Das Geheimnis der Bamiyan-Fragmente

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Das Geheimnis der Bamiyan-Fragmente
EINSICHTEN 2007
NEWSLETTER 01
g e i s t e s - u n d k u lt u r w i s s e n s c h a f t e n
maximilian G. burkhart
Das G e h e i m n i s d e r Ba m i ya n - Fr ag m e n t e
Der Fund ist spektakulär: 12.000 Fragmente frühester buddhistischer Literatur tauchten
in der Gegend des afghanischen Bamiyan auf. Der LMU-Indologe Professor Jens-Uwe
Hartman gehört der Forschergruppe an, die sich um die Entschlüsselung und Einordnung der Texte kümmert. Erste Ergebnisse elektrisieren nicht nur die Fachwelt. Manche vergleichen die Bedeutung des Fundes sogar mit der Entdeckung der frühchristlichen Qumran-Schriftrollen vom Toten Meer.
Mit der Sprengung der unter dem Schutz des UNESCO-Weltkulturerbes stehenden kolossalen Buddhastatuen von Bamiyan drängen die radikalislamischen Taliban im Jahr 2001
ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Aber nicht nur die allgemeine Empörung ist groß,
sondern auch das Erstaunen. Denn bislang war nur Spezialisten bekannt, dass auch in
Afghanistan eine Blüte buddhistischer Kultur existierte, der die Statuen zugerechnet werden. Fünf Jahre zuvor schon, mitten in den Wirren des afghanischen Bürgerkrieges, wurde
ebenfalls in Bamiyan durch einen Erdrutsch eine lange verschüttete Höhle freigelegt, die
vermutlich einst als Bibliothek diente. In ihr finden sich 108 Fragmente frühester buddhistischer Literatur. Diesem wertvollen Fund ist ein besseres Schicksal als den Statuen beschieden. In einer waghalsigen Aktion bringen Schmuggler – gejagt von den Taliban – die
Dokumente auf verschlungenen Pfaden über den Khyberpass. Über Islamabad gelangen
die Schriftstücke nach London, wo sie bei Sothebys von einem unbekannten Mäzen für
die British Library ersteigert werden. Da die „Gotteskrieger“ versuchen, alle Zeugnisse
vor- und nichtislamischer Kultur zu vernichten, wachsen daraufhin in der restlichen Welt
die Begehrlichkeiten nach eben diesen Artefakten und die dafür gezahlten Schwarzmarktpreise. Das wiederum motiviert die lokale Bevölkerung, nach diesen Kulturgütern zu suchen. Innerhalb von zwei Jahren wächst das Textkorpus auf 12.000 Teile an, davon allerdings 8.000 so genannte Mikrofragmente. Den Zuschlag für den Großteil dieser Fragmente
bekommt der norwegische Sammler Martin Schøyen aus Oslo, der auch einige Schriftrollen
aus Qumran besitzt. Mit einiger Verzögerung formiert sich in Norwegen selbst einiger
Widerstand gegen diese Art des Kulturtransfers. Eine norwegische Ethikkommission geJuli
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stattet jedoch die digitale Erfassung und wissenschaftliche Auswertung dieses einmaligen
kulturellen Schatzes. Und so geht für die Indologie ein beinahe orientalisches Märchen in
Erfüllung.
Mittlerweile verhandelt der Besitzer auch mit den afghanischen Behörden über eine mögliche Rückgabe der Artefakte. Mit der wissenschaftlichen Bearbeitung wird eine kleine, international renommierte Gruppe von Wissenschaftlern betraut. In der Gruppe sind ein Norweger, Jens Braarvig, und ein Japaner, Kazunobu Matsuda, vertreten. Die relative Mehrheit
aber stellen die Deutschen. Neben dem Münchener Professor Jens-Uwe Hartmann gehören
noch die Berliner Schriftspezialistin Lore Sander und seit Kurzem auch der in den USA lehrende Neuseeländer Paul Harrison zum erlauchten Kreis. Während hierzulande die Erben
von Grimm und Schleiermacher um Forschungsgelder, Posten und ganze Institute fürchten
müssen, genießt die deutsche Philologie im Ausland offensichtlich einen exzellenten Ruf.
