circulent plus, n’impressionnent plus (...). Ce n’est pas, si l’on veut, que la littérature soit détruite; c’est qu’elle n’est plus gardée (...).56 Aus dem geschützten Bezirk der “Literatur” begibt sich der Autor in die offenen Straßen des true crime. Und dennoch gehen hier high-brow und low-brow grußlos aneinander vorbei. Zehn Jahre nach Erscheinen von Baldwins Buch würdigt Douglas Baldwin keines Wortes, und noch einmal drei Jahre später geht Knox als entschiedene Parteigängerin Baldwins mit keiner Silbe auf Douglas ein. Das, was Knox “the move to self-reflective narrative” nennt57, findet mit dem Bedarf an Vergegenständlichung keine gemeinsame Sprache. “The Evidence of Things Not Seen”, so der Titel von Baldwins Buch58, steht unversöhnlich der Evidenz von siebenhundert Haar- und Faserproben gegenüber, mit denen Öffentlichkeit und Institutionen Wayne Williams überführt glauben. Insofern legt Baldwin tatsächlich eine “Gegenerzählung” vor, die gar nicht mehr an möglichen Urhebern der Morde interessiert ist, vielmehr an den Morderzählungen, die aus einer Vielzahl von Gewalttaten eine Serie machen, die auf ein identifizierbares Urhebersubjekt zurückzuführen ist: “As counternarrator of the murder tale, Baldwin fractures the subject of the generic tale of murder, finding in that rift quite a different authority.”59 # Was nun Baldwin von anderen literarischen Näherungen an true crime unterscheidet, ist sein doppelt minoritätrer Status als schwuler Schwarzer. In der Tat tauchen im high-brow-Genre Minoritäten in der Regel nur als Täter auf. Die weiße Literatur reagiert auf Mord und Totschlag wie die weiße Öffentlichkeit überhaupt, als Wahrnehmung einer Gefährdung, die von außen kommt, wobei ironischerweise dieses Außen in den inner cities siedelt, während weiße Mittel- und Oberschicht die Peripherie bewohnen. “There’s a great clamour about how the media overemphasize crime news. But in SouthCentral, crime news is underemphasized. A home invasion robbery in West Los Angeles or a carjacking in the San Fernando Valley often will lead the evening news. But in 1993 — when I spent that summer night with the homicide detective — there were more than 400 murders in South-Central, and few had received any news coverage, any attention whatsoever. If 400 54 Seltzer, (wie Anm. 8), S. 19. Millett, (wie Anm. 50), S. 14, 290. 56 Roland Barthes: Leçon. Paris 1978, S. 40 f. 57 Knox, (wie Anm. 16), S. 10. 58 Ein Zitat aus 1. Korinther 2, 9; vgl. a. 1. Korinther 6 (Warnung vor menschlichem Richten). 59 Knox, (wie Anm. 16), S. 161 f. 8 55 American soldiers were killed during a peacekeeping mission, it would be debated at the highest levels of government and lead to major changes in foreign policy. If 400 people in West Los Angeles were murdered in one year, the response by police, city officials and the business community would be unprecedented. But 400 murders in South-Central were considered business as usual. A life in South-Central simply seemed to have less value than a life in other parts of the city.”60 # “Crime in Central Park is crime against New York.”61 340 ha Englischer Garten, brauchte die Anlage des Central Park zweiundzwanzig Jahre. Beim Abschluß der Arbeiten 1870 bot sich unter anderem folgende Bilanz: “Ten million cartloads of dirt would need to be shifted during the twenty years of its construction. Four to five million trees and shrubs would need to be planted, half a million cubic yards of topsoil imported, 114 miles of ceramic pipe laid. “Nor need the completition of the park mean the end of the possibilities: (...) new roads could be built whenever jobs were needed. Trees could be dug up, and replanted. Crews could be set loose to prune, to clear, to hack at will.”62 Mit Enstehen der modernen Großstadt — Manhattan hatte um die Jahrhundertmitte einen Bevölkerungszuwachs von knapp 60 % pro Dekade — wird im Herzen der Stadtlandschaft eine andere Landschaft errichtet, die Natur zu sein vorgibt, aber künstlich errichtet ist, die gesellschaftliche Arbeit absorbiert, aber — anders als die sie umgebende rationalistische