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Download: Perspektive_ADHS_Ausg.5
PERSPEKTIVE
A D H S
Ausga b e
5/ 2 012
Am Runden Tisch
Wie viel Individualität
ist in der ADHS-Therapie
möglich?
Erfahrungsaustausch
in Hamm
Aktueller Tipp
Wie evaluiere ich, ob eine
Therapie erfolgreich ist?
Das Thema
Verringerung der Kernsymptome – und dann?
Kriterien einer adäquaten ADHS-Therapie
Titelbild gemalt von Nico, 11 Jahre
I N H A L T
E D I T O R I A L
Editorial...................................................................................... 3
Liebe Leserinnen und Leser,
Aktuelles aus der internationalen ADHS-Welt...........................4
Personalisierte Diagnostik und Therapie
Professor Dr. Dr. Tobias Banaschewski, Mannheim und
Professor Dr. Manfred Döpfner, Köln
Die Aussage „Jedes Kind ist individuell” können Sie
sicherlich bestätigen, wenn Sie an die Kinder denken,
denen Sie täglich in Ihrem Praxis- oder Klinikalltag be­­­
gegnen. Doch inwieweit können diagnostische und
therapeutische Maßnahmen auf die individuellen Be­­
din­gun­gen von ADHS-Patienten abgestimmt werden?
Ist eine individuelle Therapie oder personalisierte Medizin überhaupt möglich? Welche Kriterien bestimmen
eine adäquate ADHS-Therapie?
Aktuelles aus der Neurowissenschaft......................................... 6
Erholsamer Schlaf und gesunde Ernährung:
auch heute wichtig?
Professor Dr. Dieter Braus, Wiesbaden
Wissenswert und kommentiert.................................................. 7
Medikamentöse Therapie der ADHS –
Erwartungshaltung der Eltern
vorgestellt von Professor Dr. Andrea Ludolph, Ulm
Die aktuelle ADHS-Studie
vorgestellt von Professor Dr. Dr. Tobias Banaschewski, Mannheim
und Professor Dr. Jan Buitelaar, Nijmegen (Niederlande)
10
Verringerung der Kernsymptome – und dann?
Kriterien einer adäquaten ADHS-Therapie
Impressum
Herausgeber
Lilly Deutschland GmbH
Werner-Reimers-Straße 2-4
61352 Bad Homburg, www.lilly-pharma.de
Das Thema............................................................................... 10
Verringerung der Kernsymptome – und dann?
Kriterien einer adäquaten ADHS-Therapie
V.i.S.d.P.
Katja Preugschat, Lilly Deutschland GmbH
Leserservice/Medizinische Information
Lilly-Service-Center
Telefon: (061 72) 273-22 22
Telefax: (0800) 545 59 96
E-Mail: [email protected]
In der Diskussion.......................................................................14
Somatische Beschwerden bei ADHS –
ein oft übersehenes Problemfeld?
Stimmen aus der Region...........................................................16
Am Runden Tisch
Wie viel Individualität ist in der ADHS-Therapie möglich?
Erfahrungsaustausch in Hamm
Der individuelle Fall
Gelungene Ressourcenaktivierung im
multimodalen Therapiesetting
Aktueller Tipp
Wie evaluiere ich, ob eine Therapie erfolgreich ist?
16
Wie viel Individualität ist in der ADHS-Therapie möglich?
Erfahrungsaustausch in Hamm
Veranstaltungskalender............................................................ 22
Die nächsten Termine
Ausblick …
2
Layout
Mattner Concept & Design
60489 Frankfurt/Main
Redaktion
Fuhrmann & Schütz
Healthcare Public Relations GmbH & Co. KG
65189 Wiesbaden
Wissenschaftlicher Beirat
Prof. Dr. Dr. Banaschewski (Mannheim)
Prof. Dr. Dieter Braus (Wiesbaden)
Prof. Dr. Jan Buitelaar (Nijmegen,
Niederlande)
Prof. Dr. Manfred Döpfner (Köln)
Mitwirkende Experten dieser Ausgabe
PD Dr. Dr. Jan Frölich (Stuttgart), Prof.
Dr. Dr. Martin Holtmann (Hamm), Dr.
Wolfgang Kömen (Essen), Prof. Dr. Andrea
Ludolph (Ulm), Dr. Elke Marx-Ottmüller
(Dannenberg/Wendland), Dr. Andreas
Oberle (Stuttgart), Dr. Gerd Patjens (Osnabrück), Dr. Erhard Petrzik (Westerkappeln),
Dr. Theo Reiners (Viersen), Dipl.-Med.
Cornelia Stefan (Zwickau)
Veranstaltungen im Rückblick..................................................20
ADHS Update – Gegenwart und Zukunft: Stand der
deutschen Leitlinien für ADHS und Neues zum DSM-V
Symposium beim DGPPN-Kongress in Berlin
Behandlung von ADHS im Jugend- und Erwachsenenalter:
Wie gestaltet man den Übergang?
Seminar im Rahmen der Jahrestagung des BKJPP in Friedrichshafen
Service...................................................................................... 23
Lilly zeigt Herz · Buchtipp · Wussten Sie schon? · Im World
Wide Web für Sie gefunden
Druck
PPPP Norbert Wege e.K.
35075 Gladenbach
Aktueller Tipp: Wie evaluiere ich,
ob eine Therapie erfolgreich ist?
19
Diesen und anderen Fragen gehen wir in der Ihnen
vorliegenden Ausgabe der „Perspektive ADHS” nach.
Steigen Sie mit ein in die anregende Diskussion
zwischen dem Kinder- und Jugendarzt Dr. Andreas
Oberle und dem Kinder- und Jugendpsychiater PD Dr.
Dr. Jan Frölich (beide Stuttgart) zum Thema „Somatische Beschwerden bei ADHS – ein oft übersehenes
Problemfeld?” (auf den Seiten 14 und 15).
„Am Runden Tisch” in Hamm wurde unter Leitung von
Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann (Hamm) die Frage „Wie
viel Individualität ist in der ADHS-Therapie möglich?”
diskutiert. Lesen Sie die Antworten der ADHS-Experten auf den Seiten 16 und 17. Unser Studienkommentar
von Prof. Dr. Andrea Ludolph (Ulm) beschäftigt sich
mit dem Thema „Medikamentöse Therapie der ADHS –
Erwartungshaltung der Eltern”. Lesen Sie hierzu die
Seiten 7 und 8.
Kinder mit ADHS haben in der Regel viele Talente,
die oft übersehen werden. Wie innerhalb eines multimodalen Therapiesettings eine Aktivierung ihrer Ressourcen gelingen kann beschreibt Dr. Elke Marx-Ottmüller (Dannenberg/Wendland) auf der Seite 19.
Wir hoffen, wir haben Sie neugierig gemacht und laden
Sie nun zu einer spannenden und informativen Lektüre
der fünften Ausgabe der „Perspektive ADHS” ein. Wir
wünschen Ihnen beim Lesen viel Spaß.
Ihr Lilly-Redaktionsteam
Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass
Lilly Ihre Daten ausschließlich in dem Um­fang erhebt, verarbeitet und nutzt, wie es
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dass Sie weitere Informationen zum Umgang von Lilly mit Ihren Daten erfahren
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an unsere Abteilung Ethik & Compliance zu
wenden.
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Personalisierte Diagnostik und Therapie
P
ersonalisierte Diagnostik
und Therapie ist ein neues
Schlagwort, um ein eigentlich altes Prinzip wieder zu thematisieren – nämlich, dass die diagnostischen und die therapeutischen
Maßnahmen auf die individuellen
Bedingungen des Patienten ab­ge­­stimmt werden müssen. Bei einer
individualisierten Diagnostik orientieren sich die diagnostischen
Maßnahmen an den individuellen
Bedingungen des Patienten (und
seines Umfeldes), d. h., auf der
Grundlage einer basalen Diagnostik wird eine spezifische Diagnostik nur dann durchgeführt, wenn es
Hinweise darauf gibt, dass eine genauere diagnostische Abklärung
notwendig ist. Das kann sich beispielsweise auf koexistierende organische oder psychische Störungen beziehen. Individualisierte Diagnostik kann aber auch bedeuten,
dass neben standardisierten diagnostischen Verfahren auch individualisierte Messmethoden eingesetzt werden, beispielsweise in­dividuelle Problemlisten oder Ziel­­
erreichungs-Verfahren, mit denen
überprüft wird, ob nicht nur die üblichen ADHS-Symptome durch eine
Intervention verändert werden,
sondern auch die individuell herausgearbeiteten Probleme des Patienten. Das ist für die klinische
Praxis sowohl bei der Pharmakotherapie als auch der Psychotherapie von großer Bedeutung und fin-
det zunehmend in der Forschung
Anwendung.1 Solche Problemlisten und Zielerreichungslisten sind
auch im deutschen Sprachraum publiziert.2
In klinischen Studien werden zur
Beurteilung der Wirksamkeit und
Risiken von therapeutischen Maßnahmen üblicherweise Mittelwerte der relevanten Parameter ver-
glichen. Die Berücksichtigung von
Unterschieden zwischen Proban­
dengruppen und Kontrollgruppen
und die Standardisierung dieser
Unterschiede als Effektstärken bilden die Grundlage jeder evidenzbasierten klinischen Praxis. Um allerdings der Heterogenität und interindividuellen Variabilität der
Behandlungsverläufe Rechnung zu
tragen und eine auf den einzelnen
Patienten zugeschnittene persona-
Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski,
Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters des
Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI)
Mannheim
4
lisierte Diagnostik und Therapie zu
entwickeln, darf der Fokus bei der
Interpretation von Ergebnissen klinischer Studien nicht ausschließlich
auf Mittelwerten und Effektgrößen
liegen. Für den Kliniker ist es ebenso wesentlich, abzuschätzen, wie
wirksam und verträglich eine bestimmte Behandlung für den einzelnen Patienten wahrscheinlich
ist. Wesentliche Parameter zur Beurteilung von Wirksamkeit und Risiken für individuelle Probanden
sind z. B. Ansprechraten und Anzahl notwendiger Behandlungen
(NNT: numbers needed to treat,
NNH: numbers needed to harm).
Ein Beispiel für den Nutzen einer
personalisierten Therapie ist die
interindividuelle Variabilität kardiovaskulärer Auswirkungen der medikamentösen Therapie der ADHS.
Studien zeigen, dass Stimulanzien und Atomoxetin zu einer durchschnittlich geringfügigen und zumeist kurzfristigen Steigerung von
Blutdruck führen.3,4 In einer Teilgruppe der behandelten Patienten
(5-15 %) sind die Auswirkungen
mit einem Anstieg auf über der 95.
Perzentile des Blutdruckes und/
oder 50 Schläge/Min in der Herzfrequenz allerdings deutlich ausgeprägter.3 Zwar finden sich diese
Veränderungen häufig nur passager, mitunter aber auch kontinuierlich andauernd. Eine kürzlich von
Lilly durchgeführte Analyse von
Daten aus kontrollierten und unkontrollierten klinischen Studien
bestätigte, dass es bei ca. 6-12 %
der Kinder und Erwachsenen während der Atomoxetin-Behandlung
zu einer klinisch bedeutsamen Veränderung der Herzfrequenz (20
Schläge pro Minute oder mehr) und
des Blutdrucks (15-20 mm Hg oder
mehr) kommt. Bei etwa 15-32 %
der Patienten, die klinische relevante Blutdruck- oder Pulsänderungen zeigten, waren diese Änderungen dauerhaft oder ansteigend.5
Epidemiologische Daten zeigen
zwar bislang keine Evidenz, dass
eine medikamentöse Therapie der
ADHS mit einer Häufung schwerwiegender kardiovaskulärer Erkrankungen assoziiert ist.3 Diese Schlussfolgerung wurde kürzlich durch eine
große retrospektive Kohortenstudie von Cooper und Kollegen, die
im November 2011 im renommierten New England Journal of Medicine erschien, bestätigt (siehe auch
Seiten 7 und 8).6 Da aber eine dauerhafte Puls- und Blutdruckerhöhung langfristig ungünstig ist, empfehlen nationale und internationale Leitlinien übereinstimmend, dass
vor dem Beginn einer medikamentösen Therapie individuelle und familiäre kardiovaskuläre Risikofaktoren durch eine sorgfältige Anamnese und körperliche Untersuchung
erhoben werden sollen sowie anschließend regelmäßige Kontrol-
len und graphische Dokumentation von Blutdruck und Puls erfolgen (nach jeder Dosisanpassung
und dann mindestens alle 6 Monate) und dauerhafte Blutdruckund Pulssteigerungen über die 95.