Mittlerweile verhandelt der Besitzer auch mit den afghanischen Behörden über eine mögliche Rückgabe der Artefakte. Mit der wissenschaftlichen Bearbeitung wird eine kleine, international renommierte Gruppe von Wissenschaftlern betraut. In der Gruppe sind ein Norweger, Jens Braarvig, und ein Japaner, Kazunobu Matsuda, vertreten. Die relative Mehrheit
aber stellen die Deutschen. Neben dem Münchener Professor Jens-Uwe Hartmann gehören
noch die Berliner Schriftspezialistin Lore Sander und seit Kurzem auch der in den USA lehrende Neuseeländer Paul Harrison zum erlauchten Kreis. Während hierzulande die Erben
von Grimm und Schleiermacher um Forschungsgelder, Posten und ganze Institute fürchten
müssen, genießt die deutsche Philologie im Ausland offensichtlich einen exzellenten Ruf.
bamiyan - das buddhistische qumran?
In der ersten Euphorie vergleicht die Times am 26. Juni 1996 die Bedeutung des Fundes
mit der Entdeckung der frühchristlichen Schriftrollen vom Toten Meer. Jens-Uwe Hartmann bleibt heute mit der Bewertung etwas vorsichtiger. Dennoch: Die Befunde der Forschergruppe elektrisieren auch die Fachwelt. Die Wiege des Buddhismus liegt in der Heimat seines Begründers Siddhartha Gautama (563 bis vermutlich 483 v. Chr.) im heutigen
Nepal. Über die Seidenstraße verbreiteten sich die Lehren des „Erleuchteten“ schnell auch
in Gandhara (heute Afghanistan und das nordwestliche Pakistan), das Alexander der Große
326 v. Chr. erobert hatte. Zudem stand die Region traditionell auch unter persischem Einfluss. Ein wahrer melting pot der Kulturen entstand mit verblüffenden Konsequenzen vor
allem auch für die bildende Kunst. So zieren zum Beispiel bildhauerische Darstellungen
Buddhas oft Figuren, die auf den ersten Blick direkt dem Fries griechischer Tempel entsprungen zu sein scheinen. Einer davon, der so genannte Vajrapani, ist Herakles nachgebildet. Unterscheidbar ist er vor allem am Vajra, einer indischen Waffe, die der Keule des Herakles entspricht (siehe Abbildung S. 03). Mit dem Aufkommen von Hinduismus und Islam
verschwand der Buddhismus ab dem 8. Jahrhundert beinahe vollständig aus Afghanistan,
ab dem 12. Jahrhundert dann auch vom indischen Subkontinent. Anfänglich, genauer: fast
ein halbes Jahrtausend lang, wurden die Lehrreden des Buddha und die dazu gehörigen
Kommentare jedoch nur mündlich weitergegeben. Da zudem die später als SchreibmaJuli
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terial verwendeten Birkenrinden und Palmblätter
im subtropischen Klima Indiens bald zerfallen,
existieren heute kaum noch originalsprachliche
frühbuddhistische Texte in Sanskrit. Ein großer Teil des buddhistischen Textkorpus ist daher
heute nur noch über den Umweg chinesischer
und tibetischer Übersetzungen erfassbar. Und
das macht die Funde so einzigartig, wie der Münchener Philologe an drei Beispielen erläutert.
Stuckplastik eines Vajrapani nach dem Vorbild des Herakles im typischen Gandhara-Stil (der Verschmelzung
gräko-römischer Formen mit indisch-buddhistischen In-
Die Forschergruppe konzentrierte sich zunächst
auf Texte jüngeren Datums aus dem zweiten bis
halten) aus dem 3. Jh. n.Chr. in der Klosteranlage von
achten nachchristlichen Jahrhundert. Geschrie-
Hadda bei Jalalabad im östlichen Afghanistan. Das Klo-
ben sind sie vor allem in Brahmi. So lässt sich ne-
ster ist bei Kämpfen mit den Taliban zerstört worden.
