klassen feind

Transcrição

klassen feind
KLASSEN FEIND
NIGEL WILLIAMS
BEGLEITMATERIAL
Redaktion: Beate Brieden, Jasmin Kohler
Fotografie: Philipp Ottendörfer
Kontakt: [email protected]
SPIELZEIT 2009/2010 | Intendanz Michael Heicks
INHALT
1.
STÜCK
Handlung
Nigel Williams | Autor
2.
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INSZENIERUNG
Orazio Zambelletti | Regisseur
Besetzung
Musik | Fugazi –
Die Band
Waiting Room (Lyrics)
3.
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JUGEND HEUTE
►► Jugendkulturen
Jugendkulturen | Klaus Farin
Beunruhigende Normalisierung:
Zum Wandel von Jugendkulturen in der BRD | Dieter Rink
Die gesellschaftliche Zeitbombe
„Keine Null-Bock-Haltung“ | Jugendstudie
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Interview mit Jugendforscher Klaus Hurrelmann
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Die Avantgarde der Härte | Thomas Groß
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►► Aggression. Gegen euch! Gegen mich!
Aggression - Gewalt in der Schule| Definitionen
Der tägliche Terror | Anja Schäfers
„Wenn du auf Streber machst, bist du tot“ | Maximillian Pop
Selbstverletzendes Verhalten:
Definition
Mögliche Ursachen
Ein Heer von Selbstverletzten | Cornelia Fux
„Nach dem Schneiden waren die Wunden feuerrot“
Geschichte eines Betroffenen
4.
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FAKTEN
Polizei des Landes NRW - Jugendkriminalität
Ursachen für Schülergewalt
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STÜCK
KLASSEN FEIND (CLASS ENEMY)
Schauspiel in zwei Akten von Nigel Williams
Bearbeitet von Jürgen Kruse und Peter Stein unter Benutzung der Übersetzung von Astrid Windorf und August Zirner
HANDLUNG
Und so, wie wir hier und heute den Weg zur Erkenntnis suchen und uns einen Weg zur Wahrheit
freisprengen, hämmern, graben, bohren, - weiß ich, vielleicht ist es ja das Suchen, Graben und
Bohren, worauf es ankommt im Endeffekt; vielleicht ist die Suche alles. Und es kommt nur darauf an,
dabei glücklich zu sein.
Sechs Männer erinnern sich an ihre Jugend. Damals steckten sie fest, sie waren DIE
Rowdyklasse schlechthin, und kein Lehrer traute sich mehr zu ihnen. Fetzer war der Held
der Klasse, er bestimmte die Regeln. Seine Pläne verhießen Großes. Er hatte den besten
Wegweiser für den ganz eigenen Lebensentwurf. In der Nische, die er für sich und die
anderen aufgetan hatte und die alle vom Rest der Welt abgrenzte, gab es klare Feinde und
Zeichen für die Zugehörigkeit zur Clique.
Dass sie damals auf sich gestellt waren, verlassen von Lehrern und Erziehungsberechtigten,
war nicht schlimm, denn die sechs Jungs konnten gemeinsam an ihrer Zukunft basteln. Mit
gemeinsamen Ideen, einem nur ihnen verständlichen Code und ihrer Musik. Das war richtig
und zukunftsträchtig.
Aber was lief falsch? Zeit ist vergangen, und Fetzer blieb in seiner Seitenstrasse hocken, die
sich über die Zeit als Sackgasse entpuppte. Heute ist er nur Zuschauer, aller Macht
entledigt. Die Feinde haben sich verflüchtigt. Und es existiert nichts mehr von dem man
glaubte, sich abzugrenzen zu müssen. Die Freunde von damals sind mit dem Strom
geschwommen und haben sich ganz unideologisch andere, neue Rollen übergestülpt. Nun
leben sie ganz zufrieden in ihrem Jetzt, was auf Zukunft gerichtet ist, so als gäbe es keine
gemeinsame Vergangenheit.
Warum sitzt Fetzer jetzt in seinen Erinnerungen fest und weiß, es wird nie wieder so wie
damals? Die Kraft ist weg und in der Erinnerung ist das Vergangene eh verklärt. Helft mir,
schreit er, aber seine Stimme hat keine Kraft mehr. Wie war es damals, als man noch jung
war, woher kam die Kraft für die verschiedenen Versuche? Warum ist bloß alles gescheitert
und so wenig davon übrig geblieben? Keiner hört ihn mehr, die Freunde von damals laufen
durch seine Erinnerungen, aber sie kommen nicht mehr zusammen. Was bleibt, ist die
Musik. Und Fetzer schaltet den CD-Spieler an….
3
STÜCK
NIGEL WILLIAMS
Nigel Williams (* 20. Januar 1948 in Cheadle (Cheshire), Großbritannien) ist ein britischer
Schriftsteller, der für Hörfunk und Fernsehen arbeitet. Außerdem ist er Verfasser von
mehreren Romanen, Kinderbüchern und Theaterstücken.
Leben
Nigel Williams wurde als Sohn eines Schuldirektors geboren. Nach dem Studium an der
Highgate School und dem Oriel College der Universität Oxford arbeitete er am Oriel College
als Dozent. Mit seinem Stück Klassen Feind (Class Enemy), das in England zum wichtigsten
Stück des Jahres 1978 gewählt wurde, gelang ihm der Durchbruch als Bühnenautor. Die
Uraufführung war am 9. März 1978 am Royal Court Theatre, London. Die deutsche
Erstaufführung fand am 23. April 1981 an der Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin
unter der Regie von Peter Stein statt.
1994 gewann er für seine Fernsehadaption von William Horwoods Skallagrigg mit dem
BAFTA einen der wichtigsten britischen Fernsehpreise. Seine bisher erfolgreichste Arbeit
war das englische Fernsehspiel Elizabeth I, für das er für einen Emmy Award nominiert
wurde. Seine erste Novelle My Life Closed Twice gewann im Jahre 1974 den Somerset
Maugham Award.
Zum Repertoire vieler Theater zählt vor allem seine Dramatisierung des Romans von William
Golding, Der Herr der Fliegen (Lord of the Flies, UA: 31.Juli 1995, Royal Shakespeare
Company at The Other Place, Stratford-upon-Avon; DSE: 23. Januar 1999, Rheinisches
Landestheater Neuss).
Nur ein sehr überschaubarer Teil des Werkes von Nigel Williams wurde ins Deutsche
übersetzt bzw. wird in Deutschland verlegt.
Nigel Williams ist verheiratet und Vater von drei Söhnen. Er lebt in Putney, im Südwesten
Londons.
Werke
Chefsache (Roman, erschienen bei Goldmann)
•
•
•
1
MitGift (Roman, erschienen bei Goldmann)
2 1/2 Männer im Boot. Roman einer modernen Themsefahrt. (Roman, erschienen bei
Piper)
Klassenfeind (Theaterstück, erschienen in Theater heute Ausgabe 06/1981)1
http://de.wikipedia.org/wiki/Nigel_Williams
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INSZENIERUNG
ORAZIO ZAMBELLETTI
Orazio Zambelletti wurde in Beckum/Westfalen geboren. Er absolvierte von 1994 bis 1998
zunächst eine Schauspielausbildung an der Hochschule für Musik & Theater in Hamburg.
Von 2002 bis 2004 war er dann als Regieassistent am Schauspielhaus Bochum engagiert.
Hier arbeitete er unter anderem mit Karin Henkel, David Mouchtar-Samorai, Gil Mehmert,
Titus Georgi und Matthias Hartmann zusammen.
Orazio Zambelletti inszenierte 2005 am Theater Bielefeld in der Reihe TAMZWEIJUNG bereits
Kick & Rush von Andri Beyeler. Der Regisseur und gelernte Schauspieler arbeitet
freischaffend. Seine Regiearbeiten führten ihn unter anderem an Theater in Tübingen,
Bochum, Bonn, Hamburg und Mannheim.
Zuletzt inszenierte er für das Landestheater in Tübingen Sechs Stimmen, kein Chor von D.
Leupold (2005). Zuvor führte er am Schauspielhaus Bochum bei Playstation Reservoir Dogs
nach Q. Tarantino (2003) und Chimo trouve Lila nach Chimo (2002) Regie. Beim
Heidelberger Stückemarkt 06 richtete er die Szenische Lesung von Katharina Schmidts
Maxi-Singles ein, wofür die Autorin mit dem Autorenpreis ausgezeichnet wurde. Als
Schauspieler war Orazio Zambelletti unter anderem in F. Dürrenmatts Physiker und F.
Richters Sieben Sekunden am Schauspielhaus Bochum, in F. Schillers Don Carlos am
Volkstheater Wien, Pasolini - Testament des Körpers am Hamburger Schauspielhaus und in
J. Eustaches Mama und die Hure am Thalia Theater in Hamburg zu erleben. Zudem wirkte
er in verschiedenen Film- und Fernsehproduktionen mit.2
2
Quelle: http://www.theater-bielefeld.de/theater/detailansicht.php?user=37866
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BESETZUNG SPIELZEIT 2009/ 2010
TAM
KLASSEN FEIND
NIGEL WILLIAMS
Bearbeitet von Jürgen Kruse und Peter Stein unter Benutzung der Übersetzung von
Astrid Windorf und August Zirner
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Musikalische Leitung
Dramaturgie
Regieassistenz
Regiehospitanz
Orazio Zambelletti
Annette Breuer
Verena Lachenmeier
Frank Raschke
Claudia Lowin
Verena Hagedorn
Bastian Dieckmann
Iron / Fetzer
Nipper / Koloss
Sweetheart / Angel
Racks / Pickel
Snatch / Kebab
Sky-Light / Vollmond
Alexander Swoboda
Oliver Baierl
John Wesley Zielmann
Johannes Lehmann
Omar El-Saeidi
Thomas Wehling
Inspizienz
Soufflage
Georg Kocherscheidt
Antje Schröder
PROBENBEGINN
PREMIERE
08. Juni 2009
12. September 2009
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INSZENIERUNG
Band | Musik
Fugazi (Band)
Fugazi ist eine US-amerikanische Post-Hardcore Musikgruppe aus Washington, D.C..
Der Bandname leitet sich von der Abkürzung Fugazi her, die ein amerikanischer Slangbegriff
aus dem Vietnamkrieg ist. Fugazi war hier ein Akronym für: „Fucked Up, Got Ambushed,
Zipped In“ und bezog sich auf eine aussichtslose Gefechtssituation.
Hintergrund
Fugazi entstammt der Washingtoner Punk- und Hardcore-Szene der 1980er Jahre.
Veröffentlichungen erscheinen auf dem Plattenlabel Dischord, dessen Gründer FugaziMitglied Ian MacKaye ist, der in früheren Zeiten schon bei diversen Washington-Punk-Bands
(z. B. Minor Threat) an Bekanntheit gewann. Die durch das nicht kommerziell ausgerichtete
Label vorhandene Handlungsfreiheit nutzt die Band, um gewisse Grundsätze zu bewahren,
beispielsweise niedrige Konzertpreise, Konzerte ohne Altersbeschränkung und keine
Massenveranstaltungen.[1] Diverse Gratisauftritte (z. B. Protestaktion zu Beginn des 2.
Golfkrieges 1992 vor dem Weißen Haus in Washington, D.C.) sind auf diese Weise ebenfalls
möglich.
Werbung und Reklame für Konzerte sind kein Merkmal für Fugazi. Die Band vertraut auf
Mundpropaganda, Konzertkarten gibt es nur an der Abendkasse und nicht im Vorverkauf. Es
wird auf sämtliche Arten von Merchandising-Artikeln verzichtet, es gibt etwa keine offiziellen
T-Shirts. Auch das weitverbreitete T-Shirt mit dem Aufdruck „This is not a Fugazi-T-Shirt“, oft
für ein offizielles gehalten, ist nicht autorisiert. Trotz allem erfreut sich Fugazi über einen
hohen Bekanntheitsgrad in der Hardcore-Punk-Szene, und das nicht nur in den USA,
sondern auf fast allen Kontinenten. Für viele andere Musikgruppen dieser Szene hat Fugazi
Vorbildcharakter.
Geschichte
Schon bald nach der Auflösung der Band Embrace im Jahre 1987 beginnt Ian MacKaye
zusammen mit Joe Lally und Brendan Canty damit, neue Lieder einzuspielen, das erste
Fugazi-Konzert findet am 3. September 1987 im Wilson Center (Washington, D.C.) statt.
Während der ersten Liveauftritte gesellt sich dann oft ein gemeinsamer Freund, Guy
Picciotto, zu der Band, der wie auch Schlagzeuger Brendan Canty zuvor bei Rites of Spring
aktiv war. Zuerst singt er eher inoffiziell bei einigen Liedern mit, aber mit der Zeit wird er zum
beständigen Mitglied.
Die beiden ersten EPs Fugazi (1988) und Margin Walker (1989) erscheinen später
zusammen auf CD unter dem Namen 13 Songs.
Im Laufe der Zeit entfernt sich Fugazi immer mehr vom ursprünglichen Punk-Stil, die LPs
werden experimenteller, teilweise langsamer und immer mehr „durchkonstruiert“. Erste
allmähliche Veränderungen in diese Richtung kann man ab der LP In On The Kill Taker
(1993) ausmachen. Von da an klingen Fugazi mit jeder weiteren Veröffentlichung
„erwachsener“ und ernsthafter. Trotz allem bleiben wütende, politische und vor allem sehr
sozialkritische Bestandteile erhalten, jedes Lied hat eigene markante Elemente. Die
Einstellung der Bandmitglieder ändert sich nicht, man bleibt seinem „Hardcore“-Weg treu.
Bei den darauffolgenden Alben Red Medicine (1995) und End Hits (1997) macht sich dann
auch rein äußerlich eine Weiterentwicklung bemerkbar: Das Design der Plattencover wird
anspruchsvoller. Es entstehen kleine „Kunstwerke“, Kollagen aus Fotos, die auf den ersten
Blick nichts miteinander gemeinsam haben; extreme Nahaufnahmen stehen neben
augenscheinlichen Belanglosigkeiten, wie z. B. einem Fahrrad im Schnee ohne Sattel oder
defekte Toilettenfliesen, die mit benutzten Kaugummis ausgekittet wurden.
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Im Jahr 1999 findet die Veröffentlichung des Dokumentarfilms Instrument statt, produziert
von Jem Cohen, der gewissermaßen der Fugazi-Familie angehört und die Gruppe von
Anbeginn an begleitet hat. Das Werk besteht aus Konzertmitschnitten, Interviews, Privatund Studioaufnahmen oder ähnlichem. Die Musik zum Film liefert Fugazi selbst, erschienen
auf der gleichnamigen LP.
Auf dem 2001 produzierten Album The Argument scheint es, die Band habe sich erneut
weiterentwickelt. Acht der zehn Titel werden mit Jerry Busher am zusätzlichen zweiten
Schlagzeug bzw. Percussion eingespielt, was dieser LP einen eigenen Sound verleiht. Die
Cello-Einstellungen im Intro und bei zwei weiteren Liedern stammen von Amy Domingues.
Die ebenfalls im Jahre 2001 erschienene Single Furniture + 2 enthält drei Lieder, die nicht
auf The Argument zu finden sind.
Anfang 2004 verbreitet sich das Gerücht, Fugazi habe sich aufgelöst, was aber von der
Gruppe selbst dementiert wurde. Eigenen Angaben zufolge befindet sie sich lediglich in einer
Ruhephase, was Studioprojekte betrifft. Dies rührt unter anderem daher, dass zwei
Bandmitglieder mittlerweile eine eigene Familie haben.
