Zur Wahrheit am Krankenbett

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Zur Wahrheit am Krankenbett
Philosophicum
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Zur Wahrheit am Krankenbett
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M. Schmidt, Würzburg
Was ist Wahrheit?
Platons Auffassung von Wahrheit (das wahrhaft
Seiende) kommt in seinen Schriften mehr oder weniger
versteckt zum Anklang; endgültig hat er sich nicht
schriftlich dazu geäußert, wohl weil er immer Bedenken
hatte, missverstanden zu werden. Die Erkenntnis der
Wahrheit schildert er aber als hoch emotionales Ereignis
in seinem Siebten Brief: „Von mir wenigstens gibt es
keine Schrift darüber und es wird auch sicher nie eine
geben; denn das lässt sich nicht in Worte fassen wie
andere Wissenschaften, sondern … in ständigem Bemühen um das Problem … entsteht es plötzlich wie ein
Licht, das von einem springendem Funken entfacht wird,
in der Seele und nährt sich dann weiter.“ Die Weitergabe
an Unwissende hält er für nutzlos oder sogar gefährlich.
Die Wissenden aber „… wären imstande, auf Grund
einer kurzen Anleitung selbst die Sache zu finden…“,
sie bräuchten nichts Schriftliches. Sein Schüler Aristoteles hat eine Auffassung von Wahrheit auf der reinen Tatsachenebene: "Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht
oder das Nichtseiende sei, ist falsch. Dagegen zu sagen,
das Seiende sei und das Nichtseiende sei nicht, ist wahr“
(Metaphysik). Wenn wir die Wahrheit nicht erkennen
können, behelfen wir uns mit Wahrscheinlichkeit: "Das
Wahrscheinliche zu treffen heißt in der Mehrzahl der
Fälle gleichviel wie die Wahrheit zu treffen" (Rhetorik).
Im Mittelalter beginnen neue Konzepte. Anselm von
Canterbury schreibt, Glaube allein genügt uns nicht, der
menschliche Verstand sucht nach Wahrheit ("credo ut
intelligam"). Die letzte Wahrheit liegt aber in Gott: Das,
worüber hinaus nicht gedacht werden kann (De
Veritate). Bei Thomas von Aquin kommt die subjektive
Auffassung hinzu: "...veritas consitit in adaequatione
intellectus et rei..." (Quaestiones disputatae de veritate).
Durch die Stellungnahme des Erkennenden, dass die
Sache so ist, entsteht erst ein wahres Urteil.
Wahrheitstheorien
Man kann Wahrheit auf verschiedenen Ebenen diskutieren2 Die erkenntnistheoretische Wahrheit beschreibt,
dass ein Sachverhalt richtig wiedergegeben wird. Die
ontologische Wahrheit sagt, dass ein Gegenstand oder
ein Zustand so ist, wie er seiner Natur nach sein soll.
Normative Wahrheit bedeutet, dass etwas Regeln entspricht. Zum Wortfeld gehören auch Wahrhaftigkeit und
Aufrichtigkeit; sie beschreiben die Haltung, nicht lügen
1
Dieser Text ist gedacht als Hilfe zum Nachdenken und Nachlesen der
Ideen großer Philosophen und als Anstiftung zum selbst Denken, ganz
im Sinne des römischen Dichters Horaz: „Sapere aude“ (habe den Mut,
deinen eigenen Verstand zu benutzen)!
2
L. Siep, 2000
zu wollen, sondern die Wahrheit zu sagen. Heute kann
man fünf Wahrheitstheorien formulieren:
a) die Korrespondenz-, Adäquations-Theorie: Eine
Aussage gibt die Wirklichkeit richtig wieder; das
Ausgesagte kommt in der Realität vor;
b) Die Kohärenz-Theorie: Wahr ist, was in einem
System von Sätzen widerspruchsfrei zusammen
passt;
c) Die Konsenstheorie: Wahr ist, worüber sich die
Fachleute geeinigt haben;
d) Die Pragmatische Theorie: Die Wahrheit hängt
davon ab, ob eine auf der Theorie beruhende Handlung erfolgreich war;
e) die Evidenz-, Gewissheits-Theorie: Wahr ist,
wovon ich selbst überzeugt bin.
Bei der Situation am Krankenbett kommen alle Wahrheitstheorien in wechselnden Anteilen zum Vorschein.
Von besonderer Bedeutung scheint die Haltung der
Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit zu sein.