Perzentile kardiologisch abgeklärt
werden sollen. Die Strattera® Fachinformation wurde entsprechend
aktualisiert.5
Für die klinische Praxis der ADHSTherapie mit Stimulanzien oder
Atomoxetin empfehlen wir die Leitlinien der European ADHD Guidelines7 zur Überwachung und Behandlung von möglichen Nebenwirkungen, einschließlich eines
detaillierten Behandlungsalgorithmus zum Umgang mit möglichen
Blutdruck- und Pulssteigerungen,
hinweisen.8
In der Forschung werden zunehmend statistische Methoden eingeführt, die es erlauben, nicht nur
die Effekte in einer ganzen Gruppe zu betrachten, sondern differenzielle Effekte oder Effekte in Subgruppen zu identifizieren. Zu den
älteren aber weiterhin sehr wichtigen Methoden zählen Regressionsanalysen, mit denen beispielsweise
untersucht wird, welche Merkmale
des Patienten oder auch der durchgeführten Intervention die in der
gesamten Gruppe gefundenen Effekte erklären können: Zeigen Jungen im Vergleich zu Mädchen stär-
kere Effekte bei einer Pharmakotherapie? Spielt die Komorbidität
oder das Alter des Patienten dabei
eine Rolle? Weitere neuere statistische Verfahren (z. B. growth mixture modeling analysis) versuchen,
Subgruppen mit unterschiedlichen
Therapieverläufen zu identifizieren
und dann diese Subgruppen genauer zu beschreiben. Im Rahmen einer
Präventionsstudie bei Vorschulkindern mit expansivem Verhalten hat
das beispielsweise eine Arbeitsgruppe um Hautmann und Mitarbeitern durchgeführt und dabei
festgestellt, dass vor allem Kinder
mit stärker ausgeprägter expansiver Symptomatik von der Intervention profitieren.9
Personalisierte Diagnostik und
Therapie ist also möglicherweise
teilweise alter Wein in neuen
Schläuchen, aber sie weist auch
den Weg für weitere wissenschaftliche Studien und Verbesserung
unserer klinischen Praxis.
Quellen:
1 Döpfner M et al. Eur Child Adolesc Psychiatry 2004; 13(1):117-29.
2 Döpfner et al. Kinder-Diagnostik-System (KIDS). Band 1: Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS). Göttingen:
Hogrefe 2006. 3 Hammerness PG. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry
2011; 50(10):978-990. 4 Graham J, Coghill D. CNS drugs 2008;
22(3):213-237. 5 Strattera® Fachinformation (Stand: Dezember 2011).
6 Cooper WO et al. NEJM 2011; 365(20):1896-1904. 7 Graham J et al.
2011. Eur Child Adolesc Psychiatry 2011; 20(1): 17-37. 8 Hulpke-Wette M,
Paul T. Monatsschr. Kinderheilkunde 2010; 158(5):489-492.
9 Hautmann C et al. J Child Fam Stud 2011; 424-435.
Prof. Dr. Manfred Döpfner,
Leitender Diplompsychologe an der
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und
Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
am Klinikum der Universität zu Köln
5
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Erholsamer Schlaf und gesunde Ernährung:
auch heute wichtig?
D
er Mensch ist leicht dazu geneigt, sein Heil gegen die
Mühseligkeiten des Alltags
im Internet- oder Medienkonsum,
in Drogen oder gar in der Psychotherapie zu suchen, und vergisst
dabei leicht, sich an seine primären Grundbedürfnisse zu erinnern.
Hierzu gehören z. B. ausreichend
Wasser, gesunde, regelmäßige
Mischkost, Schlaf in sicherer, behüteter Umgebung, genügend Bewegung, positive soziale Interaktion und ein Leben mit, nicht gegen
die eigene innere Uhr.1
Erholsamer Schlaf mit dem nächtlichen Durchleben der verschiedenen Schlafstadien erfüllt wichtige Funktionen bei der Gehirnreifung in der Kindheit und Jugend,
beeinflusst neuronale Plastizität,
spielt eine zentrale Rolle bei der
Gedächtniskonsolidierung im kognitiven wie emotionalen Bereich
und beeinflusst den emotionalen
neuronalen Apparat nachhaltig. So
wurde beispielsweise gezeigt, dass
ausreichend REM-Schlaf, welcher
mit dem noradrenergen System
funktionell in Verbindung steht,
das innere Anspannungsniveau und
die Reaktivität des Angst- und Aggressionsgenerators Amygdala am
folgenden Tag günstig beeinflussen kann.2
Die Schlafsteuerung steht in enger Verbindung mit den komple-
Prof. Dr. Dieter Braus,
Direktor der Klinik und
Poliklinik für Psychiatrie
und Psychotherapie der
Dr. Horst Schmidt Klinik
(HSK) Wiesbaden
6
xen Prozessen der über die CLOCKGen-Familie gesteuerten inneren
zirkadianen Uhr. Diese greift nachhaltig in viele physiologische Prozesse ein, u. a. auch auf das Immunsystem, das wiederum eine
wichtige Rolle bei allen großen psychischen Störungen einnimmt, sowie auf eine Vielzahl metabolischer
Prozesse wie z. B. Körperfett, Insulinresistenz, Dyslipidämie, Glu-
Um ein Kind auf den Weg zu
bringen, den es einschlagen
sollte, reise hin und wieder
selbst dort entlang.
Josh Billings (1818-1885),
amerikanischer Schriftsteller
kosetoleranz und Blutdruckregulation.3 Stören wir durch Umwelteinflüsse, wie z. B. unregelmäßige
Schlaf- oder Ernährungsgewohnheiten, diese innere Uhr, so hat
dies nachhaltige Einflüsse auf viele
grundlegende Prozesse. Das Risiko
für ein metabolisches Syndrom mit
konsekutiver Adipositas, Hypertonie und Diabetes steigt, die kognitive Leistungsfähigkeit im Alltag
wird ebenso wie unser Bewegungsverhalten sowie die Stimmung gestört.4,5
Schlaf und innere zirkadiane Uhr
unterhalten damit auch eine enge
Beziehung zum Ernährungsver-
halten. So konnte beispielsweise nachgewiesen werden, dass im
non-REM-Schlaf restaurierende biosynthetische Prozesse ablaufen, die einen nächtlichen Glukoseabfall verhindern und sich auf
katabole Prozesse (z. B. Fettsäure-Oxidation, Glukosespiegel) im
Wachen auswirken.6 Unphysiologische Schwankungen des Glukosespiegels (nachts und am Tage)
wiederum erhöhen den Wunsch
auf hochkalorische Nahrungsmittel beim Menschen.7,8 Schlafentzug führt dazu, dass am darauffolgenden Morgen sich der Grundumsatz signifikant vermindert und
damit auch Diätbemühungen unterminiert werden.9 Störungen im
Schlaf und der zirkadianen Uhr wirken sich damit nachhaltig auf körperliche und psychische Funktionen
aus. Diese Erkenntnis ist bei Hippokrates (um 400 vor Chr.) schon
überliefert: Wenn Schlaf und Wachen ihr Maß überschreiten, sind
beide böse!
Wenn man all diese Erkenntnisse
nun in den Kontext setzt zum Alltag von Kindern und Jugendlichen,
deren zirkadiane Rhythmik sich im
Laufe der Pubertät auch noch physiologisch verändert, so kann sich
Besorgnis breit machen. Und zwar
dann, wenn Kinder und Jugendliche
nicht in einem strukturierten, vertrauensvollen sozialen Gefüge leben, unbemerkt bis in die späte
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Medikamentöse Therapie der ADHS –
Erwartungshaltung der Eltern
Nacht mit Facebook oder Videospielen beschäftigt sein können,
keine verlässlichen, rhythmischen
Ernährungsgewohnheiten mit naturnahen (nicht industrienahen)
Lebensmitteln mehr haben und
sich nicht ausreichend bewegen. Es
ist gut bekannt, dass stundenlanges Videospielen den Appetit und
die Energiezufuhr erhöhen10 und
damit zu Gewichtszunahme beitragen können, und dass Schlafentzug z. B. durch eine LAN-Party sich
unmittelbar auf all die beschrieben
physiologischen Prozesse der zirkadianen inneren Uhr und den Metabolismus auswirkt.5,11 Immanuel Kant (1724–1804) lag vielleicht
auch aus heutiger Sicht gar nicht so
falsch mit seiner Empfehlung, die
Mühseligkeiten des Lebens mithilfe der Hoffnung, von (gesundem)
Schlaf und dem Lachen besser zu
tragen!
Quellen:
1 Braus DF: EinBlick ins Gehirn. Eine andere Einführung in die Psychiatrie. Stuttgart: Thieme 2011. 2 van der Helm E et al. Curr Biol. 2011;
21(23):2029-32. 3 Dallmann R et al. Proc Natl Acad Sci USA. 2012;
109(7):2625-9. 4 Karatsoreos IN. Curr Neurol Neurosci Rep. 2012 Feb
10 [Epub ahead of print]. 5 Karatsoreos IN et al. Proc Natl Acad Sci USA.
2011; 108(4):1657-62. 6 Dworak M, McCarley RW, Kim T, Kalinchuk AV,
Basheer R. Sleep and brain energy levels: ATP changes during sleep.
J Neurosci. 2010; 30(26):9007-16. 7 Page KA, Seo D, et al. Circulating
glucose levels modulate neural control of desire for high-calorie foods
in humans. Clin Invest. 2011; 121(10):4161-9. 8 Benedict C et al. J Clin
Endocrinol Metab. 2012 Jan 18 [Epub ahead of print]. 9 Benedict C et al.
Am J Clin Nutrition 2011; 93:1229-1236. 10 Chaput JP et al. Am J Clin
Nutr. 2011; 93(6):1196-203. 11 Scheer FA et al. Proc Natl Acad Sci USA.
2009; 106(11):4453-8.
A
ssessment of parents’ preferences for the treatment of schoolage children with ADHD: a discrete choice experiment
Fegert JM et al. Expert Rev. Pharmacoeconomics Outcomes Res.
2011; 11(3):245-252.
Objectives: Treatment decisions for children with attention-deficit/hyperactivity
disorder (ADHD) should include parents’ preferences, since parents’ acceptance
and support are crucial for ensuring treatment adherence and, as a consequence,
good clinical outcomes. Discrete choice experiments (DCEs, also known as conjoint
experiences) are an important technique for identification and assessment of preferences for different treatment characteristics. In this study, a DCE was performed
to analyze and to discuss parents’ preferences regarding ADHD treatment for their
school-aged children.
Methods: This article presents a mixed-method approach; qualitative and quantitative methods were used to ascertain the attributes that might influence a parent’s
choices for the optimal management of their child with ADHD. Parents of patients
with ADHD in Germany completed a self-administered survey. Relevant characteristics of an ideal ADHD treatment were collected by reviewing the literature and by conducting a qualitative study with focus groups. The study involved a subgroup of parents of school-age children aged 6–14 years (n = 121). Attitudes were measured and
analyzed using a classic rating scale (5-point Likert format). Preferences were elicited
using a DCE; scenarios were analyzed using a random-effects logit model. A total of
121 questionnaires were completed by care-givers (101 mothers, 16 fathers and four
others) on behalf of their school-age children (6–14 years, 87 % male). Six main attributes were investigated regarding their impact on parent preferences for ADHD treatment. While all were statistically significant in the DCE, improvements in the child’s
social situation (coefficient: 2.812; odds ratio: 16.64) and emotional state (coefficient:
1.610; odds ratio: 5.00) were rated as the most important by parents.
Results: The study provides a valuable insight into parents’ preferences regarding
treatment for their child with ADHD. If physicians can incorporate this information
into their treatment plans for children with ADHD, greater concordance regarding
treatment goals, adherence with therapy and, ultimately, clinical outcomes may be
achieved.
Kommentar: In der Behandlung von Kindern mit ADHS ist die Berücksichtigung der Erwartungshaltung der Eltern entscheidend für den Behandlungserfolg. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung in Bezug auf die Therapieziele
zwischen betroffenem Kind, Eltern und Behandler ist essentiell für die erfolgreiche Umsetzung einer Therapie. Gerade in Deutschland besteht gegenüber
Prof. Dr. Andrea Ludolph,
Komm. Leitende Oberärztin,
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie,
Universitätsklinikum Ulm
7
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K O L U M N E
Die aktuelle ADHS-Studie
einer psychopharmakologischen Behandlung im Kindes- und Jugendalter verständlicherweise eine deutliche Zurückhaltung, wird doch in die Entwicklung
des kindlichen Gehirns eingegriffen. Die Erwartungshaltung und Präferenzen
von Eltern bezüglich einer medikamentösen Behandlung der ADHS einzuschätzen hat sich die vorliegende Studie zum Ziel gesetzt. Sie gibt hilfreiche Einsicht,
welche Aspekte einer pharmakologischen Behandlung den Eltern von betroffenen Kindern besonders wichtig sind.