Noch im selben Jahr beginnt Bassist Joe Lally damit, zwanzig verschiedene Live-Mitschnitte
aus den Jahren 1987 bis 1999 auf CD zu brennen und über eine eigene Internet-Seite zu
vertreiben. Diese CDs sind im regulären Handel nicht erhältlich, da es sich um nicht
nachträglich im Studio bearbeitete Aufnahmen handelt. Dadurch bleibt die ursprüngliche
Live-Version so erhalten, wie sie im Moment der Aufnahme mitgeschnitten wurde; trotzdem
haben sie durchgehend eine relativ gute Klangqualität. Manchmal ist allerdings in den ersten
drei bis fünf Liedern die Abmischung noch nicht perfekt eingestellt, dadurch kann es
vorkommen, dass ein Instrument oder der Gesang kurzzeitig extrem laut oder leise ertönt.
Nach diesen ersten Liedern ist die Qualität aber durchgehend gut
FUGAZI – WAITING ROOM
Lyrics
I am a patient boy
I wait, I wait, I wait, I wait
My time is water down a drain
And I won't make the same mistakes
(Because I know)
Because I know how much time that wastes
(And function)
Function is the key
Inside the waiting room
Everybody's moving
Everybody's moving
Everything is moving,
Moving, moving, moving
I don't want the news
(I cannot use it)
I don't want the news
(I won't live by it)
Please don't leave me to remain
In the waiting room
I don't want the news
(I cannot use it)
Sitting outside of town
Everybody's always down
(Tell me why)
I don't want the news
(I won't live by it)
Because they can't get up
(Ahhh... Come on and get up)
Up from the waiting room
Sitting outside of town
Everybody's always down
(Tell me why)
Sitting in the waiting room
(Ahhh...)
Sitting in the waiting room
(Ahhh...)
Sitting in the waiting room
(Ahhh...)
Sitting in the waiting room
(Ahhh...)
Because they can't get up
(Ahhh... Come on and get up)
(Come on and get up)
But I won't sit idly by
I'm planning a big surprise
I'm gonna fight
For what I want to be
(Tell me why)
Because they can't get up
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JUGEND HEUTE
Jugendkulturen
JUGENDKULTUREN Klaus Farin
Fast alles, was wir über „die Jugend“ wissen, wissen wir aus den Medien. Medien sind vor
allem an dem Extremen und dem Negativen interessiert. Die „gute Nachricht“ ist keine.
Und was nicht in den Medien stattfindet, gibt es nicht. „Gewalt bei Kindern und Jugendlichen
sorgt immer öfter für negative Schlagzeilen“, heißt es einleitend in einem Zeitungsartikel von
dieser Woche. Das ist richtig: Jugendgewalt ist ein Top-Schlagzeilen-Thema.
Die Ursache liegt jedoch nicht darin, dass in der Tat immer mehr Kinder und Jugendliche
gewalttätig werden, sondern in der zunehmend schärfer werdenden Konkurrenzsituation
innerhalb der Medienbranche selbst. Da ist Sensation statt Information gefragt, immer
schneller, immer schriller, immer billiger.
Und damit nicht einmal der gläubigste Medienkonsument die Realitätslücke zwischen
den statistischen Daten und den eifernden Kommentaren bemerkt, berichten Journalisten
nicht mehr über die objektive Gewaltlage, sondern über das „subjektive Sicherheitsgefühl“.
„X Prozent der Bevölkerung haben Angst vor …“ (wahlweise: Skinheads,
Ausländern, Klimakatastrophen, Virenepidemien …).
Ob diese Angst überhaupt einen Bezugspunkt in der Realität hat, wird gar nicht erst
hinterfragt – in der Realität geht die Jugendkriminalität bundesweit seit dem Jahr 2000
zurück.
Seit Sokrates vor rund 2.450 Jahren heißt es über jede Jugend, sie sei schlimmer,
respektloser, unengagierter als die letzte – sprich: wir selbst. Dies ist jedoch mehr
dem Umstand zuzuschreiben, dass wir uns die eigene Jugendzeit, je älter wir werden, immer
schöner malen. So gibt es heute sicherlich mehr „68er" als vor 40 Jahren. Damals gingen
nämlich nur 3 bis 5 Prozent der StudentInnen demonstrierend auf die Straße.
Es waren Minderheiten, die sich damals engagierten, auch wenn es ihnen gelang,
ihrer ganzen Generation ihren Stempel aufzudrücken. Nicht anders ist es heute:
Die Mehrheit jeder Generation ist bieder, spießig, konsumtrottelig und unengagiert. Es sind
immer Minderheiten, die etwas bewegen, manchmal sogar die Gesamtgesellschaft
verändern. Für etwa 20-25 Prozent der Jugendlichen in Deutschland sind Jugendkulturen
der selbst gewählte Ort ihres Engagements.
Jugendkulturen erwecken heute einen sehr diffusen Eindruck: Immer mehr, immer
schneller, immer schriller. Gab es zu meiner Jugendzeit – ich bin Jahrgang 1958 –
eigentlich nur die Mofa-Cliquen, die Fußball-Fans, die Hardrock/Heavy-Metal-Fans,
uns Langhaarige (die „Alternativen“) und die Spießer von der Jungen Union, und jeder hat
sein Gegenüber gleich beim Äußeren erkannt und einordnen können, so existieren heute
einige hundert Stilvariationen und Untergruppen. Und deren Vertreter erfüllen zudem nicht
immer unsere visuellen Erwartungen und Vorurteile: Da ist der Popper mit dem
Silberköfferchen in Wirklichkeit ein anarchistischer Computerhacker, der rassistische
Neonazi kommt langzottelig daher. Die zentrale Botschaft heutiger Jugendkulturen scheint
zu sein: Wenn du glaubst, mich mit einem Blick einschätzen zu können, täuscht du dich
gewaltig. (Oder andersherum: Wenn Sie wissen wollen, was sich hinter dem bunten oder
auch schwarzen Outfit verbirgt, müssen Sie schlicht mit dem Objekt der Begierde reden.)
„Die Jugend” hat sich in den letzten 25 Jahren in eine für die meisten Angehörigen
älterer Generationen unüberschaubare Artenvielfalt oft widersprüchlichster Kulturen
ausdifferenziert. Inmitten eines zahlenmäßig nach wie vor dominanten jugendlichen
Mainstreams entstanden unzählige subkulturelle Szenen und Cliquen mit jeweils ei2
genem Outfit und eigener Musik, eigener Sprache und eigenen Ritualen, mit zum Teil
fließenden Übergängen und gleichzeitig scharf bewachten Grenzlinien, die für
Außenstehende oft nicht einmal erkennbar sind.
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Diese Vielfalt der heutigen Jugendkulturen entsteht zum einen dadurch, dass nichts
mehr verschwindet: Alle Jugendkulturen, die es jemals gab, existieren heute noch:
Sie sind vielleicht nicht mehr so groß, so bedeutend, so medienwirksam wie zu ihrer
Hochblütezeit – aber sie leben. Die größte Jugendkultur der 90er Jahre war ohne
Zweifel Techno. Jede/r vierte Unter-Dreißigjährige identifizierte sich seinerzeit mit
dieser elektronischen Musik-Party-Kultur. Doch Techno entstand bereits 1988/89 und
hat Vorläufer (z. B. House), die weitere zehn Jahre zurückreichen. Auch HipHop
wurde bereits Anfang der 70er Jahre in der Bronx/New York geboren. Punk – eine
weitere der wichtigen „Stammkulturen – entstand 1975/76. Die Skateboarder gehen
bereits auf die Surfer der 60er Jahre zurück. Gothics – früher auch Grufties, New
Romantics etc. genannt – erlebten ihre Geburt um 1980/81 als Stilvariante des Punk:
eine introvertierte, melancholische neue Blüte, geprägt vor allem von Jugendlichen
mit bildungsbürgerlichem familiären Hintergrund, denen Punk zu „aggressiv“ war.
Das typische Kennzeichen heutiger Jugendkulturen scheint zu sein, dass sie
alt sind.
Dass dies nicht jedem sofort auffällt, liegt an einem Stilprinzip, dass sich seit den
90er Jahren als dominant herausgebildet hat: Crossover. Der ständige Stilmix, die
Freude am individuellen Collagieren eigentlich unpassender Stilelemente zu immer
neuen, bunteren (oder eben düsteren) Neuschöpfungen. Dies hat insgesamt die
Grenzen zwischen den Szenen offener gestaltet. Selbstverständlich ist jeder SzeneAngehörige immer noch zutiefst davon überzeugt, der einzig wahren Jugendkultur
anzugehören, doch die Realität zeigt: Kaum jemand verbleibt zwischen dem 14. und
20. Lebensjahr in einer einzigen Jugendkultur; typisch ist der regelmäßige Wechsel:
Heute Punk, in der nächsten Saison Gothic, ein Jahr später vielleicht Skinhead oder
Skateboarder. Oder gleich Punk und Jesus Freak, Skateboarder und HipHopper etc.
Künstliche Stämme
Was macht Jugendkulturen eigentlich für Jugendliche so attraktiv?
Jugendkulturen ordnen die nicht nur von Jugendlichen als immer chaotischer empfundene
Welt. Sie sind Beziehungsnetzwerke, bieten Jugendlichen eine soziale Heimat,
eine Gemeinschaft der Gleichen. Jugendkulturen sind artificial tribes, künstliche
Stämme und Solidargemeinschaften, deren Angehörige einander häufig bereits am
Äußeren erkennen. Sie füllen als Sozialisationsinstanzen das Vakuum an Normen,
Regeln und Moralvorräten aus, das die zunehmend unverbindlichere, entgrenzte und
individualisierte Gesamtgesellschaft hinterlässt.
Jugendkulturen liefern Jugendlichen Sinn, Identität und Spaß.
Jugendkulturen sind aber grundsätzlich auch Konsumkulturen. Sie wollen nicht die
gleichen Produkte konsumieren wie der Rest der Welt, sondern sich gerade durch
die Art und Weise ihres Konsums von dieser abgrenzen; doch der Konsum vor allem
von Musik, Mode, Events ist ein zentrales Definitions- und Identifikationsmerkmal von
Jugendkulturen. Das bedeutet auch:
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Wo Jugendkulturen sind, ist die Industrie nicht fern.
Der Prozess der Kommerzialisierung einer Jugendkultur verändert diese jedoch gravierend.
Die Verwandlung einer kleinen Subkultur in eine massenkompatible Mode
bedingt eine Entpolitisierung dieser Kultur, eine Verallgemeinerung und damit Verdünnung
ihrer zentralen Messages:
So mündete der „White Riot“ (The Clash) der britischen Vorstadtpunks in der neugewellten
ZDF-Hitparade; HipHop, ursprünglich eine Kultur afro- und latinoamerikanischer
Ghettojugendlicher gegen den weißen
Rassismus, mutierte zu einem Musik-, Mode- und Tanzstil für jedermann; aus dem
antikommerziellen Partyvergnügen der ersten Techno-Generation wurde ein
hochpreisiges Disco-Eventangebot etc.
Und weil die Kommerzialisierung ihrer Freizeitwelten auch negative Folgen hat und die
Popularisierung ihrer Szenen ein wichtiges Motiv der Zugehörigkeit zu eben diesen Szenen
aushebelt – nämlich die Möglichkeit, sich abzugrenzen –, schafft sich die Industrie
automatisch eine eigene Opposition, die sich über den Grad ihrer Distanz zum
kommerziellen Angebot definieren:
Wenn alle in der Klasse bestimmte Kultmarken tragen, trage ich eben nur NoName-Produkte. Sag mir, welche Bands auf Viva laufen, und ich weiß, welche Bands
ich garantiert nicht höre. – Auch hier sind es wieder Minderheiten, doch diese gehören oft zu
den Kreativsten ihrer Generation.
Denn trotz aller Kommerzialisierung sind zumindest für die Kernszene-Angehörigen
Jugendkulturen vor allem ein Ort des eigenen Engagements. Wer wirklich dazugehören will,
muss selbst auf dem Skateboard fahren, nicht nur die „richtige“ teure Streetwear tragen,
selbst Graffiti sprühen, nicht nur cool darüber reden, selbst Musik machen, nicht nur
konsumieren. Es sind schließlich die Jugendlichen selbst, die die Szenen am Leben
erhalten. Sie organisieren die Partys und andere Events, sie produzieren und vertreiben die
Musik, sie geben derzeit in Deutschland mehrere tausend szene-eigene, nicht-kommerzielle
Zeitschriften – sog. Fanzines – mit einer Gesamtauflage von mehr als einer Million
Exemplaren jährlich heraus. Noch nie waren so viele Jugendliche kreativ tätig wie in den
Jugendkulturen der Gegenwart. Ihr oft einziger Lohn: Respekt. – Respekt,
Anerkennung ist das, was Jugendliche am meisten im Alltag vermissen, vor allem von
Seiten der Erwachsenen.
Ein differenzierter Blick auf Jugendliche und ihre Freizeitkulturen lohnt sich also.
Denn dabei werden Sie sehr schnell feststellen, dass Jugendliche und ihre Kulturen
nicht wirklich anders sind als die Erwachsenengesellschaft, sondern vielmehr ihr
ungeschminktes
Spiegelbild. Wer sich mit Jugendkulturen beschäftigt, lernt so nicht nur
Einiges über Jugendliche, sondern ebenso viel über sich und die Mehrheitsgesellschaft.3
3
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisation
http://www.bagso.de/fileadmin/Aktuell/Aktivitaeten/Jugendkultur_Farin_BAGSO.pdf
12
JUGEND HEUTE
Jugendkulturen
Politik und Zeitgeschichte B 5/2002
BEUNRUHIGENDE NORMALISIERUNG: ZUM WANDEL VON
JUGENDKULTUREN IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND
Dieter Rink
Die letzten drei Jahrzehnte haben uns - jeweils an ihrer Wende zum nächsten Jahrzehnt neue Jugendkulturen beschert: Breiteten sich Ende der sechziger, Anfang der siebziger
Jahre Hippies und rebellische Studenten lautstark in der bundesdeutschen Gesellschaft aus,
so erregten zehn Jahre später Punks und Hausbesetzer die Gemüter. Beide Jugendkulturen
zeichneten sich durch ihr Auftreten mit politischem Impetus aus und inszenierten zudem den
Generationskonflikt. An der Wende von den achtziger zu den neunziger Jahren entstand nun erstmals gesamtdeutsch - die Techno-Szene. Ihre Großveranstaltung - die Berliner Love
Parade - wurde in den neunziger Jahren zum größten deutschen Massenereignis mit dem
Anspruch "keine Gewalt". Der Leitspruch "Love, Peace and Unity" ist allerdings sehr bald als
politisches Feigenblatt einer unpolitischen, konsumorientierten Spaßkultur geoutet worden.
Spätestens seitdem ist die Love Parade auf dem Weg, als Volksfest vom Mainstream
vereinnahmt zu werden. Die Wende zum neuen Jahrtausend ist ohne die Herausbildung
einer neuen spektakulären, gar politischen Jugendkultur erfolgt. Allenfalls die rechtsextreme
Subkultur kann für sich zurzeit verbuchen, ob ihrer Gefährlichkeit und Dynamik die
öffentliche Aufmerksamkeit zu absorbieren. Aber sie ist nicht neu, ihre Wurzeln reichen bis in
die achtziger Jahre zurück.