Wie man sehen kann, spielt sich Wahrheit zwischen den
Menschen ab, im Dialog und im Versuch, den anderen
zu überzeugen. Die Haltung der Wahrhaftigkeit ist dabei
entscheidend. Außerdem ist die Wahrheit gekennzeichnet3 von:
(1) Objektivität und Sachlichkeit: Eine Aussage ist
wahr, wenn das, was behauptet wird, tatsächlich der
Fall ist - was offensichtlich und/oder einfach zu
überprüfen ist;
(2) Wahrhaftigheit und Treue: Erst Wahrhaftigkeit
befähigt zur Wahrheit. Der Adressat kann erkennen,
dass der Sprechende nichts anderes intendiert, als er
durch sein Wort bekundet. Er steht treu zu seinem
Wort;
(3) Dialogbereitschaft und Toleranz: Die wahre
Aussage appelliert an die Kenntnisnahme und
Zustimmung des Gegenübers. Sie soll von ihm
akzeptiert werden. Wahrheit kann aber nur in freier
Zustimmung ergriffen werden. Wahrheitssuche ist
deshalb ein permanenter Dialog;
(4) Gerechtigkeit und Wohlwollen: Durch Irreführung entsteht jemandem, der ein Anrecht auf die
Wahrheit hat, ein ungerechtfertigter Schaden (Ungerechtigkeit). Auch die „reine“ Wahrheit kann
Schaden anrichten; sie ist nur moralisch gerechtfertigt, wenn durch sie Gegenstand und Situation angemessen verkündet wird.
Die Ärzte und die Wahrheit
Unsere Patienten haben oft das Gefühl, wir würden
ihnen Wahrheit vorenthalten. Das hat eine lange Tradition. Im Corpus hippocraticum (De affectionibus, 5. - 4.
Jhd. v. Chr.) findet man: Ärzte sollen ernste Diagnosen
und Prognosen dem Patienten nicht mitteilen, da sich
dadurch der Gesundheitszustand zum Schlechten
wenden könnte. Johann Wolfgang von Goethe schreibt
im West-östlichen Divan (1819): „Wofür ich Allah
3
Bernard Williams, 2003
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Wintersemester 2014/15: Wahrheit am Krankenbett
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Philosophicum
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höchlichst danke?/ Daß er Leiden und Wissen getrennt./
Verzweifeln müsste jeder Kranke,/ Das Übel erkennend
wie der Arzt es kennt“. Sein Zeitgenosse und Arzt Christoph Wilhelm von Hufeland bemerkt im Enchiridion
medicum (1836): „Den Tod verkünden heißt den Tod
geben, und das kann, das darf nie ein Geschäft dessen
sein, der bloß da ist, um Leben zu verbreiten“. Rainer
Maria Rilke soll kurz vor seinem Tod (1926) zu seinem
Arzt gesagt haben: "Wie gut, lieber Freund, daß Sie
wissen, was es ist, und ich doch sicher bin, daß Sie es
mir nicht sagen." Der Philosoph Franz Rosenzweig
wird nach Viktor von Weizsäcker zitiert (1986): „Ich
frage meine Ärzte nicht, denn ich will nicht, daß sie
lügen“.
(3) Wir beantworten nicht gestellte Frage nicht, um
den Patienten nicht zu überfordern;
(4) wir geben einen Ausblick auf Hoffnung, zwar
nicht unbedingt auf Heilung, aber z.B. auf erreichbare Ereignisse (Familienfeste, Reisen etc...);
(5) wir bieten eine Begleitung für die letzte Wegstrecke an4.
Dabei ist zu beachten: Das Gespräch mit dem Patienten
hat eine sachliche Komponente [Richtigkeit]. Der Patient versucht auf einer kognitiven Ebene, die Befunde zu
verstehen. Immer unterschätzt wird aber die emotionale
Komponente (verbal & non-verbal): Der Patient sucht
Zwischentöne und Hintergrundsignale, um die Glaubwürdigkeit des Arztes zu erfassen [Wahrhaftigkeit].
Qui nescit simulare nescit curare: Müssen Ärzte
lügen können?
Angesichts der menschlichen Begrenztheit, Wahrheit
überhaupt zu erkennen und deshalb auch Diagnosen
sicher stellen zu können, angesichts der Schwierigkeiten
menschlicher Kommunikation und angesichts unserer
Unfähigkeit, sicher zu prognostizieren, steht es einem
Arzt gut an, vorsichtig mit der Wahrheit am Krankenbett
umzugehen. Wir sollten dabei jederzeit Max Frisch
beherzigen: "Man sollte dem Anderen die Wahrheit wie
einen Mantel hinhalten, daß er hineinschlüpfen kann,
und sie ihm nicht wie einen nassen Lappen um die
Ohren schlagen."