Stadtlandschaft — der Arbeit keine Früchte einträgt: ein Ort der Verschlingung, “eine botanische Maschine, die sich selbst zum Rohstoff der ‘Bearbeitung’ macht”63, ein Automat also. In diesem automatischen Gelände bewegen sich bioökonomische64 Apparate in Gestalt von Joggern, Skatern, Radlern, die in Wall Street oder auf dem Laufsteg wohl Kapital aus dem Resultat ihrer ziellosen Motorik schlagen mögen, hier aber, abstrakten Zwecken folgend, den anderen gleichgültig, gleichgültig gegenüber den anderen, eine Selbstbezogenheit des Körperlichen an den Tag legt, die mit Autoerotik womöglich bis hin zur Lusterfahrung übereinstimmt. Der einst als Ort der Klassenbegegnung und -versöhnung — “to force into contact the good and the bad, the gentleman and the rowdy”65 — konzipierte Park wird zum zufällig gleichzeitigen Aufenthalt disparater, desperater Individuen. Er folgt damit einer Wesensveränderung des Öffentlichen vom abstrakten und allgemeinen Diskursrahmen, in dessen Schutz sich bürgerliche Intimität entfalten konnte, hin zu “a radical mutation and relocation of the public sphere, now centered on the shared and reproductable spectacles of pathological public violence”66. Die individuelle Verarbeitung der Großstadt hat sich vom Schock, der beim Individuum Reizschutz mobilisierte, zum Trauma verlagert, das, da dem Reizgewitter des Großstadtlebens keine IchRessourcen mehr entgegengestellt werden, mit Assimilation reagiert. “Accounts of shock and trauma hesitate at this point — hesitate on whether this assault is a matter of representation or event (projection: “influencing machines” or implantation: machine influence). This endless switching between inside and outside, private fantasy and public 67 reality, is one way of marking the character of trauma in machine culture.” 60 Miles Corwin: The Killing Season. A Summer Inside an LAPD Homicide Division. New York 1997, S. 2 f. Thomas McKenna: Manhattan North Homicide. New York 1996, S. 25. 62 Joan Didion: After Henry. New York 1992, S. 280. 63 Hans-Dieter Bahr: “Die Maschine als Garten”. In: Theatro Machinarum 2 (1980), S. 69. 64 Der Ausdruck “bioeconomics” ist von Seltzer, (wie Anm. 8), S. 271. 65 Frederick Law Olmsted, zit. n. Didion, (wie Anm. 62), S. 282. 66 Seltzer, (wie Anm. 8), S. 254. 67 Seltzer, (wie Anm. 8), S. 267. 9 61 Unter dieser Prämisse ist das Aufeinandertreffen von Individuen in der public sphere nicht mehr als Austausch konzipierbar, sondern als Zusammenstoß, als Mutilation der beteiligten Körper, die, da anderes Zusammentreffen von Körpern nicht mehr erfahren wird, durchaus erotisierbar ist. # “During the night of wednesday, April 19, 1989, a young woman was attacked, brutally beaten, raped, sodomized, robbed, and left bound and gagged, bleeding, naked, and unconscious in Central Park, Manhattan. Within a few days the case of the Central Park Jogger was known worldwide. She was not expected to survive. She did, but she had been permanently damaged. Some of her attackers would admit that they had committed these vicious crimes for no better reasons than that ‘it was fun’ and ‘it was something to do’. They had been — to use their term — ‘wilding’.”68 “She had lost 75 percent of her blood. Her skull had been crushed, her left eyeball pushed back through its socket, the characteristic surface wrinkles of her brain flattened. Dirt and twigs were found in her vagina, suggesting rape.”69 Eine Woche später wird eine Schwarze vergewaltigt und fast enthauptet, noch eine Woche darauf eine andere Schwarze ausgeraubt, vergewaltigt, “sodomized” und anschließend einen vier Stockwerke hohen Lüftungsschacht hinabgeworfen, insgesamt kommen im selben Jahr 3.254 Notzuchtverbrechen zur Anzeige — bei soviel “senseless violence” gegen New Yorker Frauen, warum wird gerade die aus dem Central Park zum “symbol”70, und was symbolisiert sie überhaupt? Die Tatverdächtigen sind ein Rudel farbiger und hispanischer Jugendlicher, die großenteils aus einem Sozialwohnungskomplex stammen, der an die Nordostecke des Central Park grenzt. Der ermittelnde Beamte, Detective First