benbei auch die Entwicklung der Schrift in Indien
dokumentieren. Schnell wurde den Forschern klar, dass es sich bei den Handschriften in
Bamyian um sehr alte, teilweise sogar um die ältesten erhaltenen Texte des Buddhismus
handeln muss. Nach mühevoller Puzzlearbeit – neben fast vollständig erhaltenen Seiten
bestehen die Fragmente zum größten Teil aus konfettigroßen Papierschnipseln – zeichnen
sich nun erste Forschungsergebnisse ab. Eine Palmblatt-Handschrift enthält eine Sammlung von so genannten Mahayanasutras, kanonisierte Lehren also, die vom historischen
Buddha selbst stammen sollen. In einem der als Dialog gestalteten Texte geht es um einen
Maharaja, der den Thron durch Vatermord eroberte. In diesem Sutra wird ein für den Buddhismus zentrales Tabu erörtert, das – so der Glaube – nach dem Tode zu einer sofortigen
Wiedergeburt in der Hölle führe. Mit der Zeit plagten den Herrscher jedoch Gewissensbisse. Im Stil eines philosophischen Lehrgesprächs erörtert der Text die Frage, wie das
durch den Patrizid negativ beeinflusste Karma durch Reue abgemildert werden kann. Nun
gilt der Buddhismus als besonders kontemplative, weltabgewandte, an Macht und Einfluss
wenig interessierte Religion. Und genau dieser Umstand macht diesen Text so interessant,
erklärt der Münchener Experte. Denn menschliche Gemeinschaften oder Staaten benötigen eine gewisse Struktur, und das bedeutet Herrschaftsverhältnisse und Staatsgewalt zur
Durchsetzung von Ordnung. Damit befinden sich Regenten aus buddhistischer Perspektive
prinzipiell in einem moralisch-religiösen Dilemma. Das gefundene Sutra zeigt nun einen
möglichen Ausweg, indem es unvermeidliche Regierungsgewalt entschuldet. Religion und
Politik werden kompatibel. Es liefert damit eine Grundlage dafür, dass der Buddhismus
überhaupt Staatsreligion werden konnte und so zu seiner größten Blüte gelangte. Das führt
unter anderem auch dazu, dass die Todesstrafe in buddhistischen Ländern sehr wohl akzeptiert wird. Erstaunlich, da das Tötungsverbot das zentrale Gebot des Buddhismus darstellt.
Der zweite Text enthält eine Anrufung verschiedener Buddhas, ist also vermutlich ein Gebetbüchlein für das klösterliche Leben. Nichts besonderes, sollte man denken. Und doch
handelt es sich um einen äußerst ungewöhnlichen Text. Geschrieben ist er nämlich in BakJuli
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trisch, einer mitteliranischen Lokalsprache. Die Schrift selbst jedoch ist kursives GraecoBaktrisch, ein hellenistisch beeinflusstes Zeichensystem. Verblüfft war die Forschergruppe
aber auch von dem Schriftträger: Die Gebete sind nämlich nicht auf Birkenrinde oder Palmblättern, sondern auf Leder festgehalten. Da sich das buddhistische Tötungsverbot auf alle
empfindungsfähigen Lebewesen erstreckt, ein überraschendes Material. Eine mögliche Erklärung wäre, so Jens-Uwe Hartmann, dass es sich um eine Art Reisebrevier handelt, das
naturgemäß starken Belastungen ausgesetzt wäre. Da im Buddhismus aber der Text an sich
grundsätzlich heilig ist, wäre die Verwendung von sehr strapazierfähigem Schreibmaterial verständlich. Diese sehr spezielle Verbindung von buddhistischem Inhalt, griechischer
Schrift, iranischer Sprache und westlichem Textformat und Textmaterial verleiht dem Büchlein einen fast einzigartigen Status. Weltweit existiert nur ein vergleichbares Stück.
das paradiesähnliche „reine land“
Auch das letzte Beispiel des Indologen gleicht einer wissenschaftlichen Sensation. Das
Fragment ist Teil des so genannten Sukhavati-Vyuha und ebenfalls ein Mahayanasutra.
Im Mittelpunkt steht der transzendente Buddha Amitabha und die Beschreibung seines
paradiesähnlichen „Reinen Landes“ Sukhavati. Ebenso wie beim ersten Beispiel handelt
es sich auch hier um einen vorgeblich vom Buddha selbst verfassten Lehr-Text. Der ursprüngliche Buddhismus kennt noch keine Paradiesvorstellungen. Sein Ziel ist vielmehr,
den Samsara, den ewigen, leidvollen Kreislauf von Leben, Tod und Wiedergeburt, zu unterbrechen, und Erlösung zu finden. Der Buddha Siddhartha Gautama erstrebte das Nirvana
(„Verwehen“) und das „vollständige Verlöschen“ im Parinirvana nach dem Tode. Für einige
ostasiatische, besonders die chinesischen und japanischen Formen des Buddhismus, ist jedoch die Wiedergeburt im Paradies von Amitabha zentrales Glaubensziel. Sie propagieren
die Wiedergeburt in einem paradiesähnlichen Zustand. Bislang ging die Forschung davon
aus, dass diese wichtige Veränderung im Glaubensinhalt aller Wahrscheinlichkeit nach
nicht aus den Kernlanden des Buddhismus stammen könne. Man hielt dies vielmehr für
eine Vermischung von buddhistischen und lokalen Glaubensformen. Im Christentum lässt
sich dies beispielsweise in der Vermischung von christlicher Epiphanie und heidnischer
Wintersonnenwende zum Weihnachtsritual beobachten. Der Sukhavati-Vyuha aus dem afghanischen Bamiyan stellt also gewissermaßen einen missing link zwischen zentralem und
ostasiatischem Buddhismus dar.