Der jahrzehntelange "jugendliche Innovationsschub" scheint - zumindest vorerst - erlahmt zu
sein. Dazu hat sicher beigetragen, dass bislang jede neue Jugendkultur irgendwann vom
Kommerz vereinnahmt wurde und im Mainstream strandete. Nach diversen Retros,
Crossovers und Neos insbesondere in den neunziger Jahren scheinen alle Musikrichtungen
und Stile soweit "durchgesampelt", dass authentisch Neues selten geworden und zudem
nicht so ohne weiteres erkennbar ist. Vielleicht aber haben sich ja auch die
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so verändert, dass Jugendkulturen zunehmend
obsolet werden? Einem gängigen Argumentationsmuster zufolge hat sich durch die
Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen der ehemals monolithe kulturelle Block
der "kompakten Majorität" (Rolf Schwendter) bzw. der hegemonialen Kultur aufgelöst. (Neue)
Jugendkulturen, insbesondere Subkulturen, finden infolgedessen keine Abgrenzungsfolie.
Dagegen spricht freilich, dass eine Reihe von Jugendkulturen mittlerweile selbst auf eine
Geschichte von 20 bis 30 Jahren zurückgehen, wie etwa Skinheads und Punks, Hacker und
HipHoper, Heavy Metals und Hooligans oder auch die schon genannten jugendlichen
Rechtsextremisten. Sie stehen teilweise in einer ungebrochenen Tradition - wie etwa Heavy
Metals und Hooligans - oder haben eine Renaissance erfahren - wie seit einigen Jahren die
Punks, deren einst rebellische Attitüden und symbolisch aufgeladene Outfits zwischenzeitlich
zu populären modischen Accessoires mutiert waren. So werden zwar neue, spektakuläre
und rebellische Subkulturen vermisst, die existierenden Jugendkulturen sind jedoch zu
inzwischen ebenso allgegenwärtigen wie unspektakulären Erscheinungen geworden - nicht
nur in den Großstädten. Ja, mehr noch, sie haben teilweise Massencharakter erlangt: Waren
früher kleine Minderheiten, einige wenige Prozent eines Altersjahrganges ihre Träger, so
strahlen sie in ihrer Gesamtheit mittlerweile auf mehr als die Hälfte der Jugendlichen aus.
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In den fünfziger und sechziger Jahren wurden für Jugendkulturen noch die Theorien und
Begriffe abweichenden Verhaltens gebraucht; das Verhalten der betreffenden Jugendlichen
wurde in die Nähe der Kriminalität gerückt. Heute sind sie demgegenüber Bestandteil von
Theorien kultureller Modernisierung. Wurde die Zugehörigkeit zu Jugendkulturen früher zur
Ausnahme- bzw. gesellschaftlichen Randerscheinung erklärt und nach spezifischen
Sozialisationsursachen gesucht, so wird diese heute - bis auf die wenigen Ausnahmen etwa
der politisch extremen Jugendkulturen - als normal angesehen. Auch im Alltag herrscht
inzwischen beinahe die Erwartungshaltung, dass junge Menschen Jugendkulturen
durchlaufen.
Erklärungsbedürftig bleibt dabei, wie es zu dieser "Normalisierung" wie Stabilisierung von
Jugendkulturen kommen konnte. Waren früher Jugendkulturen die Ausnahme, so scheinen
heute die Normalo-Jugendlichen die Randerscheinung zu sein, sie bilden den Gegenpart des
"Mainstreams der Minderheiten" (Diedrich Diederichsen). Schien in den sechziger bis
achtziger Jahren jeweils eine als dominant wahrgenommene Jugendkultur einen Zyklus zu
durchlaufen, um anschließend von einer anderen abgelöst zu werden, so absolvieren
Jugendkulturen heute immer neue Zyklen und reproduzieren im Wesentlichen das gleiche
Grundmuster - wie die Skinheads und Punks zeigen. Neben der Ausdifferenzierung eines
Spektrums an jugendkulturellen Grundmustern hat sich eine Vielzahl von Varianten und
Mischungen ausgebildet - vor allem in den neunziger Jahren, dem Jahrzehnt des Crossover.
Wofür werden aber gerade diese Muster - in Abwandlungen und Variationen - immer wieder
gebraucht?
Das allgemeine Wachstum der Jugendkulturen ist leicht erklärbar. Da wäre erst mal die
Ausdehnung und Entgrenzung der Jugendphase von ca. 13 bis 14 Jahren bis Ende 20 bzw.
Anfang dreißig, dann das enorme Anwachsen der Bildungspopulationen in den letzten drei
Jahrzehnten und schließlich die Funktionsverluste der Familie und von gesellschaftlichen
Institutionen, die das Potenzial an Jugendlichen und nicht mehr ganz so jungen Jungen für
die Jugendkulturen enorm ausgeweitet haben. Allein diese Entwicklungen können aber wohl
kaum als hinreichend für die Ausbreitung der Jugendkulturen angesehen werden.
In der Vergangenheit hat man die Entstehung von Jugendkulturen immer wieder auf
spezifische gesellschaftliche Konstellationen zurückzuführen versucht. So wurde etwa für die
Hippies, Beats und Achtundsechziger eine Verschränkung von politischen Legitimitätsproblemen und Generationenkonflikten als zentrale Ursachen angesehen. Die Herausbildung
der Skinhead-Subkultur in England wurde demgegenüber mit der durch die Modernisierung
vorangetriebenen Auflösung proletarischer Milieus erklärt. Eine Gemengelage aus
Partizipations- und Integrationsproblemen - der Rezession Ende der siebziger/Anfang der
achtziger Jahre, der Spaltung der Gesellschaft - wurde als Nährboden für die Punks,
Hausbesetzer und Autonomen ausgemacht. Und die Ausbreitung der Techno-Szene wird auf
den Wertewandel und dabei insbesondere auf die Ausbreitung hedonistischer Neigungen
zurückgeführt. Können diese Argumentationen für die jeweiligen Entstehungskontexte
einzelner Jugendkulturen durchaus Plausibilität für sich beanspruchen, so bleiben ihre
dauerhafte Existenz und die Ausbildung eines eigenständigen Sektors von Jugendkulturen
erklärungsbedürftig. Daraus könnte man gleichermaßen schließen, dass alle
gesellschaftlichen Ursachen zusammengenommen fortbestehen bzw. dass die in Reaktion
darauf entstandenen Jugendkulturen jeweils nur unvollkommene Antworten auf die
gesellschaftlichen Defizite darstellen.
Möglicherweise lässt sich diese Entwicklung aber auch auf eine zentrale Ursache
zurückführen, die jeweils in spezifischen gesellschaftlichen Konstellationen in Erscheinung
tritt. Moderne westliche Gesellschaften stellen keine institutionalisierten, formalisierten bzw.
ritualisierten Übergänge von der Welt der Jugendlichen in die Welt der Erwachsenen mehr
bereit. In diese Lücke stoßen die Jugendkulturen mit ihren vielfältigen und differenzierten
Angeboten und stellen insofern ein funktionales Moment der modernen Kultur dar.
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Die Institutionalisierung einer Reihe bedeutender Jugendkulturen könnte dann ihre Ursache
zuallererst darin haben, dass in diesen einzelnen Jugendkulturen jeweils unterschiedliche
Übergangsrituale zelebriert werden. Dies schließt weitere Ursachen für ihre Entstehung - wie
die oben genannten - nicht aus, weist ihnen aber eine untergeordnete Rolle zu.
Die gleichzeitige Existenz und Ausdifferenzierung von Jugendkulturen hat bei ihnen selbst
einen Funktionswandel bewirkt, der in den siebziger Jahren begann und gegenwärtig
zumindest in seinen Grundstrukturen zum Abschluss gekommen ist. Dieser besteht zunächst
in der zeitlichen Entgrenzung. Früher hatten Jugendkulturen eine relativ begrenzte Dauer,
ihre Entwicklung stellte einen kurzen Zyklus dar, der in etwa auch mit der Zeit, die
Jugendliche darin verbrachten, korrespondierte. Heute hat man es im Prinzip mit
dauerhaften Jugendkulturen zu tun, die unter anderem dadurch ihren subkulturellen Impetus
verloren haben. Sie lösen einander auch nicht mehr als jeweils dominante ab, sondern
existieren nebeneinander und beeinflussen sich mehr oder weniger bzw. reagieren
aufeinander. Allenfalls die auf den Jugendkulturen fußenden kommerziellen Modewellen
suggerieren die Existenz von jugendlichen Leitkulturen.
Gravierend ist auch die Entgrenzung und der Funktionswandel auf der individuellen Ebene.
Für die wenigen Jugendlichen, die sich früher einer Jugendkultur anschlossen, stellte sie
eine Passage dar, die im individuellen Leben relativ folgenlos blieb. Sie bot einen zeitlich und
gesellschaftlich eng begrenzten Freiraum, in dem man sich austoben konnte, bevor man in
den unausweichlichen Alltag eintreten musste - insbesondere in den Arbeitermilieus.
Die Übergänge ins Erwachsenenalter sind nunmehr für viele Jugendliche nicht nur
bedeutend länger und unstrukturierter, sondern auch unsicherer geworden. Zugleich ist das,
was in den Jugendkulturen passiert, folgenreicher - für die Jugendlichen selbst wie für die
Gesellschaft. Jugend-kulturen sind zu Orten der Individualisierung und Pluralisierung
geworden. Sie haben einen ganz eigenen Raum aus symbolischen Abgrenzungen entworfen
und nach und nach neue Selbstkategorisierungen im sozialen Raum und im Raum der
Lebensstile geschaffen. Diese dienen der Selbstdefinition und Selbstvergewisserung wie
auch der Abgrenzung und Distinktion. Sie gestatten damit die Auslösung aus traditionellen
Milieus, Klassen- und Schichtkulturen und bauen zugleich eine Spannung zu den jeweils
dominierenden Strömungen des Mainstreams wie auch gegenüber vorangegangenen
Jugendkulturen auf. In nahezu klassischer Weise lässt sich das an der Herausbildung des
alternativen Milieus in den 1980er Jahren beobachten, die ihren Hintergrund in den
Subkulturen und sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre hatte. Bereits wenige
Jahre später grenzte sich davon das subkulturelle Milieu ab, in dessen Kern Punks,
Hausbesetzer, Autonome und Waver auszumachen waren. Inzwischen ist diese Dynamik
zwar nicht zum Stillstand gekommen, es lässt sich aber nur noch ein scheinbar
undifferenziertes hedonistisches Milieu ausmachen. Es wird zunehmend schwieriger, in
diesem Bereich des Wertewandels neue Milieubildungen zu identifizieren. Die
Individualisierung löst möglicherweise auch Milieus zunehmend auf und setzt an ihre Stelle
noch fluidere Gebilde, die sich dem sozialwissenschaftlichen Zugriff zu entziehen drohen.
Ein Behelf stellen da kulturelle Zeitdiagnosen und Generationen-Labels dar, die seit den
späten 1980er Jahren eine Konjunktur erfahren haben. Speziell mit Blick auf die neuen
(Jugend-)Generationen wurden Gesellschaftsbegriffe wie die der Erlebnisgesellschaft, der
Eventgesellschaft oder der Spaßgesellschaft entworfen sowie Generationen-Labels wie
Generation X, Y, Golf, Kick, die 89er oder Generation @ kreiert. Teilweise wird gar eine
charakteristische Gesellung der Jugendkulturen, die "Szene", zum Grundmuster
gesellschaftlicher Beziehung und Paradigma der soziologischen Theoriebildung erhoben wie etwa von Gerhard Schulze und Ronald Hitzler.
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Dieser Prozess erfährt durch die Ausbreitung der neuen Formen elektronischer
Kommunikation einschneidende Veränderungen. Verfügten Jugendkulturen früher über
einen zeitlichen Entfaltungsraum, der es ihnen erlaubte, sich mehr oder weniger ungestört zu
entwickeln, so fließen die Informationen heutzutage dank Internet sozusagen in Echtzeit
überall hin. Die Folge ist, dass es keine ungeschützten Räume mehr gibt. Warteten die
Jugendkulturen früher darauf, entdeckt zu werden, so warten heute die Medien darauf, sie zu
entdecken. Beide sind heute von vornherein aufeinander bezogen: Jugendkulturen richten
sich über die Medien an ihr Publikum, für die Medien sind sie zum reizvollen Dauerthema
geworden. Zudem hat die medial vermittelte Gleichzeitigkeit und räumliche Entgrenzung
alles komplexer und schnelllebiger gemacht. Früher gab es noch Zentren, in denen Neues
kreiert wurde, was sich dann konzentrisch ausbreitete, heute kann alles überall geschehen,
mehr oder weniger zur selben Zeit. Das hat nicht nur die Konsequenz der schnelleren
Vermarktung, sondern auch der zunehmenden Beliebigkeit und Belanglosigkeit. Rascher
Wechsel erhöht die Wahrnehmungsschwelle, lässt alles zum immer kürzeren Hype werden.
Ausnahmen sind die wenigen "wirklichen Subkulturen" bzw. Jugendbewegungen, die sich
vor dieser Folie zwar als besonders gefährlich abheben, zugleich aber ein wenig wie Relikte
aus einer vergangenen Epoche erscheinen. Der von der Hamburger Band Die Sterne
besungene Wunsch "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein" gewinnt daraus seine
Nahrung: Die Sehnsucht geht ins Authentische, Gemeinschaftliche und ideell
Transzendente, deren Erfüllung angesichts medialer Vereinnahmung jedoch immer mehr
(selbst) infrage gestellt wird.
Eine wesentliche Veränderung der Jugendkulturen ist in ihrer Feminisierung zu sehen.
Waren sie früher in der Regel für männliche Jugendliche reserviert, so haben Mädchen und
junge Frauen dort inzwischen einen eigenen Platz. Mittlerweile existieren Jugendkulturen, in
denen sie - zumindest quantitativ - dominant sind, denkt man etwa an die Gotik- oder die
Techno-Szene. Jugendkulturen haben in den vergangenen Jahrzehnten entscheidend zur
Liberalisierung sexueller Verhältnisse gerade für Mädchen beigetragen und dafür Freiräume
sowie individuelle Muster geschaffen. Zweifellos haben Jugendkulturen zur Auflösung
binärer Geschlechtsrollen beigetragen, zumal der Protest dagegen mehr oder weniger zum
Repertoire der meisten Jugendkulturen gehört, explizit etwa bei den Hippies. Ihr eigentlicher
Beitrag zur Veränderung gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse scheint aber vor allem
in der Konstruktion neuer Weiblichkeiten und Männlichkeiten zu bestehen. Hierfür stehen
Experimente mit androgynen Outfits, der Gebrauch weiblicher Accessoires und Haltungen
durch männliche Jugendliche etwa in der Gotik-Szene oder die Rezeption typisch männlicher
Rebellenposen, wie etwa durch die Riot Girls Anfang der neunziger Jahre.
Geschlechtsspezifische Macht- und Dominanzverhältnisse sind jedoch - entgegen dem
Anschein und optimistischen Prognosen - auch in Jugendkulturen eingelassen. Selbst in
Jugendkulturen, die mit dem Anspruch der Gleichheit der Geschlechter auftreten, wie etwa
Punks oder Linksautonome, findet man subtile männliche Dominanzverhältnisse - ganz zu
schweigen von offen chauvinistischen Jugendkulturen wie etwa den Skins, Neonazis und
Hooligans.
Folgt man dem Argument, dass das Auf und Ab der Jugendkulturen in den letzten
Jahrzehnten zur Ausbildung eines eigenen sozialen Raums geführt hat, so wird man kaum
annehmen, dass dieses gesellschaftliche Segment schrumpfen oder verschwinden wird. Im
Gegenteil, es ist von weiterem Wachstum und zunehmender Ausdifferenzierung
auszugehen. Dies schließt die Ausbildung neuer, wiederum rebellisch und provokativ
auftretender Jugend(sub)kulturen als Option zwar ein, aber nur als Ausnahmefall. Der
Normalfall dürften demgegenüber neue Mischungen bzw. Varianten - also die "Bricolage"
(Dick Hebdige) bekannter Jugendkulturen sein. Denn es wird nicht nur immer schwieriger,
neue Jugend(sub)kulturen zu "gründen", sondern vor allem ihnen auch (mediale)
Sichtbarkeit und Relevanz zu verschaffen.