Grade Thomas McKenna, ist in seinem späteren Bericht an das true-crimePublikum sichtlich bestrebt, kein Mitleid mit diesen Burschen aus East Harlem aufkommen zu lassen und die “Sinnlosigkeit” der Gewalttat zu unterstreichen: “On the whole, these young men did not come from impoverished families. They had not lived in great prosperity, and most came from broken families, but generally they had had reasonably decent lives. They did not mug people for money to buy food. Nor did they do it to get money for drugs. They did it for the joy of beating people (...).”71 Abgesehen davon, daß McKenna die Erklärung schuldig bleibt, inwieweit der Begriff decent lives miteinschließt, daß farbigen Jugendlichen in einem sogenannten Big Brother program MittelschichtsPaten zugeteilt werden, die sie vor dem endgültigen Absacken retten sollen — was wie eine Stichflamme in Harlem wirkt, ist, daß wieder einmal weiße Polizisten wegen eines weißen Opfers ermitteln, und sich als erstes vier farbige und zwei hispanische Jugendliche vorknöpfen. Mit den Worten eines schwarzen Geistlichen: “The first thing that you do in the United States of America when a white woman is raped is round up a bunch of black youths (...)”72. Bei McKenna erfährt man — unkommentiert — hierzu: “A vocal element of the community argued that the whole problem was that 73 black and Hispanic youths were accused of raping a white girl.” Bei dem vocal element handelt es sich um eine schwarze Frau auf den Fluren des Gerichts. Was sie wirklich gesagt hat, sei im folgenden wiedergegeben: “White slut comes into the park looking for the African man (...). Boyfriend beats shit out of her, they blame it on our boys (...). How about the roommate, anybody test his semen? No. He’s white. They don’t do it to each other.”74 68 McKenna, (wie Anm. 61), S. 1. Didion, (wie Anm. 62), S. 254. 70 McKenna, (wie Anm. 61), S. 2. 71 McKenna, (wie Anm. 61), S. 7. 72 Didion, (wie Anm. 62), S. 265. 73 McKenna, (wie Anm. 61), S. 5. 74 Didion, (wie Anm. 62), S. 297. 69 10 Hier sehen wir in wenigen Worten zusammengefaßt, was über ein Jahrhundert Koexistenz der Rassen nach der Sklavenbefreiung nicht hat ausräumen können, das Bewußtsein der Schwarzen, in Amerika nur auf eine Geschichte der Kolonisierung zurückblicken zu können, in der die Weißen sich in der Rolle der Zivilisationsträger sahen, die sich zwar gerne der Muskelkraft der als minderwertig angesehenen Schwarzen bedienten, jedoch deren vermeintliche Animalität als Sexualkonkurrenz für den weißen Mann interpretierten. In einem etwas älteren Buche ist dazu zu lesen: “The penis, virility, is of the Body. (...) But in the deal which the white man forced upon the black man, the black man was given the Body as his domain while the white man preempted the Brain for himself. By and by, the Omnipotent Administrator dicovered that in the fury of his scheming he had blundered and clipped himself of his penis (...). So he reneged on the bargain. He called the Supermasculine Menial back and said: “(...) I will have access to the white woman and I will have access to the black woman. The black woman will have access to you — but she will also have access to me. I forbid you access to the white woman.”75 “(...) the action of the White Republic in the lives of Black men, has been and remains, emasculation.”76 Nur vor diesem Hintergrund wird McKennas Charakterisierung des Opfers als “attractive”77 bedeutungsvoll. Und vor diesem Hintergrund wird auch die Schlacht um die Frage verständlich, ob man das Opfer beim Namen nennen dürfe oder nicht, als solle die an die Krone der Schöpfung delegierte78 göttliche Gewalt der Namengebung der Herrenrasse vorbehalten bleiben. “There has historically been, for American blacks, an entire complex of loaded references around the questions of ‘naming’: (...) stories, in which the specific gravity of naming locked directly in that of rape, of black men whipped for addressing white women by their given names.”79 Um diesen besonderen rassistischen Aspekt der “Schändung” aus dem Prozeß gegen farbige Minderjährige