Zunächst wurden Standardfragebögen von 121 Sorgeberechtigten von Kindern
mit ADHS ausgefüllt. Es konnten 23 relevante Aspekte einer medikamentösen Therapie bewertet werden, die zuvor aus qualitativen Umfragen und Literaturrecherchen als wesentlich bestimmt worden waren. Die Eltern stuften nahezu alle abgefragten Faktoren einer medikamentösen Behandlungsoption als
individuell wichtig ein. Die Autoren setzten daher ein so genanntes „DiscreteChoice-Experiment” ein. Mittels dieses Ansatzes kann man Präferenzordnungen über so genannte „Trade-Offs” herstellen. „Trade-Offs” sind Abwägungen, wie wir sie alle im Alltag normalerweise implizit machen, die aber in einem
gewöhnlichen Fragebogen schwer zu erfassen sind.
Aus den 23 Behandlungsfaktoren wurden sechs Eigenschaften für das „DiscreteChoice-Experiment” herausgefiltert, die je nur zwei Ausprägungen annehmen
konnten: 1. Wirkdauer, 2. Nebenwirkungen, 3. Dosierungsmöglichkeiten, 4. unauffällige Einnahme möglich, 5. emotionale Situation des Kindes, 6. soziale Situation des Kindes.
Den Eltern wurden insgesamt acht Situationen vorgegeben, in denen jeweils zwei
fiktive Medikationen einander gegenübergestellt wurden, die unterschiedlich einige dieser sechs Eigenschaften erfüllten oder nicht. In allen acht Situationen
sollten die Eltern entscheiden, welches der beiden Medikamente sie bevorzugen
würden. Während von diesen sechs Qualitäten alle hochsignifikant wichtig waren, lassen sich doch zwei anhand dieses Experiments herausheben, die die Eltern
definitiv als herausragend wichtig empfinden: die Verbesserung der sozialen Situation des Kindes wurde mit großem Abstand als wichtigster Parameter angegeben, die emotionale Befindlichkeit des Kindes lag an zweiter Stelle.
Während in klinischen Studien die Effektivität einer Medikation anhand der Wirkung auf die Kernsymptome evaluiert wird, spielen die oben genannten Faktoren,
die offensichtlich maßgeblich an der Entscheidung der Eltern beteiligt sind, nämlich Auswirkungen auf die soziale Situation und Emotionalität des Kindes, in den
Studien oftmals keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Die Autoren leiten hier
einen Änderungsbedarf im Design zukünftiger Studien ab.
Inwieweit diese Ergebnisse sich tatsächlich generell auf Eltern von Kindern mit
ADHS in Deutschland verallgemeinern lassen, bleibt offen. Da bereits davon ausgegangen wurde, dass die Verbesserung der schulischen Situation des Kindes für
die Eltern eine herausragende Rolle spielt, wurde dieser Parameter in die Untersuchung nicht aufgenommen. Nicht auszuschließen ist, dass die Aufnahme dieses
Faktors die Bewertung der Eltern insgesamt verändert hätte. Diese Studie leistet
einen wichtigen Beitrag zu dem Thema Erwartungshaltung von Eltern in Bezug auf
die medikamentöse Behandlung ihrer Kinder mit ADHS, wird doch deutlich, dass
Eltern von einer Medikation nicht nur eine Beeinflussung der Kernsymptomatik
erwarten, sondern eine Verbesserung der sozialen und emotionalen Entwicklung
ihres Kindes. Das Wissen um diese Hoffnungen und ihre Berücksichtigung in der
Therapieplanung kann sicher zur verbesserten Compliance beitragen.
8
A
DHD Drugs and Serious
Cardiovascular Events in
Children and Young Adults
Cooper WO et al. NEJM 2011; 365:
1896-904.
Abstract: Background: Adverseevent reports from North America
have raised concern that the use of
drugs for attention deficit-hyperactivity disorder (ADHD) increases
the risk of serious cardiovascular
events.
Methods: We conducted a retrospective cohort study with automated data from four health plans
(Tennessee Medicaid, Washington
State Medicaid, Kaiser Permanente
California, and OptumInsight Epidemiology), with 1,200,438 children and young adults between
the ages of 2 and 24 years and
2,579,104 person-years of followup, including 373,667 personyears of current use of ADHD
drugs. We identified serious cardiovascular events (sudden cardiac death, acute myocardial infarction, and stroke) from healthplan data and vital records, with
end points validated by medicalrecord review. We estimated the
relative risk of end points among
current users, as compared with
nonusers, with hazard ratios from
Cox regression models.
Results: Cohort members had 81
serious cardiovascular events (3.1
per 100,000 person-years). Current
Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski,
Leiter der Klinik für Psychiatrie
und Psychotherapie des
Kindes- und Jugendalters des
Zentralinstituts für
Seelische Gesundheit (ZI)
Mannheim
users of ADHD drugs were not at increased risk for serious cardiovascular events (adjusted hazard ratio,
0.75; 95 % confidence interval [CI],
0.31 to 1.85). Risk was not increased
for any of the individual end points,
or for current users as compared with
former users (adjusted hazard ratio,
0.70; 95 % CI, 0.29 to 1.72). Alternative analyses addressing several
study assumptions also showed no
significant association between the
use of an ADHD drug and the risk of
a study end point.
Conclusions: This large study showed no evidence that current use of an
ADHD drug was associated with an increased risk of serious cardiovascular
events, although the upper limit of the
95 % confidence interval indicated that
a doubling of the risk could not be ruled
out. However, the absolute magnitude
of such an increased risk would be low.
Kommentar: Die Frage, ob es einen
möglichen Zusammenhang einer
medikamentösen Therapie der ADHS
mit Stimulanzien oder Atomoxetin
und einem erhöhten Risiko für schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse
(plötzlicher Herztod, Myokardinfarkt
und Schlaganfall) geben könnte, hat
Ärzte, Therapeuten, Eltern und Patienten in den letzten Jahren verunsichert.
Die Autoren der hier vorgestellten
Studie haben daher im Rahmen einer
großen retrospektiven Kohortenstu-
die in den USA anhand der Daten von
vier großen Krankenversicherungen
mit insgesamt 1,2 Millionen Kindern,
Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Inzidenzen von schweren
kardiovaskulären Ereignissen, die bei
Probanden mit oder ohne einer medikamentösen ADHS-Therapie in einem Zeitraum von über zwei Jahren
auftraten, analysiert. Die Forscher
verglichen Patienten im Alter von
zwei bis 24 Jahren, die gegenwärtig
oder früher für mindestens ein Jahr
medikamentös behandelt wurden,
mit altersgematchten Kontrollpersonen, die keine Medikamente einnahmen, hinsichtlich der Inzidenzrate
schwerer kardiovaskulärer Ereignisse. Um die Sensitivität der Untersuchung zu erhöhen wurden auch Patienten mit angeborenen Herzerkrankungen in die Studie eingeschlossen;
ausgeschlossen wurden lediglich solche Probanden, bei denen potentiell lebensbedrohliche Erkrankungen
vorlagen.
Insgesamt fanden die Autoren während des Studienzeitraums bei den
1,2 Millionen Teilnehmern 81 solcher
Ereignisse (3,1 pro 100.000 Personenjahre): 49 Ereignisse bei Probanden ohne, sieben Ereignisse bei Patienten mit aktueller und 25 Ereignisse
bei Patienten mit früherer Arzneitherapie. Es resultierten keinerlei Belege für ein erhöhtes Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse unter der Therapie mit Stimulanzien
oder Atomoxetin. Als Faktoren, die
dagegen mit einem erhöhten Risiko für schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse assoziiert waren, ergaben sich ein höheres Lebensalter,
die aktuelle Therapie mit einem Antipsychotikum, das Vorliegen einer
schweren psychischen Erkrankung,
Herz-Kreislauf-Erkrankung oder einer chronischen Erkrankung.
Bei der Interpretation der Studie
ist zu beachten, dass sich aber aufgrund der statistischen Ergebnisse
eine leichte Erhöhung der Inzidenzrate unter medikamentöser Therapie nicht sicher ausschließen lässt.
Die Resultate stehen in Einklang mit
den Befunden einer Reihe weiterer
Studien1,2,3,4 und lassen den Schluss
zu, dass die Wahrscheinlichkeit für
schwere kardiovaskuläre Ereignisse unter der Therapie mit Stimulanzien und Atomoxetin im Zweijahresverlauf allenfalls sehr gering erhöht
ist. Trotz dieser Studienergebnisse
ist aber bei ADHS-Patienten mit bekannter Herzerkrankung vor medikamentöser Einstellung eine kardiologische Konsultation zu empfehlen.5
Quellen:
1 Schelleman H et al. Pediatrics 2011; 127:1102-10. 2 Winterstein AG et al.
Pediatrics 2007; 120(6):e1494-e1501. 3 Winterstein AG et al. Pediatrics
2009; 124(1):e75-e80. 4 McCarthy S et al. Drug Saf 2009; 32:1089-96.
5 Graham J et al. Eur Child Adolesc Psychiatry 2011; 20(1):17-37.
Prof. Dr. Jan Buitelaar,
Leiter der Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie der Radboud University Nijmegen
Medical Center (Niederlande)
9
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Verringerung der Kernsymptome – und dann?
Kriterien einer adäquaten ADHS-Therapie
Das Krankheitsbild ADHS zeichnet sich durch eine bei jedem Patienten individuell ausgeprägte Symptomatik
aus, die wiederum mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen für den Betroffenen und sein Umfeld einhergehen kann. Die Therapie erfordert daher die Auswahl von Bausteinen, die jeweils auf die spezifische Situation
des Patienten abgestimmt sind. Trotz dieser hohen Individualisierung in der Behandlung lassen sich übergreifende Aspekte definieren, die im Rahmen einer adäquaten Therapie adressiert werden sollten.
D
ie Auswirkungen, die ADHS auf das Leben der
Betroffenen und ihres sozialen Umfeldes haben
kann, sind vielfältig und bleiben oft langfristig
bestehen. So können sich schulische Probleme im Jugend- und Erwachsenenalter in Form von beruflichen
Schwierigkeiten und damit verbundenen schlechteren
beruflichen Chancen fortsetzen.1 Hinzu kommen unter
anderem erhöhte Risiken für die Entwicklung von Verhaltens- und Angststörungen sowie Substanzmissbrauch.2,3 Nicht zuletzt weisen ADHS-Betroffene hin-
sichtlich psychosozialer Aspekte bereits im Kindesalter
eine geringere Lebensqualität auf als Kinder, die nicht
von ADHS betroffen sind.4 „Ziel einer ADHS-Therapie
muss es daher sein, Beeinträchtigungen in der möglichen Leistungsfähigkeit, der wichtigen sozialen Interaktionen und der psychoemotionalen Entwicklung der
Persönlichkeit zu verhindern oder diese zu beheben”,
erläutert Dr. Ulrich Kohns, Essen.