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Dem klassischen Ablaufschema ist insofern ein neues Element hinzuzufügen: Auf die
Vereinnahmung im Mainstream, die "Vermodung", Kommerzialisierung und gegebenenfalls
Entpolitisierung folgt - meist nach einer Ruhepause bzw. Regenerationsphase - ein "back to
the roots". Allen Mischungen, Abwandlungen und Vereinnahmungen zum Trotz unternehmen
neue Generationen häufig Versuche, sich der Quelle, des ursprünglichen "Kults" zu
bemächtigen. Instruktive Beispiele dafür aus den neunziger Jahren sind das WoodstockFestival 1994 oder die Wiederbelebung der Chaos-Tage in Hannover. Insofern spricht nichts
dagegen, dass in den nächsten Jahren etwa die Techno-Szene den Ursprung der Love
Parade neu entdeckt oder sich politische Hausbesetzungen wieder steigender Beliebtheit
erfreuen. Mag auch die weitere Entwicklung der existierenden Jugendkulturen schwer
vorhersagbar und die Prognose von neuen fast unmöglich sein, so dürfte die Existenz dieses
gesellschaftlichen Bereichs zu den Gewissheiten gehören.
Jugendkulturen haben eine westliche Gesellschaft wie die der Bundesrepublik immer wieder
herausgefordert und dadurch letztlich - wider Willen - toleranter gemacht. Es ist als Zeichen
für ihre Stärke zu werten, wenn eine Gesellschaft Jugendkulturen aushält und integriert, statt
sie zu kriminalisieren, auszugrenzen und zu zerstören. Die dauerhafte Existenz von Jugendund Subkulturen ist insofern nicht als Krisensymptom einer Gesellschaft, sondern als
Zeichen von Stabilität und Integrationskraft zu werten. Jugendkulturen sind so-mit
Kraftspender wider Willen, die Gesellschaft gewinnt durch sie an Vielfalt und
Anziehungskraft, auch sie sind ein Zeichen für ihre Kreativität. Insofern ist der eingangs
benannte Befund des Ausbleibens neuer Jugendkulturen kein Anzeichen für die endliche,
normale Beruhigung, sondern für eine beunruhigende Normalisierung.4
4
Bundeszentrale für politische Bildung, Politik und Zeitgeschichte B 5/2002
http://www.bpb.de/publikationen/D5YTOD,0,Beunruhigende_Normalisierung:_Zum_Wandel_von_Jug
endkulturen_in_der_Bundesrepublik_Deutschland.html
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JUGEND HEUTE
Jugendkulturen
rheingold, Institut für qualitative Markt-und Medienanalyse | Studie zum Thema Jugend aus dem Jahr 2007
DIE GESELLSCHAFTLICHE ZEITBOME
Zukunftsangst und Rollenunsicherheit bei der Jugend
Die aktuellen Gewaltexzesse von Jugendlichen, die Shell-Jugend-Studie, die
Ausführungen des Bundespräsidenten Horst Köhler und die anhaltende Debatte um seit
Jahren schwelende Probleme der Hauptschulen rücken die Perspektivlosigkeit vieler
Schüler in den öffentlichen Blick. Auch für die Schüler an den Gymnasien, Gesamtschulen
oder Realschulen in Deutschland ist die Welt nicht in Ordnung. Sie leiden zunehmend unter
einer gesellschaftlichen Perspektivlosigkeit und einer Zukunftsangst. Noch sind allerdings die
Bewältigungs-Mechanismen dieser Jugend eher von Harmoniesucht als von Gewaltbereitschaft geprägt. Das belegen zahlreiche aktuelle Studien, die rheingold zum Thema Jugend in
den vergangenen Monaten und Jahren durchgeführt hat.
1. Der fehlende Zukunftsauftrag
Die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist auch für besser ausgebildete Jugendliche unsicherer
geworden. Sie wissen nicht, ob sie einen Arbeitsplatz bekommen oder nach der Ausbildung
übernommen werden. Das Fehlen eines klaren und richtungsweisenden politischgesellschaftlichen Zukunftsbildes verstärkt dabei die Unsicherheit und die Zukunftsangst der
jungen Generation. Sie weiß einfach nicht, wofür sie in dieser Welt eigentlich gebraucht wird.
Sie erkennt für sich und ihre Generation keinen mobilisierenden und motivierenden
gesellschaftlichen Auftrag von der Politik oder Wirtschaft.
Ohne eine konkrete Zielvision flüchten sich daher immer mehr Jugendliche in diffuse Superstarphantasien. Vor allem die 16- oder 17jährigen träumen davon, dass in ihnen verborgene
Talente schlummern, die irgendwann einmal von den Medien entdeckt werden. Wie stark
diese Tagträume der Jugendlichen sind, zeigt der ernorme Erfolg der Starsearch-Formate,
die auf der Klaviatur dieser Entdeckungs-Sehnsucht spielen. Problematisch dabei ist, dass
auf diese Weise ein Traum genährt und angeheizt wird, der für die allermeisten Jugendlichen
noch nicht einmal in Ansätzen umsetzbar ist. Spätestens mit dem Ende der Schulzeit
realisiert man enttäuscht, dass es für einen selbst keine übergreifende Berufung, kein
höheres Lebensziel gibt, das der Fortbildung oder dem Studium einen Sinn und eine
Richtung verleihen könnte.
Noch nie waren die Jugendlichen daher so zaghaft, ziellos und unentschlossen im Hinblick
auf eine mögliche Berufswahl: Die meisten Jugendlichen warten erst einmal ab und halten
die definitive Berufswahl sehr lange offen. Sie verlängern ihr Bleiberecht im Elternhaus. Sie
jobben hier und da und hoffen, dass über ein Praktikum irgendwann die Begeisterung für ein
Berufsfeld erwacht oder man zumindest einen ersten Einstieg findet.
2. Die Auflösung verlässlicher gesellschaftlicher Rahmenbedingungen
Auch jenseits von Schule und Beruf fühlt sich die Jugend zutiefst haltlos. Die Shell-Studie
aus dem Jahre 2002 spricht zwar noch vom Zukunftsoptimismus der Jugend. Aber dieser
Optimismus ist in den meisten Fällen aufgesetzt, ein munteres Pfeifen im Walde, das die
gängigen Jugendklischees bedienen, aber vor allem die unterschwellige Lebensangst
kaschieren soll. Die Jugendlichen fühlen sich wie in einem Sinn-Vakuum. Sie spüren zwar
den gesellschaftlichen Veränderungsdruck, wissen aber nicht, wohin die Reise geht. Sie
haben das eher pessimistische Gefühl, dass die Welt immer unüberschaubarer,
unbewältigbarer und unberechenbarer wird. Die Welt löst sich in ihren Verlässlichkeiten, in
ihren festen Ordnungen und Orientierungspunkten schleichend auf.
Die Familien-Strukturen brechen immer häufiger auseinander. Wer nicht selber Kind einer
zerrütteten Ehe ist, hat zumindest Freunde, die nur mit einem Elternteil aufwachsen oder in
Patchworkfamilien hin- und herreisen. Aber auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
verlieren in den Augen der Jugendlichen ihre Verlässlichkeit und ihre Tragfähigkeit. Sie
zweifeln daran, ob man wirklich dauerhaft auf die Versorgungs-Leistungen der Eltern oder
auf die staatlichen Absicherungen bauen und vertrauen kann.
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3. Ohne Generationskonflikt keine Identität
Die Jugendlichen begrüßen zwar das gute Einverständnis, das sie heute meist mit ihren
Eltern oder Lehrern erleben. Sie genießen auch die daraus resultierenden Freiheiten. Mit
dem Ende des Generationskonfliktes früherer Zeiten fällt es den Jugendlichen aber viel
schwerer, sich als eine eigene Generation abzugrenzen. Angesicht der oftmals toleranten
oder gleichgültigen Eltern o. Lehrer sehen sie keinen Ansatzpunkt zur Revolte und damit zur
Selbstdefinition. Das Ende des Generationskonfliktes liegt nicht allein in der eher zahmen
und pragmatischen Jugend begründet, die lieber ironisiert als rebelliert. Das Ende des
Generationskonfliktes hat vor allem damit zu tun, dass jugendliche Lebens- und Ausdrucksformen von der Gesellschaft nicht mehr erbittert bekämpft, sondern freudig kopiert werden.
Der Zensor und Sittenwächter früherer Jahrzehnte ist heute durch den Trend-Scout abgelöst
werden. Seine Aufgabe ist es, immer durch den unübersichtlichen Dschungel der Jugendkultur zu streifen und Mode, Werbung und Establishment mit frischen Ideen zu versorgen.
4. Die wachsende Rollenunsicherheit
Im Zuge des gesellschaftl. Sinn-Vakuums und der Gleich-Gültigkeit unterschiedlichster
Lebensentwürfe fällt es vor allem jungen Männer zunehmend schwer, ihre gesellschaftliche
Rolle als Mann zu verstehen und auszugestalten. Sie erleben einerseits den feinfühligen,
zurückhaltenden, antiautoritären und sensiblen Mann als politisch korrektes Vorbild.
Andererseits erfahren sie den Erfolg, den die Macho-Allüren deutscher Stars a la Bohlen und
Lauterbach oder der Männer aus anderen Kulturkreisen im Beruf oder bei den Frauen
zeitigen. Diese Rollenunsicherheit führt vor allem bei jungen Männern zum Rückzug in ihre
autarken Playstation-Welten oder in halbstarke Männerbünde.
5. Harmonie-Sucht statt Gewaltbereitschaft
Ihre Zukunftsängste und ihre tief sitzenden Unsicherheiten bekämpfen die meisten Jugendlichen allerdings nicht mit Gewaltakten, sondern mit Anpassungsbereitschaft und HarmonieSehnsucht. Getrieben von der Grundangst, aus den sozialen Kontexten herauszufallen und
auf sich alleine gestellt zu sein, entwickeln viele Jugendliche eine insgeheime AbsicherungsManie. Man sucht Halt in einer Vielzahl von symbiotisch wuchernden Bindungs- und
Interessensgeflechten. Man schaltet daher mehrere Freundes-Kreise und Cliquen parallel.
Wenn es mit der einen oder anderen Gruppe mal nicht so läuft oder sie nicht verfügbar hat,
kann man so immer auf ein Netzwerk mit vielfachem Boden zurückgreifen. Die KontaktMaximierung erscheint als unbewusstes Lebensprinzip junger Menschen: Wichtig ist es,
möglichst mit allen Menschen, die einen umgeben, gut auszukommen. Harmonie, das
bergende Gefühl von Nähe und Zugehörigkeit wird überall angestrebt – in der Schule, im
Kollegenkreis, in der Clique, in der Familie o. wenn man gerade unterwegs ist. In die
flüchtigen sozialen Netzwerke wird jeder einbezogen, der gerade verfügbar ist. Häufig
betonen die Jungen und Mädchen, dass sie selbstverständlich auch mit Vater oder Mutter
ins Kino o. in die Disco gehen, wenn niemand anderes Zeit hat. Mit wem man sich verbindet,
erscheint heute weniger als eine Frage des Standpunktes, sondern des Standortes.
Die gesellschaftliche Zeitbombe
Hinter der haltsuchenden Kuschelromantik, die die heutigen Jugendlichen inszenieren, tickt
eine kulturpsychologische Zeitbombe: die gärende Suche nach irgendeiner Mission, die
einen aus der Lethargie und dem symbiotischen Bindungsgeflechten herausreißt und die
dem eigenen Leben einen neuen Sinn und eine entschiedene Richtung weist. Sie wird in
dieser Verfassung von Jahr zu Jahr anfälliger für Erlösungs-Versprechungen und
simplifizierte Heilslehren. Das Gefühl von der Gesellschaft, nicht gebraucht und wahrgenommen zu werden, wird in den nächsten Jahren nicht durch Harmonie-Sucht und
Superstar-Träume kompensiert werden können. Wenn die Jugend keine reelle Chance auf
gesellschaftl. Anerkennung und Mitwirkung hat, wird auch jenseits der Hauptschulen die
Gewaltbereitschaft steigen.5
5
http://www.rheingoldonline.de/veroeffentlichungen/artikel/Die_gesellschaftliche_Zeitbombe_Zukunftsangst_und_Rollenunsicherheit_bei_der_Jugend
.html
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JUGEND HEUTE
Jugendkulturen
Interview mit dem Jugendforscher Klaus Hurrelmann
6
„KEINE NULL-BOCK-HALTUNG“
Sie ist pragmatisch, die Jugend von heute. Aber auch skeptisch. Sie hat Angst vor der
Zukunft, bleibt aber optimistisch. Werte sind ihr wichtig, Sündenböcke auch. Wer soll schlau
werden aus dieser Generation? Jugendforscher Klaus Hurrelmann hat's versucht.
ARD.de: Wenn Sie der heutigen Jugend ein Etikett verpassen müssten, wie lautet es?
Klaus Hurrelmann: Die heutige Jugend ist eine sehr pragmatische Generation, die realistisch
ihre Situation einschätzt – mit einem Schuss Optimismus, aber auch viel Skepsis. Diese
Grundmentalität trifft übrigens auch für Kinder unter zwölf Jahren zu.
Was hat die Jugend so pragmatisch gemacht? Welche Erfahrungen haben sie
geprägt?
Die Kinder kommen heute so früh wie noch nie in der Menschheitsgeschichte in die
Lebensphase Jugend hinein. Dann aber streckt und streckt sie sich, und man kann gar nicht
erkennen, wann sie denn vorbei ist. Das liegt daran, dass vor allem die berufliche Ausbildung
– und damit der Dreh- und Angelpunkt der gesamten gesellschaftlichen Zukunft – so schwer
voraussehbar ist.
Die Gesellschaft zeigt sich da ziemlich spröde und der Arbeitsmarkt eher abwehrend. Die
Jugendlichen haben das Gefühl, unerwünscht zu sein. Das ist der Nährboden für die
untergründige Angst, zu denen zu gehören, die scheitern. Gerade die jungen Mädchen
haben große Zukunftsängste. Und das, obwohl sie in Schule und Ausbildung viel besser
abschneiden als Jungen.
Klingt, als seien die Jugendlichen nicht gerade zu beneiden.
Ja, trotzdem sind die jungen Leute insgesamt nicht pessimistisch eingestellt. Wir haben uns
wirklich gewundert, wie gelassen und optimistisch die Jugendlichen mit der Situation
umgehen. Die Frage ist nur: Wie lange noch? Denn im Vergleich zur Shell-Studie von 2002
hat sich die unterschwellige Angst deutlich erhöht. Dieses Gift, diese Verunsicherung, im
Leben zu scheitern, hat sich weiter ausgebreitet.
Muss man davon ausgehen, dass die Stimmung bald kippt?
Bislang ist davon nichts zu sehen. Wir beobachten aber seit einigen Jahren eine große
Distanz gegenüber den politischen Parteien und auch gegenüber den demokratischen
Institutionen. Denkbar wäre es also durchaus, dass die Verunsicherung in Protest und
Widerstand mündet. Und die Jugendlichen hätten ja auch Recht, wenn sie sagten: Ihr
vernachlässigt uns als neue Generation.
Eine Generation zudem, die in Zukunft viel zu schultern hat – denn unsere
Gesellschaft wird immer älter. Nehmen die Jugendlichen den demografischen Wandel
als Bedrohung wahr?