herauszuhalten, die von Anfang an mit vollem Namen und Adresse in den Medien genannt werden, nennen auch gemäßigte Stationen und Zeitungen der community durchweg den Namen des Opfers. Die weiße Mittelschicht fand ein Gegenargument überzeugender: “the reason that this victim must not be named was so that she could go unrecognized (...) to Bloomingdale’s.”80 # In den USA leben zur Zeit der Tat 64 Millionen Menschen unter sechzehn Jahren, drei Viertel von ihnen in Großstädten, ein Fünftel in Haushalten unterhalb der Armutsgrenze, ein Zehntel findet bei der Heimkehr aus der Schule zuhause keinen Erwachsenen vor.81 Im Mai 1987 besuchte der Washingtoner Bürgermeister eine achte Klasse mit ausgewählten naturwissenschaftlich begabten Schülern in einer sozial eher prekären neighborhood. Auf die Frage, wer schon einmal einen Bekannten durch Mord verloren habe, meldeten sich vierzehn von neunzehn Schülern, dreizehnjährigen Kindern. Im Sommer desselben Jahres starben in Detroit im Verlauf von vier Monaten 102 Menschen unter sechzehn an Schußverletzungen, die meisten durch die Hand anderer Kinder. Daß das hier geschilderte Elend hauptsächlich farbige Kinder betrifft, bedarf wohl keiner näheren Erläuterung. # Als Yusef Salaam am Abend des 20. April 1989 festgenommen wird, hat er keine reelle Chance auf korrekte Behandlung. Seine Einlassung, er sei erst fünfzehn, wird ihm nicht geglaubt, da seine BusZeitkarte ihn als Sechzehnjährigen ausweist. Als seine Mutter im Revier auftaucht und noch einmal 75 Eldridge Cleaver: Soul on Ice. New York 1968, S. 153. Baldwin, (wie Anm. 21), S. 21. 77 McKenna, (wie Anm. 61), S. 4. 78 Genesis 2, 20. 79 Didion, (wie Anm. 62), S. 264. 80 Didion, (wie Anm. 62), S. 272. 81 Diese und die folgenden Angaben nach: Karl Zinsmeister: “Growing Up Scared”. In: The Atlantic Monthly Vol. 265, N. 6 (June 1990), S. 49 f. 11 76 geltend macht, ihr Kind sei erst fünfzehn, wird sie im Foyer festgehalten und nicht zu Yusef vorgelassen. Die verantwortliche Staatsanwältin wird später im Prozeß erklären, das Alter des Jungen sei “unklar” gewesen. Als auf Bitten der Mutter der Jurist David Nocenti vorstellig wird, der den Jungen in einem Patenschaftsprogramm für gefährdete Jugendliche betreut, wird ihm eröffnet, daß er als Zivilrechtler und federal lawyer auf diesem Revier sowieso nichts verloren habe. Die Staatsanwältin legt auf Fälle eine förmliche Beschwerde bei seiner Aufsichtsbehörde ein. Bis endlich Salaams Mutter erklärt, sie werde ihrem Sohn einen Anwalt besorgen, und die Staatsanwältin erst daraufhin McKenna mitteilen läßt, der Verdächtige sei womöglich doch minderjährig, ist der Junge die ganze Zeit McKenna ausgeliefert.82 “At the trial, Salaam’s attourney would claim I had coerced his client into making an incriminating statement and would ask for a ruling precluding me from testifying about what the youth had told me.”83 Im Prozeß erklären selbst die von der Anklage aufgebotenen Gutachter, die an der Kleidung eines der Angeklagten aufgefundenen Haarproben könnten nicht mit Sicherheit dem Opfer zugeoordnet werden. Schmutzspuren an der Kleidung der Angeklagten waren nicht ausschließlich dem Tatort zuzuordnen. “My testimony (...) against Yusef Salaam (...) was all the prosecution had. There was no physical evidence. (...) The question was: Who would the jurors believe, him or me? It was my word against Salaam’s.”84 Als Salaam gefragt wird, was er überhaupt im Central Park zu suchen habe, und er antwortet: “walk around”, fragt die Vertreterin der Anklage das farbige Kind aus East Harlem: “Did you have jogging clothes on?” Besaß er “sports equipment”, “a bicycle”85? Wir erinnern uns an das Menschenrecht, unerkannt bei Bloomingdale’s einkaufen zu dürfen. Die Jury spricht Salaam schuldig. Kriminalbeamte und Staatsanwälte feiern dies mit einem Bankett bei “Forelini’s”86. # Daß der Garten der Klassenversöhnung hier zum Park der Leibesertüchtigung nach den Konsumvorschriften der weißen Mittelschicht umgedeutet wird, ist das geringste aller zu betrachtenden Phänomene. Wichtiger ist der Garten als Ort der unmittelbaren