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INTERJULI 01 I 2015 Rezensionen Primärliteratur Joe Roth (Prod.)/Robert Stromberg (Regie). MALEFICENT: DIE DUNK‐ LE FEE. Disney, 2014. DVD. 93 Min. Angelina Jolie wird in Maleficent zur dunklen Fee und liefert ganz neue Perspektiven auf den tradierten Mär‐ chenstoff von Dornröschen, der hier im pompösen und aktualisierten Ge‐ wand einen Medienwechsel zum abendfüllenden Fantasyspielfilm durchläuft. „Erzählen wir eine alte Geschichte doch einmal neu und sehen, ob ihr nicht überrascht sein werdet“ – mit dieser programmatischen Anrede führt bereits die weibliche Erzähl‐ stimme aus dem Off in den Film ein und lässt direkt darauf die im kulturel‐ len Märchengedächtnis fest verankerte Eröffnungsformel „Es war einmal ...“ folgen. Die inhaltliche Ausrichtung auf einen bekannten Märchenstoff wird von Beginn an bewusst und konse‐ quent als narratives Mittel eingesetzt und spielt mit dem Vorwissen des Zu‐ schauers aus dem Märchenfundus. Gleichzeitig wird aber auch auf die Aktualisierung und die Umformung des bereits bekannten Inhalts hinge‐ wiesen. Dieses Spannungsfeld aus Altem und Neuem, das in Maleficent vor allem Figuren und Handlungs‐ strukturen aus Dornröschen aufgreift und mit Elementen des Fantasyfilms amalgamiert, ist zentraler erzähleri‐ scher Faktor und wird eben auch meta‐reflexiv durch die Erzählerin verhandelt. Die Adaption des Mär‐ chenstoffs geht hier mit Umdeutun‐ gen, Ergänzungen und neuen Lesebe‐ nen einher und der weitere Hand‐ lungsverlauf wird immer wieder von der Erzählerin aus dem Off begleitet. 114 REZENSIONEN/REVIEWS Diese reflektiert und kommentiert das Geschehen und schließt am Schluss geschickt den narrativen Kreis – der hier aber nicht verraten werden soll. Ins Zentrum der Erzählung rückt die Fee Maleficent und damit unge‐ wöhnlicherweise eine aus dem Prätext als uneingeschränkt böse gezeichnete Figur. Der Film greift diese Zuschrei‐ bung auf, entwickelt jedoch eine rei‐ che Hintergrundgeschichte und liefert eine glaubwürdige Psychologisierung, die erklärt, warum die dreizehnte Fee das Kind mit einem Fluch belegt hat. Dabei wird der Lebensweg von Male‐ ficent, beginnend in ihrer Kindheit, chronologisch verfolgt und somit der Grund für ihre Wut nachgezeichnet. Als junge Fee lernt sie den gleichaltri‐ gen Menschenjungen Stefan kennen und sie verlieben sich. Ihre Wege tren‐ nen sich jedoch und sie treffen sich erst wieder, als Stefan sie aufsucht und mithilfe einer List Maleficents Flügel amputiert. Als Belohnung wird er dafür vom sterbenden König zu sei‐ nem Nachfolger ernannt. Maleficent rächt sich für diesen Verrat, als Stefans Tochter geboren wird und sie das Mädchen Aurora (auch der Name ist nicht zufällig gewählt – die Namen entsprechen dem Disneyfilm Sleeping Beauty von 1959) verflucht: An ihrem sechzehnten Geburtstag soll sie sich an einer Spindel stechen und in ewigen Schlaf verfallen; es sei denn, sie wird von der wahren Liebe geküsst. Aus Sorge um seine Tochter verbannt Ste‐ fan Aurora in das Gebiet des Wald‐ moores, wo sie in Abgeschiedenheit ohne Kontakt zur Außenwelt auf‐ wächst (Anleihen aus Rapunzel sind nicht zu übersehen) und allein von drei Feen versorgt wird. In diesem hermetisch abgeschirm‐ ten Schutzraum entwickelt sich schrittweise auch ein liebevoller Kon‐ takt zwischen Aurora und Maleficent, die schon bald die Verfluchung bereut und Aurora davor bewahren will. Alle Versuche schlagen jedoch fehl, es kommt zu einem großen Finale im Schloss am Vorabend zu Auroras sech‐ zehntem Geburtstag. Dabei fehlt weder das Motiv des Spinnrades noch ein epischer Kampf zwischen Gut und Böse – wobei hier die holzschnittartige Rollenverteilung des Märchentextes umgekehrt bzw. differenzierter wird und Maleficent zur Figuration des Guten avanciert. Entsprechend der Anlage als Fantasymärchen gibt es auch hier ein Happy End und eine er‐ folgreiche Wiedervereinigung der Fa‐ milie, jedoch mit einem innovativen Kniff. Auf erzählerischer Ebene wird ein spannungsvoller Kreis geschlagen, der viele ausgelegte narrative Fäden miteinander verbindet, eine komplexe 115 INTERJULI 01 I 2015 Story um die dunkle Fee Maleficent entwirft und dabei viele weitere Mär‐ chenmotive einbettet. Begleitet wird dies von opulenten Bildern, die alle Möglichkeiten der Tricktechnik nut‐ zen, eine plastische Märchenwelt zeigen und den Film zu einem sehenswerten und unterhaltsamen Gesamtwerk werden lassen. Anna Stemmann Jesse Andrews/Ruth Keen. ICH UND EARL UND DAS STERBENDE MÄDCHEN. Heyne fliegt, 2013. 304 S. Jesse Andrews’ Debütroman behan‐ delt, wie der Titel bereits andeutet, die Themen Krankheit und Tod und so liegt ein Vergleich mit John Greens Das Schicksal ist ein mieser Verräter nahe. Die beiden Werke unterscheiden sich jedoch deut‐ lich, denn Andrews bricht mit der Tradition vieler Jugendbücher und lässt seinen Protagonisten Greg Gai‐ nes keine romantische Liebesge‐ schichte erleben. Hochemotionale Gefühlsbekundungen sind nicht Teil des Romans, doch dafür behandelt Andrews die Themen Freundschaft, Selbstfindung, Tod und den Umgang damit auf sehr ehrliche Art und Weise. Ich‐Erzähler Greg ist ein etwas pummeliger Junge, der sein letztes Jahr an der Benson High absolviert, wo er, auf eigenen Wunsch hin, keiner Clique angehört, um jeglichen Streite‐ reien aus dem Weg zu gehen. Gregs einziger Freund ist Earl Jackson, der aus völlig anderen sozialen und fami‐ liären Verhältnissen kommt: Er hat mehrere Stiefbrüder, seine Mutter ist eine Alkoholikerin, die ihre Kinder völlig vernachlässigt. Im Gegensatz zu Greg besucht Earl Aufbaukurse an der High School und lebt in einer drecki‐ gen Bruchbude, wo es zwischen ihm und seinen Brüdern häufig zu Streit und Schlägereien kommt. Die humo‐ ristische Darstellung der Ereignisse in Earls Zuhause nimmt der Gewalt jedoch ihre Brutalität: 116 Ursache: Hohe Luftfeuchtigkeit. Wirkung: Felix fügt Devins Ge‐ sicht mit Derricks Stirn Schaden zu. Ursache: Draußen singt ein Vogel. Wirkung: Brandon […] REZENSIONEN/REVIEWS tritt wahllos in anderer Leute Hoden. (166) Obwohl Earls Verhältnisse problema‐ tisch sind, werden sie vom Autor nicht weiter thematisiert, was die Gewalt, die in Earls Zuhause herrscht, ver‐ harmlost. Nicht selten sind er und seine Brüder damit für die Komik im Roman verantwortlich. Trotzdem finden Greg und Earl etwas, das sie mit sonst keinem Gleichaltrigen teilen können: ihre Lei‐ denschaft für Filme und fürs Filmema‐ chen. Das Ganze beginnt mit dem Film Aguirre, der Zorn Gottes (1972) von Regisseur Werner Herzog und mit Klaus Kinski in der Hauptrolle. „Ver‐ störend und schrecklich und unglaub‐ lich. [...] es war komisch, es war grau‐ sig“ (87), so beschreibt Greg den Film. Von nun an schauen die beiden ge‐ meinsam DVDs und versuchen, die Filme, unter anderem Casablanca und The Manchurian Candidate, mit ihren begrenzten Mitteln nachzudrehen. Al‐ lerdings sind die Jungen der Meinung, ihre Filme seien viel zu schlecht, um sie jemals jemandem zu zeigen. Für Greg läuft alles so, wie er es sich wünscht, bis er sich, nach aktiver Intervention seiner Mutter, mit der an Leukämie erkrankten Rachel anfreun‐ det. Während eines aus Versehen durch Haschkekse verursachten Dro‐ genrausches erzählt Earl Rachel von den Filmen und überredet Greg dazu, sie ihr zu zeigen. Rachel ist begeistert und die Filme werden zu den wenigen Quellen von Trost, die ihr während ihrem Krankenhausaufenthalt bleiben. Ein weiterer Trostspender ist Greg, der sich bei jedem Besuch vornimmt, Rachel zum Lachen zu bringen. Die ständigen Besuche und das schlechte Gewissen, das er hat, wenn er es mal nicht zu ihr schafft, sorgen für immer schlechtere Noten in der Schule. Auch Rachels Zustand verschlechtert sich weiter, bis sie die Chemotherapie ab‐ bricht und nach Hause fährt. Da wird klar: Rachel wird sterben; sie hat den Kampf aufgegeben. Auf Rachels Rat, Filmwissenschaften zu studieren, rea‐ giert Greg gereizt. Sein niedriges Selbstwertgefühl erlaubt es ihm nicht, ihre Komplimente für sein Talent an‐ zunehmen. Das führt zu einem Streit zwischen Greg und Earl, die alle Ko‐ pien ihrer Filme zerstören und sich da‐ nach entscheiden, gemeinsam einen allerletzten Film zu drehen: Rachel, der Film – ein Zusammenschnitt von mi‐ serablem Filmmaterial aus verschiede‐ nen gescheiterten Versionen, darunter eine Sockenpuppenversion und eine Stop‐Motion‐Animation. Das Ende kommt recht abrupt und ohne überschwängliche Gefühlsaus‐ brüche oder idealistisches Happy End: Rachel stirbt im Krankenhaus und 117 INTERJULI 01 I 2015 Greg ist zwar unendlich traurig, er‐ kennt aber recht schnell, dass es ihm irgendwann wieder besser gehen wird. Der Autor schafft es, diese Wahr‐ heit zu vermitteln, ohne seinen Erzäh‐ ler abgebrüht wirken zu lassen. Die einfache Tatsache, dass ihm etwas Freude bereiten kann, z.B. ein Eis, das seine Mutter ihm kauft, lässt Greg er‐ kennen, dass er Rachels Verlust ver‐ kraften wird. Er und Earl gehen nach ihrem Schulabschluss getrennte Wege, nicht zuletzt, weil Earl sich kein Stu‐ dium leisten kann. Erst nach Rachels Tod erkennt Greg ihre Einzigartigkeit, seinen Verlust und wie er damit leben kann. Als er sie kurz vor ihrem Tod im Krankenhaus beobachtet, sieht Greg, dass es niemals wieder jemanden geben wird, der genau so ist wie Rachel: denn Gregs Geschichte handelt auch vom Abschied, zum Beispiel von Earl. Erzählperspektive und Form sind ebenfalls besonders: Der gesamte Roman ist von Greg für das Auswahl‐ komitee der Pittsburgh University ge‐ schrieben. Sehr oft spricht er den Leser direkt an; fordert ihn auf, das „ätzende“ (28) Buch wegzulegen. Manchmal gibt die Erzählstimme vor, während des Schreibens eine Pause zu machen, z.B. um sich Popcorn zu holen. Am meisten glänzt der Roman durch seinen Humor. Der Autor hat seinem Erzähler eine fri‐ sche, freche und sehr direkte, manch‐ mal fast plumpe Ausdrucksweise gege‐ ben, welche den Leser sicher häufig zum Lachen bringen wird. Sezen Üstündag Xavier Koller. DIE SCHWARZEN BRÜDER. Studiocanal, 2012. DVD. 99 Min. Es war das letzte Mal, dass es jemanden mit diesen Augen und diesen Ohren […] geben würde, mit dieser Art, sich in ein schallendes Gelächter hineinzusteigern. (279) Die Antwort darauf, wie er weiterle‐ ben kann und wie es ihm wieder bes‐ ser gehen wird, ist simpel: Greg wird einfach weiterleben und irgendwann wird ihn etwas wieder glücklich ma‐ chen. Jesse Andrews’ Roman setzt sich aber nicht nur in der Art und Weise seiner Darstellung des Todes und des Abschieds von anderen Werken ab, 118 REZENSIONEN/REVIEWS Der Film Die schwarzen Brüder ba‐ siert auf dem gleichnamigen Ju‐ gendroman, verfasst von Ehepaar Lisa Tetzner und Kurt Held. Das Buch ist 1940/41 in zwei Bänden er‐ schienen und gibt seitdem vor allem für Bühne und Film einen ergiebi‐ gen Stoff ab. Beruhend auf tatsäch‐ lichen Begebenheiten, die die Au‐ torin in Dorfchroniken des Schwei‐ zer Kantons Tessin gefunden hat, lässt sich die Authentizität der Ereig‐ nisse leicht nachvollziehen und so ergibt sich ein stimmiges Bild der Schornsteinfegerkinder des 19. Jahrhunderts. Die Handlung des Films ist auch ohne vorausgegangene Lektüre der Romanvorlage gut verständlich: Die Mutter einer armen Bauersfamilie in der italienischsprachigen Südschweiz verletzt sich beim Sturz von einem Felsvorsprung und bedarf dringend ärztlicher Versorgung. Plötzlich taucht der allein durch seine äußere Erscheinung negativ konnotierte An‐ tonio Luini (Moritz Bleibtreu) am Krankenbett auf und bietet dem Vater einen Handel an. Für vierzig Franken soll der Sohn Giorgio (Fynn Henkel) ein halbes Jahr als Schornsteinfeger arbeiten; von dem Geld könne man sich einen Arzt leisten. Fortan folgen wir dem Jungen auf seinem Weg nach Mailand und sehen, wie er dort meistbietend an Meister Battista Rossi (Waldemar Kobus) verkauft wird und sich nicht nur mit den neuen familiä‐ ren Lebensumständen, sondern auch mit den Gefahren in den Kamin‐ schächten arrangieren muss. Dabei schließt er schnell Freundschaft mit anderen Leidensgenossen und ge‐ meinsam liefern sie sich als die „schwarzen Brüder“ Straßenschlach‐ ten mit einer anderen Kinderbande, den „Wölfen“. Schlussendlich über‐ winden sie ihre Feindschaft und lehnen sich vereint gegen den Kinder‐ händler Luini auf. Mithilfe einer List gelingt es ihnen, ihm das Handwerk zu legen. Die Motive erinnern deutlich an Dickens’sche Werke wie Oliver Twist oder David Copperfield; auf der Straße lebende Jugendbanden, soziale Unge‐ rechtigkeit und die Benachteiligung von Kindern bestimmen den Plot. Die Konflikte um Familie, Armut und trü‐ gerischen Handel sind einfach kon‐ struiert. Zudem wird hier zunehmend der Fokus auf Freundschaft und Zu‐ sammenhalt gelegt. In ihrer mikrokos‐ mischen Gemeinschaft stehen die Kinder füreinander ein und halten unter allen Umständen zusammen. Dies wird besonders beim Tod des Anführers Alfredo (Oliver Ewy) deut‐ lich, wenn die Jungen ihr ganzes ange‐ spartes Geld für eine anständige 119 INTERJULI 01 I 2015 Beisetzung zusammenlegen und sogar die Wölfe respektvoll ihre Hüte zie‐ hen. Hier zeigt sich die in sich ge‐ schlossene Welt der Kinder, in der nach eigenen Werten und Prinzipien gehandelt wird. Solche Elemente kön‐ nen für die Zielgruppe als pädago‐ gisch besonders wertvoll angesehen werden, da hier der Wert einer Peer‐ group kontinuierlich hervorgehoben wird. Mit weiteren Themen wie Tod, Trauer und der ersten Liebe wird sehr einfühlsam umgegangen und dabei stets der Fokus auf die Empfindungen der jungen Protagonisten gelegt. Charakterliche Eigenschaften wer‐ den bei den zentralen Figuren durch das äußere Erscheinungsbild ver‐ stärkt. Antonio Luini trägt stets Filz‐ hut, einen schwarzen Umhang und jede Menge Schmutz am Leib. Sein Gesicht wird rechtsseitig von einer gut sichtbaren Narbe durchzogen und Moritz Bleibtreu hat in jeder Szene ein gehässiges Lachen auf den Lippen. Kontrastiert wird dies exem‐ plarisch durch des Meisters Tochter Angeletta (Ruby O. Fee), die als ein‐ ziges Mädchen der Bande stets in weiße, fließende Kleider gehüllt ist und somit als unschuldige Seele in‐ szeniert wird. Unterstrichen wird ihre engelhafte Rolle auch durch ihren sprechenden Namen, einem gängigen Stilmittel in Kinderfilmen. Ein humoristisches Intermezzo bietet immer wieder die Frau des Meisters, da sie vor allem durch ihr überzeichnetes, fast schon karikaturi‐ stisches Spiel auffällt. Ganz offensicht‐ lich verwöhnt und bevorzugt sie ihren eigenen Sohn, während Giorgio und Angeletta vernachlässigt und für nie‐ dere Arbeiten eingesetzt werden. Auch begrüßt sie jeden neuen Küchen‐ besucher mit einem Schlag der Brat‐ pfanne auf den Kopf, was an Slap‐ stick‐Motive klassischer Komiker erin‐ nert. Auf auditiver Ebene wird hier passend dazu noch ein überdeutlicher Gong eingespielt, was gerade ein junges Publikum schnell amüsiert. Auch filmästhetisch gesehen emp‐ fiehlt sich Die schwarzen Brüder sehr für ein jüngeres Publikum, was vor allem bei Einstellungen im Kamin her‐ auskommt. In den dunklen Schächten wird immer wieder zwischen einer nahen und einer Point‐of‐View Ein‐ stellung hin und her geschnitten, so dass bisweilen der Seheindruck eines Videospiels entsteht. Dadurch wird ein subjektiver Eindruck von Giorgios Arbeit als Kaminfeger vermittelt und der Zuschauer hat die Gelegenheit, sich ganz in die klaustrophobische Enge hineinzuversetzen. Auf dem Dach angekommen wird dieses Gefühl schließlich mit einer langen, hellen Einstellung aufgelöst. Unterstrichen 120 REZENSIONEN/REVIEWS wird dieser Aufbruch der Beengtheit zusätzlich durch einen Zoom aus dem Bildkader heraus. Auf der auditiven Ebene wird durch einen komödienar‐ tigen, fast schon stummfilmhaften Score die Handlung motivisch unter‐ stützt und linear fortgeführt. So folgt man dem Plot sehr leicht und die Ton‐ spur sorgt zudem noch für einen un‐ terhaltsamen Tenor. Der Film erhält durch weite Ein‐ stellungen zudem eine schöne Rah‐ mung. Die Exposition endet mit einem weiten Topshot, der den Protagoni‐ sten an einem Fluss entlangrennend zeigt, was seine unbedingte Einsam‐ keit und Isolation nach dem Besuch Luinis sehr gut deutlich macht. Ebenso endet der Epilog wenn Giorgio ge‐ meinsam mit Angeletta nach Hause zu‐ rückkehrt und die beiden auch hier wieder in einer weiten Einstellung ge‐ zeigt werden, diesmal allerdings in einer leichten Untersicht, was den po‐ sitiven Ausgang der Geschichte bekräf‐ tigt und auf eine progressive Zukunft hinweist. So wird filmisch geendet wie begonnen wurde und durch die Wahl des Kamerawinkels wird eine eindeu‐ tige Interpretation der Ereignistenden‐ zen abgegeben. Die schwarzen Brüder ist ein schöner Jugendfilm, der perfekt auf die Be‐ dürfnisse des jungen Publikums zuge‐ schnitten ist. Man findet stilistische Elemente aus Bildungsromanen wie Krabat, Oliver Twist oder Harry Potter, eingeflochten in auf Tatsachen beru‐ henden Aufzeichnungen über die Leiden der Kaminfegerkinder. Die deutsche Produktion überzeugt mit aufwendig inszenierten Szenenbildern und einfallsreichen Dialogen. Kein Handlungsstrang überfordert oder löst einen Konflikt vorschnell auf, son‐ dern es gelingt, einen konstanten Anspruch aufrechtzuerhalten, der vom Grundschulalter bis in die späten Jugendjahre zu begeistern vermag. Sarah Beicht Josh Boone (dir.). T H E FA U LT I N O U R S TA R S . 20th Century Fox, 2014. DVD. 126 min. Josh Boone’s adaptation of John Green’s bestselling young a novel 121 INTERJULI 01 I 2015 successfully makes use of cinematic elements to enhance the story while staying true to its famous literary source. Hazel Grace Lancaster (Shailene Woodley) is obsessed with An Imperial Affliction, a book told by first‐person narrator and cancer patient Anna. When Anna dies, the story ends. Just like that. In the middle of a sentence. Hazel is desperate to know whether Anna’s family leads a happy life after Anna has died. All attempts, however, to reach Peter Van Houten (Willem Dafoe), the author, have failed. The reason for Hazel’s need for answers is simple: She has thyroid cancer that has spread into her lungs and although she is relatively stable, it is inevitable that she will not survive the cancer. Anna’s story is, to a certain extent, Hazel’s own story, and if Anna’s family managed okay, maybe so will Hazel’s. One thing Hazel deeply dislikes is the cancer support group. It is there, however, that she meets Augustus Wa‐ ters (Ansel Elgort), a charming young man who had osteosarcoma and has lost his right leg but is in remission now. Augustus does not hold back with his affection for Hazel and be‐ comes her partner in their search for Peter Van Houten and reassurance in the experience that short lives can be meaningful. There are many things that con‐ tribute to this film being one of the best young adult movies of the past and probably the next years. Promi‐ nent among them is the way it uses cinematic elements while fully re‐ specting its literary source. One of the most productive additions is the soundtrack. In many scenes, the movie omits dialogue and prominently fea‐ tures a song, thus taking note of ado‐ lescents’ emotional attachment to music and at the same time creating an atmosphere of intensified feelings. Much of the story’s atmosphere gains gravity due to, firstly, the contrast be‐ tween life‐confirming pop song excite‐ ment and the outlook that Hazel’s adolescence is not made of firsts but singularities and, secondly, the pain of suffering, amplified by the power of music. “Pain demands to be felt” is one of the most prominent quotes from An Imperial Affliction. It draws at‐ tention to the necessity to acknowl‐ edge emotions. One might very well adjust this idea to the movie itself: it demands to be felt. Although the fundamental discus‐ sion the story engages in certainly makes this movie relevant for teen‐ agers and adults alike, the focus on the sentimental clearly wants to capture the distinctiveness of the adolescent vantage point. Young people, the 122 REZENSIONEN/REVIEWS movie implies, who have to think about what to write into each other’s eulogies, inquire about the meaning of life more urgently than adults. On a philosophical level, The Fault in Our Stars explores what it means for young people to be terminally ill. Hazel and Gus serve as two different poles, and the movie can unfold its philosophical superstructure between them. Gus’s biggest fear is oblivion but he believes in the possibility of im‐ mortality through heroism, while Hazel thinks that oblivion is inevitable and there is no point to existence. In the movie’s most brilliant scene, Augustus and Hazel visit the Anne Frank house and Hazel has to climb the steep steps to Anne’s hiding place. Her lungs make it hard for her to breathe. Still, she makes it to the top room, where quotes by Anne Frank are read over the loudspeaker: At such moments, I can’t think about the misery, but about the beauty that still remains. Try to re‐ capture the happiness within yourself. Here, in remembrance of Anne Frank, Hazel gives in to her feelings and finally kisses Gus. It is in scenes like this that the movie transcends the frame of the love story and turns into a philosophical inquiry into mortality and giving meaning to life. The lovers demonstrate a principle: There is beauty in the present and value in cel‐ ebrating existence. Even a short life can be a significant, good life. There is only one way to deal with the void Gus is afraid of, and that is leading a life that finds meaning in the relation‐ ships we have now, with each other. The movie pits this form of present against Augustus’s dreams of entering a collective memory that somehow will grant him eternity. It also prompts Hazel to see that although there might be no point to existence, there can certainly be joy in it. Among the vast number of young adult movies being released at the moment, The Fault in Our Stars is certainly one of the most accom‐ plished and intelligent. Cynics, how‐ ever, should probably refrain from watching it. Anika Ullmann Werner H ahn/H ans S teinmeier. L U C Y, D I E K I L L E R M ÜC K E . ca. 55 min. „Hinaus in die Welt!“ – dieses Credo der Kindertheatertrilogie um Lucy, die Killermücke, hat sich im Rahmen des Bundeswettbewerbs „Kommuna‐ ler Klimaschutz 2014“ wirkungsvoll realisiert. Dort wurden die Stücke in der Kategorie „Klimaschutz zum Mit‐ machen“ aus 56 ganz verschiedenen 123 INTERJULI 01 I 2015 Einsendungen ausgewählt und mit 30.000 Euro Preisgeld prämiert. Be‐ sonders bemerkenswert erscheint die dadurch zum Ausdruck gebrachte Anerkennung von Kindertheater als Möglichkeit der Auseinandersetzung – nicht nur mit kanonisierten Klassi‐ kern, sondern auch und gerade mit aktuellen Diskursen. „In den Theaterstücken um Lucy, die Killermücke erleben die Kinder, was sie tun können, um die Welt ein klein wenig besser zu machen. Idealerweise kommen sie anders aus dem Theater heraus, als sie hineingegangen sind.“1 So beschreibt Kinder‐/Jugendtheater‐ leiter und Autor Werner Hahn, wo‐ rauf seine zwischen 2010 und 2014 realisierte Lucy‐Trilogie abzielt. Die Intention, globalen Zukunftsheraus‐ forderungen ausgerechnet im Kinder‐ theater einen Raum zu geben, in dem sie spielerisch verhandelt statt betroffen problematisiert werden, kommt in den drei Stücken auf unter‐ schiedliche Weise zum Ausdruck und fungiert gleichzeitig als Bindeglied zwischen Lucy, die Killermücke, Lucy und der Hungerbauch und Lucy und der Wasserschaden. Dass sich aus dem Erstling zum Thema Klimawandel die Folgewerke zu Welthunger und Wasserknappheit ergeben haben, die theaterspezifische Auseinandersetzung mit existentiellen Ressourcenfragen also vom Projekt zum Konzept avanciert ist, erscheint zwar als logische Konsequenz der komplexen Krisenzusammenhänge, mit Blick auf die Kindertheaterland‐ schaft ist dies aber trotzdem – oder gerade deshalb – ein Alleinstellungs‐ merkmal. Denn obwohl Richard La‐ mers konstatiert, „,richtiges‘ Klima‐ theater gibt es vor allem für Kinder“2, und obwohl sich Initiativen wie das Umwelttheater UNVERPACKT der Vermittlung von Umweltproblemen verschrieben haben und das renom‐ mierte GRIPS Theater mit Durst eben‐ falls ein beeindruckendes Stück zur globalen Wasserproblematik vorwei‐ sen kann, unterscheidet sich Hahns Werk von thematisch ähnlichen Ein‐ zelproduktionen durch die systema‐ tisch aufeinander aufbauende Weiter‐ entwicklung von Problemfeldern, Handlungsräumen und Figuren. Die dadurch geschaffene Vielfalt an Wie‐ dererkennungseffekten und Identifi‐ kationsangeboten eröffnet Rezipienten ab dem Vorschulalter differenzierte Perspektiven auf bislang unhinterfragte Zusammenhänge. Zentraler Sympathieträger ist die afrikanische Killermücke Lucy, die sich im ersten Stück aufgrund des Klimawandels versehentlich nach Deutschland verflogen hat, im zweiten Stück aufgrund der Hungerkrise in 124 REZENSIONEN/REVIEWS Afrika bewusst nach Deutschland zu‐ rückkehrt und im dritten Stück ge‐ meinsam mit ihren aus Deutschland angereisten Freunden versucht, das durch Großkonzerne verursachte Was‐ serproblem in ihrer Heimat zu lösen. Vom unwissenden Opfer wandelt Lucy sich also im Laufe der Trilogie zum „Motor der Veränderung“3, bleibt in ihren charakteristischen Figuren‐ merkmalen aber konstant und damit sich und ihren Fans treu. Insbesondere in ihrer Neugierde, Unbeirrbarkeit und Penetranz werden typisch kindli‐ che Eigenschaften aufgegriffen und überspitzt, sodass bekannte Grund‐ muster immer wieder in karikierter Form Eingang in die Bühnenhandlung finden. Ergänzend dazu repräsentiert Pro‐ tagonistin Sarah die Alltagserfahrungen eines in Deutschland im gutbürgerlichen Milieu aufwachsenden Mädchens, das im Gegensatz zu ihren verschwen‐ derischen und konsumorientierten Eltern den Sinn für das Wesentliche noch nicht ganz verloren hat. Ähnlich wie Lucy durchläuft auch sie inner‐ halb der Trilogie einen Reifeprozess vom unbedarften, empathischen Kind hin zur ambitionierten Weltverbesse‐ rin, der von den Rezipienten schritt‐ weise nachvollzogen werden kann. Insbesondere ihre direkten und ziel‐ gerichteten Fragen lassen sie zur Stell‐ vertreterin des Publikums werden, die die auf der Bühne offen gelegten Para‐ doxien auf den Punkt bringt und ihnen auf den Grund zu gehen versucht. Neben Lucy und Sarah gehören Sa‐ rahs Nachbar Professor Wunderlich und dessen afrikanischer Assistent Ben zum festen Figurenarsenal aller drei Stücke. Mit seinen grundlegend anderen Lebenserfahrungen bildet Ben einen Gegenpol zu Sarah, wodurch wechselseitige Perspektivenreflexionen angeregt und ausgestaltet werden. Vom eher unreflektiert reproduzieren‐ den Schüler wird Ben zunächst zum Hilfe suchenden Opfer der Hunger‐ krise, schließlich aber zum selbstbe‐ wussten jungen Mann, der auch Risiken eingeht, um Gerechtigkeit zu erkämpfen. Professor Wunderlich ist als For‐ scher und einziger erwachsener Prota‐ gonist Adressat für alle aufkommen‐ den Fragen, der immer neue Wege fin‐ det, sein Wissen den sowohl fiktions‐ internen als auch fiktionsexternen Zuhörern anschaulich nahe zu brin‐ gen. Erscheint er im ersten Stück als verschrobener Außenseiter, der mithilfe des von ihm entwickelten Öko‐Klimamats globale Probleme im eigenen Garten lösen möchte, tritt er im zweiten Stück als krisenbewusster Wissenschaftler auf, der mit einem emotional aufrüttelnden Rollenspiel 125 INTERJULI 01 I 2015 die globale Hungerproblematik in sei‐ nen Garten holt, und avanciert im drit‐ ten Stück schließlich zum aktiven Multiplikator, der in die Welt hinaus geht, um sie mit seinen Erkenntnissen zu verändern. Dass die Rezipienten Teil dieser fa‐ cettenreichen Figurenentwicklungen werden, statt sie nur zu beobachten, liegt vor allem an der identitätsstiften‐ den Konzeption der Charaktere und ihrer theaterspezifischen Inszenierung. Die Einbindung des Publikums durch direkte Ansprache, provokative Fra‐ gen sowie durch Vermittlung von Wis‐ sensvorsprung oder die Heraus‐ forderung aller Sinne durch im Raum versprühtes Insektenspray, sich über‐ lagernden, schrillen Sound sowie Re‐ genschauer heben die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum auf und setzen damit die omnipräsen‐ ten Auswirkungen der Umweltkrise auch strukturell um. In allen drei Tei‐ len von zentraler Bedeutung ist dabei die Musik, die immer wieder entschei‐ dend dazu beiträgt, Handlung und Fi‐ guren voranzu‐ bringen, Gefühle zu transportieren, Konflikte zuzuspitzen und zentrale Aussagen in Form von „Ohrwürmern“ zu festigen. Indem Erwachsene im familiären, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext als unreflektierte Weltzer‐ störer entlarvt und Kinder in ihrem Potential als nachhaltigkeitsbewusste Weltretter ernst genommen und bestärkt werden, rücken tradierte Rollenmus‐ ter und vermeintliche Selbstverständ‐ lichkeiten als Resultate obsolet wer‐ dender Wertesysteme in den Fokus. Die wiederkehrende Aufforderung „Hinaus in die Welt“ umfasst dem‐ nach sowohl äußere als auch innere Bewegungen, die in den Stücken um die Killermücke Lucy authentisch und überzeugend als Ausgangspunkt für anstehende Transformationsprozesse erlebbar gemacht werden. Elisabeth Hollerweger ANMERKUNGEN 1 Werner Hahn bei der Rede zur Premiere von Lucy und der Wasserschaden am 9.2.2014 in Hagen. 