Wenn es darum geht, dass zu viele Alte den Jungen die Ressourcen wegnehmen, können
Jugendliche rebellisch werden. Man merkt das an Einzelheiten. Studenten beispielsweise
sagen, dass sie es als unangenehm empfinden, wenn Senioren ihnen die Plätze streitig
machen. Darin drückt sich die Sorge aus, von der großen Mehrheit der älteren Generationen
bedrängt zu werden. Noch gehen die Jugendlichen sehr sachlich mit dem Thema um. Aber
ich weiß nicht, wie lange die Geduld hält.
6
aus dem Anlass der ARD-Themenwoche „Kinder sind Zukunft“, 14.-21. April 2007
20
Mindestens so bedrohlich wie der demografische ist der Klimawandel. Sehen das
Jugendliche auch so?
Wenn wir eine Rangordnung der Sorgen und Ängste machen, findet sich die
Arbeitsperspektive an erster Stelle. Gleich dahinter steht die Sorge, dass wir unseren
Planeten kaputt machen. Hier sind die jungen Menschen äußerst sensibel, besonders
Frauen.
Trotz aller Ängste und Risiken scheint die heutige Jugend viele positive
Eigenschaften entwickelt zu haben und sich an Werte gebunden zu fühlen …
… das ist ein überraschendes Ergebnis. Wir haben es zu tun mit einer jungen Generation,
die sich an einem eigenen Wertehorizont orientiert. Da ist nichts mehr zu sehen von NullBock-Haltung. Die Grundbereitschaft, einen Platz in der Gesellschaft einzunehmen, ist sehr
ausgeprägt. Und wir erleben eine Wiederhinwendung zu Werten, die wir Ältere schon als
abgeschrieben angesehen haben: Ordnung, Fleiß, Zuverlässigkeit, Disziplin. Das wird
gemischt mit Selbstentfaltung und Lebensgenuss. Und diese frische Kombination ist
charakteristisch für die jetzige Generation.
Von wem haben die Jugendlichen das? Wer sind die Vorbilder?
Die eigenen Eltern. An ihnen reibt man sich lange nicht so stark, wie wir das aus der 68erGeneration kennen. 71 Prozent der Jugendlichen sagen, sie würden ihre eigenen Kinder
genauso erziehen, wie es ihre Eltern mit ihnen gemacht haben.
Wollen die Jugendlichen denn später selbst einmal Kinder haben?
Die Bereitschaft, eine eigene Familie zu haben, ist generell sehr hoch. Zwei Drittel sprechen
sich dafür aus. In der Umsetzung hapert es aber. Die jungen Frauen sind zwar gerne bereit,
die Doppelbelastung von Familie und Karriere auf sich zu nehmen. Es fehlen ihnen jedoch
Männer mit einem ähnlich flexiblen Rollenbild. Nur eine Minderheit von 20 bis 30 Prozent der
Jungen ist bereit, in Haushalt und Familie mitzuinvestieren. Die große Mehrheit hält am
traditionellen Männerbild des Ernährers fest. Dafür sind heute aber keine Frauen mehr da.
Faktisch können sich deshalb nur wenige Paare entscheiden, ein Kind zu haben. Es fehlt ein
Umfeld, in dem Beruf und Familie möglich sind.
Schlechter in der Schule und veraltete Ansichten: Man kann Angst um die jungen
Männer bekommen.
Das kann man wohl sagen. Wir haben inzwischen eine Gruppe von jungen Männern, die sich
richtig abgehängt fühlt und sich aufgegeben hat. Es fällt vielen Jungs schwer, eine
Niederlage einzustecken und durchzuhalten. In dieser Situation bauen sie sich eine
Gegenwelt auf und suchen nach Sündenböcken. Das erklärt den Erfolg rechter Parteien bei
jungen Männern in Ostdeutschland.
Zu welchen Ergebnissen werden künftige Jugendstudien kommen?
Ich glaube, dass sich die Jungen die Benachteiligung nicht ewig gefallen lassen werden.
Irgendwann reißt der Geduldsfaden. Was dann passiert, kann man heute schon in
Frankreich beobachten.
Das Interview führte Rainer Keller.7
7
http://www.ard.de/zukunft/kinder-sind-zukunft/kinder-sind-hellwach/interview-mit-jugendforscher-hurrelmann//id=520626/nid=520626/did=529708/9n9n7v/index.html
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JUGEND HEUTE
Jugendkulturen
ZEIT ONLINE | 02.05.2008
AVANTGARDE DER HÄRTE
Thomas Groß
Berliner Rapper schocken mit obszönen und blutigen Texten. Wie gefährlich sind sie?
Am Tag, als die Berliner Härte öffentlich-rechtlich wurde, war der Grusel groß. Zur späten
Abendstunde, die Kleinsten schliefen bereits, flackerte zwischen den neuesten
Arbeitslosenzahlen und den von Hurrikan Dennis angerichteten Verwüstungen ein Gespenst
über den Bildschirm, dem nur mit moderatorischen Extremmaßnahmen zu begegnen war.
Lange habe die Redaktion diskutiert, ob man sich dem Thema überhaupt nähern wolle, aber
totschweigen – geht das denn? Im Folgenden öffnete sich ein Ausschnitt von eineinhalb
Minuten, in dem gezeigt wurde, wie ein großflächig tätowierter Mann im Luxusschlitten durch
die Stadt fuhr, wüste Dinge von einer Bühne herabschrie und sich dafür von den Teenagern
im Publikum feiern ließ. Nachdem der Spuk vorbei war, lockerte sich die versteinerte Miene
von heute-journal-Moderator Claus Kleber ein wenig, und er wagte, gleichsam als Moral der
Geschichte, so etwas wie einen Rap. »Bushido lacht sich bestimmt krank« – Kunstpause –
»auf seinem Weg zur Bank.«
Der Mann, von dem die Rede war, saß unterdessen zu Hause auf seiner Riesenpornocouch
für 8.000 Euro vor seinem Superplasmabildschirm für 5000 Euro – und lachte sich
tatsächlich krank. Bushido, der »King of Kingz«, Rapper aus Berlin-Tempelhof, Vater Araber,
Mutter Deutsche, berüchtigt für seine jugendverderberischen Texte, live im ZDF – und dann
trifft der Fernsehtyp auch noch den Nagel auf den Kopf! Gern würde Bushido dem Menschen
mal die Hand schütteln und sagen: Coole Sache, Alter. Damit er merkt, was jeder merkt, der
ihm gegenübersitzt: dass Anis Mohammed Yussuf Ferchichi, wie Bushido bürgerlich heißt,
ein angenehmer und gebildeter Gesprächspartner ist, solange man ihm mit Respekt
begegnet. Keineswegs muss er 24 Stunden am Tag den Charakter nach außen kehren, den
er in seinem jüngsten Hit Carlo Cokxxx Nutten 2 verkörpert: einen Wortkrieger aus der
Berliner Halbwelt mit enormen Qualitäten als Beischläfer und Drogenverticker. Ganz ohne
Schrecken allerdings geht es nicht. »Ich spiel damit, auch mit diesem Buh-Effekt.«
Schließlich ist die Härte der Reime das Berliner Markenzeichen. Und einen guten schlechten
Ruf zu verlieren hat man auch.
Der Buh-Effekt ist das kostbarste Kapital, das derzeit in der frisch gekürten Rap-Metropole
zirkuliert. Lange Zeit schien gar nichts zu gehen, werkelte die Szene ausschließlich im
Verborgenen vor sich hin. Die musikfernsehende Welt schaute nach Stuttgart oder Hamburg,
wo die Gymnasiasten das Sagen hatten, allenfalls ein paar besprühte U-Bahn-Züge und
schlecht produzierte Tapes zeugten vom Treiben im Untergrund. Dann stieß Sido an die
Oberfläche, der Mann mit der Maske, der zu einem Streifzug durchs Märkische Viertel lud,
wo die Stütze-Empfänger wohnen und die Häuser 16 Stockwerke haben (ZEIT Nr. 32/04:
Der Bauch Berlins ). Dealer, Eckensteher und Pitbull-Halter geisterten durch das Video zu
seiner gerappten Sozialstudie Mein Block, und plötzlich war es, als habe sich die Tür zu
einer Unterwelt geöffnet, in der Gestalten namens King Orgasmus One, Prinz Porno oder
Der Soziopathe ihr Unwesen treiben. Rapper, die zuvor niemand zur Kenntnis nahm und die
wohl auch weiterhin niemand zur Kenntnis genommen hätte, stünden sie nicht plötzlich in
enormer medialer Vergrößerung vor den Kinderzimmern und machten: Buh!
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Inzwischen ist eine unübersichtliche und für viele profitable Gemengelage entstanden.
Bürgerliche Teenager, die sich von echten Kerlen aus dem Problemkiez mit Gruseln über
dunkle Geschäfte und bizarre Sexualpraktiken aufklären lassen, während mehr oder weniger
berufene Instanzen die Stirn runzeln – wann hat es das zuletzt gegeben? Eine Musik steht
zur Verhandlung, die nicht gecastet ist, sondern polarisiert, Verrohungsdebatten und
Indizierungen inklusive. Kamerateams rücken an und stöbern in dunklen Ecken Berlins nach
noch härterem Stoff, die Elite des bösen Rap provoziert unterdessen weiter den Mainstream.
Seit auch noch Fler, der Jüngste der Bösen, mit Frakturschrift und Reichsadler eine »Neue
Deutsche Welle« ausrief und die gesamte Szene in den Verdacht geriet, die fünfte Kolonne
des Rechtsextremismus zu sein, kommen sogar Beobachter aus dem Ausland, um in der
alten Frontstadt nach dem Rechten zu sehen. Bei Bushido hat sich ein Reporter der New
York Times angesagt. Die Sache sei extrem wichtig, sagt Bushido und fährt mit der Hand
über sein strichdünnes Backenbärtchen: Morgen früh muss er unbedingt noch zum Friseur.
Erster Befund auf der Suche nach einem Milieu: Die Heimkinder und Migrantensöhne, die
den harten Kern von Berlins HipHop-Szene bilden, genießen das Interesse der Offizialkultur.
So viel Aufmerksamkeit wurde ihnen in ihrem gesamten bisherigen Leben nicht zuteil.
Rasant haben sie dazugelernt und wuchern mit ihrem Pfund, wenn immer neue
Delegationen aus Politik und Fernsehen eintreffen. Was die Bundesprüfstelle anbelangt –
soll sie doch weiter indizieren, das belebt das Geschäft! Aggro Berlin, die unabhängige
Plattenfirma, die die Härte zum Markenzeichen machte, bekam im laufenden Jahr zweimal
Gold; Bushido, der bei der siechen Industrie gelandet ist, kurvt mittlerweile im 7er BMW
durch den Kiez. Jetzt gilt es, am Image zu feilen, ohne sich dabei zu verrenken. Denn
manchmal wirken die Helden des Härte-Raps bereits wie Darsteller in einer Reality-Soap:
Sido, der Lustige, Bushido, der Gentleman-Provokateur, Fler, der hässliche Deutsche. Was
zum zweiten Befund führt: Der böse Rap ist eine Welt der Rollenspiele und wundersamen
Verwandlungen. Im einen Moment verschwinden die Protagonisten in ihrer Kunstfigur. Im
nächsten sind sie wieder nette Jungs aus der Nachbarschaft.
Zum Beispiel Robert Davis alias B-Tight: Das Cover seiner CD Der Neger (in mir) zeigt einen
muskelbepackten Ghetto-Gangster in extremer Aktion. Die Tür seiner hübsch eingerichteten
Wohnung im Stadtteil Wedding öffnet ein eher feingliedriger junger Mann mit Brille und
flaumigem Bärtchen. »Künstlerische Freiheit«, findet B-Tight, Sohn einer Deutschen und
eines Afroamerikaners – man muss auch ein bisschen übertreiben dürfen. Er führt ins
»Ghetto-Zimmer«, wo Tony D gerade Ego-Shooter spielt. Tony D ist halber Libanese, ein
paarmal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, »das Übliche eben«, nichts wirklich Ernstes.
Dass er momentan ein Fußleiden kuriert, hindert ihn nicht daran, als Rapper zum
»Damager« zu werden, der alle Konkurrenten von der Platte putzt.
»Ficken« wird das in den Texten des Härte-Rap ebenso durchgängig wie unermüdlich
genannt, »Ich fick dich«, »Ich fick dich zurück«, »Jetzt fick ich dich aber erst recht«, eine
Praxis, die nicht nur auf persönliche Rivalitäten begrenzt ist. Die eine Gang fickt die andere,
der Wedding fickt Lichtenberg, Lichtenberg Schöneberg, Schöneberg Tempelhof, Berlin
insgesamt den ganzen Rest, der Extremfick ist der »Kopfschuss«: Peng, du bist tot. Im
Hauptstadt-Rap sei das nichts Besonderes, finden Tony und BTight, der Witz liegt für sie in
Pose, Variante und Steigerung. Übertreibungen stellen sich automatisch ein, wenn man sich
auf der Straße durchsetzen muss, Autoritäten anflehen gilt als »schwul«. Das, noch ein
Befund, ist den meisten Berliner Rappern gemeinsam: Sie sind in einem Umfeld groß
geworden, in dem jeder Konflikt untereinander geregelt wird. Im Zweifelsfall behält der die
Oberhand, der das größere Maul hat. Oder den krasseren Cousin.
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Das Drohpotenzial, das diese Kultur von unten für die Majorität entfaltet, liegt weniger in der
obszönen Sprache als in der Ungewissheit, ob hier Werte der Zukunft generiert werden. Man
weiß ja nicht, was alles noch kommen wird in Zeiten von Hartz IV und Alg II. Der Kampf um
Status und Jobs hat die Mittelschichten ergriffen, und im Osten versinken ganze Landstriche.
Längst ahnen auch die Kinder aus behütetem Hause, dass die Rede von Aufschwung,
Vollbeschäftigung, von der Leistung, die sich wieder lohnen muss, selbst nichts anderes ist
als ein Durchhalte-Rap, warum also sich nicht gleich dorthin durchschlagen, wo unverhohlen
das Recht des Stärkeren gilt? Bushido lädt in sein Stammlokal, eines jener arabischen
Cafés, wo Männer bei greller Beleuchtung über Wasserpfeifen und Kartenspielen sitzen und
in der Ecke der Fernseher läuft. 800 Jahre Knast seien hier versammelt, sagt Bushido.
Nachprüfen lässt sich das natürlich nicht. Doch es ist eine magische Welt der Clans und der
Stämme, die in den Szenarien des bösen Rap aufscheint, eine Welt, in der der Männerbund
Wärme spendet, während nach außen hin nur eine Moral gilt: Nimm dir, was du kriegen
kannst.
»Die Situation wird sich weiter verschärfen«, sagt Specter, »bald kommen die Waffen.« Es
klingt, als habe er das schon oft gesagt. Specter, bürgerlich Eric Remberg, ist die treibende
Kraft hinter Aggro Berlin. Dass der frühere Kunsthochschüler bei der Ausgestaltung der
furchterregenden Aggro-Charaktere etwas nachgeholfen hat, gilt in der Szene als offenes
Geheimnis. Jetzt sitzt er im Konferenzzimmer des in Kreuzberg gelegenen Firmenimperiums
und beschwört amerikanische Verhältnisse. Sozialstaat? Augenwischerei! Man muss sich
doch nur mal umsehen: überall Desintegration, Überlebenskampf, gewalttätige Jugendliche –
»das sind Leute, die sind nicht gesellschaftsfähig«. Deutschland sei ein Land der Träumer,
sagt Specter, das Ghetto längst Wirklichkeit, und wie gerufen kommt Fler hereingeschneit.
