Musiktherapeutische Umschau Online

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Grit Sommer; Christliebe El Mogharbel; Markus Wenglorz;
Ingo Laufs; Werner Deutsch
Samantha – Musik und Gesang im Leben eines Mädchens mit autistischer Störung
Samantha: Music and Singing in the Life of an Autistic Child.
Summary
This paper centres upon a single case study of an autistic and mentally handicapped girl. This
girl, Samantha, has a strong inclination to music. In contrast to her musical abilities, she has
developed no language competence whatsoever. Samantha can sing but she cannot speak.
She utters speech-like sounds only when she is singing. Samantha’s case is highly revealing
for the study of the relationship between speaking and singing. The following account
describes Samantha‘s development, the implementation of her case for scientific research and
the results of our analysis so far.
Zusammenfassung
Im Mittelpunkt dieses Beitrages steht der Einzelfall eines autistisch und geistig behinderten
Mädchens. Sie heißt Samantha und hat ein intensives Verhältnis zur Musik. Dieser Umstand ist
deshalb so bedeutungsvoll, da Samantha keinerlei sprachliche Kompetenz erworben hat.
Samantha kann Lieder singen, aber nicht sprechen. Nur in ihren eigenen Gesängen gibt sie
sprachähnliche Laute von sich. Der folgende Bericht zeigt, wie Samantha als höchst
aufschlussreicher Fall für die wissenschaftliche Untersuchung der Beziehung zwischen
Sprechen und Singen „entdeckt“ wurde und welche Erkenntnisse unsere bisherigen Analysen
ergeben haben.
Keywords
Autism, lack of speech, musical development, musical performance, phonetic structure,
behaviour therapy
Samantha
Samantha ist das erstgeborene Kind ihrer Familie. Ihre Geburt war mit unvorhersehbaren
Komplikationen verbunden. Ein Hirnödem, starker prä- und perinataler Sauerstoffmangel und
ein Herzstillstand einige Tage nach der Geburt machten eine mehrwöchige Intensivbehandlung
notwendig. Bei den Vorsorgeuntersuchungen zeigten sich bereits Entwicklungsauffälligkeiten
wie Hypotonie, krampfverdächtige Bewegungen und auffällige EEG`s im Säuglingsalter. Eine
verzögerte motorische und fehlende sprachliche Entwicklung folgten.
Mit vier Jahren war Samantha ein zierliches und ausgesprochen attraktives Mädchen. Nur ein
wahrnehmbarer Augenfehler war äußerlich auffällig. Ihr Verhalten zeigte allerdings in
klassischer Weise das Bild eines sozial völlig abgeschotteten und in seiner eigenen Welt
absorbierten autistischen Kindes. Sprache hatte Samantha nicht erworben, und sie zeigte auch
keine Ansätze, Gestik und Mimik anderer Personen zu imitieren oder diese als alternative
Kommunikationsmittel zu benutzen. Überhaupt zeigte sie an sozialen Kontakten wenig
Interesse. Andere Personen wurden von ihr lediglich als „mechanische Hilfsmittel“ benutzt, um
an etwas heranzukommen, was sie haben wollte (meist Ess- oder Trinkbares oder Requisiten
für ihre Stereotypien). Insgesamt war Samanthas Sozialkontakt von einer großen Ambivalenz
geprägt. Kontakt zulassen und abwehren wechselten schnell und unberechenbar. Interaktionen
mit anderen Kindern vermied sie so weit wie möglich. Augenkontakt kam so gut wie gar nicht
vor; Samantha schien durch andere Personen hindurchzuschauen.
Wenn Samantha sich selbst überlassen war, verbrachte sie den größten Teil des Tages damit,
ihren Stereotypien nachzugehen, wie beispielsweise Schnüre, Tücher oder auch die eigenen
Haare hin- und herzuwedeln. Eine weitere beliebte Beschäftigung von Samantha war das
Singen. Sie sang unentwegt - manchmal in Dutzenden von Durchgängen - Lieder, die sie von
Musikkassetten oder in Morgenkreisen des heilpädagogischen Kindergartens gehört hatte. Statt
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eines Liedtextes artikulierte sie bedeutungslose Silben von sehr einfacher Struktur.
Samantha neigte zu unerklärlichen Stimmungsschwankungen und emotionalen Ausbrüchen,
seien es Lach- oder Schreianfälle, die von außen kaum zu beeinflussen waren.
In der Wahrnehmungsverarbeitung und der Sensorik zeigte Samantha Auffälligkeiten.
Lebenspraktische Tätigkeiten wie sich Waschen, Anziehen oder Treppensteigen waren für sie
mit großen Schwierigkeiten verbunden.