2 Lamers, Richard: „Vorhang auf für den Klima‐ wandel!“ September 2009. http://www.goethe.de/ ges/umw/prj/kuk/the/kun/de5029084.htm [13.11.2014]. 3 Dramaturgin Miriam Michel zitiert nach Hie‐ ber, Eva: „Lucy und der Wasserschaden premiert im Theater Hagen.“ In: WAZ, 13.02.2014. Abruf‐ bar unter: http://www.derwesten.de/staedte/ hagen/lucy‐und‐der‐wasserschaden‐premiert‐ im‐theater‐hagen‐id8986532.html [13.11.2014]. Anthony McCarten und Paul Gra‐ ham Brown. S U P E R H E R O . Wies‐ baden: Felix Bloch Erben, 2014. Matthias Grön und Markolf Nau‐ joks. S U P E R H E R O . Oldenburgi‐ sches Staatstheater, 2013. „Das Leben ist eine Geschlechts‐ krankheit: Es wird durch Sex verbrei‐ tet und am Ende stirbt man daran.“ 126 REZENSIONEN/REVIEWS 14 Jahre alt und an Leukämie erkrankt, fragt sich Donald Delpe, was er noch erleben will, bevor er stirbt. Zum er‐ sten und vielleicht einzigen Mal Sex haben steht zuoberst auf seiner Liste. Die Romanvorlage Superhero von Anthony McCarten inspirierte im letzten Jahr gleich zwei Bühnen‐ bearbeitungen für Jugendliche: ein Musical, das im Hessischen Staats‐ theater in Wiesbaden uraufgeführt wurde (Buch von Anthony McCar‐ ten, Musik und Liedtexte von Paul Graham Brown, übersetzt von Nina Schneider) und ein Theaterstück mit Premiere in Oldenburg, das nun am Mainzer Staatstheater zu sehen ist (Inszenierung: Markolf Naujoks, Dramaturgie: Matthias Grön). In der Theateraufführung von Naujoks und Grön treten zunächst projizierte Comiczeichnungen in den Vordergrund: Vor schwarzer Bühne leuchten die Farben des Comicprota‐ gonisten Miracle Man. Im Stück sind diese Zeichnungen Donalds jugendli‐ che Versuche, künstlerisch mit seinem Schicksal umzugehen: Im Stil der Mar‐ vel‐Comics zeichnet er einen Super‐ helden, der immer wieder stirbt und sich zum Leben zurück erweckt. Die Comics sind Grundlage sehr gut gewählter theatraler Inszenierungsmo‐ mente: Hörspielähnlich werden sie von den Akteuren musikalisch und sprach‐ lich vertont und gewinnen dadurch die nötige Eindringlichkeit, wenn sie die Erkenntnisse über Donalds Ängste durchblicken lassen, die sein abwei‐ sendes Äußeres verheimlicht. Bis auf Donald wechseln alle Akteure mehr‐ fach die Rollen. Als Mutter, Vater, Bru‐ der, Freunde, Freundin, Erzähler und Psychotherapeut zeigen sie – oft nur durch kleine Änderungen im Requisit und große Änderungen in Habitus und Duktus markiert – wie Do‐ nalds Umfeld mit seiner Krankheit umgeht. Hier‐ zu bedienen sich alle Dar‐ steller auch großen musika‐ lischen Talents: Im fliegen‐ den Wechsel spielen sie Klavier, Saxophon, Gitarre und singen solistisch bis vierstimmig. Trotz der ernsten Grund‐ Comic trifft Realität. In Mainz interagiert Donald mit seinen thematik und des Einsatzes Comic‐Charakteren. 127 INTERJULI 01 I 2015 einleitenden Satz einer Stimme aus dem Off, ein Geräusch und einen Lichtwech‐ sel mit Freeze und Spot comichaft vor‐ gestellt, viele Elemente des Stücks erscheinen wie ein Film. Seine Haltung: Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass eine Therapie keinen Einfluss auf die Überlebenschancen von Krebspatienten hat. […] Das ein‐ zige, was anscheinend hilft, was Leben rettet – das ist Freude, simple Lebensfreude. „Wicked Games“, „Survivor“ und „The Wanderer“: Neuarrangierte Rock/Pop‐ stücke bereichern das Theaterstück. berührender Musik wirkt das Theater‐ stück an keiner Stelle rührselig, son‐ dern – auch durch die vielen Brechungen – durchgehend frisch. Be‐ sonders Donalds spröder Humor sorgt für Lacher. Auch in Momenten, in denen die Krankheit im Vordergrund steht, kommen den Zuschauern nicht die Tränen. Zu nachdenklich stimmen Momente wie der, in dem die Erzähler Donald mit Post‐Its bekleben, die mit Wörtern wie Milz, Lymphknoten, Angst, Übelkeit, Schwindel oder Gewebe beschriftet sind. Neben Donald ist Dr. Adrian King die zentrale Figur des Stücks. Wie alle anderen Charaktere wird er durch einen Daher bemüht er sich, Donalds Wunsch nach der ersten sexuellen Er‐ fahrung zu erfüllen und stellt damit sogar seine moralische Integrität und seine Approbation aufs Spiel Das Bühnenbild unterstützt die Aufführung mit polyfunktionalen Ele‐ menten, die immer neue Spielorte her‐ vorbringen. Während der schwarze Bühnenraum mit schwarzem Kasten zunächst nur Projektionsfläche für Co‐ mics bietet, macht ein Geländer die 128 Durch Freeze und Off‐Stimme kommen comic‐ artige Elemente in die Bühnenfassung. REZENSIONEN/REVIEWS Oberseite des Kastens zur Autobahn‐ brücke, von der sich Donald stürzen will. Durch zunächst unsichtbare Tü‐ ren, die den Kasten an einzelnen, spä‐ ter an mehreren Stellen öffnen und den Blick auf innere Lichtstimmungen freigeben, entstehen ein Krankenzim‐ mer, eine Disco, ein Bordell, eine Toi‐ lette und ein Museumsschrein. Aus dem Innern des Kastens hört der Zu‐ schauer Donalds Schläge gegen die Wände, seine Schreie und sieht flak‐ kerndes Licht: So trägt das Bühnenbild zur Darstellung einer Panikattacke bei. Auch in der Wiesbadener Musical‐ produktion kommt dem Bühnenbild eine bedeutende Rolle zu: Die Büh‐ nenteile sind verschieb‐ und hebbar, können als Zugrampe heruntergelas‐ sen werden. Die projizierten Zeich‐ nungen wirken hier kindlicher, die Farben etwas gedeckter, dafür wird mit zusätzlichen Effekten gearbeitet: Durch halbtransparente Projektions‐ flächen kann auch vor und hinter der Projektion noch gespielt und getanzt werden, was teilweise mitreißende Ef‐ fekte produziert, zum Beispiel als Mi‐ raculousman (so heißt der Comic‐ held hier) frontal vom über‐lebensgro‐ ßen LKW überfahren wird. An einzel‐ nen Stellen wird das Bild durch diesen Effekt aber auch überladen. Die Entscheidung, die Comiccharaktere durch Darsteller zu verkörpern, rückt die Comicwelt näher an Donalds eigene Welt heran. Miraculousman und Nursey: Im Musical sind die Comicfiguren aus Fleisch und Blut. Während die Theaterproduktion sprachlich einiges zu bieten hat (hier wird sehr authentisch gelogen, ge‐ stammelt, improvisiert und derb ge‐ flucht) nutzt das Musical eher gemäßigte Sprache. Trotz Rapgesangs und sichtbarer Wut des Donald‐Dar‐ stellers über sein Schicksal legen fast durchgehend ausformulierte Sätze mit gezügeltem Vokabular eine Bremse ein, was oft den Eindruck eines Textes ergibt, den Erwachsene Jugendlichen in den Mund gelegt haben. So zum Beispiel auch, wenn Donald sich dar‐ über beschwert, dass sein Comic an den Psychologen King weitergegeben wurde: „Sie hatten kein Recht!“. (Kleinere) dramaturgische Lücken weisen allerdings beide Bühnenadap‐ tionen auf: Während im Theaterstück 129 INTERJULI 01 I 2015 nicht deutlich herauskommt, dass es Donald schwer fällt, Füße zu zeichnen (für den Twist am Stückende eine nicht unerhebliche Information), ver‐ blasst im Musical die Szene, in der Do‐ nald seiner Flamme Shelly ungefragt auf die Toilette folgt ‒ eine sehr mar‐ kante Stelle, auf die noch mehrfach re‐ feriert wird; so bleiben die An‐ spielungen dem Zuschauer allerdings ein Rätsel. Insgesamt gibt es in der Wiesbade‐ ner Inszenierung mehr Hintergrund‐ handlung, die aber nicht immer nötig wäre und dafür sorgt, dass das Musical mit 150 Minuten Spielzeit in zwei Akten deutlich länger ist als die Thea‐ teraufführung, welche einaktig in 90 Minuten über die Bühne geht. Die Ne‐ bencharaktere treten im Musical deut‐ licher in den Vordergrund, obwohl sie weniger charakterliche Facetten zeigen. Besonders traurig sind im Musical die Szenen, in denen Donalds Krank‐ heit zurückkommt und schließlich Ein erster und leter Joint sorgt für einen (un)vergesslichen Vater‐Sohn‐Moment. Vor der Pause: Ob der echte Donald Ensemble‐ tanz für seine Geschichte gemocht häe? siegt. Am Ende des ersten Aktes hat der Zuschauer erstmals den Eindruck, dass Donald sein Leben genießt. In einer Popnummer, in der Choreogra‐ phie und Musik an ein in die 90er‐ Jahre versetztes Grease‐Jugendgefühl erinnert, tanzt er mit den Freunden, taut auf, nähert sich Shelly an. Der plötzliche Wechsel zur Krankenhaus‐ situation wirkt ironisch und schmerz‐ voll. Ebenso berührend: Das große Musicalfinale mit allen Ensemblemit‐ gliedern und der Reprise des Songs „Ich steh noch ganz am Anfang“, zu dessen Klängen Donald und sein Co‐ micheld die Rampe hinauf in Zeitlupe in den Tod gehen. In beiden Bühnenadoptionen wird klar: Der Stoff aus dem Roman von McCarten ist eine fantastische Vorlage für die Bühne. Die Story um den 14‐jährigen Donald ist spannend, schmerzhaft, lustig, hart und tritt – 130 REZENSIONEN/REVIEWS nicht nur bei 14‐Jährigen – eine La‐ wine von Gedanken über das Leben und Sterben los. Und sie bietet Raum für ein großes Spektrum von Inszenie‐ rungsideen, die sich in beiden Adap‐ tionen – jedoch stärker im Theater‐ stück – finden. Die Mainzer Auffüh‐ rung nimmt den jüngeren Zuschauer insgesamt ernster, indem sie ihn sprachlich und visuell nicht schont, ihm mehr Raum für die eigene Phan‐ tasie lässt; dafür spart sie ihm einige der Erwachsenensorgen, denen im Musical eine größere Bedeutung zu‐ kommt. Obwohl Musik von Haus aus mit Musical verwoben ist, erscheint die musikalische Illustrierung auch in der Theaterversion dramaturgisch in‐ teressanter eingesetzt. Mit den ganz großen Balladen kann das Musical al‐ lerdings auch die traurigen Momente voll ausspielen, das Theaterstück holt den Humor häufiger und stärker wie‐ der zurück und bleibt damit leichter. McCarten und Brown haben ein soli‐ des Musical geschrieben, Naujoks und Grön ein Theaterstück, das man – egal ob 14 oder 84 – unbedingt gesehen haben muss. Mareike Hachemer Albert Barillé (Regie). E S WA R EINMAL … DER MENSCH. Blu‐ ray‐Komplettbox: Studio Hamburg Enterprises, 2014. „Unseren Kindern den Wunsch nach Wissen vermitteln und ihre Neu‐ gierde wecken“ war das Ziel von Al‐ bert Barillé, als er 1978 die Trick‐ filmserie Es war einmal ... der Mensch erschuf. Barillé war sowohl Autor, Regisseur als auch Produzent der französischen Serie, die 1980 erst‐ mals im deutschen Fernsehen aus‐ gestrahlt worden ist. Alle 26 Folgen wurden nun in einer restaurierten Fassung von Studio Hamburg Enter‐ prises in einer Blu‐ray‐Box veröffent‐ licht. Auf den drei Blu‐rays sind neben der deutschen auch die fran‐ zösische und englische Sprachfas‐ sung enthalten. Extras gibt es außer einem umfangreichen Booklet, das interessante Informationen über die Entstehung der Serie und die Ent‐ wicklung der von Jean Barbaud ge‐ schaffenen Figuren bereithält, leider keine. 