Fler beschwert sich über die ungerechte Berichterstattung in eigener Sache, kann aber jede
Schlagzeile auswendig: Viel Feind, viel Ehr. Ob er in diesem Artikel auch wieder als
Rechtsradikaler dastehen werde, fragt er und zeigt seine muskulösen Unterarme. Nein, sagt
man, aber als jemand, der mit der Angst spielt. Da lehnt Fler sich zufrieden zurück und wird
wieder zu Patrick Decker, dem gehänselten Heimkind. Die Angst der anderen ist gut, sie
bedeutet in seiner Welt Respekt.
Zur Verunsicherung trägt bei, dass selbst die, die an den Schulen Basisarbeit leisten, der
Faszination des Bösen ratlos gegenüberstehen. Rapper Gauner etwa kann sich »schon
vorstellen«, dass die Beschallung jugendlicher Hirne mit FWörtern auf die Dauer »’ne
beschiss’ne Wirkung« hat. Andererseits ist die Pubertät eine Zeit der Experimente, und
vieles wird in den Medien übertrieben. Rapper Gauner zieht mit dem HipHop-Mobil, einer
staatlich geförderten Einrichtung, über Berliner Schulhöfe. Zuerst kommt eine halbe Stunde
Frontalunterricht zur Geschichte des Hiphop, wie die Kultur einmal übergreifend hieß, dann
sollen die Schüler ein Erfolgserlebnis mit einem selbst geschriebenen Text machen – die
rollende Kreativwerkstatt sozialdemokratischer Prägung. Als Pädagoge oder gar
Sozialarbeiter sieht Gauner, ein Mann mit langen Rastalocken, sich trotzdem nicht. Zum
einen weiß er, dass man das Gegenteil erreicht, wenn man Jugendlichen in schwierigen
Übergangssituationen ihre Idole schlechtzureden versucht. Zum anderen fühlt er sich als
langjähriger Aktivist, der auch Platten herausbringt, selbst der Szene zugehörig. Leider seien
in der Zwischenzeit einige Werte verloren gegangen.
Gauner hat das Kommen und Gehen der Helden am lebenden Objekt verfolgt. Vor zehn,
fünfzehn Jahren jammte die Gemeinde in finsteren Kellern und fühlte sich den politischen
Idealen der alten Schule verpflichtet: Zusammenhalt, Artistik, fairer Wettkampf. Die so
genannten Freestyle Battles (Freistilkämpfe) erlebte er als lustige Streitkultur, bei der der
eine Rapper den anderen mit geschickt gewählten Worten auszog, ohne ihn gleich
kaltmachen zu wollen. »Kennste Savas, kennste Sido, kennste Bushido?«, fragen die
Schüler heute und kupfern, was sich mit geübtem Auge sofort erkennen lässt, den einen
oder anderen rüden Vers von den neuen Kings der Schulhöfe ab. Eine wirkliche Zunahme
der Gewalt, gar rechtsradikale Tendenzen kann Rapper Gauner dabei nicht beobachten,
findet aber »diese Ghetto-Identifikation« bedenklich: Die eigene Lage noch schlechter reden,
als sie ist, die Bedeutung, die Autos, Geld und Mädchen gewonnen haben, die
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Alphamännchen-Nummer. Das sei früher einmal anders gewesen. Ansonsten: Man müsste
systematisch Interviews führen, wissenschaftlich an die Sache herangehen. Bis es so weit
ist, bleibt die Berliner Härte ein Wesen, das sich in der Öffentlichkeit verbirgt.
Vielleicht ist es im Nordwesten der Stadt zu finden, wo Sami »Ben« Mansour einen
schwunghaften Handel mit Hip- Hop-Devotionalien betreibt. Versteckt zwischen Fabrikhallen,
voll gesprühten Wänden und Laubenkolonien liegt der kleine Laden, den das frühere Mitglied
der Kreuzberger Straßengang »36 Boys« aufmachte, als klar wurde, dass die Sehnsucht
nach Härte auch ein Markt ist. Jetzt ist er mit seinen 31 Jahren fast schon ein Veteran, das
Geschäft brummt, hinterm Tresen steht seine Urberliner Mutter und fragt die
Hereinkommenden: »Was kann ich dir Gutes tun, Großer?« Begehrt sind Leuchtdiodengürtel
für 55,90 Euro und Ringe mit eingeprägten Kampfnamen, doch auch die eine oder andere
Prinz-Porno-CD geht über den Tresen. Die Kunden, die hier ihren Bedarf decken, wirken
nicht verhaltensauffällig, auf Nachfrage entpuppen sie sich als Gymnasiasten aus
Wilmersdorf und anderen bürgerlichen Stadtteilen. Das sei die Regel, sagt Mansour, hinter
den in Klein- und Kleinstauflagen zirkulierenden Underground-Provokationen steckten nicht
selten Söhne aus gutem Hause. Einen Kulthit bescherte ihm kürzlich ein Waldorfschüler, der
Sidos Mein Block unter dem Titel Mein Dorf parodierte. Es spricht einiges dafür, dass die, die
beschützt werden sollen, zugleich die sind, vor denen gewarnt wird.
»Hiphop ist ein Mantel, den du dir umhängst«, sagt Mansour, »was der Einzelne daraus
macht, ist sein Ding.« Nicht einmal ein Kleinpate wie er allerdings kennt seine gesamte
Kundschaft, denn der Großteil der Ware geht in den Versand. Draußen, auf dem platten
Land, könnte die wahre Avantgarde der Härte wohnen, in den Käffern Brandenburgs und
Mecklenburg-Vorpommerns, wo die Leuchttürme einsam in der Gegend herumstehen und
sonst keinerlei Orientierung geboten wird. Oder in Großstädten des Ostens wie Leipzig,
Dresden und Halle. Schon jetzt kursieren in der Berliner Szene wilde Geschichten: von
Neunjährigen aus der Platte, die an der Wodkaflasche hängen und nach Konzerten ihr
Messer aufblitzen lassen. Die Frage ist, was passieren wird, wenn der Trend zum GangsterRap anhält und eine anonym gewordene Industrie Leute unter Vertrag nimmt, die keinen
Sinn mehr für die Ironien des verbalen Kampfsports Rap aufweisen. Wird es dann die ersten
deutschen HipHop-Toten geben? »Schwieriges Thema«, sagt Mansour und kratzt sich am
Kopf. Der Schrecken, er ist immer woanders.
Am Abend desselben Tages treffen sich B-Tight, der »krasse Neger« und Tony D, der
»Araber« in einem Neuköllner Studio, um letzte Hand an ihren jüngsten Streich zu legen. Die
Herbstoffensive aus dem Hause Aggro steht bevor, die beiden sollen zur Ehre der Firma und
zur Mehrung des eigenen Ruhms noch einmal allerhärteste Berliner Härte zu demonstrieren.
Eine leichte Aufgabe ist das nicht, denn inhaltlich stagniert der Hauptstadt-Rap. »Das ist nur
das Vorspiel, am 8.8. wird Deutschland gefickt!«, brüllen B-Tight und Tony D nach
Leibeskräften ins Mikro, was folgt, ist die bekannte Suada aus Verwünschungen und
Imponiergehabe, bei der das Leitmotiv »Ficken« zum Rammdösigwerden oft wiederholt wird,
bevor endlich der Pizzabote kommt und das Abendessen bringt: Auch die Härtesten müssen
irgendwann mal Pause machen.
Als Augenzeuge der Fabrikation der Provokationen fragt man sich, was passieren wird, wenn
sich draußen im Land herumspricht, was die wahrscheinlichste Lösung des Suchrätsels
Härte-Rap ist: dass die vielen F-Wörter so gewaltsam sind wie die eingebaute Vorfahrt in
einem S-Klasse-Mercedes. Dass sie nichts anderes besagen als: Hoppla, hier komm ich!
Dass es sich, mit anderen Worten, um eine bloße Form handelt, die die Wünsche und
Ängste der Betrachter auf sich zieht und folglich genau jene Macht ausübt, die man ihr
zugesteht. Wer nicht an Gespenster glaubt, erlebt den Sprechgesang Berliner Prägung in
diesem Herbst nämlich vor allem als heiß gelaufene Ego-Maschine, die unter hoher
Lärmentfaltung um die Tatsache ihres eigenen Erfolgs kreist. Es geht nur noch darum, sich
so hart zu machen wie die Verhältnisse – nicht um sie zu brechen, sondern um von ihnen zu
profitieren. Bis diese Erkenntnis sich durchsetzt, muss das Böse sich selbst anpreisen, um
nicht jetzt schon als Ladenhüter zu enden. Heiße Ware heißt der neue Hit in spe von B-Tight
und Tony D. Das Album, das in Kürze herauskommt, trägt den neckischen Titel
Indexgefährdet.
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Ob die Bundesprüfstelle das unmoralische Angebot annehmen wird, stand bei
Redaktionsschluss nicht fest, doch unlängst setzte sich Monika Griefahn mit Sido für die
Bravo zu einem »Krisengipfel« zusammen. »Sido, aus dir ist was geworden«, ging die
Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien in die Offensive. »Mach was
draus, und trag dazu bei, dass unsere Gesellschaft und unsere Sprache besser werden!« –
»Das tue ich!«, konterte Sido. Erst vor kurzem sei er wieder vor eine Schulklasse getreten,
»und ich weiß: Bei diesen Kindern habe ich etwas bewegt!« Der Bock als Gärtner – das hat
natürlich wieder ein Riesengewieher hinter den Kulissen gegeben. Sieger nach Punkten in
diesem Kampf ist eindeutig Sido, zumal anzunehmen ist, dass Monika Griefahn die
hinreißende Komik der Situation entgangen sein wird. So beweist dieser Krisengipfel
wenigstens eine verloren geglaubte Wahrheit: Jugendkultur ist, wenn die Erwachsenen es
nicht verstehen. 8
WENN DIE GESELLSCHAFT DEN MENSCHEN DER
HERANWACHSENDEN GENERATION EINE KREATIVE
SINNERFÜLLUNG VERSAGT, DANN FINDEN SIE SCHLIEßLICH
IHRE ERFÜLLUNG IN DER ZERSTÖRUNG.
Norbert Elias, Soziologe, 1989
8
ZEIT ONLINE http://www.zeit.de/2005/34/B_9aser_Rap
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JUGEND HEUTE
Aggression. Gegen Euch! Gegen mich.
AGGRESSION (lat. aggressio „Angriff“) bezeichnet eine Vielfalt von Verhaltensweisen,
denen gemeinsam ist, dass ein Konflikt zwischen Individuen oder Gruppen, der durch
unvereinbare Verhaltensziele verursacht wurde, nicht durch einseitige oder beidseitige
Änderung dieser Verhaltensziele gelöst wird, sondern dadurch, dass die eine Konfliktpartei
zumindest versucht, der anderen eine Änderung aufzuzwingen.9
Re•bel•li•on
GEWALT AN SCHULEN äußert sich in physischer (Prügeleien etc.) und psychischer
Gewalt (Erpressungen, Diskriminierungen, Mobbing etc.) zwischen Schülern,
zwischen Schülern und Lehrern, zwischen Lehrern, sowie Gewalt gegen
Schuleigentum und Gegenstände. Gegebenenfalls können auch Schulfremde beteiligt
sein, die das Schulgelände betreten.10
9
Die Definition von Aggression ist angelehnt an: Lexikon der Biologie. Herder-Verlag, Freiburg, 1983
http://de.wikipedia.org/wiki/Aggression
10
http://de.wikipedia.org/wiki/Gewalt_an_Schulen
27
JUGEND HEUTE
Aggression. Gegen Euch! Gegen mich.
SPIEGEL ONLINE | 12. April 2007
MOBBING IN DER SCHULE
DER TÄGLICHE TERROR
Anja Schäfers
Längst nicht immer werden Mobbing-Opfer in der Schule geschlagen oder getreten. Die
Misshandlungen nehmen oft viel subtilere Formen an: Gerüchte, Lügen – oder einfach nur
Stille. Wie können Eltern und Schule helfen?
Es gibt viele Formen von Mobbing in der Schule. Öffentlich bekannt werden meist Fälle, bei
denen offene Gewalt im Spiel ist: Kinder werden von Mitschülern geschlagen oder getreten.
Ihre Schulsachen werden beschädigt oder ihnen werden Dinge einfach weggenommen.
Doch es gibt noch viel mehr Mobbing-Fälle, in denen solche äußeren Anzeichen fehlen.
Von Mobbing betroffene Kinder gehen meist nur ungern zur Schule - und kommen oft auch
mit schlechter werdenden Noten nach Hause
"Noch häufiger müssen Mobbing-Opfer verbale Gewalt und Ausgrenzung erleiden", sagt
Johann Haffner, Psychologe in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität
Heidelberg. Dabei werden Kinder zum Beispiel beschimpft oder lächerlich gemacht. Es
werden Lügen über sie in Umlauf gesetzt oder ihre Mitschüler reden nicht mehr mit ihnen.
Dabei ist nicht jedes Hänseln oder jeder Streit automatisch Mobbing. "Davon spricht man
erst, wenn jemand über einen Zeitraum von mehreren Wochen oder Monaten systematisch
schikaniert wird", sagt der Psychologe. Als weiteres Kriterium komme hinzu, dass ein
Schwächerer einem überlegenen Einzelnen oder einer ganzen Gruppe gegenüberstehe.
Jedes Kind kann Opfer von Mobbing werden.
Der Anlass für die Schikanen ist meist willkürlich gewählt: "Vielleicht ist ein Schüler neu in
der Klasse, trägt eine Brille oder spricht mit einem anderen Dialekt", berichtet Haffner. "Der
tiefere Grund für das Mobbing hat mehr mit dem Angreifer zu tun als mit dem Opfer", sagt
Jo-Jacqueline Eckardt, Autorin des Buches "Mobbing bei Kindern". Der Angreifer möchte
demnach zum Beispiel Macht ausüben oder sich in der Gruppe profilieren. Meist spielen
daher auch andere Schüler eine wichtige Rolle. Sei es als Publikum, Mitläufer oder Mittäter.
Die wiederholten Angriffe verletzen die Opfer und demütigen sie. "Oft schämen sie sich dafür
und suchen die Schuld für das Mobbing bei sich", sagt die Buchautorin Eckardt. Viele Kinder
würden sich nach Angriffen zurückziehen und ihr Leiden verheimlichen. In manchen Fällen
komme auch der Druck der Täter hinzu, niemandem etwas über die Vorfälle zu berichten.
Wichtig ist es, dass Eltern bei ihren Kindern auf Warnsignale für mögliches Mobbing achten.
Und die kommen vielfältig daher: Äußere Zeichen können zum Beispiel Prellungen oder
Kratzer am Körper sein und zerstörte oder verschwundene Sachen. Aufmerksam sollten
Eltern auch werden, wenn ihr Kind nicht mehr von anderen eingeladen wird und sich
Bekannte oder Freunde abwenden.
Betroffene Kinder gehen meist nur ungern zur Schule - und kommen oft auch mit schlechter
werdenden Noten nach Hause. "Häufig leiden Mobbing-Opfer an psychosomatischen
Beschwerden wie Schlafstörungen oder Bauchschmerzen", berichtet Haffner. Viele Kinder
werden auch zunehmend ängstlich und unsicher.
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Eltern müssen Vertrauen gewinnen
Wie können Eltern nun im Kampf gegen den täglichen Terror helfen? "Es ist für Eltern nicht
immer einfach, das Vertrauen ihres Kindes zu gewinnen", sagt Eckardt. Auf keinen Fall
dürfen sie sich durch ausweichende Antworten abwimmeln lassen. Häufig würden Kinder
anfangs auch nur Andeutungen machen, um die Reaktion ihrer Eltern auszutesten. Daher
sollte man Schwierigkeiten weder als harmlos abwerten, noch gleich in Panik verfallen.