10
Der erste Schritt: Intervention bereits im Kindesalter
Vor diesem Hintergrund ist es entscheidend, ADHS
bereits im frühen Kindesalter zu diagnostizieren und
somit die Weichen für eine positive Entwicklung des
Patienten zu stellen. „Wenn ADHS früh festgestellt
und therapiert wird, ist die Gefahr, dass bestehende
Begleitstörungen zunehmen und beeinträchtigender
werden, geringer. Auch werden neu auftretende Begleitstörungen vermieden, die zur Verschlechterung
der Lebensqualität führen können”, unterstreicht
Kohns die Bedeutung einer frühzeitigen therapeutischen Intervention. Dies ist auch vor dem Hintergrund
der kindlichen Entwicklung sinnvoll, in der das Gehirn
offener für Veränderungen ist. Zwar findet dessen
Reifung bei Kindern mit ADHS zeitverzögert im Vergleich zu gesunden Kindern statt – im Schnitt drei
Jahre später –, die Entwicklung selbst verläuft allerdings gleich.5 „Es gibt Hinweise, dass sich entwickelnde Hirnstrukturen unter einer kontinuierlichen und
frühzeitigen medikamentösen Therapie günstig beeinflusst werden, indem störungsarmes Verhalten zu stabilen, dauerhaft angelegten Hirnstrukturen führt”, so
der Essener Kinder- und Jugendmediziner.6
Individuelle Symptomatik und Lebenssituation
berücksichtigen
Jeder ADHS-Patient ist anders. Zum einen unterscheidet das DSM-IV drei ADHS-Subtypen – den vorwiegend unaufmerksamen, den vorwiegend hyperaktiv-impulsiven und den kombinierten Typ.7 Zum anderen bestehen Unterschiede im Schweregrad der
Symptomausprägung sowie hinsichtlich der Bereiche,
in denen die Symptomatik auftritt. „Es stellt sich immer die Frage: Wo führen die Symptome zu Problemen? Dabei ist es besonders wichtig, darauf zu achten, ob Beeinträchtigungen nur in fremdbestimmten
Situationen, in denen Regeleinhaltungen gefordert
sind, oder auch in selbstbestimmten Situationen wie
im freien Spiel auftreten”, erläutert Kohns. Hinzu
kommen Komorbiditäten wie oppositionelles Trotzverhalten (Oppositional Defiant Disorder, ODD),
Angststörungen oder Depression, die bei nicht wenigen der Kinder mit ADHS vorliegen.1 „Die nachgewiesenen hirnstrukturellen Abweichungen bei Menschen
mit ADHS sind grundsätzlich ähnlich, aber ihre Folgen
werden durch eine unterschiedlich ausgeprägte, zugrundeliegende genetische Ausstattung und besonders durch die Folgen unterschiedlicher sozialer Erfahrung sehr individuell sein”, fasst Kohns zusammen.
Eine ADHS-Therapie sollte den Betroffenen daher individuell unterstützen und ihm so ermöglichen, sein
volles Potenzial ausschöpfen zu können.2 „Die individuelle Konstitution und Umwelt machen eine individualisierte Therapie unbedingt notwendig. Jeder hat sein
individuelles ADHS”, betont Kohns. Für den behandelnden Arzt bedeutet dies, den Patienten in seinem
spezifischen Lebensbereich, in seiner Familie und in
seinem sozialen Umfeld zu betrachten. Dies bedeutet
auch, dass die frühere Sicht, ausschließlich die Kernsymptomatik zu behandeln, nicht ausreicht. „Wir müssen uns bei jedem einzelnen Patienten fragen, wie er
durch die Erkrankung beeinträchtigt ist. Danach richtet sich dann auch die Wahl des Medikamentes, die
von den zusätzlich vorhandenen Begleitstörungen, den
sozialen Anforderungen an die Therapie und den individuellen Zielvorstellungen des Patienten bestimmt
wird”, so Kohns.
Unterschiedliche Medikamente für
unterschiedliche Patiententypen
Zur medikamentösen ADHS-Therapie stehen verschiedene Optionen zur Verfügung, die sich in ihrem
Wirkmechanismus, dem Wirkeintritt und der Wirkdauer unterscheiden (siehe Kasten Seite 13). Je nach
individueller Situation des Patienten können unterschiedliche Präparate sinnvoll sein. Bei manchen Patienten kann es ausreichend sein, wenn sie ein Medikament erhalten, das über eine kurze Wirkdauer (zwei
bis vier Stunden) verfügt. Das Stimulanz Methylphenidat kommt daher bei Patienten in Betracht, die vorwiegend situationsbezogen von ADHS betroffen sind,
zum Beispiel im schulischen Bereich. Hingegen eignen sich für Patienten, die in mehreren Lebensbereichen situationsübergreifend betroffen sind, langwirksame Präparate wie retardiertes Methylphenidat,
das über eine Wirkdauer von acht bis 12 Stunden verfügt, oder das Nicht-Stimulanz Atomoxetin, das über
den gesamten Tag wirkt. Dadurch kann eine langfristige Symptomkontrolle erreicht werden. Neben der langen Wirksamkeit haben diese Präparate den Vorteil
der täglichen Einmalgabe. Wie Studien zeigen, ist damit eine bessere Compliance der Patienten verbunden als bei einer Mehrfachgabe.8 Auch vor dem familiären Hintergrund kann eine Einmalgabe sinnvoll sein,
beispielsweise wenn ein Elternteil des Kindes ebenfalls von ADHS betroffen ist. „In diesen Fällen ist eine
zwei- oder dreimal tägliche Medikamentierung extrem
schwierig. Das heißt, man muss in diesen Familien dafür sorgen, dass das Kind möglichst nur einmal am Tag
und möglichst nur morgens in der Familie sein Medikament bekommt”, rät Kohns. Auch die Beeinträchtigung der Lebensqualität des Patienten durch ADHS
kann ein Kriterium für die Medikamentenwahl darstellen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass
beispielsweise eine Therapie mit Atomoxetin die Lebensqualität positiv beeinflussen kann.9
Größtmögliche Individualität durch
multimodales Therapiekonzept
Das multimodale Therapiekonzept ermöglicht eine
spezifische Anpassung an das Krankheitsbild und die
Bedürfnisse des jeweiligen Patienten. Dieses wird sowohl in der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für
Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie10
als auch in der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für
Kinder- und Jugendmedizin e. V.11 empfohlen. Das interdisziplinäre Behandlungskonzept setzt sich aus ver11
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schiedenen medizinischen, psychologischen und pädagogischen Bausteinen zusammen, die je nach Bedarf
miteinander kombiniert werden können. „Ein multimodales Therapiekonzept ist nicht festgeschrieben. Es
muss sich an den individuellen Bedingungen des Patienten, den Voraussetzungen in seiner Familie und den
anzustrebenden Lebensveränderungen orientieren”, so
Kohns.
Neben der Pharmakotherapie steht für den Essener
Kinder- und Jugendarzt die Psychoedukation der Eltern und des sozialen Umfeldes an erster Stelle, um
über das Krankheitsbild aufzuklären, aber auch hinsichtlich der Bewältigung konkreter Problemsituationen zu beraten. Ergänzende psychotherapeutische
Maßnahmen können sinnvoll sein, um die psychosozialen Funktionen in allen Lebensbereichen wiederherzustellen bzw. zu verbessern.12 Mit Hilfe einer Verhaltenstherapie lernt der Patient, problematische Verhaltensweisen abzubauen und durch neue zu ersetzen.
Hierzu eignen sich Selbstinstruktionstrainings und
Selbstmanagementinterventionen, die ab dem Schulalter durchführbar sind. Probleme im Sozialverhalten
können mit Hilfe gruppentherapeutischer Maßnahmen
aufgearbeitet werden. Diese eignen sich insbesondere für Patienten, bei denen soziale Defizite im Vordergrund stehen.13 Um den oft problematischen Umgang
der Familienmitglieder untereinander positiv zu beeinflussen, bietet sich eine Familientherapie an. Hierbei
lernt das Kind, sein Verhalten besser zu kontrollieren.
Gleichzeitig werden den Eltern Techniken aufgezeigt,
die den Umgang mit dem betroffenen Kind für alle Beteiligten erleichtern.13
Zusammenfassend lassen sich somit neben der Verringerung der Kernsymptomatik vor allem die Verbesserung der in der Regel beeinträchtigten sozialen Interaktion inner- und außerhalb der Familie sowie die
Teilhabe an altersgemäßen sozialen Aktivitäten als
Maß für eine adäquate ADHS-Therapie festhalten.
Häufige Fragen zur medikamentösen ADHS-Therapie
Wie unterscheiden sich die Wirkmechanismen
der verfügbaren Substanzen?
Das Psychostimulanz Methylphenidat wirkt, indem
es die Verfügbarkeit von Dopamin im synaptischen
Spalt erhöht und so die Symptome von ADHS reduziert.14 Das Nicht-Stimulanz Atomoxetin hemmt dagegen die Noradrenalintransporter, was zu einer Erhöhung der Noradrenalinkonzentration im synaptischen
Spalt führt. Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf,
dass Atomoxetin auf indirekte Weise die Dopaminkonzentration im präfrontalen Kortex erhöht.15
Synaptischer Spalt
Stark ausgeprägte situationsübergreifende hyperkinetische
Symptomatik mit krisenhafter Zuspitzung?
Transporter
Atomoxetin
JA
Pharmakotherapie1
JA
Selbstinstruktionstraining
NEIN
Hyperkinetische Auffälligkeiten auch bei
optimalen Arbeitsbedingungen mit Therapeuten?
NEIN
Externale Auffälligkeiten des Kindes
in der Schule?
JA
NEIN
NEIN
· Aufklärung und Beratung der Lehrer
· Intervention in der Schule
Noch ausgeprägt hyperkinetisch?
JA
Kombination mit Pharmakotherapie1
Externale Auffälligkeiten des Kindes
in der Familie?
JA
NEIN
NEIN
· Elterntraining
· Intervention in der Familie
JA
JA
1 Soweit keine Kontraindikation vorliegt. 2 Wenn hyperkinetische Störung nicht auf familiären Kontext beschränkt ist.
12
Informationsverarbeitung
Gibt es Unterschiede in der Wirkung?
Beide Substanzen wirken gut auf die Kernsymptome
und sind gut verträglich.16 Zusätzlich kann man bei
Atomoxetin auch einen positiven Effekt auf das emotionale Wohlbefinden, die Selbstsicherheit der Patienten und ihre Integration in die Familie und den Freundeskreis feststellen.9
Unterschiede bestehen jedoch im Wirkeintritt.16 Während die Wirkung von Methylphenidat innerhalb kurzer Zeit spürbar sein kann, können sich unter Atomoxetin erste Veränderungen im Verhalten zwar bereits in
der ersten Woche zeigen, der Eintritt der vollen Wirksamkeit kann jedoch vier bis sechs Wochen in Anspruch nehmen.17 Darauf sollten der Patient und seine
Eltern im Beratungsgespräch hingewiesen werden, um
die Erwartungen von Anfang an richtig zu setzen. Vorstellen kann man sich das zum Beispiel wie den Unterschied zwischen einem Lichtschalter, den man an-
und ausmacht und einem Dimmer, durch den der Raum
langsam erhellt wird. Jede scheinbar noch so kleine
Veränderung im Leben des Patienten kann für den
Therapieverlauf bedeutsam sein. So sollten auch gerade kleine Erfolgserlebnisse im Rahmen der Evaluationsgespräche erfragt werden. Mögliche Fragen können
sein: Kann Ihr Kind besser ein- bzw. durchschlafen?
Wie ist die Situation morgens nach dem Aufstehen
beim Frühstücken oder beim Fertigmachen für die
Schule? Bemerken Sie abends Veränderungen beim
gemeinsamen Abendessen oder beim ins Bett gehen? Fokussieren Sie zum Beispiel auf eine oder zwei
schwierige familiäre Situationen, um diese dann im
Evaluierungsgespräch besonders zu beleuchten.
Gibt es bestimmte Kriterien für die Wahl
der geeigneten Medikation?
Wenn bei einem Patienten schnelles Handeln erforderlich ist, da beispielsweise auf Grund der akuten Symptomatik ein Schulausschluss oder ähnliche weitreichende Konsequenzen drohen, kann ein Medikament mit raschem Wirkeintritt geeigneter sein. Weist
ein Betroffener eine Symptomatik auf, die nicht nur in
der Schulzeit, sondern über den ganzen Tag besteht
und somit zu einer Beeinträchtigung des psychosozialen Funktionsniveaus und der Lebensqualität führt,
ist eine Behandlung mit einem Medikament mit einer
kontinuierlichen Wirkung wie Atomoxetin sinnvoll.16
Die verfügbaren Leitlinien10,11 empfehlen den Einsatz
des Nicht-Stimulanz außerdem:
• bei Begleiterkrankungen wie Angststörungen oder Tics.
• wenn eine Gefahr für Substanzmissbrauch vorliegt.
Einstellungstipps aus der Praxis18,19,20:
Folgende langsame Aufdosierung von Atomoxetin
kann die Verträglichkeit und Compliance erhöhen:
10 mg in Woche 1
18 mg in Woche 2
25 mg in Woche 3
Je nach Körpergewicht und klinischem Bild:
40 mg in Woche 4
60 mg in Woche 5
Noch ausgeprägt hyperkinetisch?
Kombination mit Pharmakotherapie
Komorbide Störungen?
Rezeptor
Nervenzelle
Multimodale Therapie von Schulkindern und Jugendlichen
mit hyperkinetischen Störungen (mod. nach 9)
Aufklärung und Beratung der Eltern und des Kindes/Jugendlichen
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1,2
Therapie mit komorbider Störung u.a.