131 INTERJULI 01 I 2015 Gemeinsam mit dem Protagoni‐ sten Maestro – einem bärtigen weisen Mann – begibt sich der Zuschauer auf eine Zeitreise durch die Geschichte der Menschheit. Die einzelnen Folgen beschäftigen sich mit wichtigen Epo‐ chen, Ereignissen, Herrschern und Persönlichkeiten. Angefangen bei der Entstehung der Erde geht es über die Neandertaler weiter zu den Griechen und Römern bis hin zu den Wikingern und anderen historischen Ereignissen. Im Vorspann jeder Folge sind die Entstehung der Erde und die Entwick‐ lung der Menschheit im Zeitraffer zu sehen. Aus einem Affen wird ein Nean‐ dertaler, aus dem schließlich Adam entsteht. Adam ist eine weitere Haupt‐ figur der Serie. Wie der Affe bewegt sich Adam auf der Stelle, wobei sich die Hintergründe und seine Kleidung je nach Epoche ändern. Er passt sich also seinem geschichtlichen Umfeld an. Da‐ durch bietet der Vorspann einen guten Vorausblick auf die Handlung der ein‐ zelnen Folgen. Unterstützt wird der Vorspann durch das einprägsame Ti‐ tellied „Tausend Jahre sind ein Tag“ von Udo Jürgens, was auf die Kürze der Folgen zutrifft: Jede Folge dauert rund 25 Minuten und fasst meist meh‐ rere Hundert Jahre Geschichte zusam‐ men. Memory, ein sprechender rechteckiger Klotz mit Augen und Armen, zeigt dabei am oberen linken Bildschirmrand immer mal wieder die aktuelle Jahreszahl an, zu der das je‐ weilige Ereignis stattfindet. So auch in der Folge „Das Zeitalter des Perikles“. Diese beginnt 1450 v. Chr., thematisiert aber zum Beispiel ebenso das Jahr 429 v. Chr. Es werden wichtige Themen wie Sklavenhaltung in der Antike, grie‐ chische Götter, die Konflikte mit Sparta, die olympischen Spiele und der Bau der Akropolis angesprochen. Be‐ deutende Persönlichkeiten wie Peri‐ kles, Sophokles, Sokrates und Aris‐ toteles kommen ebenfalls zur Sprache. Protagonist Maestro kennt sowohl ver‐ gangene Geschehnisse als auch zu‐ künftige. So weiß er schon, dass es in der Zukunft römische und arabische Ziffern geben wird und man eine Sonnenuhr dann nicht mehr mit dem griechischen Alphabet versehen wird. Neben Maestro spielt Adam eine tragende Rolle. Er verkörpert einen prototypischen Griechen der damali‐ gen Zeit, der u.a. das Orakel zur Hochzeit mit seiner Angebeteten be‐ fragt und die olympischen Spiele be‐ sucht. Seine Angebetete wird von Eva dargestellt. Adam zur Seite steht stets sein schwerfälliger Freund Jumbo, über dessen Tollpatschigkeit man als Zuschauer oft schmunzeln muss. Maestro, Jumbo, Adam und Eva sind freundliche und gut gelaunte Figuren. Im Gegensatz dazu stehen Ekel und 132 REZENSIONEN/REVIEWS Klotz, die Antagonisten der Serie. Beide haben einen mürrischen Ge‐ sichtsausdruck und eine rote Nase. Damit kann man sie sofort als Böse‐ wichte identifizieren. Gut und Böse sind also an Mimik und Aussehen der Figuren erkennbar. Eva, Adam, Jumbo, Klotz und Ekel sind Charak‐ tere, die in der Serie immer wieder auftauchen und den verschiedenen Rollen angepasst werden. Maestro ist nicht nur ein alter Gelehrter, sondern gleichzeitig der allwissende Erzähler jeder Folge. In der deutschen Sprach‐ fassung wurde Maestro von dem österreichischen Schauspieler Josef Meinrad synchronisiert. In den Folgen wird oft so verfahren, dass nur die Voice‐Over‐Stimme zu hören ist, der Erzähler also nicht zu sehen ist. Das Gesagte wird dann durch passende Filmbilder veranschaulicht. In „Das Zeitalter des Perikles“ berichtet der Er‐ zähler beispielsweise von Perikles Tod. Dazu wird illustrierend gezeigt, wie eine Statue von Perikles zerbricht. Allerdings gibt es dazwischen immer wieder Szenen, in denen der Erzähler nicht zu Wort kommt und nur die handelnden Figuren zu sehen sind, die miteinander in Dialog treten. Die Überleitungen zwischen filmischer Handlung und Erzähler sind fließend. So sieht man zum Beispiel Eva, die aus Zorn die Lieblingsvase ihres Mannes zerbricht. Der Erzähler kommt daraufhin auf das Scherbengericht zu sprechen. Wichtige Gegenstände, die besondere Aufmerksamkeit erhalten sollen, werden herangezoomt. Die verwendete Hintergrundmusik bietet eine passende Untermalung der ein‐ zelnen Szenen, denn sie ist optimal auf die filmische Handlung abge‐ stimmt. Durch Landschaft, Gebäude und Kleidung der Figuren kann man sich gut in die jeweilige Epoche hineinversetzen. Es war einmal … der Mensch vermit‐ telt gekonnt Wissen, denn die Serie ist äußerst informativ und humorvoll zu‐ gleich. Auch wenn die einzelnen Fol‐ gen noch etwas ausführlicher und Dialoge und Handlungen detaillierter sein könnten, macht es einfach Spaß, zuzuschauen. Dies ist insbesondere den sympathischen Figuren zu ver‐ danken, die den Charme der Serie aus‐ machen. Lediglich die Stimme des Erzählers ist vielleicht nicht mehr so zeitgemäß, da sie sehr altmodisch klingt. Das tut der Qualität insgesamt aber keinen Abbruch, denn die Serie spricht nicht nur Kinder und Jugend‐ liche an, sondern ist ebenso für Erwachsene empfehlenswert. Auch sie können hier noch etwas lernen und selbst wieder ein wenig zum wissbegierigen Kind werden. 133 Sabrina Holitzner INTERJULI 01 I 2015 Marie‐Aude Murail. D A S G A N Z UND GAR UNBEDEUTENDE LEBEN DER CHARITY TIDD‐ L E R . Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Mit farbigen Bildern von Philippe Dumas. Frankfurt am Main: Fischer, 2011. 571 S. Charity Tiddler, vielseitig begabte Naturliebhaberin, Tierpflegerin, Ham‐ let‐Kennerin und Kaninchenzeichne‐ rin, fürchtet sich nicht vor der vikto‐ rianischen Öffentlichkeit. „Da es meine Bücher sind, die im Schaufen‐ ster ausgestellt werden, und nicht ich, hoffe ich, dass ich weiterhin ein be‐ scheidenes und verborgenes Leben führen kann“ (376), sagt sie zu Alfred King, der als Leiter des Londoner Ver‐ lags King and Co gewillt ist, ihr erstes Bilderbuch zu veröffentlichen. Weit schwerer tut sich die junge Frau damit, das Ende ihrer Geschichte gemäß konservativer Verlagspolitik zu ändern – und ihren Helden, das freche Kaninchen Peter, das sich an den Ka‐ rotten des Nachbargartens gütlich tut, mit Bauchweh zu bestrafen, anstatt es‐ über die rigide Kinderbuchmoral der Zeit triumphieren zu lassen. Zwar ver‐ spürt Charity durchaus eine gewisse „Lust zu rebellieren“. Weil sie sich aber von dem mit ihrem Buch verdien‐ ten Geld zumindest ein bisschen Au‐ tonomie von den sie am Gängelband haltenden Eltern erkaufen will, willigt sie ein: „[F]ür die Summe von zwanzig Pfund überließ ich Peter dem Bauch‐ weh und meine Autorenrechte dem Verlagshaus King and Co“ (377). Dem Verlegersohn erzählt sie später, sie folge in ihrer künstlerischen Karriere weniger der Verlagsregel, Kindern „das Geschmackvolle, Gute und Ge‐ rechte“ nahezubringen, denn jener von PSP –„Pfund, Shilling, Penny“ (427). Und rückt damit die schon von Virginia Woolf konturierte Situation von im 19. Jahrhundert schreibenden Frauen in ein ironisch gebrochenes, aber nicht minder scharfes Licht. Pragmatisch, spitzzüngig, selbst‐ kritisch: Von der ersten Seite an ist es Charitys eigensinniger und in all seinen Facetten ausgeleuchteter Charakter, der Marie‐Aude Murails 571 Seiten schwe‐ ren, detailreichen historischen Roman trägt. Anders als den Kinderbüchern 134 REZENSIONEN/REVIEWS rund um Peter Rabbit und all die an‐ deren Tiere, die Charity von Kind auf in der Einsamkeit ihres nur von Kin‐ dermädchen und Gouvernante aufge‐ suchten Zimmers pflegt, aufzieht und bisweilen aus Versehen tötet, ehe sie ihnen ein literarisches Leben verleiht, fehlt es dem Roman nämlich an zwei für ein Jugendbuch fast zwingenden Komponenten: an Handlung und an Spannung. Charitys Leben als Einzelkind der wohlhabenden oberen Mittelschicht Ende des 19. Jahrhunderts verläuft iso‐ liert und nahezu ereignislos; die Ent‐ deckung und Entfaltung ihrer zahl‐ reichen ungewöhnlichen Talente und Interessen sind auf Handlungsebene nahezu einziges Movens der an Bea‐ trix Potter angelehnten fiktiven Bio‐ graphie, die von Charitys fünftem bis zu ihrem 27. Lebensjahr reicht. „Ich hätte einen höchst annehmbaren klei‐ nen Jungen abgegeben, aber ich war ein hoffnungsloses Mädchen“, konsta‐ tiert Charity, nachdem ihr als Zehn‐ jährige endgültig klar geworden ist, dass ihr Interesse „eher der Anzahl der Haare der Prozessionsraupe“ als dem Klavierspiel gilt. Letzteres betreibt sie mit der Hingabe „einer Spieldose“; Französisch lernt sie „ohne Mühe und ohne Vergnügen“; und in den Tanzstunden ist sie „flink, aber ohne jede Anmut“ (46). Umso begeisterter aquarelliert sie Pilze, In‐ sekten und Fossilien, übt sich wie Jac‐ queline Kellys etwas später geborene Titelheldin aus dem Roman Calpurnias (r)evolutionäre Entdeckungen (Hanser 2013) in den naturwissenschaftlichen Techniken des Beobachtens, Doku‐ mentierens und Sammelns, notiert sich ihre Überlegungen in ein wis‐ senschaftliches Tagebuch, liest Dar‐ win, deklamiert Shakespeare und begeistert sich fürs Theater. Doch während der Klappentext von einer Heldin spricht, die „sich emanzipiert und sich Unabhängigkeit erkämpft“, sind Charitys Handlungen insgesamt wenig revolutionär: Murail zeichnet sie konsequent als Kind ihrer Zeit, das sich in den meisten Fällen durchaus an die Konventionen hält, weil es sich der Sanktionen für abwei‐ chendes weibliches Verhalten nur allzu bewusst ist. Diese werden an der wegen einer angeblichen Liebelei mit dem Deutschlehrer aus dem Haus ge‐ jagten Gouvernante, der unglücklich schwangeren 19‐jährigen Dienstbotin und dem in einer Irrenanstalt dahin‐ vegetierenden ehemaligen Kinder‐ mädchen denn auch drastisch veranschaulicht. Ähnlich wie Kellys Calpurnia gelangt Charity zu einer realistischen Einschätzung ihrer Mög‐ lichkeiten und Spielräume – ohne die Grundregeln ihrer Gesellschaft jemals 135 INTERJULI 01 I 2015 ernsthaft zu verletzen, erkämpft sie sich durch ihre Arbeit, zu der sie sich immer wieder unter schwersten Anstrengungen motivieren muss, ein kleines Stück Freiheit und Selbstbestimmung. Revolutionär und dramatisch ist das nicht. Dafür umso konsequenter. Frei von jeglicher Nostalgie zeichnet Murail ein dichtes Zeitgemälde, das durch Charitys lakonisch‐ironische Er‐ zählweise noch an Tiefe gewinnt und die Konventionen und Zwänge der Zeit, aber auch die gesellschaftspoliti‐ schen Diskussionen um Frauenrechte, angemessenen „Lebenswandel“ und künstlerische Freiheit scharf hervor‐ treten lässt. Das mit liebevoll ausge‐ malten Bildern, viel schwarzem Humor, brillant skizzierten Charakte‐ ren und pointierten Dialogen im dra‐ matischen Modus aufwartet. Aus diesen Zutaten ist ein Werk entstan‐ den, das seiner Protagonistin in puncto Originalität und Eigensinn in nichts nachsteht – das seine Anhän‐ gerschaft aber vermutlich eher in einem erwachsenen denn in einem jugendlichen Publikum finden dürfte. Manuela Kalbermatten Guillermo Del Toro (Prod.) and Jorge Gutiérrez (Dir.). THE BOOK OF LIFE. 20th Century Fox, 2014. DVD. 95 mins. It is rare that films for young people by Latina/o directors make it to the big screen in U.S. or European the‐ aters. The Book of Life, a 3D com‐ puter‐animated film from Mexican director Jorge Gutiérrez, and Mexi‐ can producer, Guillermo Del Toro, breaks that longstanding trend. A vi‐ brant and visually stunning film, The Book of Life takes us on an action‐ and romance‐packed journey into the world of Mexican mythology and folklore. The film begins as Mary Beth (Christina Applegate), a museum tour guide, narrates this “story within a story” to a rebellious group of pre‐ sumably white school children, to which she gives secret access to The Book of Life, a book that holds all of the world’s stories. Entranced by the 136 REZENSIONEN/REVIEWS characters of Mexican folklore, the children quickly morph from a spit‐ ball‐tossing group of ne’er‐do‐wells into a captive audience. Mary Beth proceeds to tell the children the book’s “greatest story”, which transports us to colonial Mexico, specifically to the village of San Ángel on the holiday Día de los Muertos (Day of the Dead). In San Ángel, we encounter three children, María (Zoe Saldana), Manolo (Diego Luna) and Joaquín (Channing Tatum), playing in the village ceme‐ tery during the Day of the Dead festiv‐ ities. As they play, the spirits La Muerte (Kate del Castillo), ruler of the Land of the Remembered, and Xibalba (Ron Perlman), ruler of the Land of the Forgotten, bet on which of the two boys will marry the indomitable María. La Muerte bets on the sensitive, guitar‐playing Manolo, while Xibalba bets on the “manly”, fake‐musta‐ chioed Joaquín. The wager is that if La Muerte wins, Xibalba must cease medd‐ ling in the affairs of the realm of the living, and if Xibalba wins, La Muerte must swap places with him and be‐ come ruler of the Land of the Forgot‐ ten. La Muerte is unaware that Xibal‐ ba tips the scales in his favor by slip‐ ping the Medal of Eternal Life to Joaquín, which gives the young boy a distinct advantage over his would‐be challengers in years to come. Soon after the Day of the Dead, María, Manolo, and Joaquín release a group of animals awaiting slaughter to run wild through the village. Infu‐ riated, María’s father, General Posada, sends María away to a convent in Spain to learn how to “behave like a real lady”. It is not until many years later that María, now a young woman, returns to San Ángel. While she was gone, Manolo has become a reluctant bullfighter in fulfillment of his father’s wishes and his family’s legacy, despite his true passion for music. Joaquín, en‐ dowed with the Medal of Eternal Life, has become a revered hero and has subsequently won General Posada’s favor as protector of the village and as a future husband for María. María is not swayed by Joaquín’s marriage proposal, and the film’s love triangle is fully realized when Manolo serenades María and professes his love to her. The plot takes a Romeo and Juliet‐ esque turn when Xibalba releases a snake that bites María while she and Manolo are together. Thinking that the snakebite has killed her, Manolo agrees to be bitten by the snake so that he can be with María in the realm of the dead. However, the snakebite María receives merely puts her in a coma, while Manolo’s snakebite kills him. With Manolo dead, Xibalba declares victory over La Muerte—as there is no longer 137 INTERJULI 01 I 2015 any possibility for the young man to marry María—and banishes her to the Land of the Forgotten. Manolo’s death brings us to the Land of the Remembered, which Xibalba has taken control of since he won his bet with La Muerte. After re‐ uniting with a long line of his de‐ ceased family members, including his mother, Manolo and his family are de‐ termined to appeal to La Muerte in the Land of the Forgotten and inform her of Xibalba’s cheating. The group overcomes a number of challenges to find The Candlemaker (Ice Cube), overseer of the realm of the living and keeper of The Book of Life, who gives them access to the Land of the Forgot‐ ten. There they meet La Muerte and expose Xibalba’s lies. Manolo and his family are eventually granted their lives by Xibalba. The group returns to San Angel to help defend the village against an attack that disrupts María’s and Joaquín’s wedding. Xibalba and La Muerte reconcile, and María and Manolo wed. As the film closes, Mary Beth, the museum tour guide, and a museum guard bid the school chil‐ dren farewell. As their school bus pulls away, guard and tour guide re‐ veal themselves as La Muerte and Xibalba, and the Candlemaker en‐ courages us to write our own life stories. In addition to being a celebration of Mexican folklore and magical realism, and a reminder of our own mortality, The Book of Life subtly attempts to resist gender stereotypes. For example, María and La Muerte are depicted as strong‐willed and “feisty” women, who try to resist societal expectations of women to “behave”. Similarly, Manolo pushes back against his father’s defini‐ tion of what it means to be a “Sánchez man” and bullfighter, as he pursues his passion for music. Throughout the film, we see the guitar that María