Am besten ermutigt man sein Kind, möglichst viel von seinen Gefühlen und der Situation zu
berichten. Auch könne man sich erkundigen, wem sich das Kind schon anvertraut hat oder
was es unternommen habe. "Solche Fragen dürfen nicht mit Vorwürfen verbunden sein",
warnt die Expertin aber. Es sei wichtig, dem Kind zu vermitteln, dass in seiner Situation
Gefühle wie Scham oder Hilflosigkeit ganz normal seien.
Anschließend sollten Eltern und Kinder überlegen, wie es weitergeht. Die Maßnahmen
hängen immer vom konkreten Fall ab. "In einem frühen Stadium von Mobbing kann es
ausreichen, wenn man mit seinem Kind das Verhalten in bestimmten Situationen übt", sagt
Eckardt. So lassen sich zum Beispiel selbstbewusste Antworten auf Hänseleien trainieren
oder man überlegt, wen das Kind um Hilfe bitten kann.
Streitschlichter und Klassengerichte sollen helfen
Häufig ist es auch gut, die Schule einzubinden. "Dafür können sich Eltern zum Beispiel an
den Klassenlehrer oder Schulpsychologen wenden", empfiehlt die Autorin. Zusammen
sollten sie überlegen, ob und wie ein Gespräch mit den beteiligten Kindern oder Eltern
stattfinden könne. Das Ziel: Das Mobbing muss aufhören.
Wenn die Vorfälle eine ganze Schulklasse betreffen, sollten alle an den Gesprächen
teilnehmen. "Dabei kann man hypothetisch über das Thema sprechen oder konkret über
einen Fall", sagt Eckardt. Wichtig sei, dass die Kinder selbst Regeln für den Umgang
miteinander aufstellen und Lösungen für schwierige Situationen finden. Dabei können zum
Beispiel Streitschlichter oder Klassengerichte helfen, die sich in brenzligen Situationen
einschalten.11
11
SPIEGEL ONLINE http://www.spiegel.de/schulspiegel/leben/0,1518,druck-475848,00.html
29
JUGEND HEUTE
Aggression. Gegen Euch! Gegen mich.
SPIEGEL ONLINE | 02. Juli 2007
GEWALT AN SCHULEN
„WENN DU AUF STREBER MACHST, BIST DU TOT“
Maximilian Popp
Seine "Gang" könnte die Schule besetzen, sagt Yusuf, 17. Der Hamburger Hauptschüler
verprügelt Lehrer, kifft im Unterricht und schmuggelt Waffen in die Schule - jedenfalls
behauptet er das. "Die Jungs machen nur auf dicke Hose", sagt dagegen sein Direktor.
Yusuf* gibt sich cool. "Ey Digger, normal", sagt er und fasst sich in den Schritt. Natürlich
habe er sich schon mal mit einem Lehrer geprügelt. "Der hat meine Mutter beleidigt, Digger,
da habe ich ihm ordentlich auf die Fresse gehauen." Der Direktor habe ihn daraufhin von der
Schule verwiesen. "Ein verdammter Hurensohn war das, Digger."
Yusuf sagt, schon drei Mal habe er die Schule gewechselt, immer wieder habe es Stress
gegeben. Jetzt geht er auf eine Hauptschule im Hamburger Osten; auch dort gebe es Stress.
"Schule ist einfach Scheiße, Digger", sagt Yusuf.
Der 17-Jährige sitzt in der Wohnung seiner Eltern in einem Plattenbau im Hamburger
Stadtteil Mümmelmannsberg. Wind peitscht Regen gegen das Fenster. Von den Wänden
bröckelt der Putz. Es riecht nach altem Fett. Yusuf wärmt eine Tiefkühlpizza auf. Seine
Eltern, sagt Yusuf, sehe er nur selten, die Mutter arbeite den ganzen Tag, der Vater hocke in
der Kneipe. Er selbst verbringe die meiste Zeit auf der Straße. Nur zum Reden gehe man
besser in die Wohnung, Cafés seien zu gefährlich, sagt Yusuf. "Da sitzen die dicken Fische."
Der junge Marokkaner zieht eine Tüte mit Marihuana aus der Hosentasche. Die "dicken
Fische" seien die Drogendealer. Yusuf sagt, er arbeite manchmal für sie. "Wenn die sehen,
dass ich mit einem Fremden schnacke, brechen sie mir die Knochen."
Mümmelmannsberg ist in den vergangenen Jahren zum Synonym geworden für
Verwahrlosung und Gewalt. Grau sind die Wohnhäuser aus Beton, grau die Straßen, die für
den Verkehr gemacht sind und nicht für die Menschen, so dreckig sind sie, so kalt, so laut.
Jugendarbeiter klagen, die Kids aus dem Viertel bekämen von Geburt an nur ein Gefühl
vermittelt: Loser zu sein.
"Sie geben sich als Gangster, weil sie sonst nichts haben"
Yusuf ist Teil dieser Welt, die ihren Bewohnern nicht viel mehr zu bieten hat als
Hoffnungslosigkeit. Später möchte er einmal "was mit Autos machen". Er trägt eine
Goldkette, seine Baseballkappe sitzt schräg auf dem Kopf, seine Jeans hat er fast bis zu den
Knien gezogen – so wie die anderen Jungs aus seiner "Hood". "Ghetto" nennen sie ihr
Viertel. "Mümmel-Mafia" steht mit schwarzem Edding auf ihren grauen Kapuzenpullovern.
"Ich bin der Player hier im Ghetto", sagt Yusuf. Er hat vor allem eine große Klappe, sagen
seine Freunde.
Die Pose der Kids ist geliehen aus Musik-Videos. Ihre Vorbilder sind die Gangster-Rapper
aus dem Fernsehen: 50 Cent, Snoop Dogg, Jay-Z – schwere Jungs mit schweren Ringen an
den Fingern, vielen Frauen und am besten einer Kugel im Körper.
Die Jugendlichen aus Mümmelmannsberg tun so, als wären sie Gangster aus der Bronx.
Yusuf hat auf seinem Handy ein Video gespeichert, das ihn und seine Freunde zeigt, wie sie
Gleichaltrige verprügeln. "Wir sind die härteste Gang der Stadt", sagt er. "Wenn wir wollten,
könnten wir sofort die Schule besetzen."
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Der Teenager zieht den Rotz hoch und lässt die Fingergelenke knacken. "Lehrer sind
Schwuchteln, sie haben Angst vor uns, wir haben sie in der Hand", sagt Yusuf. Im Unterricht
schlafe er oder kiffe oder fehle – "hat eh keinen Zweck, Digger. Auf der Hauptschule hast du
sowieso verkackt." Yusuf sagt, irgendjemand mache immer Terror. Schüler beschimpften
Lehrer, Lehrer beschimpften Schüler. Manchmal flögen Stühle. "Wenn du hier einen auf
Streber machst, bist du tot", sagt Yusuf.
"An unserer Schule gibt es keine Gewalt", sagt dagegen sein Direktor. "Bei uns muss kein
Lehrer Angst vor Schülern haben." Er leite die Schule im Hamburger Osten, die nicht im
Stadtteil Mümmelmannsberg liegt, seit vielen Jahren. Vorfälle, wie Yusuf sie schildert, seien
ihm nie zu Ohren gekommen.
Der Direktor, ein schmächtiger Mittfünfziger mit Schnauzbart, zeigt in einen engen Raum. In
der Mitte stehen zwei Stühle und ein Tisch im kalten, weißen Neonlicht. "Auszeitraum" nennt
der Direktor das Zimmer. Schüler, die den Unterricht stören, müssen hier eine Viertelstunde
Platz nehmen. "Sie sollen durchschnaufen, runterkommen, das wirkt deeskalierend", sagt
der Direktor.
"Die Lehrer wollen nur den Tag überstehen"
Seine Schule beteiligt sich auch an der "HipHop Academy", einem Hamburger Musikprojekt.
Schüler aus der ganzen Stadt tragen Reime und Lieder vor, die Besten werden zu einem
Workshop eingeladen. "Wir wollen den Jugendlichen etwas bieten", sagt der Schulleiter.
Kaum zu glauben, dass er und Yusuf von derselben Schule sprechen.
"Die Lehrer und der Direx wissen doch gar nicht, was wirklich abgeht, Digger", sagt Yusuf. Er
spuckt auf den Boden. "Die interessiert es einen Dreck." Yusuf sagt, er schmuggle
regelmäßig Waffen in die Schule, Messer und Elektroschocker, die er unter seiner
Bomberjacke verstecke. "Den Lehrern ist das scheißegal, die wollen nur den Tag
überstehen." In der Pause gehe er auf den Sportplatz, um andere zu verprügeln. "Normal,
Digger", sagt Yussuf. Vor zwei Monaten filmten er und seine Freunde einen Mitschüler auf
der Schultoilette und stellten das Video auf YouTube. Als der Junge es merkte, sei er völlig
ausgerastet. Daraufhin hätten sie ihm eine "aufs Maul gegeben", erzählt Yusuf.
Sein Direktor sagt, die Jungs würden nur "auf dicke Hose machen". Zwei Drittel der Schüler
sind ausländischer Herkunft, viele der Eltern leben von Hartz IV. "Sie geben sich als
Gangster, weil sie sonst nichts haben. Ihre Prahlerei darf man nicht ernst nehmen", sagt der
Direktor. Natürlich sei an seiner Schule nicht alles rosarot. "Einige der Schüler stellen ihr
Desinteresse am Unterricht offen zur Schau. Aber gewalttätig sind sie nicht."
Der Direktor rückt seine Brille zurecht. "Wir müssen es schaffen, dass sich diese Schüler
auch für Deutsch und Mathe begeistern und nicht nur für 50 Cent."
*Name von der Redaktion geändert 12
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SPIEGEL ONLINE http://www.spiegel.de/schulspiegel/leben/0,1518,druck-491763,00.html
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JUGEND HEUTE
Aggression. Gegen Euch! Gegen mich.
SELBSTVERLETZUNG selbstverletzendes Verhalten, Selbstbeschädigung, SVV, Autoaggression,
Selbstaggression, Automutilation, Selbstverstümmelung, Ritzen, Cutten,...
Re•bel•li•on
Als (offene) SELBSTVERLETZUNG bezeichnet man die wiederholte Gewebebeschädigung am
13
eigenen Körper durch Schneiden, Verbrennen oder ähnliches ohne suizidale Absicht.
13
Rote Linien, Kontakt- und Informationsforum für SVV-Angehörige
http://rotelinien.de/information.html
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JUGEND HEUTE
Aggression. Gegen Euch! Gegen mich.
SVV entsteht nicht aus heiterem Himmel, sondern häufig als Reaktion auf belastende
Umstände, von denen sich die Jugendlichen überfordert fühlen. SVV ist für manche
Jugendliche die einzige Möglichkeit, mit Problemen oder schmerzhaften Erlebnissen
umzugehen - eine Art Bewältigungsstrategie. Der körperliche Schmerz ist besser zu ertragen
als das seelische Leiden. Jugendliche, die sich selbst verletzen, scheinen zum großen Teil
Schwierigkeiten zu haben, mit ihren Gefühlen umzugehen. Als Motiv für SVV steht an erster
Stelle der Wunsch Spannung abzubauen, gefolgt von Selbstbestrafung. Betroffene wehren
negative Gefühle wie Einsamkeit, Angst oder Aggression durch Selbstverletzungen ab.
Durch die Schmerzen und das hervortretende Blut fühlen sie sich wieder lebendig. Sie
stehen unter einem starken Leidensdruck und ihre Taten sind von einem extremen
Selbsthass begleitet. Ebenso können sich unter den selbstverletzenden Verhaltensweisen
Hilferufe an die Umwelt verbergen.
SVV tritt vorwiegend bei jungen Frauen auf, die ein geringes Selbstbewusstsein haben und
eher Konflikte meiden bzw. dazu tendieren, „den Kopf in den Sand“ zu stecken. Häufige
Merkmale der Patienten sind eine instabile Persönlichkeit, wenig verlässliche
zwischenmenschliche Beziehungen, ein gestörtes Selbstbild sowie eine schlechte
Selbstkontrolle mit schnellen Gefühlsausbrüchen. Viele betroffene Jugendliche hatten in ihrer
Vergangenheit traumatische Erlebnisse, wie Missbrauch, Vernachlässigung oder auch
Trennung der Eltern.
Nicht selten leiden die Jugendlichen zudem unter Essstörungen oder einer Sucht
(Zigaretten- oder Alkoholkonsum). Jugendliche mit SVV haben auch eine hohe Rückfallquote
ähnlich wie bei einer Sucht.
Während einer Verletzung schüttet der Körper „Glückshormone“ aus, so genannte
Endorphine, die zunächst zu einer Schmerzunterdrückung führen. Diese Ausschüttung
körpereigener Endorphine kann möglicherweise bei bestimmten Jugendlichen das Bedürfnis
nach Wiederholung auslösen, wenn insgesamt eine schlechte Grundstimmung vorherrscht.
14
14
Neurologen & Psychiater im Netz
http://www.neurologen-und-psychiater-imnetz.de/npin/npincontent/show.php3?w=%281%3D1%29%20&o=priority&og=&cur=1&nodeid=94
33
JUGEND HEUTE
Aggression. Gegen Euch! Gegen mich.
FOCUS ONLINE | 23.08.2006
AUTOAGGRESSION
EIN HEER VON SELBSTVERLETZTEN
Cornelia Fux
Selbstverstümmelungen sind unter Teenagern weiter verbreitet als angenommen: Jedes
zehnte Mädchen verletzt sich selbst.
Viele Teeanger schneiden sich, um unerträgliche innere Spannung abzubauen
Sie schneiden sich mit Küchenmessern oder Rasierklingen, drücken sich Zigaretten ins
Fleisch, reißen sich die Haare aus oder brechen sich absichtlich die Knochen:
Selbstverletzendes Verhalten (SVV) oder Autoaggression heißt die Störung im Fachjargon,
Ritzen oder Cutten nennen sie es selbst.
Hohe Dunkelziffer
Frühere Zahlen basierten überwiegend auf Fällen, die medizinisch behandelt wurden. Doch
das ist nur ein Bruchteil. Eine große Umfrage unter britischen Teenagern zeigt nun, wie hoch
die Dunkelziffer ist: Elf Prozent der befragten 15- und 16-jährigen Mädchen fügen sich
absichtlich körperlichen Schaden zu. Unter den gleichaltrigen Jungen sind es drei Prozent.
„Das sind viermal so viele Mädchen wie Jungen“, erklärt Karen Rodham, Psychologin an der
University of Bath, die die Umfrage gemeinsam mit Kollegen aus Oxford durchführte.
Dazu legten die Wissenschaftler 6000 Teenager in 41 Schulen einen Fragebogen vor, der
verschiedene Aussagen zu selbstverletzendem und suizidalem Verhalten, aber auch Fragen
zu Depressionen, Ängsten und zum Selbstbewusstsein umfasste.
Unsicher, gemobbed, missbraucht
Jugendliche, die sich selbst verletzten, tranken häufig auch mehr Alkohol als ihre
Altersgenossen, rauchten mehr oder nahmen Drogen. Vor allem Jugendliche, die sich ihrer
sexuellen Orientierung unsicher waren, die gehänselt, schikaniert oder sexuell missbraucht
worden waren, verletzten sich selbst.
Mit dem Schnitt ins eigene Fleisch bauen die Betroffenen einen unerträglichen inneren Druck
ab. Gefühle von Wut und Verzweiflung entladen sich nicht in Aggressivität gegen andere
oder Gegenstände, sondern richten sich gegen sich selbst. Oft fühlen sie eine unerträgliche
innere Leere – durch den Schmerz können sie sich wieder spüren.