Therapeutische Interventionen und Weiterentwicklung von Samantha
Um es vorwegzunehmen: Das Forschungsprojekt, auf dem dieser Bericht beruht, bewegt sich
nicht in einem musiktherapeutischen Rahmen. Samantha wurde bisher nicht
musiktherapeutisch behandelt. Dennoch sind die Ergebnisse dieser Studie auch für den
musiktherapeutisch orientierten Leserkreis aufschlussreich, weil sie verdeutlichen, welche Rolle
selbstiniziiertes Musizieren im Leben eines autistisch gestörten Kindes spielen kann.
Seit dem 4. Lebensjahr erhielt Samantha, geboren 1985, eine intensive und langjährige
Begleitung durch Markus Wenglorz, der ab 1996 als Verhaltenstherapeut mit ihr arbeitete
(Wenglorz, 2003). Er betreute Samantha zunächst zwei Jahre im Rahmen des Zivildienstes,
wobei es in erster Linie um das Erlernen alltäglicher Handlungsroutinen wie Händewaschen und
Anziehen ging. Nachdem Samantha diese Alltagsfertigkeiten weitgehend erworben hatte,
konnte der Förderungsschwerpunkt auf andere Bereiche verlagert werden, wie z.B. das
Trainieren der Feinmotorik und die Förderung der Kommunikation. Zunächst wurde der
Versuch unternommen, Samantha als Ersatz für die fehlende Sprache ikonische Gebärden (z.B.
Führen der geschlossenen Hand zum Mund für „Trinken“) beizubringen (s. Wenglorz, 1995).
Trotz eines enormen Trainingsaufwands blieb jedoch der Erfolg bescheiden: Samantha hatte
ein Jahr gebraucht, um die Ausführung einer einzigen Gebärde zu erlernen. Stattdessen wird
nun an dem Erwerb einer Kommunikationsmethode mit Bildkarten gearbeitet, die Samantha in
die Lage versetzt, einfache Bedürfnisse wie Hunger oder Durst auszudrücken. Diese Methode
hat sich als bedeutend erfolgreicher erwiesen.
Bei Samantha hat in einigen Lebensbereichen im Laufe der Jahre eine spürbare
Weiterentwicklung stattgefunden. An Sozialkontakten z. B. zeigte Samantha im Laufe der Zeit
immer mehr Interesse und ihre Bindung zu engen Bezugspersonen wurde intensiver, was z.B.
an ihrem Verhalten bei der Begrüßung und beim Abschied zu erkennen ist. Ihre
Kontaktbereitschaft blieb jedoch überwiegend auf Erwachsene ausgerichtet. Augenkontakt ist
häufiger geworden, wird aber immer noch oft von Samantha vermieden.
Was seit der frühen Kindheit weitgehend unverändert beibehalten wurde, sind Samanthas
stereotype Verhaltensmuster (Wedeln, Fächeln, Drehen, vgl. o.). Diese nehmen zwar lange
nicht mehr so viel Zeit in Anspruch wie zu Beginn der Langzeitstudie, in ihrem Ablauf sind sie
jedoch fast völlig gleich geblieben.
Samanthas Stimmungsschwankungen und unkontrollierbare Schreianfälle haben sich im Laufe
der Jahre reduziert. Dafür treten aber seit der Pubertät immer wieder Phasen vermehrter
Aggressivität gegenüber anderen auf.
Methode der Langzeitdokumentation: Vom Tagebuch zum Forschungsprojekt
Dänemark, 16.8.1998
Hole sie gegen 9.00 Uhr nach ruhiger Nacht. Liegt friedlich da und ist offenbar gut gelaunt. Ist
auch ohne Windel trocken geblieben. Anziehen gut, Haare bürsten auch (...) Gesichtwaschen
muß ich fast alleine übernehmen. Dreht sich vorm Frühstück wieder zur Musik. Bringt mir
wieder ihre kaputte Spieluhr (...). machen uns dann zu einem längerem Spaziergang auf. Läuft
gut mit. Ist meist bei M. oder mir, manchmal auch bei A. (...). Als das Mittag zubereitet wird,
springt und dreht sie sich freudig. (...)
Dieser Tagebucheintrag stammt aus dem neunten Jahr einer privaten Tagebuchreihe, die
Markus Wenglorz über Samantha niederschrieb. Bereits 1990 begann er als Ergänzung zu
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seiner Betreuungsaufgabe regelmäßig über die Begegnungen mit Samantha zunächst Notizen
zu machen und später Tagebuch zu führen. Photos und Videoaufnahmen komplettierten sein
Archiv über Samanthas Entwicklung, womit eine detaillierte Einzelfallbetrachtung ihren Anfang
nahm.
Gerade bei pathologischen Entwicklungsverläufen bietet sich als Forschungsmethode die
langzeitliche Einzelfallbetrachtung an. Nur so sind die spezifischen Veränderungen, die
auftreten, wenn die Entwicklung gestört ist, überhaupt erfassbar (vgl. Petermann & Rudinger,
2002). Eine Möglichkeit, Entwicklungsverläufe über einen längeren Zeitraum festzuhalten, ist
die hier angewendete Tagebuchmethode.