gave Manolo before she left for Spain in‐ scribed with the words, “Always play from the heart”. In the end, Manolo finds that he can follow his heart and still earn his family’s love and respect. Beyond its subtle attempts to resist gender stereotypes, the film reinforces cliché notions of love and marriage. Aside from their having been child‐ hood friends, there is really no strong case presented as to why María should fall in love with either Manolo or Joaquín so quickly. While María re‐ sists Joaquín’s notion of marriage as a woman’s servitude to a man in return for his protection, the film both touts and relies on marriage as an ultimate expression of love and a goal to which we should aspire. Perhaps we can seek some solace in knowing that María and Manolo married for love, 138 REZENSIONEN/REVIEWS even if their love story does not seem substantial. From a production standpoint, The Book of Life walks the line between indie film and mainstream blockbuster, by employing both well‐known and lesser‐ known actors from both Latina/o and non‐Latina/o backgrounds. Its sound‐ track (Gustavo Santaolalla) seems to fol‐ low the lead of the hugely successful Shrek films, by mixing original music with reimagined pop‐songs. However, this hybrid of music styles feels forced and detracts from the texture of the film. While it could be argued that this hybrid approach to the soundtrack is an attempt to modernize Mexican folklore and help younger viewers better relate to the film, the vibrant 3D Mexican folk art‐inspired visuals and expres‐ sive, marionette‐like characters more effectively serve that purpose. Despite its overly subtle attempts at resisting gender stereotypes, its cliché love story, and soundtrack that often feels out of place, The Book of Life depicts a world that allows the growing popu‐ lation of Mexican‐American children to celebrate the artistry of Mexican culture, hear dialogue peppered with Spanish words, and see Mexico as front and cen‐ ter in mainstream film. It also invites children from non‐Mexican back‐ grounds to immerse themselves in a new and exciting world that celebrates the importance of family and revives Mexi‐ can folklore in a way that is accessible to younger audiences. We should look for‐ ward to future films by Mr. Gutiérrez, and hope that The Book of Life has opened the door for other Latina/o filmmakers to make their mark on U.S. and European film markets for children and adults alike. Kristin M. Larsen Sekundärliteratur Hannah Köpper und Sacha Szabo (Hg.). P L AY M O B I L ® D U R C H ‐ LEUCHTET: WISSENSCHAFT‐ L I C H E A N A LY S E N U N D D I A ‐ G N O S E N D E S W E LT B E K A N N ‐ TEN SPIELZEUGS. Marburg: Tec‐ tum, 2014 (Studien zur Unterhal‐ tungswissenschaft 7). 160 S. 2014 feierte Playmobil, die bunte Mi‐ niaturplastikwelt der Zirndorfer Firma geobra Brandstätter, den 40. Geburtstag. Im Jubiläumsjahr er‐ schien der nun vorliegende Band, der wohl die erste wissenschaftlich ori‐ entierte Aufsatzsammlung zu Play‐ mobil in deutscher Sprache darstellt. 139 INTERJULI 01 I 2015 Insofern erfüllt der 160 Seiten schmale Band ein Desiderat. Die kurzen Aufsätze (10–20 Seiten) werden von Interviews und farbigen, die Themen des Buches reflektieren‐ den Cartoons (von www.figurbetont.de) aufgelockert – eine nette Idee, die manchem Sammelband guttäte. Inter‐ viewt wurden die geobra‐Geschäfts‐ führerin, des Weiteren ein „neun‐ jähriges Mädchen aus Zweibrücken“, ein „Forenbetreiber für Playmobil‐ sammler und ‐spieler“, ein „(ehema‐ lige[r]) Sammler und Playmobil‐ Begeisterte[r] aus Saarbrücken“ sowie zwei Museumsverantwortliche (vom archäologischen Landesmuseum in Konstanz, das jeweils zur Weihnachts‐ zeit eine Ausstellung mit Playmobilfi‐ guren illustriert, und vom Jungen Museum Speyer, wo die Jubiläums‐ ausstellung stattfand). Die Interviews erscheinen als ‚Zusatzmaterial’ neben den Aufsätzen, ohne aber selbst zum Untersuchungsgegenstand zu wer‐ den; ebenso ist im Anhang die Play‐ mobil‐Patentschrift kommentarlos abgedruckt. Im Folgenden werden nur die wissenschaftlichen Aufsätze, die aus verschiedenen Disziplinen stammen, berücksichtigt. Ein kurzer Überblick der Heraus‐ geberschaft über die Firmengeschichte und die Entwicklung von Playmobil eröffnet den Band. Anschließend fo‐ kussiert Anselm Geserer sozusagen auf die ‚Grundlage‘ des Gegenstands, den Aspekt des (Kinder‐)Spiels. Er setzt Playmobil in Beziehung zu ein‐ schlägigen Theoretikern wie Piaget und Mead für das kindliche Spiel, Caillois und Huizinga für die Katego‐ risierung des Spiels. Playmobil als Rol‐ lenspiel ist mit den Begriffen Caillois’ vor allem als Mimikry zu klassifizie‐ ren und gilt als grundsätzlich fiktives Spiel als nicht‐geregelte Spielform. Hannah Köpper legt dar, wie das Playmobil‐Programm durch seine stete Ausdifferenzierung Modernisie‐ rungsprozesse widerspiegelt, nament‐ lich Individualisierung, Differen‐ zierung und Pluralisierung von Le‐ bensstilen. Dabei ist Differenzierung Playmobil als Systemspielzeug imma‐ nent, dies führe aber auch zu einer Be‐ schränkung: Indem die einzelnen 140 REZENSIONEN/REVIEWS Figuren durch ihre Gestaltung auf eine Funktion festgelegt würden und somit nicht mehr austauschbar seien, erführen sie eine „Entzauberung“ (44) und Kontingenz. Katharina Zeppe‐ zauer‐Wachauer verfolgt ein erstes Mal die Entwicklung der Mittelalter‐ Spielwelt. Obschon eine „erstaunliche realitätsnahe Umsetzung“, wird v. a. auch durch Umgebungselemente das Mittelalter geradezu inszeniert. Auch sie erkennt in der wachsenden Detail‐ verliebtheit zwar ein „verbessertes Ge‐ schichtsverständnis“, aber auch ein „Imaginationshemmnis“ (61). Bestand das Mittelalter zunächst aus eher bür‐ gerlichen Szenen, ging man später zum Ritterleben über, bevor ab Mitte der 90er‐Jahre fantastische Elemente hinzukamen. Yvonne Niekrenz geht es um körpersoziologische Fragestellungen. Durch die ‚Evolution‘ der Figürchen zu immer detaillierteren Körpern (Busen, Schmerbäuche, Frisuren etc.) würden diese „immer mehr Stellver‐ treter realer Körper“ (76). Obwohl die Figürchen im (anthropologisch‐ soziologischen) Sinne Plessners kei‐ nen Körper haben, da ihnen Be‐ wusstsein fehlt, vermitteln sie ein menschliches Körperbild, während das Kind im Spiel die eigene Bewe‐ gungsfähigkeit trainiert und zuneh‐ mend erkennt, wie eingeschränkt die Playmobil‐Bewegungsmöglichkeiten (Stehen, Sitzen, Greifen etc.) sind. In einem eher humoristisch zu nen‐ nenden Essay spekuliert Sacha Szabo, warum Playmobilfiguren keine Nase haben. Ausgangspunkt ist die Umdre‐ hung des anthropozentrischen Blicks, die das Objekt als Aktanten (nach La‐ tour) begreift. Die Nasenlosigkeit sieht Szabo letztlich in Zusammenhang damit, dass die Figuren keine Ge‐ schlechtsorgane hätten. Da sie tech‐ nisch (re‐)produziert würden („Wie aber entstanden nun die Playmobil‐ kinder? Die Antwort ist ganz einfach und doch kompliziert: durch Spritz‐ guss“ (93)), wären Geschlechtsorgane auch überflüssig. Insofern seien die Plastikfiguren der „menschlichen Re‐ produktion überlegen“, da sie viel we‐ niger Zeit brauchten, um sich weltweit zu verbreiten (94). Manuel Lorenz untersucht ein zweites Mal das „playmobile Mittelal‐ ter“. Er arbeitet anhand verschiedener Themenkomplexe heraus, was für ein Mittelalterbild entworfen wird. Be‐ merkenswerterweise fehlt die Geist‐ lichkeit völlig (die in anderen Spiel‐ welten durchaus vertreten ist); die Vielfalt der Produktpalette bleibt „epi‐ sodenhaft“ (106). Einzige Konstante ist die Burg, zunächst als Teil des Stadtlebens, dann als Teil zweier Kampfparteien, was der Maxime 141 INTERJULI 01 I 2015 „keine Gewalt‐ und Horrorszenarien“ des Erfinders Hans Beck widerspricht. Darijana Hahn erweitert den Ge‐ genstandsbereich, indem sie Playmo‐ bil als Illustrationsobjekt betrachtet. Ihre zahlreichen Beispiele zeigen: „Playmobilfiguren kommen universal zum Einsatz“ (124). Warum das so ist, illustriert sie mit Aussagen diverser Gesprächspartner. Letztlich gibt es zwei Erklärungen: Zum einen ist die Spielzeugwelt positiv besetzt und man kann fast alles damit nachstellen, zum andern lässt sich diese Beliebt‐ heit als Zeichen einer „Infantilisie‐ rung“ der überalterten Gesellschaft (128) interpretieren. Abschließend be‐ trachtet nochmals Sacha Szabo die Entwicklung der Frauenfigürchen, in der er Parallelen zur kindlichen Gen‐ dersozialisation erkennt. Playmobil scheint dabei dem Trend zu folgen: Prinzessinnen für Mädchen (rosa ver‐ packte Mädchensets gibt es seit ca. 1990) – Krieger für Jungs. Die ersten Frauenfiguren entsprachen eher un‐ tergeordneten, oft häuslichen Rollen‐ bildern. Seither hat klar eine Emanzipation stattgefunden, doch bleibt ein traditionelles Familienbild dominant. Die Beiträge sind durchwegs infor‐ mativ und mehrheitlich schlüssig, bie‐ ten teils interessante, teils jedoch eher belanglose Ansätze. Dazu ist freilich zu bemerken, dass die Reihe „Unter‐ haltungswissenschaft“ ein besonderes Ziel verfolgt: Sie will, wie der Home‐ page des von den Herausgebern be‐ triebenen (selbsternannten) „Instituts für Theoriekultur“ zu entnehmen ist (www.institut‐theoriekultur.de, Abruf 16. 9. 2014), nicht nur Wissenschaft von der Unterhaltung, sondern auch Wis‐ senschaft als Unterhaltung sein. Diese soll – gemäß Beschreibung der Reihe im Verlagsprogramm (Tectum Wis‐ senschaft, Frühjahr 2014, 12) – ein „Ge‐ genentwurf zur ‚ernsten‘ Wissen‐ schaft“ sein und Spaß machen, laut Homepage aber trotzdem den „An‐ sprüchen an eine solide und seriöse Wissenschaft“ genügen. Einer Publikation mit diesem Ziel kann man durch eine wissenschaftlich orientierte Lektüre wohl nicht ganz ge‐ recht werden. Tatsächlich habe ich mich bei der Lektüre eben jener ‚erns‐ ten‘ Wissenschaft schon besser unter‐ halten gefühlt als bei diesem Band. Die wissenschaftliche Leserin vermag der Band unterm Strich nicht restlos zu be‐ friedigen: Wohl auch wegen der Text‐ kürze gibt es einige Oberflächlich‐, Widersprüchlich‐ und Ungenauigkei‐ ten zu konstatieren. Gewisse Annah‐ men scheinen an mehreren Stellen auf, ohne je hinterfragt zu werden. So werden mehrfach Kundenwünsche als Begründung angeführt, was aber 142 REZENSIONEN/REVIEWS jeweils sehr diffus bleibt. Ebenfalls ist mehrfach ein Bedauern auszumachen, die im Lauf der Zeit zunehmende De‐ tailliertheit beschränke die spieleri‐ sche Fantasie, ohne dass je vertiefter darauf eingegangen würde. Wenn an mehreren Stellen ohne nähere Erläute‐ rung behauptet wird, die ersten (männlichen) Figürchen seien „ge‐ schlechtsneutral“ (13, ähnlich z. B. 44, 138) gewesen, so ist das ärgerlich bis empörend, da damit die letzten Jahr‐ zehnte Genderforschung schlicht ignoriert werden. Aus wissenschaftli‐ cher Sicht ist es zudem eine Unart, bei Theorietexten nirgends das Erster‐ scheinungsjahr anzugeben. Hier wäre wohl seitens des Verlags ein strenge‐ res Regime angebracht (und ein zu‐ sätzlicher, stilsicherer Lektorats‐ bzw. Korrektoratsdurchgang hätte auch nicht geschadet). Eine Hinweisseite zu Beginn des Playmobil‐Bandes beschreibt das Un‐ ternehmen „Institut für Theoriekul‐ tur“ als „Theoriedienstleister“, der „Phänomene und Artefakte der sozia‐ len Wirklichkeit“ behandle. Indem ein Gegenstand „aus Expertensicht“ be‐ schrieben werde, werde diesem „eine kulturelle Tiefe verliehen“ (7). Ent‐ sprechend betonen mehrere Beiträge, dass Playmobil „nicht nur ein Spiel‐ zeug“, sondern „Spiegelbild der Ge‐ sellschaft“ (46) bzw. gesellschaftlicher Prozesse und Diskurse sei – was für Kulturwissenschaftler kaum überra‐ schend sein dürfte. (Vor diesem Hin‐ tergrund fragt sich, ob es Zufall ist, dass gerade die Mittelalterwelt, die als historische wohl am deutlichsten einen didaktischen Anspruch hat, als einzige Spielwelt separat betrachtet und gleich mit zwei Aufsätzen be‐ dacht wird.) Auf der genannten Homepage wird ersichtlich, dass dies letztlich das Verkaufsargument ist: Angeboten wird nämlich Wissen‐ schaft als unkonventionelle Werbung („unabhängige Wissenschaft ist die beste Image PR [sic!]. Ihr Produkt wird plötzlich für das Feuilleton und den Kulturteil interessant“). Dies wirft die Frage auf, ob Playmobil den Band finanziell unterstützt hat – deklariert wird jedenfalls nichts dergleichen, verdankt wird nur die Unterstützung bei Problemen. Dass die wissenschaft‐ liche Beschäftigung einem Gegen‐ stand zu einer Ansehenssteigerung verhelfen kann, ist nicht zu leugnen, jenem Gegenstand aber durch die wis‐ senschaftliche Auseinandersetzung eine „kulturelle Tiefe“ erst „verleihen“ zu wollen, ist aber doch erstens frag‐ würdig und hat Playmobil zweitens nicht nötig. Ein Geschäftsmodell, das die philosophischen Fächer privatwirt‐ schaftlich zu nutzen vermag, und ein 143 INTERJULI 01 I 2015 Playmobilbuch möchte man eigentlich loben. Doch ist zumindest das vorlie‐ gende Buchprodukt aus wissenschaft‐ licher Perspektive keine überzeugende Visitenkarte. Mit diesem Band jeden‐ falls wird Playmobil, trotz einiger inter‐ essanter Ansätze, entgegen dem Titel keineswegs durch‐, sondern allenfalls beleuchtet. Zu hoffen bleibt, dass dies den Anfangspunkt einer vertieften wis‐ senschaftlichen Auseinandersetzung mit Playmobil markiert. Aleta‐Amirée von Holzen Emer O’Sullivan/Dietmar Rösler. KINDER‐ UND JUGENDLITE‐ R ATUR IM FREMDSPRACH‐ ENUNTERRICHT. Tübingen: Stauffenburg, 2013. 