· Soziales Kompetenztraining
· Übungsbehandlung
· Einzel-/Gruppenpsychotherapie
Quellen:
1 Barkley RA et al. J Clin Psychiatry 2002; 63(Suppl 12):10-15. 2 Harpin VA et al. Arch Dis Child 2005; 90(Suppl I):i2-i7. 3 Biederman J et al. Psychological Medicine 2006; 36:167-179. 4 Danckaerts M et al. Eur Child Adolesc
Psychiatry 2010; 19(2):83-105. 5 Shaw P et al. PNAS 2007; 104 (49):19649-19654. 6 Grund T et al. Behav Brain Funct 2006; 2:2. 7 American Psychiatric Association. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders – DSMIV-TR (4th edition, Text Revision). Online publiziert unter: http://www.behavenet.com/capsules/disorders/dsm4TRclassification.htm (Stand: 06.02.2012). 8 Banaschewski T et al. Eur Child Adolesc Psychiatry 2006; 15(8):476-95.
9 Michelson D et al. Pediatrics 2001; 108:E83-91. 10 Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (Hg.): Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindesund Jugendalter. Deutscher Ärzteverlag. 3. überarbeitete Auflage 2007:239-254. 11 Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. Online publiziert unter: http://www.ag-adhs.de/uploads/Leitlinie2009.
pdf (Stand: 06.02.2012). 12 Steinhausen HC et al. Handbuch ADHS. Grundlagen, Klinik, Therapie und Verlauf der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Verlag W. Kohlhammer; 2010. 13 Hamburger Arbeitskreis ADS/
ADHS. Leitfaden ADS/ADHS. Online publiziert unter: http://www.strattera.de/fileadmin/media/lilly/broschueren/ADHS-Leitfaden.pdf (Stand: 06.02.2012). 14 Walitza S, Warnke A. Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörungen. In: Gerlach M, Warnke A, Wewetzer C (Hg.). Neuropsychopharmaka im Kindes- und Jugendalter: Grundlagen und Therapie. Wien: Springer, 2004:215-227. 15 Bymaster et al. Neuropsychopharmacol 2002; 27(5):699-711.
16 Becker K, Wehmeier PM, Schmidt MH. Das noradrenerge Transmittersystem bei ADHS. Grundlagen und Bedeutung für die Therapie. Georg Thieme Verlag 2005. 17 Michelson et al. Am J Psychiatry 2002; 159:1896-1901.
18 Gemäß praktischer Erfahrung von Dr. A Alfred, München; S Bsat, Berlin; Dr. R Perlwitz, Teltow; S Schwerdtfeger, Naumburg (Saale); Dr. I Wolfram, Erfurt. 19 Quintana H et al. Clin Ther 2007; 29(6):1168-1177. 20 Lehmkuhl et al.
Kinderheilkunde 2007; 7:645-648.
13
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Somatische Beschwerden bei ADHS –
ein oft übersehenes Problemfeld?
ADHS ist eine häufig gestellte Diagnosen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Oft treten somatische Begleiterkrankungen auf. Diese sind nicht nur bei der Diagnosestellung, sondern auch im weiteren Therapieverlauf
relevant. Darüber waren sich die Stuttgarter ADHS-Experten PD Dr. Dr. Jan Frölich, Facharzt für Kinder- und
Jugendpsychiatrie und Dr. Andreas Oberle, Facharzt für Kinder und Jugendmedizin, einig.
PD Dr. Dr. Jan Frölich (Stuttgart)
? Welche somatischen Begleiterkrankungen sind häufig?
Oberle: Zu den häufigsten somatischen Begleiterkrankungen gehören Seh- und Hörstörungen, chronische
Erkrankungen wie Allergien oder Epilepsie, aber auch
Schlafstörungen.
Frölich: Schlafstörungen decken ein breites Spektrum
ab. Sie liegen als Begleitsymptome bei psychischen
Erkrankungen vor und sind zugleich deren Katalysator.
Im Kindesalter sind sie v.a. interaktionell bedingt, im
Jugendalter Zeichen mangelnder Schlafhygiene und
seltener, aber trotzdem bedeutsam, kommen organische Ursachen, wie die obstruktive Schlafapnoe oder
eine Narkolepsie in Frage. Es ist also nicht immer ein
,Entweder – Oder’. Wichtig zu wissen ist, dass alle genannten Ursachen eine ADHS-Symptomatik auslösen
können, sie können aber natürlich auch neben einer
ADHS vorliegen. Innerhalb der Differenzialdiagnostik
müssen wir dann ganz genau schauen, ob es sich um
eine genuine ADHS-Symptomatik handelt oder ob sich
diese sekundär ausbildet über einen gestörten Schlaf.
Werden diese Begleiterkrankungen regelhaft
? erkannt und diagnostiziert?
Frölich: Es ist wichtig, dass eine fundierte pädiatrische
und neurologische Abklärung stattfindet, um nicht
14
Dr. Andreas Oberle (Stuttgart)
vorschnell eine psychische Störung, wie die ADHS zu
diagnostizieren, da dies ja ggf. weitreichende verhaltenstherapeutische oder medikamentöse Konsequenzen hat. Im Kontext der störungsspezifischen Anamnese und weiteren Abklärung einer ADHS ist es daher
sehr wichtig, auch nach Schlafproblemen zu fragen,
und zwar immer! Eine Grundkenntnis des Diagnostikers über Variablen eines gesunden oder gestörten
Schlafs sind dabei natürlich unabdingbar, also etwa
Fragen wie: Was sind physiologische Schlafmechanismen? Wie viel Schlaf braucht beispielsweise ein Kind
oder ein Jugendlicher? Dann kann man gezielt nachfragen, ob irgendwelche hinweisgebende Symptome da
sind, beispielsweise Schnarchen und vergrößerte Tonsillen oder Adenoide als wichtiger Hinweis auf eine bestehende Schlafapnoe.
Oberle: Je später ich die Problematik erkenne, beispielsweise, wenn ein Kind nicht richtig hört, desto
größer können die Schwierigkeiten und der Leidensdruck für das Kind und seine Familie sein. Die Konsequenz einer nicht erkannten oder nicht-therapierten
Begleiterkrankung kann sein, dass der weitere Therapieerfolg nicht adäquat möglich ist.
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? Ist eine frühzeitige Diagnose für den Therapieverheiten? Ich erzähle an dieser Stelle gern das Beispiel
lauf wichtig?
von Fechtern, die ich in der Therapie hatte. Die waOberle: Ja, weil ich dann den richtigen Weg einschlage. ren wunderbar im Training, der Trainer war begeistert.
Eine Therapie heißt aber nicht immer nur ADHS-MeAber den Wettkampf haben sie verloren. Nach derzeidikation, sondern bedeutet auch beispielsweise eine
tigen Richtlinien darf man unter Methylphenidat keiAllergiebehandlung.
nen Wettkampf bestreiten.
Frölich: Genau, also wenn beispielsweise neben der
? Gibt es Medikamente, die im Hinblick auf die BegleitADHS-Problematik eine Allergie vorliegt und/oder
eine schwere Neurodermitis, die nicht richtig beerkrankung für einen Patienten besser geeignet sind
rücksichtigt wird, und welche oft eine Schlafstörung
als andere?
nach sich zieht. Die aggraviert das Symptombild einer
Oberle: Wir haben die tolle Situation, dass wir ein PotADHS zum Teil ganz erheblich. In solchen Fällen kann
pourri an Medikamenten haben, aus dem wir wählen
ich zusätzlich auch nicht monoman nur mit Psychokönnen.
stimulanzien arbeiten, da die möglichweise sogar das
Frölich: Das ist ganz individuell zu entscheiden. Ich
Störungsbild verschärfen. Das heißt, die Allergie muss kann mich nicht auf eine Substanz für eine spezielfrüh erkannt und behandelt werden. Das schließt die
le Gruppe festlegen. Viele Faktoren spielen eine Rolle.
ADHS-Therapie nicht aus. Oft sind es beide ErkranMit Sicherheit kann man aber sagen, dass das Thema
kungen, die berücksichtigt werden müssen. Es ist wie- ,ADHS-induzierte Schlafstörung’ durch Atomoxetin
derum nicht anstatt, sondern beides, was zu berückdeutlich geringer ist. Abends drehen Kinder mit einer
sichtigen ist.
ADHS oft noch einmal richtig auf und die Kernsymptomatik kommt noch einmal stärker zum Vorschein.
? Welche Implikationen haben diese BegleiterkranAn diesem Punkt ist man mit Stimulanzien manchmal
kungen für den Patienten und seine Familie?
limitiert, weil sie die Einschlafproblematik verschärOberle: Eine hohe Relevanz. Wir müssen alle Punkte
fen können. Der Einsatz von Atomoxetin kann hier weim Auge behalten. Ich muss bespielweise erst die Seh- gen des weitgehendes Fehlens einer den Schlaf bestörung durch eine Brille beheben oder mich um die
einträchtigenden Nebenwirkung als auch aufgrund der
Hörproblematik kümmern. Manche Probleme sind da- kontinuierlichen Wirkung zu einer Verbesserung der
durch beseitigt, aber nicht alle. Viele Kinder bleiben
Schlafsituation führen.
übrig, bei denen man weitermachen muss.
Oberle: Bei Patienten mit ausgeprägten Ticstörungen
Frölich: Für viele Familien ist dies eine zusätzliche Besetzen wir primär Atomoxetin ein. Da haben wir posilastung, weil es mit einem großen Aufwand und einem tive Erfahrungen gemacht.
Mehr an Arztterminen verbunden ist: Die Eltern brauFrölich: Zumal die Tics auch häufig in den Schlaf hinchen dann einen versierten ärztlichen Coach, welcher
eingehen und ihn durcheinanderbringen. Beim Einsatz
ihnen einen guten Mittelweg aufweist aus der Vielzahl von Stimulanzien können die Tics verstärkt werden –
an vorgeschlagenen Maßnahmen, um eine Überlassowohl tagsüber als auch nachts.
tung an Therapien zu verhindern. Er sollte auch dabei
behilflich sein, Prioritäten bei der Behandlung setzen ? Was müsste man gegebenenfalls tun, um das Erkenzu können. Dies setzt selbstredend eine gute Zusamnen und die Therapie zu optimieren?
menarbeit der Fachexperten voraus.
Frölich: Drei Dinge:
1.Gute, frühe Differenzialdiagnostik, und zwar am ? Beeinflusst das Alter die Wahl der Therapie- bzw.
Anfang, nicht erst im Nachhinein. Keinen Aufwand Medikamentenwahl?
scheuen.
Frölich: Also im Jugendalter spielt es eine Riesenrolle
2. Abstimmung von Therapeuten, Ärzten untereinan-
im Bereich der ADHS. In diesem Alter haben wir hohe
der, wenn verschiedene organische Störungsbilder
Abbruchquoten von der Medikation. Das liegt häufig
vorliegen.
daran, dass sie sich nicht mehr als Patient identifizie3. Patientenführung: Häufig werden Patienten und ihre
ren lassen wollen oder sich selbst als nicht beeinträch- Eltern von Diagnosen überschwemmt. Der Arzt hat tigt durch die ADHS fühlen.
die Aufgabe eine Problemhierarchie zu erstellen in-
Oberle: Aber es spielt schon früher eine Rolle. Wie ge- dem er sagt: ‚Das ist jetzt wichtiger und das ist nicht wissenhaft setzen Eltern, die selbst eine ADHS-Pro so wichtig! Daran sollten wir sofort arbeiten, hierfür blematik haben, die Medikamente bei ihren Kindern
haben wir noch etwas Zeit, das und jenes müssen ein? Das beeinflusst natürlich auch die Medikamen wir miteinander verbinden.
tenwahl. Bei den größeren Kindern stellt sich auch die
Oberle: Das kann ich nur unterstützen.
Frage, an welchem Punkt lasse ich ihnen mehr Frei15
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Wie viel Individualität ist in
der ADHS-Therapie möglich?
Erfahrungsaustausch in Hamm
Welchen Stellenwert nimmt das Konzept der Personalisierten Medizin in der ADHS-Diagnostik und -Therapie ein? Diese Frage stand im
Mittelpunkt des fünften Runden Tisches der „Perspektive ADHS”, der von Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, Ärztlicher Direktor der LWLUniversitätsklinik Hamm, geleitet wurde. Mit ihm diskutierten die Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin Dr. Wolfgang Kömen (Essen),
Dr. Theo Reiners (Viersen), Dr. Erhard Petrzik, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (Westerkappeln) sowie
Dr. Gerd Patjens, Ärztlicher Direktor des Kinderhospitals Osnabrück.