Wer die Wahrheit besitzt, hat endgültiges und vollständiges Wissen. Das trifft auf Krankheit nie zu, denn Krankheit ist ein individueller und variabler Prozess. Die Tatsachen (Befunde) darüber hängen am oft überraschenden
Krankheitsverlauf und ändern sich somit ständig. Unsere
Erkenntnis über eine Erkrankung bleibt also relativ.
Unsere Diagnosen sind zwar durch Befunde abgesichert,
aber nie zu 100%. Wir haben immer nur wahrscheinlich
sichere Grundlagen für unsere Indikationen. In dieser
unsicheren Situation ziehen wir Analogschlüsse zu
früheren, ähnlichen Krankheitsfällen (d.h. wir haben
Erfahrung) und, um uns abzusichern, berufen wir uns auf
wissenschaftliche Studien, Leitlinien oder Evidence
Based Medicine.
Hinderlich ist die Begrenztheit der Sprache. Wir übersetzen unsere Fachsprache in Bilder, die der Patient (hoffentlich) versteht und auf sich selbst beziehen kann. Wir
können uns dem Zeichenverständnis des Patienten nur
annähern. Eine vollständige und dauerhafte Übereinstimmung ist zwischen Menschen ja nie zu erreichen. Die
Patienten erwarten aber etwas völlig anderes: Was
benannt werden kann, verursacht weniger Angst als
etwas Namenloses. Der Name der Krankheit gibt ihm
Gewissheit, dass sie irgendwie behandelt werden kann.
Wenn die Krankheit einen Namen hat, kann er darüber
sprechen. Dennoch: Auf dieser unsicheren Basis unserer
Erkenntnis und bei allen Mitteilungshindernissen
müssen wir mit den Patienten über Therapieziele, Therapiewege und Prognosen sprechen und oft einschneidende und weitreichende Entscheidungen treffen.
Literatur (kleine Auswahl)
Anselm von Canterbury: Über die Wahrheit. Felix Meiner Verlag,
Hamburg 2001
Baile WF et al.: SPIKES - A six step protocol for delivering bad news:
application to the patient with cancer. The Oncologist 2000; 5: 302311
Baltzer et al.: Aufklärung zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit.
Gynäkologe 2009; 42: 590-594
Bollnow OF: Wahrhaftigkeit. Die Sammlung 1947; 2: 234-245
Hartmann F: Über die Wahrhaftigkeit des Arztes gegenüber Kranken.
Medizinische Klinik 1997; 92: 284-290
Janich P: Was ist Wahrheit? C.H.Beck, München, 2005
Laum HD: Wahrheit und Schweigen am Krankenbett. Medizin und
Ethik. Zentralblatt für Chirurgie 2000; 125: 920-925
Lutterbach J et al.: Qui nescit simulare nescit curare. Strahlentherapie
und Onkologie 2004; 180: 469-477
Richard C et al.: Therapeutic privilege: between the ethics of lying and
the practice of truth. J Med Ethics 2010: 36; 353-357
Salomon F: Wahrheit vermitteln am Krankenbett. Deutsche Medizinische Wochenschrift 2003; 128: 1307-1310
Schildmann J et al.: Nichts als die Wahrheit. Onkologe 2009; 15: 957963
Schockenhoff E: Zur Lüge verdammt? Herder, Freiburg, 2005
Siep L: Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der Philosophie. Zentralblatt
für Chirurgie 2000; 125: 926-930
Williams B: Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Suhrkamp, Frankfurt, 2003
Ist Wahrheit ein Kommunikationsproblem?
Eine Aufklärung über eine schlimme Krankheit sollte
immer ein stufenförmiger Prozess sein, bei dem der Patient das Tempo bestimmt (was bei der Zeitknappheit der
Ärzte ein Problem sein kann):
(1) Der Patient fragt, was er wissen will;
(2) alles was wir sagen, soll wahr sein; wir müssen
aber nicht sofort die volle Wahrheit sagen;
Autor
Prof. Dr. M. Schmidt, Medizinische Klinik und
Poliklinik I, Universitätsklinikum Würzburg
4
Eberhard Schockenhoff, 2005
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