229 S. Mit dem in der Reihe „Stauffenburg Einführungen“ erschienenen Basis‐ werk zum Einsatz von Kinder‐ und Jugendliteratur (KJL) im Fremdspra‐ chenunterricht (FU) legen O’Sullivan und Rösler einen soliden Grundstein für eine weitere Annäherung von KJL und Fremdsprachendidaktik. In einer gelungenen Mischung aus Theorie und Praxis versuchen sie nicht nur, (zukünftigen) Lehrenden und deren Ausbildenden die Aueinanderset‐ zung mit KJL im FU schmackhaft zu machen, sondern zeigen auch gekonnt praktische Möglichkeiten auf, mit deren Hilfe sich KJL‐Texte didaktisch aufbereiten lassen. Das Einführungswerk lässt sich grob in drei Teile untergliedern: Die ersten drei Kapiteln befassen sich mit dem theoretischen und definitorischen Rahmen von KJL im FU. In Kapitel eins („Lesen“) werden dabei vor allem psycholinguistische Erkenntnisse zum (fremdsprachlichen) Leseprozess und der Lesesozialisation aufbereitet und die Interaktion zwischen z.B. Ge‐ schlecht und Lesen, von Motivation und Kompetenz sowie der Bedeutung von Peers beleuchtet. Kapitel zwei („Kinder‐ und Jugendliteratur“) bietet einen konzisen Einblick in die KJL‐ Forschung, dessen recht grundlegen‐ der Charakter gut auf die Zielgruppe abgestimmt ist. Insbesondere die um‐ fangreichen, erläuterten Literatur‐ und Linktipps zur KJL‐Forschung sind hier positiv hervorzuheben. Dass 144 REZENSIONEN/REVIEWS fremdsprachige Fachzeitschriften nicht aufgeführt sind, wird mit dem Verweis auf die extensive Online‐ sammlung der IRSCL wettgemacht (www.irscl.com/journals.html). Kapi‐ tel drei („Warum überhaupt Literatur? Und welche Texte?“) befasst sich mit der vor allem innerhalb verschiedener fremdsprachendidaktischer Strömun‐ gen heiß diskutierten Frage nach der Sinnfälligkeit des Einbezugs von (All‐ gemein‐)Literatur in den FU (gerade der Drittsprachen) und erläutert schlüssig, wenn auch etwas knapp und theoretisch nicht immer unterfüttert, welche Vorteile der Einsatz von Litera‐ tur beim (Fremd‐)Spracherwerb hat. Wie aus den Titel der drei einlei‐ tenden Kapitel schon ersichtlich wird, setzt Kinder‐ und Jugendliteratur im Fremdprachenunterricht sehr niedrig‐ schwellig an. Dies ist dem Reihenfor‐ mat („Stauffenburg Einführungen“) zwar prinzipiell sicher angemessen; da aber davon ausgegangen werden kann, dass sich LeserInnen vor allem aus dem Bereich der im FU Tätigen re‐ krutieren, hätten einzelne Aspekte wie z.B. die Einführung in lesetheoretische Zusammenhänge durchaus knapper ausfallen dürfen, zumal sie tatsächlich nur einführenden Charakter haben und wenig in die (theoretische) Tiefe gehen. Bedauerlicherweise ist auch die hier zitierte Sekundärliteratur älteren Datums. Besonders die beiden Studien zur Lesesozialisation aus dem Jahr 1993, die jedoch nur einen Seitenarm der Dis‐ kussion beleuchten und nicht texttra‐ gend sind, wären sinnvollerweise durch neuere Forschung ersetzt wor‐ den. Deutlich besser ist der Spagat zwischen Einführungstext und theore‐ tischer Ausführung im verständlichen, gleichzeitig aber nicht komplexitäts‐ reduzierenden Kapitel zwei zur KJL gelungen. Kapitel vier bis sieben bilden einen zweiten Teil der Auseinandersetzung mit KJL im FU, indem sie im weitesten Sinne Fragen der Textauswahl behan‐ deln. Kapitel vier („Original oder di‐ daktische Adaption?“) befasst sich dabei mit der grundlegenden Frage nach der didaktischen Bearbeitung der ausgewählten Texte. Ein Manko des Buches, auf das später noch zu‐ rückgekommen wird, tritt hier bereits zu Tage: Die zum Teil heftig geführte Diskussion um die Frage der Werk‐ treue bzw. Verwendung wird zwar schlüssig und informiert wiedergege‐ ben, die praktische Konsequenz dar‐ aus bleibt jedoch recht vage. So konstatieren Autor und Autorin: 145 Wenn es [Adaptionen] gelingt, deren Qualität annähernd beizu‐ behalten, dann ist es wohl sinnvol‐ ler, statt der Frage nach dem „Ob“, vor allem die nach dem „Was“ und INTERJULI 01 I 2015 „Für wen“ zu stellen, nach dem lernern‐ und lernzielabhängigen Einsatz von Adaptionen: Für wel‐ che Gruppe von Lernenden mit welchen Sprachlernvoraussetzun‐ gen, auf welchem Sprachstand, mit welchen Lernzielen usw. ist wel‐ che Fassung welcher Texte die angemessene Herausforderung? (60), geben jedoch keine konkreten Hand‐ lungsanleitungen zum Umgang bzw. der möglichen praktischen Lösung dieser Fragen, die sicherlich hilfreich gewesen wären. Besser gelöst ist diese Problematik im nächsten Kapitel („Ganzschrift oder Textarbeit mit Aus‐ schnitten?“), in dem die theoretischen Auseinandersetzung mit der Diskus‐ sion durch eine Auswahl an Praxisbei‐ spielen z.B. zum angeleiteten Lesen von Maikäfer flieg! (Christine Nöstlin‐ ger) und weitere didaktische Annähe‐ rungen ergänzt wird. Ähnlich praxis‐ orientiert geht Kapitel sechs („Das Alter der Lernenden und die Adressie‐ rung der Texte“) vor, das nicht nur die verschiedenen Arten der Adressie‐ rung von KJL aufzeigt, sondern die Unterscheidung zwischen Kinderlite‐ ratur und Jugendliteratur auch dahin‐ gehend vorantreibt, als sie diesen unter‐ schiedliche didaktische Impulse und Impeta anheimstellt. Auch die Überle‐ gungen zum Einsatz von Kinderlitera‐ tur in der Erwachsenenbildung sind, obwohl sie viele RezipientInnen des Buches wahrscheinlich nicht direkt be‐ treffen mögen, durchgehend interes‐ sant und fundiert belegt. Im Kapitel sieben („Hybride Texte im Fremdspra‐ chenunterricht“) liegt der Fokus auf zwei für den FU besonders relevanten Textsorten, nämlich dem Bilderbuch und der zweisprachigen Literatur, für die Autor und Autorin nicht nur in akademischer Hinsicht ausgewiesene ExpertInnen sind (vgl. ihre kinder‐ und jugendliterarischen Publikatio‐ nen, u.a. I like you – und du?, 1983, Mensch, be careful!, 1986, oder Switch – wer ist hier wer?, 2008). Kapitel acht bis zwölf befassen sich schließlich explizit mit methodischen und unterichtsorganisatorischen Fra‐ gestellungen. Kapitel acht („Methodi‐ sche Überlegungen“) führt dabei kurz in drei unterschiedliche Ansätze der Literaturdidaktik ein (handlungs‐ und produktionsorientierte Literaturdi‐ daktik, multiliteracy und visual literacy sowie performatives Lernen), die je‐ weils mit möglichen Aufgaben im FU illustriert werden. Kapitel neun zu „Kinder‐ und Jugendliteratur und die Fertigkeiten“ konzentriert sich nicht nur auf das im – in der KJL häufig anzutreffenden – Medienverbund ge‐ förderte Medienverstehen, sondern führt außerdem in die Themen Lese‐ verstehen und den Zusammenhang zwischen Hören, Sprechen und 146 REZENSIONEN/REVIEWS Schreiben, die jeweils wiederum mit praktischen Ideen für den FU angerei‐ chert sind. Zwei speziellen Aspekten von Literatur im FU, nämlich der Spracharbeit und der Landeskunde, widmet sich Kapitel zehn, in dem die mögliche gewinnbringende Rolle der KJL bei grammatikalischen und sprachbasierten Herausforderungen und landeskundlichen Themen her‐ ausgearbeitet wird. Kapitel elf („Kin‐ der‐ und Jugendliteratur in Projekten und im fächerübergreifenden Unter‐ richt“) erläutert, geleitet von einem praxisbezogenen Theorieverständnis, inwiefern sich KJL besonders für eben diese Unterrichtsformen eignet. Das Buch endet etwas abrupt nach Kapitel zwölf zur „Kinder‐ und Jugendlitera‐ tur in der Lehrerfortbildung“; ein zu‐ sammenfassendes und/oder Ausblick gebendes Kapitel fehlt leider. Auch das letzte Kapitel selbst ist etwas kurz geraten, was insbesondere in Anbe‐ tracht der Schwierigkeiten von KJL‐ Forschung, innerhalb der akade‐ mischen Welt Fuß zu fassen und somit auch im fremdsprachendidaktischen Zusammenhang Einfluss geltend zu machen, bedauerlich ist. Laufende Verweise auf in nachfüh‐ renden Kapiteln behandelte Themen erwecken zwar zum Teil den Eindruck, noch nicht wirklich im Lehrbuch angekommen zu sein, sind aber sehr hilfreich für das strukturierte Lesen und spätere Nachschlagen. Insgesamt zeichnet sich das Buch durch eine im Verlauf zunehmende Praxisorientie‐ rung aus. Es ist dabei vor allem dort stark, wo es mit Beispielen aus der Praxis angereichert ist, z.B. im Kapitel zur Multimedialität und natürlich ins‐ besondere im Kapitel über die metho‐ dischen Möglichkeiten, die die Ein‐ beziehung von KJL in den FU bietet. Im Umkehrschluss wäre allerdings auch ein stärkerer Praxisbezug (oder alternativ eine stärkere theoretische Fokussierung) in den einleitenden Ka‐ piteln wünschenswert gewesen. Ein Beispiel für die sich aus der scheinbaren Unentschlossenheit in der theoreti‐ schen und/oder praktischen Ausle‐ gung dieser Kapitel ergebenden Unschärfe bieten die Kriterien zur Textauswahl (Kapitel 3.2, 47–58). Ei‐ nerseits erfüllen diese ein wichtiges Desiderat, gleichzeitig bleiben sie je‐ doch recht abstrakt und theoretisch, insbesondere wenn man davon aus‐ geht, dass die Zielgruppe aus Lesen‐ den besteht, die wenig Erfahrungen mit KJL haben und dementsprechend überfordert von der Textauswahl sein könnten. So verbleibt gerade zu Be‐ ginn vieles im Grenzbereich zwischen Theorie und Praxis. Besonders über‐ zeugend ist das Buch deshalb auch immer dann, wenn gezielt didaktische 147 INTERJULI 01 I 2015 Vorschläge aufbereitet werden, so wie bei den Darstellungen von Unterrichts‐ modellen zu ausgewählten Ganz‐ schriften in Kapitel fünf und den Kapiteln neun bis elf, die dezidiert pra‐ xisrelevant sind. Mit Kinder‐ und Ju‐ gendliteratur im Fremsprachenunterricht ist O’Sullivan und Rösler insgesamt eine fundierte und umfassende Ein‐ führung zum Einsatz von KJL im FU geglückt, die hoffentlich viele ebenso engagierte LeserInnen finden wird. Marion Rana Caroline Roeder (Hg.). TOPOGRA‐ PHIEN DER KINDHEIT: LITERARI‐ SCHE, MEDIALE UND INTERDIS‐ ZIPLINÄRE PERSPEKTIVEN AUF ORTS‐ UND RAUMKONSTRUKTIO‐ NEN. Bielefeld: transcript, 2014. 398 S. Im Zuge des spatial turns wurden li‐ terarische Orte und Räume zum viel beachteten Gegenstand, die nicht nur bloße Handlungskulisse, sondern mit sozialen, kulturellen und diskur‐ siven Einschreibungen verbunden sind. Der von Caroline Roeder her‐ ausgegebene Band legt den Grund‐ stein für eine fundierte Erforschung der KJL aus topographischer Perspek‐ tive, denn die enge Verschränkung von Kindheit und Jugend mit spezi‐ fischen Raumkonstruktionen wurde bisher wenig beachtet und wird nun erstmals umfassend untersucht. In ihrer konzisen Einleitung steckt Caroline Roeder stimmungsvoll die theoretischen Koordinaten des Bandes ab, diskutiert knapp und bündig die aktuelle, aber sehr vielfältige For‐ schungslage zum spatial turn und stellt die einzelnen Beiträge, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, „die Räume von Kindheit und Jugend neu zu ver‐ messen“ (16) vor. Dies, das sei vor‐ weggenommen, gelingt dem Band auf sehr überzeugende Weise. Die zwan‐ zig fachwissenschaftlichen Artikel werden dabei ergänzt um eine litera‐ rische Erinnerung an Kindheitsräume von Jenny Erpenbeck und ein Künst‐ lergespräch Christine Treschs mit Peter Bichsel über das „Ausprobieren, wie es wäre, wenn es nicht so wäre, wie es ist“ (271). 148 REZENSIONEN/REVIEWS Die Beiträge sind in drei sinnvolle Abschnitte gegliedert, die sich ver‐ schiedenen Schwerpunkten widmen, dabei aber vielfältige Bezüge herstellen und Perspektiven eröffnen: „Erinnerte Kindheiten“, „Handlungsräume der Kindheit“ und „Imaginationswelten der Kindheit“. Sichtbar wird bereits darin, wie eng Aspekte des Raumes bzw. der Raumkonstruktion mit ande‐ ren Diskursen verschränkt sind und auf welchen vielseitigen Schnittstellen sich Fragen nach dem Raum bewegen. Diese Beobachtung untermauern die Beiträge weiter, die sowohl historische Dimensionen und diachrone Entwick‐ lungslinien nachzeichnen als auch ak‐ tuelle Phänomene beleuchten, dabei erinnerungskulturelle Perspektiven er‐ öffnen, interkulturelle Vergleiche zie‐ hen und nach der Wirkmacht von Raum, Medialität und Gender fragen. Burkhardt Lindner zeigt in seinem anschaulichen Beitrag, wie sich die erinnerungstheoretischen Analysen Freuds in Walter Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert nieder‐ schlagen und als poetologische und narrative Reflexionen über Kindheit gelesen werden können, die eng mit topographischen Dimensionen ver‐ schaltet sind. Carsten Gansel be‐ handelt ebenfalls die Frage nach dem erzählerischen Modus erinnerter Kindheit(en) und stellt erneut sein umfassendes Modell zur Einteilung dieser verschiedenen narrativen Kon‐ struktionen vor. Wünschenswert wäre eine deutlichere Fokussierung auf räumliche Aspekte gewesen, die hier zugunsten der Gedächtnistheorie aus‐ gespart wurden. Dass die Symbiose beider Ansätze fruchtbar sein kann, bleibt so nur zu erahnen, deutet sich in Jenny Erpenbecks Beitrag aber per‐ manent an, wenn sie das Spannungs‐ feld von Erinnerung und Raum thematisiert: Es waren Orte, die Landschaften waren, mitten in der Stadt. Spät erst habe ich verstanden, dass auch das, was meinem kindlichen Blick ver‐ traut war, in Wahrheit eine zer‐ störte andere Zeit war, die der neuen im Hals steckt, bevor sie end‐ lich ausgespuckt werden kann. (34) Den medialen Aspekt erinnerter Kindheit(slandschaften) reflektieren die beiden letzten Beiträge der ersten Sektion. Barbara Piatti diskutiert das Potenzial literaturkartographischer Verfahren für die Textanalyse und stellt insbesondere die Funktion soge‐ nannter „projizierter Orte“ heraus. Die ausdrückliche Medialität von er‐ innerten Kindheiten beleuchtet Ingrid Tomkowiak und zeigt, wie sich diese vor allem mit Lektüreerinnerungen analogisieren, wenn Text‐, Bild, Film‐ und/oder Musikfragmente im Beispiel von Umberto Ecos Die 149 INTERJULI 01 I 2015 geheimnisvolle Flamme der Königin Loana zu einem virtuellen Kindheitsraum verschmelzen. Explizite Handlungsräume der Kindheit analysieren die Artikel des zweiten Kapitels „Himmel & Hölle“, die von einem bebilderten Essay von Hubert Sowa eingeleitet werden und zunächst verschiedene Kindheitsorte, vom Schulhof bis zum Baumhaus – im doppelten Sinne des Wortes – zeigen. Caroline Merkel vermisst die Vorstadt als spezifische topographische Kon‐ stante des Erzählens von Jugend und stellt sehr überzeugend heraus, wie dieser vermeintlich uniforme und nicht‐identitätsstiftende Raum über verschiedene Textverfahren und Prak‐ tiken der Bewegung von jugendlichen Akteuren angeeignet und mit eigener Geschichte befüllt wird. Der räumliche Fokus verengt sich im Beitrag von Heidi Lexe und fokus‐ siert auf hervorragende Art und Weise die Mikroebene des Kinderzimmers. Die damit einhergehenden narrativen Strategien der Territorialisierung – die von Lexe in verschiedene Konzepte der Topographieforschung eingebettet werden – zeigen, dass mit dem Kin‐ derzimmer verschiedene Schwellen‐ übertritte verbunden sind und die Zu‐ und Ausgänge Entwicklungen spie‐ geln, aber auch die Verbindung zur Familie unterstreichen und spätestens in der Jugend mit ausdrücklichen Ablösungsprozessen einhergehen. Einem virtuellen Raum der Kind‐ heit widmet sich Matthis Kepser, der anhand einer umfassenden Genealo‐ gie des Computer‐ und Videospiels die vielschichtigen topographischen und topologischen Ebenen des Gegen‐ stands andeutet und zu Recht für eine weitere und umfassendere Untersu‐ chung plädiert, die diese Erkenntnisse auch für didaktische Überlegungen fruchtbar macht. Solchen explizit päd‐ agogisch‐didaktischen Raumprakti‐ ken gehen die drei folgenden Beiträge nach: Nikola von Merveldt diskutiert die philanthropische Anschauungs‐ pädagogik, die eng mit spezifischen Erziehungsräumen verschaltet ist. Den Spezialraum des Kindergartens vermisst Roswitha Staege im Hinblick auf Ordnungen und raumbezogene Praktiken und Rüdiger Vogt unter‐ sucht in einer doppelten Perspektive – linguistisch und literaturwissenschaft‐ lich – den sozialen und hierarchischen Raum der Schule. Den Abschluss des Kapitels bilden zwei Beiträge, die sich den interkultu‐ rellen Implikationen von Räumen widmen: Jan Hollm verfolgt die Frage, wie der große internationale Erfolg englischsprachiger KJL zu erklären sei, und macht dafür spezielle topo‐ graphisch‐narrative Dimensionen aus, 150 REZENSIONEN/REVIEWS die als Folie für Exotik und Fremdheit gelesen werden können. Hybride (inter)kulturelle Identitäten und deren narrative Realisierung untersucht Ju‐ dita Kanjo und zeigt an verschiedenen Beispielen, dass insbesondere Kind‐ heit und kindliche Protagonisten häufig für gelungene kulturelle Austauschprozesse idealisiert werden. Die dritte und letzte Sektion wendet sich verschiedenen imaginären Kind‐ heitswelten zu, die dabei nicht nur Di‐ mensionen der Fantastik streifen, sondern auch realistisches Erzählen und verschiedene Textverfahren der Weltenerzeugung beleuchten. Zum Auftakt analysiert Monika Schmitz‐ Emans das enge Verhältnis von Kind‐ heit, Orten und Autobiographie im Werk von Jean Paul, das sich im perma‐ nenten Spannungsfeld von Mikro‐ und Makrowelten bewegt. Als ein zentrales Moment macht sie dabei die Prozesse der Selbstbespiegelung vom Großen im Kleinen aus, was sich sowohl in der histoire als auch im discours auf verschiedenen Ebene nachweisen lässt. Den künstlerisch‐praktischen Erin‐ nerungsarbeiten an Kindheit widmet sich Gundel Mattenklott, die in einem ersten Schritt die Funktion kindlicher Spiel‐ und Imaginationsräume ver‐ misst. Davon ausgehend stellt sie Arbeiten von Studierenden vor, die sich an verschiedenen Stufen von Topographien der Erinnerung reflexiv abarbeiten und sowohl die zentra‐ le Funktion von kindlichen Spielräu‐ men zeigen als auch die Prozesse von Erinnerungsleistungen reflektieren. Ulf Abraham widmet sich Raum‐ konzepten fantastischer KJL und kommt zu den wenig überraschenden Ergebnissen, die die symbolische Auf‐ ladung, die Bewegung durch und die Verhandlung von Räumen als Spiegel und Ventil kindlicher und jugendli‐ cher Entwicklungsprozesse festma‐ chen. Stefan Tetzlaff kann hingegen sehr überzeugend zeigen, wie Fou‐ caults Konzept der Heterotopie als li‐ terarisches Textverfahren in den Romanen Zoë Jennys zum Einsatz kommt und welche Funktionen damit einhergehen. Der heterotope Raum zeigt sich hier als Versuch, ro‐ mantische Raumlogiken und Textu‐ ren aufzugreifen, die sich aber im rea‐ listischen Setting als nicht tragfähig erweisen und das Vorhaben, eine Heterotopie im Normalraum zu installieren, scheitern lassen. Dem Glück im Überfluss geht Ute Dettmar nach und untersucht in ihrem dichten und anschaulichen Beitrag das Motiv des Schlaraffenlandes in seinen kinderliterarischen Formen aus einer diachronen Perspektive. Die mit dem Raum des Schlaraffenlandes verbun‐ denen sozio‐kulturellen Implikationen 151 INTERJULI 01 I 2015 werden in die jeweiligen historischen Kontexte eingebettet und verbunden mit einem Blick auf die verschiedenen Fortschreibungen, die detailliert bis zu Walter Moers Blaubär‐Roman verfolgt werden. Gabriele von Glasenapp un‐ tersucht die Raumfunktionen von „fer‐ nen Orten“ in der Jugendliteratur an drei Beispielen aus verschiedenen Zeit‐ räumen. Dabei kann sie einleuchtend sowohl die topographischen Konstruk‐ tionen und ihre Analogien und Diffe‐ renzen in einer diachronen Perspektive nachzeichnen als auch die damit ein‐ hergehenden Konzepte von Jugend darlegen. Den Abschluss des Bandes bildet der Beitrag von Toni Tholen, der sich ebenfalls der Phase der Jugend widmet und dabei insbesondere auf den aktuellen Adoleszenzroman fokus‐ siert. In der Verbindung zu „üblen Orten“ werden dabei verschiedene ge‐ schlechtlich codierte Prozesse der Be‐ wegung in und Auseinandersetzung mit Raum sichtbar, die einen wesentli‐ chen Teil der Subjektivierung und Identitätsentwicklung ausmachen. Der vorliegende Band leistet somit einen wichtigen und fundierten Bei‐ trag zur Erforschung der KJL aus topo‐ graphischer Perspektive und spannt ein weites Panorama an Einschreibungen, Diskursen und Motiven, die mit Raum verbunden sind, auf. Wie bereits die Überschriften und der Titel andeuten, liegt der deutliche Schwerpunkt der Untersuchungen jedoch auf den Beset‐ zungen und Formen von Kindheitsräu‐ men. Daran anknüpfende Forschung könnte nun vor allem auch die Bedeu‐ tungen, Funktionen und Verbindun‐ gen von der räumlichen Dimension und Konstruktionen von Jugend be‐ leuchten – wie es in einigen Beiträgen auch schon anklingt. Insgesamt wird aber sichtbar, wie ergiebig die Ausein‐ andersetzung mit und die Untersu‐ chung von Raum in der KJL sein kann, und der Band liefert somit hoffentlich neue Impulse für weitere Analysen. Anna Stemmann Wickham Clayton/Sarah Harman (eds.). Screening Twilight: Critical Ap‐ proaches to a Cinematic Phenomenon. London: I.B. Tauris, 2014. 152 REZENSIONEN/REVIEWS Those who pick up Clayton and Har‐ man’s 215+ page anthology might be somewhat bewildered. Those who like to start at the end might raise an eyebrow at the dustcover endorse‐ ments, which were both penned by Harman and Clayton’s own col‐ leagues. Those starting at the begin‐ ning might be struck by the surprisingly defensive tone of the in‐ troductory sections. From the fore‐ word by Natalie Wilson (‘Seduced by Twilight’, 2011) to the introduction it‐ self, the authors go out of their way to show that Twilight is a phenome‐ non worthy of analysis. We learn of brown paper bags used to disguise editions of Breaking Dawn, of secret movie nights held away from the prying eyes and ridiculing sneers of the department. And so the authors have set out to make a point: that analysing Twilight is nothing to be ashamed of. Though considering their own departments’ praises and the growing mounds of secondary Twilight literature, one might won‐ der whether this was a point that truly needed making. Regardless of the editors’ position, Screening Twilight’s fifteen articles are well worth reading in their own right. The first section on ‘Genre and Recep‐ tion’ opens with an essay by Francesca Haig (11–25). While she shares the editors’ defensive tone (the aforemen‐ tioned paper bag was hers), Haig also explains the phenomenon of “snark”, an often‐overlooked area of fandom which unites criticism and devotion, in this case to Twilight, and which allows for a mode of expression for critical fans. Those still wondering about the de‐ gree of defensiveness in the texts are not the only ones who may find Mark Jan‐ covich’s article (26–39) illuminating, in which he deals with the barely sublimi‐ nal chauvinism evident in the British media’s reaction to the Twilight film saga. Having read Jancovich’s analysis of the underlying gender bias that in‐ forms the various criticisms, one might at least understand how those interested in the series might be on the defensive. After these first two articles, Nia Edwards‐Behi’s contribution (40–48) poses something of a disappointment. Her analysis of Twilight reception on horror film websites such as bloody‐ disgusting.com seems both formulaic and unsatisfying. While it is not hard to accept her thesis that there is a con‐ nection between masculine stereotyp‐ ical thinking in the horror genre and the antagonism its fans direct at Twi‐ light, her analysis remains somewhat superficial and extremely short. Screening Twilight editor Sarah Har‐ man’s own article (49–56) is similarly 153 INTERJULI 01 I 2015 brief, but more concise. She draws a line between the hysterical con‐ sumerism of Twilight and its deriva‐ tives as well as its critical and often misogynistic derision by the media, and forerunner‐phenomena such as the Beatles hype of the 1960s. Harman attributes this to capitalist con‐ sumerism by which women are re‐ quired to adapt and distinguish themselves within modern society. While the first section deals with Twilight’s reception within a patriar‐ chal system, the second section on ‘Creating and Subverting the Generic Myth’ examines Twilight’s textual roots: Judith Kohlenberger (59–73) analyses the parallels between Twi‐ light and 19th century sentimental women’s fiction. From her article we learn that Stephenie Meyer and her 19th century counterparts share not only a narrative structure, but were also the focus of similar chauvinist criticism. Caroline Ruddell (74–85) meanwhile explores the similarities between Twilight and fairy‐tales, as well as its use of ambivalent Gothic el‐ ements. Comparing it to other modern fairy‐tale adaptations (such as Carter’s Company of Wolves, 1979), she shows how Twilight takes on a clearly gender‐ affirming role and lacks the subver‐ siveness of its modern fairy‐tale brethren. In the last genre‐themed analysis, volume editor Wickham Clayton (86– 94) dissects the cinematic rendition of Edward’s absence in Jeff Weitz’ film adaptation of New Moon. Clayton re‐ mains the only author in the volume to specifically analyse cinematic means of narration, and therefore might be worth reading just on ac‐ count of that; however, his results are equally interesting, especially regard‐ ing his insights into Bella’s character. Conservative readers looking for “traditional” readings amongst the sections on media reception and genre analyses will be happy to find that part three, ‘Sexual Dysfunction and Sexuality’ offers just that: Ruth O’Don‐ nell (97–113) opens the section with a refreshingly psychoanalytical reading of Twilight’s orality. Her findings are likely to convince even non‐Freudians, and her reading of Bella’s maternal is‐ sues is both harmonious and disturb‐ ing in the way that only psycho‐ analysis can be. Marion Rana’s article (114–127) explores the driving force between the Twilight protagonists’ ab‐ stinence and their suppressed desire. Rana aligns this grey area of sexual tension between Edward and Bella not only with known SM dynamics, but also with the teenage angst which Twi‐ light’s target demographic is all too fa‐ miliar with, and thus lays a finger on 154 REZENSIONEN/REVIEWS the key dynamic of Twilight’s narrative and selling power. Mark R. Adams (128–136) seam‐ lessly continues Rana’s analysis of this masochistic subcurrent in the Twilight romance by analysing the ambiguous straits of deviancy and conservative sexual power structures, which Bella and Edward navigate. Adams points out that the text’s underlying masochistic power structures might be neither empowering nor disenfran‐ chising, but are inherently ambivalent. From sexuality, the volume moves on to politics: In part four, ‘The Poli‐ tics of Pallor’, Simon Bacon (139–150) argues that the Cullens’ representa‐ tion of a white upper‐class family in fact represents a subversion of that said ideal. While this in itself is con‐ vincing, Bacon’s article omits whether this is an intentional pastiche (which, considering Meyer’s background, would require some explanation), and if not, what kind of subversion we are dealing with exactly. Ewan Kirkland’s analysis (151–163) is more specific; Kirkland delineates how the vampire has moved from being a minority like the pseudo‐Jew‐ ish Dracula to becoming Blade and Twilight’s modern “white” vampire who is a member of the privileged white upper class. For Kirkland, this representation is so similar to its model that it reflects the latter’s weak‐ nesses right down to sexual insecurity and (self)control, indeed “queerness”, which to Kirkland are all symptomatic of the white condition. This „queerness“ in Twilight’s sub‐ text is subjected to further analysis by Justin Hunt (164–170), whose results are particularly interesting for their focus on the olfactory. For Hunt, Bella’s scent is both medium and symbol of her boundary crossings, between vam‐ pires and werewolves, sexual order and “queerness”. Scent thus goes be‐ yond being a metaphor for attractive‐ ness and enticement to becoming a challenge to existing structures. While the previous sections (media reception, genre, sexuality and norma‐ tivity) are general staples of media studies, the final section, ‘Deviating Fandom and Rewriting the Text’, pres‐ ents an excursion into the realm of fan‐ fiction. Brigid Cherry (174–186) presents the results from the inter‐ views she conducted with authors of AH (all‐human) fanfiction, who trans‐ late characters from the fantastical Twi‐ light universe into mundane settings. This adaptation allows the authors to take control of the protagonists by hav‐ ing them face real‐world problems, which the authors themselves are familiar with – thus adding to the empowering function of fanfiction. 