In den Tagebucheintragungen über Samantha hat Markus Wenglorz versucht, einen möglichst
detaillierten Bericht über die Ereignisse, Aktivitäten und Verhaltensweisen, die für Samanthas
Entwicklung relevant sein könnten, festzuhalten. Um Gedächtnisfehler möglichst auszuschalten
sowie die "zeitkontingente Aktualität“ (Seemann, 1997) zu erhalten, wurden Geschehnisse – je
nach Möglichkeit in der jeweiligen Situation - mitprotokolliert oder am Abend des
entsprechenden Tages niedergeschrieben. Die Photographien und Videoaufnahmen von
Samantha sind hingegen oft spontan in den jeweiligen Alltagssituationen entstanden: zuhause
(z.B. beim Essen oder Spielen), in der Schule (z.B. beim Morgenkreis oder Basteln), bei
Freizeitaktivitäten (z.B. auf dem Rummel oder auf dem Spielplatz).
Rückblickend kann man sagen, dass die Tagebücher die Keimzelle einer bis in die heutige Zeit
reichenden Dokumentation sind. Diese Einzelfalldokumentation über Samantha ist
möglicherweise selbst ein Einzelfall, denn eine ähnlich detaillierte, mit drei verschiedenen
Medien geführte Langzeitdokumentation eines autistischen und geistig behinderten Kindes ist
uns bisher nicht bekannt.
Am Institut für Psychologie der TU Braunschweig entwarf Prof. Dr. Werner Deutsch, Leiter der
Abteilung Entwicklungspsychologie, den Plan eines interdisziplinären Forschungsprojekts über
den Einzelfall Samantha. Dieses Projekt wird seit dem Jahr 2000 durchgeführt und von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Der Einzelfall wurde aus den Blickwinkeln
verschiedener Fachdisziplinen betrachtet. Experten der Entwicklungspsychologie, Entwicklungspsychopathologie, aber auch der Linguistik, der Musikpädagogik und Musiktheorie arbeiten am
Projekt mit. Es wurden von 12 vorangegangenen Jahren über 70 Stunden Videomaterial und
fast 1100 Photos sowie viele hundert Seiten Tagebucheintragungen vorab gesichtet. Dabei
schien es lohnenswert, die stimmlichen Äußerungen von Samantha näher auszuwerten. Hier
eignete sich vor allem das Videomaterial zur näheren Untersuchung.
Es wurden aus der ca. 73 Stunden umfassenden Videodokumentation die Filmszenen
herausgesucht, in denen Samantha singt. Es konnten in Samanthas Gesängen insgesamt 28
verschiedene Lieder einer Liedvorlage zugeordnet werden. Danach wurde aus den
Gesangsausschnitten eine digitale Schnittkopie erstellt, die ein Audiodatencorpus von etwa 1½
Stunden Länge ergibt. Die Gesangsereignisse sind von sehr unterschiedlicher Länge. Einige
betragen nur wenige Töne, andere ziehen sich minutenlang hin. Manche sind mit nur einer,
andere mit bis zu 44 Dateien vertreten.
Wir sind der Frage nachgegangen, inwieweit die Lautproduktion voranschreiten kann, wenn die
Sprachentwicklung ausbleibt, d.h. wenn weder Lexikon noch Grammatik der
Umgebungssprache erworben wurde. Außerdem stellte sich die Frage, inwieweit eine
musikalische Entwicklung möglich ist, wenn die sprachliche Entwicklung fehlt. Die theoretische
Konzeption, die dahinter steht, geht von der Vorstellung aus, dass Sprache und Musik einen
gemeinsamen Ursprung in der menschlichen Stimme haben und erst im Laufe der
frühkindlichen Entwicklung beginnen, getrennte Wege zu gehen (Deutsch, Sommer & Pischel,
2003).
Methoden, Ergebnisse und Schlussfolgerungen der einzelnen Fachdisziplinen
Einschätzung von Samanthas musikalischer Kompetenz
In der musikalischen Analyse wurde Samanthas musikalische Kompetenz und ihr Umgang mit
den Liedvorlagen bewertet. Dazu wurden etwa 70% des Audiomaterials (54:45 Min.) in eine
traditionelle Notationsform transkribiert und einer qualitativen Analyse unterzogen.
Samantha singt selten eine vollständige Version eines Liedes, vielmehr sind es einzelne
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Phrasen oder auch nur Motive, die oftmals hintereinander wiederholt werden. Ein weiteres
Charakteristikum ist, dass die überwiegende Mehrzahl aller Gesänge Variationen des
Ausgangsmaterials zeigt. Samantha benutzt offenbar die erlernten Lieder als Vorlage, um beim
Singen eigene Varianten zu bilden.