Verschlingung von Mensch und Natur, weswegen der Garten (sei es als Lustgarten, sei es in der Person der “schönen Gärtnerin”) immer schon erotisch konnotiert war, auch in Erinnerung an den Sündenfall im Garten Eden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis diese Oase der Sinnlichkeit und Entgrenzung ihren definitiven Platz im Schachbrett des Stadtplans von Manhattan zugewiesen bekam. Dieser Platz ist weiß. Das Erotische am Naturrest in der Stadtlandschaft wird eingegrenzt in den Selbstbezug der mit sports equipment ausstaffierten Jogger. In der Märtyrerin, die ihrem Broterwerb in den oberen Etagen von Solomon Brothers nachgeht, einem fürchterlichen Verbrechen anheimfällt und danach allmählich ihre alten Lebensgewohnheiten wiederzuerlangen sucht, erzählen Didion und McKenna die ewige New Yorker Legende von Niedergang und Wiederaufstieg der Stadt. Nur daß McKenna diese Legende affermativ erzählt, Didion kritisch. “The narrative comforts us (...) with the assurance that the world ist knowable, even flat, and New York its center, its motor, its dangerous but vital ‘energy’. (...) New York, the Times concluded, ‘invigorated’ the jogger, ‘matched her energy level’. (...) this notion of the city’s ‘energy’ was sedative, as was the commandeering of ‘crime’ as the city’s central problem.”87 82 Didion, (wie Anm. 62), S. 266f.; McKenna, (wie Anm. 61), S. 10ff. McKenna, (wie Anm. 61), S. 13. 84 McKenna, (wie Anm. 61), S. 13 f. 85 Didion, (wie Anm. 62), S. 272. 86 McKenna, (wie Anm. 61), S. 24 f. 87 Didion, (wie Anm. 62), S. 290 f. 12 83 Dennoch gelingt Didion keine Gegenerzählung. Obwohl sie von einem Sexualverbrechen an einem symbolisch überladenen Ort handelt, das Farbigen zur Last gelegt wird, sieht sie nicht die besondere sexuelle und rassische Ökonomie, die sich an diesem Ort bedeutungsvoll verquicken. Die symbolische Schuld der Jugendlichen bestand in der mutwilligen Verletzung der Parzellierung der Stadt. Indem sie Frawley Circle überquerten, drangen sie in den weißen Teil des Stadtkörpers ein; soll man sagen: in den weißen Stadtkörper? Baldwin und Didion sind sich darin einig, daß ein Kriminalfall, sobald er seine narrative Übersetzung erfährt, kriminalistisch nicht mehr zugänglich ist. Konsequenterweise steht die Frage, ob Salaam das ihm zur Last gelegte Delikt tatsächlich begangen hat, nicht zur Debatte. Aber die Erzählungen vom Verbrechen im Central Park, die Didion kritisch beleuchtet, stellen sich ihr zu einfach als Sedativum, als Ablenkung vom Problem New York dar. Dieses Problem der großen Stadt wird am Ende zum Ausdruck von sämtlichen Mißständen, die weiße New Yorker dem europäischen Besucher nur zu bereitwillig mitteilen: Baubehörde und Müllabfuhr ebenso wie das enervierende Auf und Ab von Wall Street. Didion selbst kommt im Text, von einer anekdotischen Episode abgesehen, nicht vor. Das erspart ihr natürlich die Scham, die Baldwin empfindet, als er der Mutter von Yusef Bell gegenübersteht. “I could not interview her because I simply did not know what to say to the mother of a murdered child, still less what to ask.”88 Didion arbeitet mit Zeitungsausschnitten und Mitschnitten aus Radio und Fernsehen. So nimmt sie aber, ob sie es will oder nicht, die Perspektive der weißen Mittelschicht ein. Die Lobby des Polizeireviers, die Korridore und Verhandlungssäle des Gerichts waren von Schwarzen, hauptsächlich von schwarzen Frauen bevölkert. Die schwarze community ist physische Realität, die weiße Mittelschicht eine soziologische Abstraktion — noch einmal die Trennung von body und brain? Die Weißen verfolgten das Geschehen in den Medien. Erst durch seine Erzählung in den Medien wird ihnen das Verbrechen sichtbar. # Ein Ruhständler geht in North Lansing, Michigan am Grand River Enten füttern, findet am Ufer eine Leiche, vergißt darüber das Füttern, ruft die Polizei, steht aber für Aussagen und Interviews nur kurz zur Verfügung — er will den Fernseh-Bericht am Nachmittag nicht verpassen.89 88 89 Baldwin, (wie Anm. 21), S. 54. “River North: Body Found”. In: Lansing State Journal, June 20, 1999. 13