Muss jedes Kind schulfähig sein oder die Schule kindfähig?

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Muss jedes Kind schulfähig sein oder die Schule kindfähig?
Schulanfang:
Muss jedes Kind schulfähig sein oder die Schule kindfähig?
Auszug aus dem Beitrag von Horst Bartnitzky
In Grundschule aktuell Nr. 15, September 2011, Seite 13 - 17
Janine kann bei ihrer Einschulung zwar Buchstaben nachmalen, aber eine
Beziehung zu Lauten ist ihr fremd. Überhaupt: Ihr fehlt die Wahrnehmung, dass
Sprache aus lautlichen Einheiten besteht. Es fehlt ihr die „phonologische
Bewusstheit“, wie es in der Fachliteratur heißt. Die aber ist eine wichtige
Bedingung für den Erwerb der Schriftsprache.
Was also ist zu tun?
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Ist Janine vielleicht noch nicht entwickelt genug für die schulischen
Anforderungen und sollte deshalb vom Schulbesuch noch ein Jahr
zurückgestellt werden?
Ist hier der Kindergarten in der Pflicht, solche „Vorläuferfähigkeiten“, wie es in
der Literatur heißt, zu schulen, etwa durch Reime und Sprachspiele?
Muss die Schule das Fehlende durch „gezielte Förderung“ ausgleichen, früher
in Schulkindergärten oder Vorklassen, in die Kinder eingeschult wurden,
heute eher in Lernstudios oder in Förderstunden, zusätzlich zum regulären
Unterricht?
Können die Kinder solche Teilfähigkeiten in einer anregungsreichen
Lernumgebung der Eingangsklasse auch integrativ erwerben? Aber was heißt
dann „anregungsreiche Lernumgebung“?
Müssen sich Kitas und Schulen auf ein Bildungsprogramm verständigen, das
auch den Schriftspracherwerb einschließt? Sollen Kinder in den Kitas ihre
ersten Schritte in die Schrift auch gehen können, durch kompetente
Lernbegleitung ermutigt und unterstützt?
Hinter diesen Fragen stecken unterschiedliche Konzepte und
Organisationsformen, mit deren Hilfe auch Kinder wie Janine erfolgreich lernen
sollen. Jedes dieser Konzepte ist von einem spezifischen Blick auf die Schule und
auf die Kinder bestimmt:
Der Blick von der Schule auf die Kinder:
Setzt die Schule ein bestimmtes Anforderungsprofil an alle Schulanfänger voraus,
dann müssen die geforderten Fähigkeiten und Fertigkeiten zuvor erworben sein.
Eine Möglichkeit
dazu ist, die notwendigen Fähigkeiten zu identifizieren und sie als
„Vorläuferfähigkeiten“ vorschulisch zu entwickeln. Eine andere ist die „gezielte
Förderung“ in den ersten Wochen der Schulzeit. Die entscheidende Frage zum
Schulstart lautet hier: Sind die Kinder fähig für die Schule?
Anders beim Blick von den Kindern auf die Schule:
Die Schule akzeptiert die Verschiedenheit der Kinder und entwickelt eine
integrative Pädagogik der Vielfalt und Gemeinsamkeit in einer anregungsreichen
Lernumgebung. Konsequenter über den Tellerrand der Institution Schule hinaus
gedacht: Es wird ein gemeinsames Bildungsprogramm für den Elementar- und
Primarbereich erstellt, ohne für den Zeitpunkt des Schuleintritts eine Schwelle
einzubauen. Die entscheidende Frage beim Schulstart lautet hier: Ist die Schule
fähig für die unterschiedlichen Kinder?
Schon 1999 hatte Sigrun Richter diese verschiedenen Sichtweisen auf Kind und
Schule mit der Alternative formuliert: „Schulfähigkeit des Kinder oder
Kindfähigkeit der Schule?“ (Richter 1999).
In diesen Zusammenhängen geistert immer noch ein dritter Begriff in der
Schullandschaft: die „Schulreife“.
Ich gehe im Folgenden diesen verschiedenen Begriffe und dem damit jeweils
verbundenen Bild vom Kind und von der Schule nach. Am Ende soll eine
Perspektive für die weitere Entwicklung stehen.