155 INTERJULI 01 I 2015 In the volume’s last article (187–204), Bethan Jones casts light upon the recon‐ structive power of fanfiction, which al‐ lows female authors to transcend the gender norms of patriarchal structures by writing otherwise heterosexual char‐ acters into homosexual (“slash”) rela‐ tionships. In the case of Twilight – if we follow Jones’ reasoning – this allows for a particularly feminine reconstruction and subversion of Stephenie Meyer’s more conservative subtext. If it was ever necessary to prove the legitimacy of Twilight‐studies, Screen‐ ing Twilight does just that. Covering a wide range of academic fields from es‐ tablished areas of study to relative newcomers, the anthology shows that Twilight provides rich findings for al‐ most any interest. What the collection does not provide, despite its title, is ac‐ tual cinematic analysis, with Clayton’s article being the only exception. Nev‐ ertheless, from a literary and culture studies viewpoint, the articles make excellent material for Twilight scholars. Editors and authors alike have done a great job at compiling and cross‐refer‐ encing the articles so that they often continue and extend each other’s in‐ quiries, making for pleasurable as well as informative reading. In fact, one of the few things worth skipping in the volume is the tone of injured pride that resounds within the opening chapters and some of the ar‐ ticles. The idea that Twilight studies are an academic pariah is laughable, especially considering that most of the authors in the volume have written on Twilight in other publications. Maybe this is simply rhetorical attention‐ seeking. Maybe it also stems from per‐ sonal interests under incessant attack in the public forum. In either case, the attempts at heroising Twilight scholar‐ ship are as unnecessary as they are ironic given their subject of expertise: Just as the saga heroises Bella’s devo‐ tion to Edward, some of the writers seem to be trying to make their devo‐ tion to Twilight into an act of defiance. Whereas, regardless of whether we agree with them or not, we can be quite sure that neither ever needed defending in the first place. Daniel Scott Marian Thérèse Keyes/Áine McGilli‐ cuddy (eds.). POLITICS AND IDE‐ OLOGY IN CHILDREN’S LITE‐ RATURE. Dublin: Fourt Courts Press, 2014. 191 pp. Politics and Ideology in Children’s Literature, edited by Marian Thérèse Keyes and Áine McGillicuddy, is the seventh volume in the Studies in Children’s Literature series from Four Courts Press. The chapters within this volume are divided into 156 REZENSIONEN/REVIEWS four sections: ideology and subver‐ sion; utopias and dystopias; experi‐ ences of war and exile; and gender politics. Subversion and ideology are the two main themes that run through‐ out these individual sections. A range of theoretical approaches and genres are considered. There are contribu‐ tions from established and emerging scholars from the international children’s literature community. The editors begin the volume with a concise introduction to the adult/child power dichotomy that is embedded in children’s literature, drawing on scholars such as Jacqueline Rose, Perry Nodelman, and Kimberly Reynolds. Keyes and McGillicuddy argue that an examination of ideology and subver‐ sion in children’s fiction is essential, especially because children’s literature has the potential to subvert or promote particular political or ideological messages and it can transmit cultural or social val‐ ues, often at critical junctures in history or in different social or geographical contexts. (12) Each of the chapters in this volume successfully illustrates the power of children’s texts to engage in such discussions. Beginning with an explication of the adult/child reader power dynamic the authors set the stage for the chap‐ ters that follow. It is clear from the out‐ set that the main goal of this volume is to highlight the various ways in which politics and ideology shape the con‐ struction of children’s literature, both implicitly and explicitly, and how “adult ideologies can imbue children’s with powerful philosophical mindsets” (19). Missing from their introduction, I felt, was a more explicit statement of how this volume contributes to a gap in the literature that already exists on politically charged ideologies in chil‐ dren’s literature. While I do think their contribution is unique, a more explicit indication of where the editors envis‐ age their volume as sitting within the current children’s literature criticism would have been helpful. Clémentine Beauvais’ opening chapter convincingly argues that 157 INTERJULI 01 I 2015 politically transformative picture‐ books require a certain analytical framework. She argues that children’s texts promote political action on a mi‐ crocosmic or macrocosmic level, de‐ pending on the scope of change that is encouraged by the work and/or en‐ acted by the narrator. Using two polit‐ ically charged picturebooks she illustrates this framework using a close textual analysis. The Spanish pic‐ turebook Y yo qué puedo hacer? (trans‐ lated as ‘And what can I do?’) encourages change on a microcosmic level; the narrator is an existentialist individual who is concerned with the tensions between meaning and mean‐ inglessness. The child reader is thus left with the idea that “in order to act authentically, [one] has to build one‐ self and one’s values from nothing” and that “this is no guarantee of ever finding an ultimate meaning in these relationships” (25). At the other end of the spectrum, Beauvais places the French picturebook Révolution, which promotes action on a macrocosmic level (such as the city or the nation). Eithne O’Connell’s chapter on eco‐ criticism, ecopedagogy, and Beatrix Potter differs greatly from Beauvais’ approach, not only thematically, but also methodologically. While Beau‐ vais’ chapter provides a close analysis of two picturebooks to situate her thesis, O’Connell provides the reader with a more theoretical overview of the role of ecocriticism and ecopeda‐ gogy to the study of children’s texts. This is not to say that Beauvais’ chap‐ ter is not strongly grounded in criti‐ cism — it clearly is. While O’Connell uses Potter’s texts and biographical details to ground her discussion of these approaches, her chapter takes a wider approach than Beauvais’ analy‐ sis. As I read this edited volume in the order that the chapters appear, it was refreshing to have a mix of text‐based and theory‐driven contributions. O’Con‐ nell provides an overview of ecocriti‐ cism as a literary theory, drawing on key theorists and movements. To illus‐ trate first‐wave and second‐wave ecocriticism, she pauses briefly to con‐ sider Potter’s texts in light of these shifts in thinking. Although O’Con‐ nell’s overview of ecocriticism was succinct and clear, especially for a reader with no previous engagement with this theory, her section on ecope‐ dagogy (specifically ecocomposition and ecofeminism) is a unique contri‐ bution. Various children’s literature scholars have written about ecocritical approaches to children’s literature, while ecopedagogy is underrepre‐ sented. O’Connell provides a detailed, engaging overview of these areas of focus, drawing specifically on Greta 158 REZENSIONEN/REVIEWS Gaard’s six boundary conditions for an ecopedagogical analysis of chil‐ dren’s environmental literature. Gaard’s framework works exception‐ ally well alongside O’Connell’s analy‐ sis of Potter’s work. It is interesting for the reader to then arrive at Victoria de Rijke’s chapter on fairy tales, where Foucault’s The Birth of Biopoli‐ tics is applied to animal characters. This richly theoretical subsection is concluded with Olga Springer’s chap‐ ter on ideology and subversion in Edward Lear’s limericks, drawing on Bakhtin’s conceptualization of the carnivalesque. The second subsection in this vol‐ ume focuses on dystopias in utopias in young adult fiction. Anne Marie Her‐ ron traces the work of Irish author Eilís Dillon, whose texts focus on themes such as Irish citizenship, na‐ tionalism, and young people. Herron’s chapter provides an overview of Dil‐ lon’s texts, commenting on the ways in which culture and tradition are trans‐ mitted to young readers (particularly Irish readers) through fiction. Yet again, there is a very natural progres‐ sion from Herron’s chapter into the following chapter, written by Ciara Ní Bhroin. Similar themes are in focus — national identity, migration, and home‐coming, Ireland — but Bhroin provides a closer textual analysis, which works well alongside Herron’s broader approach. The chapters are similar, however, in that both Herron and Bhroin provide significant con‐ textual information about the author, which helps to situate the discus‐ sions of national identity and migra‐ tion. Bhroin makes an interesting connection between author O. R. Melling’s textual construction of mi‐ gration and her own ties to Canada and Ireland. Susan Tan’s analysis of Susanne Collins’ The Hunger Games dystopian trilogy focuses on the ways in which these texts allude to historical events that take place in the United States. She argues that dystopian texts, such as The Hunger Games, “point to the need to interrogate contemporary vi‐ sions of ourselves — contemporary narratives of action, history, and space” (102). Such texts exist to “pre‐ sent readers with a vision of past and future selves, refusing to forget or gloss over the evils that dwell in American history” (2014, 103). Tan’s chapter complements the themes pre‐ sented in the previous two chapters, but her focus on contemporary texts, in a dystopian, contemporary Ameri‐ can setting, adds a particularly rich new thread to the overarching theme of nation and ideology presented in the previous two chapters. 159 INTERJULI 01 I 2015 Tan’s focus on war and nation leads well into the final subsection of this volume, ‘war and exile’. Elizabeth Galway’s opening chapter considers the construction of the child in First World War children’s literature. Drawing on First World War Ameri‐ can and British periodicals for young readers, she focuses on three different representations of the child: the sol‐ dier, the victim, and the peacemaker. In each example, the child and child‐ hood is represented in complex ways. As such, Galway argues that the child reader is presented with “representa‐ tions of the child figure that extended far beyond simple notions of child‐ hood innocence or obedience” (114). In doing so, children are envisaged as having the power to “change the po‐ litical landscape” (ibid.). The final two chapters on war and exile focus on fas‐ cist Italian children’s literature, and Nazi Germany. As in the previous two subsections, there is a diverse range of texts, contexts, and constructions of childhood that are presented to the reader. While Galway’s text incorpo‐ rates an analysis of periodicals for young readers, D’Eath’s texts focuses on children’s propoganda novels that illustrate particular social, political, and historical contexts of the 1930s. McGillicuddy’s chapter focuses on Ju‐ dith Kerr’s autobiography that recalls her experiences as a Jewish child refugee. Although similar themes run consistently throughout these chapters, various text‐types and per‐ spectives are approached, providing the reader with a wide‐angled, rich overview of war and exile in children’s fiction. Touching on nineteenth‐century publications, a 2009 adaptation of Bluebeard, and contemporary vampire literature, the contributors to the final subsection of this volume reflect on the theme of gender politics from a va‐ riety of perspectives. Marian Thérèse Keyes’ essay focuses on the paratex‐ tual elements of Anna Maria Fielding Hall’s publications, such as the bind‐ ings, frontispieces, and title‐page vi‐ gnettes, and publishers’ advertise‐ ments. Drawing on Gerard Genette’s theorization of paratextual analysis, Keyes argues that Hall’s use of the vi‐ sual and verbal components of her texts inevitably worked to “persuade, inform and entertain” (156) her read‐ ership. In focusing on the visual text, Keyes’ chapter aligns with the asser‐ tions made by other contributors within this volume, namely Beauvais and Galway. The final two chapters of this volume focus on violence, abuse, and rape. Marion Rana’s concluding chapter provides a succinct, clearly‐ structured analysis of various rape 160 REZENSIONEN/REVIEWS myths that are presented in contempo‐ rary young adult fiction, such as Twilligt and Vampire diaries. Rana ar‐ gues that these rape myths are em‐ ployed to, in many ways, justify sexual violence, and to perpetuate tradi‐ tional, sexualized gender roles. She sit‐ uates and structures her thesis within a wider deconstruction of rape and sexual violence, as defined by Martha R. Burt. Rana’s chapter, in focusing on contemporary texts and current issues (gender, the representation and sexual exploitation of women, etc.), was an excellent chapter to end the volume with. As a reader, I appreciated the vol‐ ume’s organization: there was a clear line of argument that held the five sec‐ tions together cohesively. Although the individual authors varied exten‐ sively in their use of text‐types and theoretical approaches, it was clear that the editors successfully found ways of drawing the themes together. What impressed me were the number and variety of voices and text‐types that converged. Its multicultural, global approach made it particularly unique. Various theoretical ap‐ proaches were employed, enabling the reader to question the intersections be‐ tween childhood, politics, ideology, and texts from a range of interesting and challenging perspectives. I would recommend this text to literary schol‐ ars, particularly those who are inter‐ ested in national identity, construc‐ tions of childhood, or contemporary issues in children’s and young adult fiction. With that said, the range of genres, text‐types, and issues covered in this volume makes it accessible and of interest to a multidisciplinary readership. Erin Spring 161