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„Wir betrachten zunächst das jeweilige hilfesuchende System, also
den Betroffenen und sein familiäres Umfeld, individuell und über­­legen dann, welche Werkzeuge aus dem ‚Therapie-Werkzeugkasten’
für den Patienten in Betracht kommen”, erklärte Prof. Holtmann.
Bereits zu Veranstaltungsbeginn waren sich alle Diskussionsteilnehmer einig, dass eine individuelle ADHS-Therapie möglich ist.
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Keine individuelle Therapie ohne individuelle Diagnostik
„Wir Ärzte sind der Eckpfeiler einer individuellen Therapie. Uns
steht für die Diagnostik ein großes Repertoire an Instrumenten zur
Verfügung, die ich individuell einsetze”, erläuterte Petrzik. Neben
der biografischen Anamnese durch Selbst- und Fremdbeurteilungsbögen seien neurologische und körperliche Untersuchungen wichtig,
um organische Störungen auszuschließen, so Reiners. Patjens hob
hervor, wie wichtig insbesondere die biografische Anamnese sei:
„Es kommt immer auf das Lebensalter des Betroffenen an. Es ist
ein Unterschied, ob der Patient sieben oder 15 Jahre alt ist. Es ist
wichtig, versiert nachzufragen, beispielsweise, inwiefern der Patient
im Kindergarten auffällig war oder wie die erste Zeit in der Schule
verlaufen ist.” Ebenso sei es wichtig, ob auch Vater oder Mutter
betroffen sind, so der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie
weiter. Holtmann ergänzte: „Diese Familiendynamik spielt eine
wichtige Rolle. In diesen Fällen müssen wir uns fragen: Reicht es,
wenn ich das Kind behandle oder benötige ich im Grunde eine
Familienbehandlung?“
Ein weiteres Element der Diagnosestellung ist die Intelligenzdiagnostik. So können mit Hilfe des HAWIK IV (Hamburg-WechslerIntelligenztests für Kinder) individuelle Stärken und Schwächen
abgebildet werden. „Dies dient der individuellen Charakterisierung
des Kindes: Hat das Kind eine Lernschwäche? Inwieweit besteht
eine Aufmerksamkeitsproblematik?” erklärte Kömen.
16
Individualisierte Therapie statt Gießkannenprinzip
Das Prinzip „Gießkanne” in der ADHS-Therapie hat lange ausgedient, in diesem Punkt waren sich die ADHS-Experten am Runden
Tisch einig. „Wir machen das seit Jahren nicht mehr im Gießkannenprinzip. Wir sind bereits lange Zeit bei einer individualisierten
Medizin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und in der Behand-
lung von ADHS”, verdeutlichte Petrzik. Holtmann ergänzte: „Ich
habe zwar gewisse Standards, d. h., ich mache es nicht bei jedem
anders. Aber es ist kein Gießkannenprinzip.” Eine leitliniengerechte
ADHS-Therapie ist multimodal und besteht aus verschiedenen
Bausteinen. Zu den Elementen des „Therapie-Werkzeugkastens”
gehören beispielsweise Verhaltenstherapie, Ergotherapie, Konzentrationstraining und Selbsthilfe. „Ich versuche, die Eltern zur
Teilnahme zu bewegen. Viele Eltern denken, sie haben das einzige
schwierige Kind der Welt. In der Selbsthilfe lernen sie andere Eltern
kennen, denen es ähnlich geht. Trotz aller Individualität sind viele
Stressfaktoren ähnlich und daher sagen viele Eltern: ‚Genauso habe
ich es bei meinem Kind auch erlebt’”, schilderte Kömen.
In diesem Zusammenhang stellte Patjens die Wichtigkeit der Res­sourcenaktivierung heraus. „Manchmal muss man die Kinder vom
Computer, der Playstation oder Nintendo wegholen, damit sie sich
draußen bewegen und spielen.” Reiners ergänzte: „Es gibt keine
Therapie die so viel kann wie Sport oder Musik. Einzelsportarten
wie Schwimmen, Fechten, Bogenschießen und die ganzen asiatischen Sportarten, bei denen Konzentration verlangt wird, eignen
sich besonders. Ich rate aber auch den Eltern nicht ab, wenn das
Kind zum Fußball möchte. Eine meiner ersten ADHS-Patientinnen
spielte Rollschuhhockey. Auf meine Frage, auf welcher Position sie
spiele, antwortete sie: ‚Im Tor. Die vier Meter kriege ich geregelt.
Mehr nicht.’”
Die Symptomatik als Kriterium für die Medikamentenwahl
Dass die Symptomatik ausschlaggebend für die Medikamentenwahl
ist, darüber herrschte in der Diskussionsrunde Konsens. So setzen
die Experten in akuten (Schul-)Situationen häufig Methylphenidat
ein. „Oft ist es eine Situation, ein Kontext oder eine Gesamtsituation, die mich dazu bewegt, eher ein länger wirksames Präparat zu
verschreiben als ein kurzwirksames”, erläuterte Petrzik. „Beispielsweise bei älteren Jugendlichen mit zusätzlicher nächtlicher Einnäss-Problematik”, erklärte Kömen. „Wenn mir eine Mutter berichtet
‚Es ist mor­gens schwierig, es ist abends schwierig’, ist für mich
Atomoxetin ganz klar das Medikament erster Wahl, da es über den
ganzen Tag wirkt. Die Mütter brauchen ja auch eine Entlastung, die
Familie benötigt eine Entlastung. Was haben sie davon, wenn sie
morgens bereits Stress hatten und abends auch noch”, so Reiners.
„Tics oder Schlafstörungen indizieren ebenfalls die Verwendung
dieses Nicht-Stimulanz”, fügte Patjens hinzu.
Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann (Hamm)
Dr. Erhard Petrzik (Westerkappeln)
Forschung als Wegbereiter für eine individuelle ADHS-Therapie
Die praktischen Erfahrungen der Diskussionsteilnehmer machten
deutlich, dass es für jeden ADHS-Patienten eine individuell auf ihn
abgestimmte Therapie gibt. „Wir gehen heute individueller auf die
Bedürfnisse der Kinder ein als es noch in meiner Anfangszeit als
Kinder- und Jugendpsychiater war”, so Patjens. Diese Erfahrung
teilen auch die Kinder- und Jugendärzte Kömen und Reiners.
Reiners hielt fest: „In der ADHS-Forschung hat sich in den ver­gangenen Jahren viel getan und wir haben viel gelernt.”
Dr. Wolfgang Kömen (Essen)
Ein weiterer wesentlicher Baustein der multimodalen ADHS-Therapie ist die medikamentöse Behandlung. „Mit Einverständnis der
Eltern bekommt ein Kind mit einer stark ausgeprägten ADHS zu­nächst ein Medikament, da die Therapien, die add-on kommen,
dann häufig besser wirken. Die Kinder werden dadurch in die Lage
versetzt, mit diesen Therapien umzugehen und von ihnen zu
profitieren”, erläutert Reiners. Petrzik weiß aus dem Praxisalltag:
„Bei einer 10-jährigen Patientin mit einer typischen Aufmerksamkeits-Problematik und einer oppositionellen Störung ist es wichtig,
eine Beruhigung in diese Situation zu bringen, und dabei ist der
medikamentöse Ansatz sicher von Anfang an zu bedenken.”
Dr. Gerd Patjens (Osnabrück)
Dr. Theo Reiners (Viersen)
Reiners wies außerdem darauf hin, dass Schlaf und Schlafqualität in
der Behandlung von ADHS einen wichtigen Stellenwert einnehme
und nicht zu vernachlässigen sei. „Aus diesem Grund gebe ich
Atomoxetin in der Regel abends, da ich die Erfahrung gemacht
habe, dass dann auch das Nebenwirkungsspektrum geringer ist
und die Kinder viel besser schlafen. Zudem ist abends eine viel
entspanntere Familien-Situation. Morgens gehen alle aus dem
Haus, es ist hektisch und die Medikamentengabe wird dann häufig
vergessen.”
Petrzik brachte es anschließend auf den Punkt: „Es hat sich auch
gesellschaftlich viel getan. Früher wurde darüber hinter vorgehaltener Hand gesprochen, heute wird die Problematik offen diskutiert.
Diese Diskussionen helfen uns, wirklich individuelle Therapieformen zu finden.”
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Der Fall D. G.* und seine komplexe Symptomatik
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itte 2006 stellte sich
der damalige elfjährige
D. G. mit seiner allein­erziehenden Mutter zur Abklär­ung eines vordiagnostizierten
ADS vor. Er besuchte die vierte
Dr. Elke Marx-Ottmüller,
Klasse einer Waldorfschule, wo
Fachärztin für Kinder- und
er durch Verträumtheit und
Jugendpsychiatrie und -psychotheAbwesenheit sowie durch eine
rapie, Dannenberg/Wendland
komplexe soziale Interaktionsund Verhaltensstörung auffiel.
Geringe Anlässe lösten eine unangemessene aggressive Reaktion
aus. D. war kaum sozial integriert und litt unter seiner Situation.
Auch zuhause gab es immer wieder Streitigkeiten. Die Familie lebte
finanziell in schwierigen Verhältnissen. D. zeigte sich in gedrückter
Stimmungslage, emotional wenig schwingungsfähig. Auf Fragen
antwortete er umschreibend mit kompliziertem Satzbau. In der
Anamnese wurde deutlich, dass D.’s Leidensgeschichte schon
während der Schwangerschaft begann und sich nach der Geburt
nahtlos fortsetzte: Es erfolgten ergotherapeutische, logopädische,
kinderneurologische und -psychiatrische Behandlungen. D. bekam
eine Förderschulempfehlung. Vor Einschulung wurde ein Versuch
mit Stimulanzien unternommen, der auf Grund von Stimmungseinbrüchen beendet wurde.
Diagnostische Klärung der komplexen Situation
Nach einer ausführlichen jugendpsychiatrischen und neuropsychologischen Untersuchung wurde ein ADS, eine Störung des Sozial­verhaltens, sensomotorische Wahrnehmungsstörungen sowie der
Verdacht auf eine Störung aus dem autistischen Formenkreis bei
einer durchschnittlichen Lern- und Leistungsausgangslage mit
dissoziierter Intelligenz sowie einer Rechenstörung diagnostiziert.
Therapeutische Begleitung durch das multiprofessionelle Team
Aufgrund der komplexen Symptomatik entschied sich die Mutter
erneut, eine Stimulanzientherapie zu beginnen. Darunter verbesserte sich die Konzentration in der Schule, die Verhaltensprobleme
spitzten sich jedoch weiter zu. Es wurde eine psychotherapeutische
Einzelbegleitung begonnen. Anfänglich zeigte D. große Schwierigkeiten sich verbal auszudrücken, neigte zu Übertreibungen, Ge­dankensprüngen, Stereotypien und vermied das Thema Schule. Nach und
nach gelang es dem Jungen, sich dem Therapeuten mitzuteilen und
auch seine Nöte in Bezug auf seine schwierige Schulsituation zu
thematisieren. Nach einem Jahr wurde die Stimulanzientherapie
durch Atomoxetin ergänzt. Dieses brachte im sozialen Bereich eine
Verbesserung.
Wie evaluiere ich,
ob eine Therapie erfolgreich ist?
Die Situation blieb weiterhin angespannt, war für D. jedoch
zunehmend besser zu ertragen.
Ressourcenaktivierung verbessert die Lebensqualität
Wie in der achten Klasse der Waldorfschule üblich, erfolgte ein
Klassenspiel, bei dem D. zwei kleine Rollen übernahm. Durch die
Übernahme der klar strukturierten Rollen im Schauspiel und die
damit nötige Kooperation mit den Mitspielern verbesserte sich
seine soziale Situation in der Schule zunehmend. Seine Mitschüler
erlebten D. in der Rolle als verlässlich, und die besondere Rollenwahl brachte ihm Anerkennung.