Heimliches Ritzen
Die meisten der selbstverletzenden Teenager (64,5 Prozent) schnitten sich, gefolgt von
jenen, die sich selbst vergifteten (31 Prozent). 20 Prozent der Jugendlichen, die Hand an
sich legten, geben an, dass niemand von ihrem Verhalten wüsste.
„In den meisten Fällen tritt selbst verletzendes Verhalten in einer vorübergehenden
Stressphase auf“, erklärt der Oxforder Psychologe Kaith Hawton. In einigen Fällen sei das
Verhalten aber Symptom einer ernsthaften psychischen Erkrankung und ein Hinweis auf
mögliche Selbstmordabsichten. 15
15
FOCUS ONLINE
http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/news/autoaggression_aid_114169.html
34
DIE JUGEND VON HEUTE!
Aggression. Gegen Euch! Gegen mich.
SPIEGEL ONLINE | 21. Dezember 2007
"Nach dem Schneiden waren die Wunden feuerrot"
Widerworte? Die gab Jenny, 19, nie. Stattdessen verletzte sie sich selbst. Nur ihre ältere
Schwester wusste davon. Bis eine Mitschülerin die Wunden in einer Sportstunde entdeckte.
"Ich war 13 Jahre alt, als ich versucht habe, mich mit einer Nagelschere umzubringen. So
richtig ernst meinte ich es damit nicht. Dafür schnitt ich mir nicht tief genug in den Arm. Und
nicht in die richtige Richtung. Es entstanden nur oberflächliche Wunden und hörte schnell auf
zu bluten. Doch danach war ich aus irgendeinem Grund froh. Ich habe mich besser gefühlt.
Irgendwie erleichtert.
Nachdem ich mich noch drei oder oder vier Mal selbst verletzt hatte, erzählte ich meiner
älteren Schwester davon. 'Lass das mal sein, das ist nicht gut', sagte sie. Aber ich habe nicht
auf sie gehört.
Anfangs habe ich noch die Zähne zusammen gebissen und die Augen zugemacht, hatte
Hemmungen, die Klinge anzusetzen. Doch schon bald fand ich es einfach nur noch
angenehm, weil dabei ein warmes und kribbeliges Gefühl entstand. Das Ritzen wurde
schnell zur Gewohnheit. Ich tat es mehrmals in der Woche nach der Schule, abends, wenn
ich allein in meinem Zimmer war. Ich benutzte ein Küchenmesser, später auch
Rasierklingen. Einmal habe ich ein Glas zerbrochen und eine besonders scharfkantige
Scherbe zum Schneiden verwendet.
Ich habe mich damals oft gefragt, warum ich den Drang dazu habe, mich selbst zu verletzen.
Dass das ein verbreitetes Phänomen ist, habe ich erst später, durch einen Artikel in der
'Bravo', erfahren. Und noch viel später habe ich begriffen, was eigentlich mit mir los war.
Nach zwei stationären und einer ambulante Therapie.
Im Sportunterricht kam es raus
Mir ging es damals nicht besonders gut. Das hing damit zusammen, dass meine Eltern sich
getrennt haben, als ich drei Jahre alt war. Damit, dass meine Mutter acht Jahre später einen
anderen Mann heiratete und die beiden zusammen ein Kind bekamen. Damit, dass meine
Mutter oft ausgerastet ist, weil sie mit der neuen Situation nicht klar kam.
Es musste überhaupt nichts Schlimmes passiert sein. Wir konnten uns einfach nur geweigert
haben, den Küchentisch abzuräumen oder irgendeine andere Kleinigkeit - und sie schrie
mich und meine ältere Schwester an oder schmiss Sachen durch die Gegend.
Zurückgemotzt habe ich nie. Ich hatte Angst vor ihr. Sie war größer und stärker als ich, ihre
Ausbrüche waren unberechenbar.
Dazu kam, dass ich unzufrieden mit mir selbst war. Ich hatte leichtes Übergewicht und
versuchte eine Weile abzunehmen. Eine Woche lang habe ich mich erbrochen, damit ich
dünner werde, aber es dann zum Glück wieder sein gelassen. Außerdem hatte ich wie alle
anderen Teenager Liebeskummer. Ich war in einen älteren Typen verliebt, der nichts von mir
wollte. Das nahm ich sehr schwer. Ich war total sensibel, habe viel geweint. Da war einfach
so viel Traurigkeit in mir.
Unbewusst wollte ich vielleicht, dass jemand die Wunden an meinen Armen bemerkt, die
kurz nach dem Schneiden immer feuerrot und später irgendwann dunkel waren. Doch
gleichzeitig habe ich versucht, sie zu verstecken. Umso entsetzter war ich, als einer
Mitschülerin im Sportunterricht die frischen Wunden auffielen.
35
Angst vor der Beruhigungsspritze
Es kam zu einem Gespräch mit meinem Vertrauenslehrer. Er war sehr nett und
verständnisvoll. Aber natürlich benachrichtigte er meine Mutter. Sie versuchte ebenfalls, mit
mir zu reden. Aber das klappte nicht sehr gut. Ich war einmal beim Psychologen, ging dann
aber nicht mehr hin.
Irgendwann habe ich dann selbst beschlossen, dass etwas passieren muss. Mit 14 kam ich
in eine Klinik. Dort gab es eine Regel: Wer sich schneidet, bekommt eine
Beruhigungsspritze. Davor hatte ich Angst. Denn das war die totale Dröhnung, jeder, der sie
bekam, war total plemplem. Ich habe mich zwei Monate lang nicht verletzt. Dann wurde ich
entlassen.
Schon nach zwei Wochen habe ich mich wieder geschnitten. Ich hatte Probleme mit der
Freundin meines Vaters. Bei ihm wohnte ich neuerdings. Sie war sehr barsch zu mir. Ich
glaube, es gefiel ihr nicht, plötzlich ein Kind im Haus zu haben.
Dann habe ich versucht, mich umzubringen. Mit einem morphiumhaltigen Schmerzmittel,
dass ich im Medizin-Schrank fand. Ich habe die ganze Flasche ausgetrunken. Mein Vater hat
mich entdeckt. Ich kam erst ins Krankenhaus und dann in die Kinder- und Jugendpsychiatrie,
eine andere als beim ersten Mal. Dort war ich vier Monate. Viel gebracht hat der Aufenthalt
nicht. Ich habe mich schon bald auch in der Klinik geritzt.
Oft hatte ich das Gefühl, zu stören
Zu den Therapeuten hatte ich keinen Draht. Und die Einzelgespräche, die es eigentlich
einmal in der Woche geben sollte, fanden viel seltener statt. Schließlich wurde meine
Therapie als gescheitert erklärt. Ich wurde entlassen.
Ich wohnte weiter bei meinem Vater. Die Probleme mit meiner Stiefmutter hielten an. Ich
konnte ihr einfach nichts recht machen, hatte oft das Gefühl, zu stören. In einem Urlaub mit
den beiden war es besonders schlimm. Trotzdem gab ich nie Widerworte.
Die ambulante Therapie, die ich machte, brachte nichts. Ich verletzte mich weiterhin.
Irgendwann lernte ich per Zufall eine Münchnerin kennen. Sie war 21 Jahre alt und hatte als
junges Mädchen ähnliche Probleme wie ich gehabt. Wir wurden Brieffreunde. Und ich durfte
sie immer anrufen, wenn es mir schlecht ging. Das hat mir sehr geholfen.
Mit 15 habe ich dann beschlossen, mit dem Ritzen aufzuhören. Das hat halbwegs gut
geklappt. Etwa alle halbe Jahre ist es dann doch wieder passiert. Wenn ich mit vielen
fremden Leuten im Urlaub war oder ich mich unglücklich verliebt hatte. Inzwischen bin ich 19
Jahre alt und gehe in die 12. Klasse. Das letzte Mal ist es Anfang dieses Jahres passiert. Ich
hoffe, ich werde es nie wieder machen. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht."16
16
SPIEGEL ONLINE http://www.spiegel.de/schulspiegel/leben/0,1518,523752,00.html
36
DIE JUGEND VON HEUTE!
Aggression. Gegen Euch! Gegen mich.
Martin, ein junger Mann, nutzt die Anonymität des Internets und verfasst auf „RoteTränen.de“, eine
Selbsthilfe-Community zum Thema Selbstverletzendes Verhalten, seine Geschichte.
„Ich bin in einer Grossiedlung in Hamburg groß geworden und meine Kindheit war geprägt
von Kriminalität und Gruppendruck. Ich glaube, das erste Mal, dass ich gezwungen wurde
etwas Kriminelles zu machen, war so ungefähr mit acht, Mario damals 16, ein Typ aus der
Nachbarschaft zwang mich etwas zu klauen (es war etwas völlig triviales, aber ihn ging es
ums Prinzip), wollte ich nicht, wurde ich zusammengeschlagen. Ich wurde natürlich prompt
erwischt und meine Eltern waren ziemlich enttäuscht von mir, haben mich aber nicht bestraft,
etwas was sie nie getan haben, aber vielleicht hätten tun sollen, sie machten mir nur auf ihre
"verständnisvolle Art" klar, dass sich das nicht gehört. Verdammt das wusste ich selber aber
ich konnte mit ihnen darüber nie reden, sie hatten überhaupt keine Ahnung was es bedeutet
jeden Tag vor die Tür zu gehen und sich wie ein Kaninchen umgucken zu müssen, ob nicht
die Älteren da sind und einen nur so aus Spass zusammenschlugen oder wieder mal klauen
gehen zu müssen, sie hatten selbst ihre Probleme meine Mutter und mein Stiefvater waren
immer am arbeiten und wenn sie dann da waren und ich Probleme hatte, hat meine Mutter
mich nicht verstanden und mein Stiefvater sagte Sachen wie, mach dich gerade, oder Du
musst in der Lage sein deine Probleme selber zu lösen.
Mein Stiefvater (ein "echter Mann" und Fremdenlegionär) nahm mich bei Gelegenheiten wie
Geburtstag, Weihnachten und ganz besonders gern zu "Kamerun" (ein Feiertag in der
Fremdenlegion) zur Seite und sagte Sachen wie "Mann" darf keine Gefühle zeigen, oder
wenn du weinen willst, tu es für dich alleine.
Was ihm nicht klar war, ist das ich nicht bin wie er, O.K. ich habe zurück geschlagen und
versucht mich gerade zu machen, aber gut gefühlt habe ich mich dabei nie ausser ich habe
selbst was abgekriegt, da merkte ich dann, dass es sich mit dem Schmerz leichter ertragen
lässt (die gerechte Strafe dafür das ich anderen wehtue). Damals war ich nach außen hin ein
brutales Schwein und nach einiger Zeit wurde ich gemieden.
Mit 14 war es dann soweit, dass niemand in meinen Alter noch was mit mir zu tun haben
wollte, da ich meine Aggressionen nicht unter Kontrolle hatte.
Es war die einsamste Zeit in meinen Leben, also fing ich an meine Aggressionen gegen mich
selber zu richten und die Leute meinten "Hey schön wie du dich eingekriegt hast". JETZT
war ich "angepasst" und alle waren zufrieden mit mir aber wie es in mir aussah interessierte
keine Sau.
Mit 16 fing ich dann mit den harten Drogen an. Es war so um vieles leichter sich emotional
abzutöten als sich damit auseinanderzusetzen, dass ich sogar das schni**eln aufgegeben
habe, aber im Endeffekt war es auch nichts anderes als Selbstzerstörung.
Mit 22 war ich dann am Tiefpunkt, aber irgendwann sagte ich mir, versuch dich wieder
einzukriegen, ich brach alle Brücken ab, verschwand einfach und ich schaffte es wirklich mit
den harten Drogen aufzuhören (das Einzige, was ich in meinen leben wirklich auf die Reihe
gekriegt habe) aber emotional war ich auf der Strecke geblieben, ich lebte nach der Devise
"Bitte niemanden um Hilfe dann wirst du auch nicht enttäuscht". Ich ging aus Hamburg weg
und lernte meine spätere Frau kennen aber auch mit ihr habe ich nie darüber gesprochen,
was vielleicht ein Fehler war, nach sechs Jahren seelischer Leere kann man aber auch nicht
erwarten, dass ich darüber rede, ich habe es ja in den ganzen Jahren nicht getan.
Vor einen halben Jahr fing dann alles wieder an, diese emotionale Leere, meine Frau
machte mir nur Vorwürfe, ich müsse mal den Arsch hochkriegen und das ich Verantwortung
für andere habe, mein Gott das weiß ich selber und ich sehe nur das ich schon wieder alle
enttäuscht habe, aber ich kann es leider nicht ändern, ich bin nicht der Starke, für den mich
alle halten, immer muss ich für alle da sein aber mich versteht keiner.
Naja, jetzt habe ich mir endlich Hilfe gesucht und merke auch, dass ich gar nicht so alleine
bin, aber es ist für mich immer noch schwer vertrauen zu fassen.“17
17
RoteTränen.de, Selbsthilfe-Community zum Thema SVV
http://www.rotetraenen.de/?main=voneuch&sub=lebensgeschichtelesen&id=61
37
FAKTEN
Polizei des Landes NRW
STRAFTATEN IN SCHULEN
Erstmals wurde im vergangenen Jahr erfasst, wie viele und welche Straftaten in Schulen
begangen wurden. Von den rund 1,45 Millionen Straftaten in Nordrhein-Westfalen
geschahen 1,7 % (25.000) in den 6.800 Schulen mit rund 2,8 Millionen Schülerinnen und
Schülern. Mehr als die Hälfte, nämlich 14.149, waren Sachbeschädigungen und Diebstähle.
1.782 Fälle von Gewaltkriminalität, wie Raub, gefährliche und schwere Körperverletzung,
wurden festgestellt.
Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass es keine Hinweise auf eine zunehmende Gewalt an
Schulen gibt. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung stellte fest, dass "Raufunfälle" in
Schulen oder auf dem Schulweg zwischen 1997 und 2007 um 31,3 % abgenommen haben.
Der Anteil der "Raufunfälle" mit Knochenbrüchen nahm im gleichen Zeitraum um 44 % auf
rund 7.000 Fälle ab. In keiner der untersuchten Schularten - Grund-, Sonder-, Haupt-,
Realschulen und Gymnasien - war eine zunehmende Brutalisierung erkennbar.18
Entwicklung der Tatverdächtigenzahlen der unter 21-Jährigen in den folgenden
jugendtypischen Deliktsbereichen von 2007 zu 200819
2007
Straftaten insgesamt
Raubdelikte
Diebstahlsdelikte
Sachbeschädigung
Straftaten nach dem BtMG20
Erschleichen von Leistungen
..bei Tatbegehung unter Alkoholeinfluss
Tatverdächtigenbelastungszahl (unter 21 J.)
Mehrfachtatverdächtigenbelastungszahl
(unter 21 J.)
18
137 379
2008
140 138
In %
+ 2,0%
5 129
52 228
19 392
14 051
10 712
15 271
5 206
333
5018
53 687
20 408
13 274
11 258
17 793
5 363
312
- 2,2%
+ 2,8%
+ 5,2%
- 5,5%
+ 5,1%
+ 16,5%
+ 3,0%
- 6,3%
Polizei des Landes NRW, Kriminalstatistik;
http://www.polizeinrw.de/im/Zahlen_und_Fakten/kriminalstatistik/, Stand 2009
19
Landeskriminalamt NRW, Jugendkriminalität und Jugendgefährdung in NRW, Lagebild 2008,
http://www.polizei-nrw.de/lka/stepone/data/downloads/51/01/00/lagebild-jukrim-2008.pdf
20
BtMG = Betäubungsmittelgesetz
38
FAKTEN
URSACHEN FÜR SCHÜLERGEWALT
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