Die Bamiyan-Fragmente sind, wie schon an den wenigen Beispielen erkennbar wird, für
die Indologie von unschätzbarem Wert. Aber ermöglichen sie einen ähnlichen Quantensprung für die Indologie wie die Qumran-Rollen vom Toten Meer für die christliche Theologie? Einerseits, so Jens-Uwe Hartmann, sind die Funde aufgrund ihres Alters und Erhaltungszustandes „eine absolute Sensation“. Andererseits bieten sie jedoch, im Gegensatz
zu ihren frühchristlichen Pendants, keine vollkommen neuen Einblicke in die Entwicklung
der Religion. Ihre Bedeutung erklärt der Spezialist aber trotzdem mit einem Vergleich zum
Christentum: Man stelle sich vor, erklärt Jens-Uwe Hartmann, „das Alte und das Neue
Testament seien von verschiedenen christlichen Sekten in mehreren deutlich unterscheidJuli
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baren Fassungen überliefert, und nun fände man
eine christliche Bibliothek mit Fragmenten aus
wenigstens zwei Fassungen des Alten Testaments
und einer des Neuen Testaments, außerdem
Fragmente der dazugehörigen Kommentarliteratur; der größte Teil all dieser Schriften sei aber
im Original bisher nicht erhalten gewesen und
nur ein Teil davon wenigstens aus Übersetzungen
bekannt. Ein derartiges Szenario wäre doch wohl
Metallbehälter mit einer darin eingewickelten Handschrift aus dem 6. Jh. Sie enthält eine häufig für die
Abwendung von Unheil verwendete kurze Lehrrede des
eine Sensation.“ Und er fährt fort: „Unter den
Handschriften aus Afghanistan finden sich solche
Buddha. Der Behälter wurde im Sommer 2006 im Schutt
der beiden großen Richtungen des Buddhismus,
einer der beiden Buddha-Statuen in Bamiyan von Mit-
des Hinayana (‚kleines Fahrzeug’; ältere, persona-
arbeitern des deutschen ICOMOS-Teams entdeckt (ICOMOS = Internationaler Rat für Denkmalpflege).
lere Form) und des Mahayana (‚großes Fahrzeug’;
neuere, altruistische Form); innerhalb der Hina-
yana-Schriften sind mindestens zwei, wahrscheinlich aber wenigstens drei verschiedene
Schulrichtungen mit je eigenen Fassungen des Kanons repräsentiert. Innerhalb der Kanonfassungen sind alle drei Abteilungen – Vinaya (Ordensdisziplin), Sutra (Lehrreden), Abhidharma (systematische Exegese) – vertreten, und viele Fragmente wird man wahrscheinlich
deshalb nie endgültig bestimmen können, weil die in ihnen bewahrten Texte weder in einer
vollständigen Originalfassung noch in einer Übersetzung erhalten sind.“
Das Ordnen, Zusammensetzen, Erfassen und Kommentieren der Mikrofragmente gleicht
einer Sisyphusarbeit, die noch viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Für eine abschließende
Bewertung der Bamiyan-Handschriften ist es also noch zu früh. Jens-Uwe Hartmann ist
sich seiner historischen Verantwortung bewusst: „In dieser Hinsicht aber, dass wir hier
nämlich auch solche Handschriften vor uns haben, deren religiöse Inhalte bis heute bei
Millionen von Menschen präsent, lebendig und für ihren jeweiligen Lebensentwurf von
sinnstiftender Wirksamkeit sind, in dieser Hinsicht also können wir uns ohne weiteres noch
einmal erinnert fühlen an die Schriftrollen vom Toten Meer.“
Prof. Dr. Jens-Uwe Hartmann ist seit 1999 Professor für Indologie und Iranistik. Derzeit ist er Dekan der Fakultät
für Kulturwissenschaften. Seit 2001 ist er Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
[email protected]
http://www.indologie.lmu.de/hartmann.htm
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