Der Übergang in das Oberstufensystem fiel D. jedoch schwer. Zu­hause zeigte der Junge zunehmend oppositionelles Verhalten. Wir
entschieden uns eine Rehabilitationsbehandlung in einer Kinderfachklinik einzuleiten. Besonders das Gruppentraining war für D. eine
Herausforderung. Er lernte in sehr kleinen Schritten, Konflikte besser
auszutragen und eine situationsadäquatere Wahrnehmung herzustellen. Da weiterer Therapiebedarf bestand entschieden wir uns, D.
in ein Projekt zu integrieren, welches sich zum Ziel gesetzt hatte,
einen Film über ADHS zu drehen. Er konnte seine eigenen Erfahrungen, seine Kompetenzen im kreativ-darstellenden Bereich und seine
Beharrlichkeit an den Dingen zu bleiben, einbringen. D. entwickelte
eine Filmszene, die sehr genau sein Lebensgefühl darstellte. Er beschrieb sich als einen Computer, bei dem sich immer wieder der
Standby-Modus einschaltet, während alle von ihm die Bedienung
komplexerer Programme wünschen. Der Film kam in einer öffentlichen Veranstaltung zur Ausstrahlung und die Jugendlichen erhielten
großen öffentlichen Zuspruch. In der Zwischenzeit ist D. in der Klasse
gut sozial integriert. Ihm wird jetzt auch zugetraut einen höheren
Schulabschluss zu erreichen. D. nimmt noch seine Medikation, hat
jedoch das Gefühl, dass er das Atomoxetin nicht mehr braucht. Er
setzte es erfolgreich ab. Er fühlt sich in der Klasse wohl, hat seinen
individuellen Kommunikations- und Kleidungsstil gefunden und kann
selbstbewusst zu seinen Handicaps und Störungen stehen.
Fazit: D. hat in einem langen Prozess gelernt seine Krankheit und
die dadurch bedingten Eigenheiten anzunehmen. Neben den
herkömmlichen Therapien hat ihm dabei die Aktivierung seiner
Ressourcen im kreativen Bereich besonders geholfen. Seinem
Leiden einen sichtbaren Ausdruck zu geben und diesen in einer
Gruppe und in der Öffentlichkeit selbstbestimmt zu kommunizieren
hat dabei für seine Gesundung, Lebensqualität und Zukunftsperspektive eine besondere Bedeutung gewonnen.
*Initialen geändert.
Die geschilderten Beobachtungen und Empfehlungen geben die Meinung des Autors wieder.
Dipl.-Med. Cornelia Stefan, Chef­ärztin, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des
Kindes- und Jugendalters, Zwickau
D
er Grund für eine am­bu­lante oder stationäre
Behandlung ergibt sich,
wenn das Funktionsniveau des
Patienten im Bereich Familie,
Schule/Kindertagesstätte, Frei­zeit deutlich beeinträchtigt ist.
Das wiederum wirkt sich nachhaltig auf die Lebenszufriedenheit aller (emotional) Beteiligten aus.
Die Erwartungen an eine Therapie und deren Erfolg rekrutieren sich
somit aus der aktuellen, belasteten Lebenssituation der Familie.
Der Wunsch der Hilfesuchenden lautet meist: Es muss/soll sich
schnell etwas ändern.
Zu Beginn einer Evaluation stehen somit die Anamneseerhebung
mit Erfassung der relevanten Bereiche der Lebenszufriedenheit als
auch für den weiteren Verlauf verwendbare Messinstrumente, wie
fremdanamnesische Erhebungsbögen und altersangepasste Fragen­
spiegel, zur Verfügung. Diese sind neben einem visualisierten
Scaling auch hilfreich, um Therapieerfolge objektiv und subjektiv zu
erfassen und die Ratsuchenden zu unterstützen, prozessimmanente
Fortschritte zu erkennen.
Als systemischer Therapeut nutze ich auch gern zirkuläre Fragen,
um die z. T. entfremdeten Beteiligten, denen es eigen ist, aneinander vorbeizureden, in Beziehung zu bringen: „Was glaubst du, wie
deine Mutti auf einer Skala von 0–10 (1 bedeutet sehr schlecht, 10
bedeutet sehr gut) die Situation vor der Behandlung und jetzt ein­schätzt? Was kann ein realistisches Ziel sein?” Ebenso stellen wir
der Mutter Fragen, die sich auf die vermutete Einschätzung des
Kindes beziehen. In diesem Prozess gelingt es häufig, dass die
Betroffenen wieder Blickkontakt aufnehmen und sich ein konstruktiver Dialog entspinnt.
gemeinsam mit Eltern/Sorgeberechtigten und Patienten, um
Transparenz und Kooperation zu demonstrieren.
Die Beobachtung des Patienten als weitere Evaluationsmethode
gelingt bei entsprechender Indikation natürlich besser im stationären oder teilstationären Kontext, da die Patienten nicht nur in der
1:1-Situation mit Erwachsenen, sondern auch in Gruppensituationen mit Kindern erlebt werden können.
Nicht unerwähnt bleiben sollten die für unsere Arbeit als abrechnungsrelevantes Muss verwendeten Kriterienkataloge.
Wenn Patienten und Familien sich bedanken, zufriedene Gesichter
tragen, aufgeregt über erhaltene positive Rückmeldungen erzählen,
also einen Behandlungserfolg auf lebendige Art und Weise zeigen,
sind das die authentischsten und schönsten Momente für uns als
Ärzte und Therapeuten.
Eine kurze Kasuistik soll dies untermauern: Ein inzwischen
15-jähriger Patient, den ich seit 2003 betreue und der sich nach
längerer, umzugsbedingter Pause als stattlicher Jugendlicher wieder
vorstellte, berichtete stolz, dass er nur Einsen und Zweien auf
seiner Lernförderschule erreicht habe und nun den Hauptschulabschluss machen dürfe.
Das hört sich erst einmal nicht so spannend an. Wenn man jedoch
weiß, dass der Grund der Erstvorstellung mit sechs Jahren die
Schulfähigkeit in Frage gestellt hatte und die Einschulung primär in
eine Förderschule für Geistig-Behinderte erfolgte, ist es schon eine
Leistung. Diese wurde bei dem vorliegenden schweren ADHS und
einer kombinierten Entwicklungsstörung (Sprechbeginn mit vier
Jahren, Lesebeginn mit neun Jahren) durch die auch in den Leit­linien empfohlene komplexe Behandlungsstrategie mit medikamentöser Einstellung, Ergotherapie, Logopädie und Psychoedukation
sowie eine engagierte Mutter möglich.
Ein weiteres Evaluationsinstrument ist die Prä- und Posttestung
von z. B. intellektuellem Leistungsvermögen, Konzentration und
Aufmerksamkeit über standardisierte Testverfahren. Routinemäßig
bitten wir um Vorlage von Schulzeugnissen im Sinne einer Doku­mentenanalyse, womit auch sehr gute Vergleiche möglich werden
(Kopfnoten).
Persönlicher wird es mit Hilfe eines Interviews von Erziehern,
Lehrern, Helfersystemen. Dies geschieht im günstigsten Fall
Die geschilderten Beobachtungen und Empfehlungen geben die Meinung des Autors wieder.
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Gelungene Ressourcenaktivierung im
multimodalen Therapiesetting
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ADHS Update – Gegenwart und Zukunft: Stand der
deutschen Leitlinien für ADHS und Neues zum DSM-V
Symposium beim DGPPN-Kongress in Berlin
Stets auf dem neuesten Wissensstand zu sein, ist bei der Diagnose und Therapie von ADHS essentiell. Derzeit
werden das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders” (DSM) überarbeitet und die AWMF Leitlinie „S3 Diagnostik und Therapie der ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen” erstellt. Der aktuelle Status quo dieser Bearbeitungen wurde unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Katja Becker (Marburg) und Prof.
Dr. Tobias Banaschewski (Mannheim) bei einem Symposium im Rahmen des DGPPN-Kongresses 2011 vorgestellt und diskutiert.
spielhaften Beschreibungen aus verschiedenen Altersspektren ergänzt.”
Der Psychologe erläuterte, dass die neuen Kriterien so
formuliert seien, dass sie auch die Symptomatik des
Erwachsenenalters abdecken:
• Handeln, ohne vorher darüber nachzudenken
• Ungeduld in verschiedenen Situationen
(z. B. nicht warten können)
• Unwohlsein, wenn man etwas langsam machen soll
• Schwierigkeit, (riskanten) Versuchungen zu wider-
stehen
DSM-V: aktueller Stand der Diskussion,
Neuerungen und noch zu lösende Probleme
Prof. Dr. Manfred Döpfner (Köln) hob in seinem Vor­­
trag zunächst allgemeine Kritikpunkte der DSM-IV
Leitlinie hervor. So wies er unter anderem darauf hin,
dass die „definierten Subtypen über die Zeit hinweg
recht unstabil” seien. Beispielsweise gäbe es deutliche
Übergänge vom hyperaktiven zum impulsiven oder unaufmerksamen Typ. Aufgrund dieses fließenden Übergangs ist eine Zuordnung nicht immer ein­­­­­­fach, daher
stellt sich für Döpfner die Frage, ob der Begriff Subtyp
als Klassifikationskriterium angemessen sei. „Die Frage der Beziehung der Kernkomponenten von ADHS,
Unaufmerksamkeit sowie Hyperaktivität bzw. Impulsivität, wird mit jeder Fassung neu diskutiert”, erläuterte der Psychologe.
„Die bisher formulierten Symptomkriterien für ADHS
sind Kriterien für das Grundschulkind von sechs bis
zwölf Jahren, Vorschulkinder oder Jugendliche sind
nicht erfasst. Auch die Manifestation der ADHS von
Erwachsenen ist in diesen Symptomkriterien wenig
manifestiert”, so Döpfner weiter. Dies ändert sich mit
DSM-V. „Künftig wird ein breiteres Altersspektrum
abgebildet. Die einzelnen Kriterien werden mit bei20
Mehr zum aktuellen Stand der neuen DSM-V-Leitlinie,
die 2013 veröffentlicht werden soll, erfahren Sie unter:
www.dsm5.org
Aktueller Entwicklungsstand der Leitlinie
„ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen” –
Kinder und Jugendliche
„Wir sind noch mittendrin”, mit diesen Worten begann
Prof. Tobias Banaschewski (Mannheim) seinen Vortrag
zum Entwicklungsprozess der AMWF-Leitlinie „S3 Diagnostik und Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit-/
Hyperaktivitätsstörung bei Kindern, Jugendlichen und
Erwachsenen”. Die Leitlinie wird derzeit von den Fachgesellschaften für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
-psychotherapie, Pädiatrie und Psychiatrie gemeinsam
erarbeitet.
Der Kinder- und Jugendpsychiater betonte, dass
Leitlinien eine Hilfestellung bei der individuellen Entscheidungsfindung seien: „Sie bilden den derzeitigen Wissensstand ab und sollen dazu dienen, die
Versorgungs­qualität zu verbessern, damit der individuelle Patient die bestmögliche Therapie erhalten
kann.”
Die Kernaussagen der aktuellen nationalen und internationalen Leitlinien seien hinsichtlich Diagnose und
Therapie von ADHS bei Kindern und Jugendlichen nahezu konsistent. „Bei stark ausgeprägter ADHS-Symptomatik oder krisenhafter Zuspitzung der Sympto­
matik geht man unmittelbar zur Pharmakotherapie
über. Ansonsten behandelt man mit verschiedenen
verhaltenstherapeutischen Maßnahmen”, so Banaschewski.
Leitlinien ADHS: Erwachsene –
Stand und zu lösende Probleme
„Unser Ziel ist es, eine altersübergreifende S3-Leitlinie zu erstellen”, sagte Prof. Michael Rösler (Homburg/Saar) und knüpfte damit inhaltlich an den Vortrag seines Vorredners an. „Diese beinhaltet die Diagnostik und Behandlung von ADHS”, so der Facharzt
für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Er betonte, dass letztere auch die Versorgungssituation in
Deutschland mit einschließe. Hierbei sei insbesondere die Frage nach dem Übergang vom Kinder- und Ju-
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gendpsychiater an den Erwachsenenpsychiater von Interesse.
„Die Konsensusfindung beinhaltet zunächst eine Art
Bestandsaufnahme”, erläuterte Rösler. „Diese muss
folgende Frage beantworten: Welche Leitlinien gibt
es und wie kann man diese bewerten? Es folgen neue
Studienrecherchen, aber auch die systematische Erprobung, ob diese Methoden erfolgreich sind.” Rösler
bezeichnete die Entstehung einer S3-Leitlinie daher
als einen dynamischen Prozess.
Er berichtete, dass die NICE-Guidelines als Referenzleitlinie für die neue deutsche S3-Leitlinie dienten,
welche mit Hilfe des Deutschen Leitlinien-Bewertungsinstruments DELBI beurteilt wurde. „Unsere Arbeitsgruppe muss nun die systematische Studienrecherche
vorantreiben und evidenzbasiert bewerten”, lauteten
die abschließenden Worte Röslers.
Behandlung von ADHS im Jugend- und Erwachsenenalter: Wie gestaltet man den Übergang?
Seminar im Rahmen der Jahrestagung des BKJPP in Friedrichshafen
„Der Übergang vom Kindes- und Jugendalter ins
Erwachsenenalter stellt
eine besondere Herausforderung in der ADHSTherapie dar”, so Dr.
Dagmar Brummer (Ulm)
bei der Jahrestagung
2011 des Berufsverbands
für Kinder- und Jugendpsychiatrie, PsychosoDr. Dagmar Brunner (Ulm)
matik und Psychotherapie in Deutschland e. V.
(BKJPP). Denn dieser Prozess beeinflusst nicht nur
den Alltag der Betroffenen, sondern auch die Therapie.
Veränderung der ADHS-Symptomatik
Bis vor einigen Jahren galt ADHS noch als eine Erkrankung des Kindes- und Jugendalters. Inzwischen ist bewiesen, dass ADHS bei bis zu 65 % der Erwachsenen
in voller Ausprägung oder in Teilen bestehen bleiben
kann.1 Mit dem Älterwerden ändert sich allerdings
häufig die Symptomatik der Erkrankung. „Die Hyperaktivität nimmt in der Regel ab, während die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung verstärkt zu
Problemen führen kann”, erläuterte Brummer. „Dies
zeigt sich besonders dann, wenn die Jugendlichen
stärker eigenverantwortlich handeln müssen und weniger von Lehrern und Eltern ‚organisiert’ werden.” Je
älter die Jugendlichen werden, desto mehr treten auch
Defizite in der Alltagsbewältigung in den Vordergrund.
Laut der Psychiaterin und Neurologin würden diese
Schwierigkeiten meist deutlich, wenn die jungen Erwachsenen ihren eigenen Haushalt, ihr Studium oder
ihre eigene Familie koordinieren müssen.
Jugendliche als Partner sehen
Nicht nur die veränderte Symptomatik stellt eine therapeutische Herausforderung für die Ärzte dar, sondern auch das ,Älterwerden’ des Patienten selbst. Insbesondere sei es immer wieder schwierig, Jugendliche
in der Pubertät zur Fortführung der Therapie zu motivieren. „Die Eltern sehen die Notwendigkeit einer Behandlung ihrer Kinder oft nicht”, beschreibt Brummer
die Situation. „Die Betroffenen sind in einer Phase, in
der sie sein wollen wie jeder andere. Sie möchten nicht
zum Arzt gehen und schon gar keine Medikamente nehmen.” Für eine gute Adhärenz sei es daher wichtig, den Jugendlichen als Partner zu gewinnen, lautete
die Empfehlung der Erwachsenenpsychiaterin. „Eltern
können dann in enger Absprache mit den behandelnden Ärzten ihren Kindern zunehmend Verantwor21
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tung übertragen, denn die Schwierigkeit besteht darin, genügend Rahmenstruktur zu geben und den jungen Erwachsenen trotzdem nicht das Gefühl zu geben,
bevormundet zu werden. Hierfür ist eine gute Kommunikation zwischen Eltern, Jugendlichem und Arzt
Voraussetzung.”
Medikamentöse Weiterbehandlung im
Erwachsenalter möglich
Je nach Ausprägung der Symptomatik kann eine medikamentöse Weiterbehandlung im Übergang zum Erwachsenenalter sinnvoll sein.
„Aktuell gibt es zwei Medikamente, die bei Erwachsenen mit ADHS zu Lasten der GKV verordnet werden
können”, so Brummer. Seit diesem Jahr ist ein Methylphenidat-Retardpräparat2 zur Behandlung von Erwachsenen mit ADHS zugelassen. Die Tatsache, dass
es BTM-pflichtig ist, ist im Alltag jedoch für manche
Patienten kompliziert, weswegen die Erwachsenenpsychiaterin – gerade bei Patienten mit stärkerer Suchtkomponente – alternativ das Nicht-Stimulanz Atomoxetin einsetzt. Sie wies darauf hin, dass mit Atomoxetin im Erwachsenenalter nur weiterbehandelt werden
dürfe, wenn die Behandlung bereits vor dem 18. Lebensjahr begonnen wurde.*
In vielen Fällen ist diese Weiterbehandlung – bedingt
durch den Übergang vom Kinder- und Jugendpsychiater zum Erwachsenenpsychiater – erschwert. „Es ist
wünschenswert, dass sich die Zusammenarbeit zwischen Kinder- bzw. Jugendpsychiatern und Erwachsenenpsychiatern künftig bessert”, sagte Brummer.
Sie zeigte sich zuversichtlich, dass die aktuellen Forschungsentwicklungen – Verständnis von ADHS als
Krankheitsbild, die überarbeiteten Klassifikationskriterien in der Neufassung der DSM-V sowie die erwarteten Studienergebnisse zu medikamentösen
Behandlungsoptionen – auch die interdisziplinäre
Zusammen­arbeit vereinfachen werden und dass es in
Zukunft gelingen wird, den Übergang zum Erwachsenenalter für Betroffene optimal zu gestalten.
Die nächsten Termine …
17.–20. Mai 2012 · Moskau, Russland
2nd Global Congress for Consensus in
Pediatrics & Child Health (CIP)
Veranstalter: CIP
Weitere Informationen: www.cipediatrics.org
23.–25. Mai 2012 · Barcelona (Spanien)
EUNETHYDIS 2nd International ADHD Conference
Thema: Sharpening the cutting edge of
ADHD science and clinical practice
Veranstalter: Eunethydis International Conferences
Weitere Informationen: www.eunethydisconference.com
21.–25. Juni 2012 · Paris, Frankreich
IACAPAP 20th World Congress
Thema: Brain, Mind and Development
Veranstalter: The International Association for Child and
Adolescent Psychiatry and Allied Professions (IACAPAP)
Weitere Informationen: www.iacapap.org
22.–24. Juni 2012 · Berlin
Kinder- und Jugendärztetag 2012
Thema: Neue Aspekte der Prävention im Kindesund Jugendalter
Veranstalter: Berufsverband der Kinder- und
Jugendärzte (BVKJ) e.V.
Weitere Informationen: kongress.bvkj.de
Ausblick …
12.–16. September 2012 · Hamburg
108. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für
Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) e.V.
13.–17. Oktober 2012 · Wien (Österreich)
25th Kongress des European College for
Neuropsychopharmacology (ECNP)
2.–3. November 2012 · Seoul (Südkorea)
1st Asian Congress on Attention/Deficit Hyperactivity Disorder
(ADHD), jointly with 2012 Annual Meeting of KACAP
15.–17. November 2012 · Lübeck
Jahrestagung des Berufsverbands für Kinder- und Jugendpsychiatrie,
Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland e. V. (BKJPP)
Quellen:
1 Wehmeier PM et al. J Adolesc Health 2010; 46:209-17. 2 Medikinet® adult Fachinformation (Stand: April 2011).
*Strattera® Fachinformation (Dezember 2011): Bei Jugendlichen, bei denen die Symptomatik ins Erwach-
senenalter fortbesteht und die eindeutig von der Behandlung profitieren, kann es angemessen sein, die Behandlung ins Erwachsenenalter hinein fortzuführen. Der Beginn einer Behandlung mit Strattera® im Er-
wachsenenalter ist jedoch nicht angemessen.
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21.–24. November 2012 · Berlin
Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie,
Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)
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Lilly zeigt Herz
Spendenaktion für regionale Kinder- und Jugendarbeit
Auch im vergangenen Jahr haben die Ärzte mit ihrer Teilnahme an den 8. ADHSGesprächen etwas Gutes getan. Denn wieder wurden die Teilnehmergebühren zur
Förderung regionaler Kinder- und Jugendarbeit gespendet. Im Rahmen der Fortbildungsveranstaltung von Lilly hatten die Referenten gemeinnützige Organisationen
aus ihrer Region für die Spendenaktion vorgeschlagen. Insgesamt erhielten fünf
Projekte eine finanzielle Unterstützung von jeweils 1.000 Euro.
Spendenempfänger im Portrait:
Autismus Nordbaden-Pfalz e. V.,
Mannheim
Seit fast 30 Jahren engagiert sich der
Eltern-Selbsthilfe-Verband Autismus
Nordbaden-Pfalz e. V. für die Beratung
und Förderung autistischer Menschen
und ihrer Angehörigen. Die Spende
setzt der Verein für die Durchführung
von Elternwochenenden ein. „Beson­
ders viele Eltern autistischer Kinder
berichten, dass sie sich durch die Vorträge und Elterntreffen bestärkt fühlen und die praktischen Hilfen sie im Alltag unterstützen”, berichtet Dr. Luise Poustka, Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie
und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Zentralinstitut für Seelische
Gesundheit in Mannheim.
Weitere Informationen unter www.autismus-nordbaden-pfalz.de
„ADHS – Auch du hast Stärken” –
ein Trommelprojekt der Jugendmusikschule Backnang
Ressourcenorientierte Freizeitangebote für Kinder mit ADHS sind wichtig, weiß Dr. Andreas Oberle. „Rhythmik tut den Kindern gut. Die strukturierte, begrenzte Bewegung hilft ihnen,
einen Rahmen zu finden und Orientierung zu erhalten”, so der Kinder- und
Jugendarzt aus Stuttgart. Gemeinsam
mit dem Verein der Freunde und Förderer der Jugendmusikschule Backnang freut
er sich über die Spende. Denn mit dem Geld konnte das Projekt „ADHS – Auch du
hast Stärken” ins Leben gerufen werden. Hierfür wurden zehn sogenannte Cajóns
angeschafft. In fünf Unterrichtsstunden lernen Kinder mit ADHS den Umgang mit
diesem Instrument.
Weitere Informationen unter www.backnang.de/servlet/PB/menu/1167126/index.html
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Buchtipp
Junge Menschen mit
ADHS stehen im Mittelpunkt des Buches „Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom: ADHS – Die Einsamkeit in unserer Mitte”
von Karsten Dietrich. Wie
erklären sich die Auffälligkeiten im Verhalten eines Betroffenen? Wie erlebt er die zum Teil ablehnenden Reaktionen seiner
Umwelt? Und wie erlebt
sein Umfeld ihn?
Wussten Sie schon, …
… dass Lilly den Kampf gegen
Tuberkulose unterstützt?
Tuberkulose ist behandel- und
heilbar. Trotzdem sterben jährlich
mehr als zwei Millionen Menschen
an dieser Krankheit. Denn in vielen
Fällen führen abgebrochene oder
fehlerhaft durchgeführte Therapien zu resistenten Krankheitserregern, deren Behandlung häufig
kompliziert und langwierig ist.
Um diesem immer größer werdenden Problem der multiresistenten Tuberkulose
(MDR-TB) zu begegnen, wurde 2003 die Lilly MDR-TB Partnership gegründet. Ziel
dieser globalen Initiative ist die Prävention und Behandlung der multiresistenten
Tuberkulose in Entwicklungsländern.
Hier erfahren Sie mehr: www.lilly-pharma.de/unternehmen/lilly-mdr-tb-partnership.html
Karsten Dietrich: Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom: ADHS – Die Einsamkeit in unserer Mitte.
Schattauer Verlag 2010.
ISBN 978-3794526536
Im World Wide Web
für Sie gefunden
Für Kinder mit ADHS ist der Schul­alltag oft nicht leicht zu bewältigen. Doch auch Lehrer sind im
Umgang mit einem ADHS-Kind
in ihrer Klasse häufig überfordert.
Welche Herausforderungen ergeben sich hieraus und wie kann der
Lehrer ein Kind mit ADHS bestmöglich unterstützen? Mit diesem Thema beschäftigt sich der Online-Workshop „ADHS in der Schule – keine unlösbare Aufgabe”
speziell für Pädagogen.
Der von Lilly unterstützte Workshop enthält Expertentipps, Rollenspiele und umfangreiche Materialien, die im Unterrichtsalltag mit ADHS unterstützen können.
Das Online-Modul wurde von Lilly in Zusammenarbeit mit Herrn Prof. Michael
Schulte-Markwort, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und Frau Monika Bohn, Gymnasiallehrerin a. D., entwickelt.
Sie erreichen den Workshop unter: www.info-adhs.de/workshop.html
DESTR00784
Der Kinder- und Jugendarzt vermittelt in seinem
Buch eine grundlegend
neue Theorie über ADHS.
Auf diese Weise erhält der
Leser eine andere Sichtweise auf das Krankheitsbild, dessen Komplexität
der Autor prägnant beschreibt. Dabei geht er auf
neurobiologische Vorgänge, Komorbiditäten und
Risikofaktoren ebenso ein
wie auf medikamentöse
und verhaltenstherapeutische Behandlungsmöglichkeiten.

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