Inwieweit bewegen sich Samanthas Variationen im dur-/molltonalen Rahmen und sind damit
Ausdruck und Folge einer impliziten musikalischen Grammatik?
Änderungen in Tempo und Metrum sind häufig. Sie werden musikalisch sinnvoll eingesetzt und
deuten auf ein entsprechendes Ausdrucksbedürfnis hin. Samanthas Rhythmen orientieren sich
an denen der Vorlagen. Es kommen aber auch gezielte Veränderungen vor.
Samantha intoniert die Liedintervalle überwiegend sauber. Abweichungen werden nach unserer
Einschätzung durch stimmliche Indispositionen des Tages verursacht. Fälle von Tonhöhenkorrekturen zeigen, dass Samantha ihre Ergebnisse durch Selbstkontrolle mit ihren
inneren Vorstellungen vergleicht und anzunähern versucht.
In Samanthas Liedvariationen zeigt sich, dass sie in der Lage ist, harmonieeigene Töne auszuwählen und mit den tonalen Funktionen zu musikalisch sinnvollen Varianten zu verbinden.
Die Oktavidentität weiß Samantha souverän anzuwenden: Wenn eine Melodie ihren
Stimmumfang zu verlassen droht, springt sie treffsicher und ohne Zögern in die obere oder
untere Oktave und kann so den Gesang fortsetzen.
Vor diesem Hintergrund sind Samanthas gesangliche Leistungen, die seit ihrem dritten
Lebensjahr per Video dokumentiert sind, überdurchschnittlich, was Tonalitätsverständnis und
Kreativität angeht. Samanthas weitere musikalische Entwicklung zeigt allerdings kaum
qualitative Fortschritte, es ist eher eine Stagnation der Gesangsqualität in späteren Jahren zu
verzeichnen.
Die genaue musikalische Transkription der Gesänge und deren musikalische Auswertung hat
ergeben, dass Samanthas unzähligen Liedwiederholungen keine musikalischen Stereotypien
sind. Musikalisch gesehen sind sie Variationen mit zum Teil improvisierendem Charakter.
Ferner zeigte sich, dass das Singen für Samantha eine lustbetonte Tätigkeit darstellt. Die
innere Motivation mag zu einem großen Anteil zur Ausprägung ihrer musikalischen Fähigkeiten
beigetragen haben.
Bemerkenswert ist, dass Samanthas musikalische Aktivität nur den Gesang betrifft. Sie zeigt
kein Interesse, sich an einem Instrument zu probieren. Ebenso zeigt sie sich außerstande,
rhythmisch zu klatschen.
Phonetische Merkmale von Samanthas Lautproduktion
Samantha verfügt über kein Sprachsystem oder eine alternative Form symbolischer
Kommunikation. Außerhalb der Gesangssituation gibt sie keine sprachähnlichen Laute von sich.
Nur beim Singen artikuliert sie silbisch strukturierte Abfolgen von Konsonanten und Vokalen,
die stellenweise die Liedtexte wiedererkennen lassen. Dieser besondere Umstand führt zu der
Frage, nach welchen Prinzipien diese Laute ohne Sprachfunktion strukturiert sind. Mit dieser
Fragestellung wurde eine quantitative phonetische Analyse von Samanthas Lautproduktionen
durchgeführt. Diese basiert auf einer phonetischen Transkription (nach IPA) der produzierten
Laute.
Im Ergebnis zeigt sich, dass die Silbenstruktur (Abfolge von Vokalen und Konsonanten) in
Samanthas Produktionen fast ausschließlich aus der Lauttypenfolge Konsonant-Vokal (oder nur
Vokal) besteht. Dies ist die universell einfachste Silbenstruktur. Die deutsche Vorlage hat
dagegen relativ komplexe Silbenstrukturen, d.h. es gibt mehr Konsonanten als Vokale.
Die Untersuchung der Vokale und Konsonanten in Samanthas Lautproduktion ergibt ein
auffälliges Gefälle zugunsten der Vokale:
Das Vokalrepertoire umfasst den ganzen Vokalraum. Laute, die Samantha selten oder gar nicht
produziert (z.B. ü, ö, eu), gehören zu den selteneren oder strukturell komplexeren Lauten. Die
Häufigkeitsverteilung der Vokale bewegt sich im normalen Rahmen. Das
Konsonantenrepertoire weist dagegen erhebliche Lücken auf, und die Häufigkeitsverteilung ist
höchst ungewöhnlich:
Glottale Konsonanten (z.B. h) werden überaus stark bevorzugt. Die nächst größeren
bevorzugten Konsonantenklassen sind Liquide (l, r) und Halbvokale (j, ‘w’ wie engl. „we“),
während Verschlusslaute (t, d) weniger häufig vorkommen. Normalerweise ist das Verhältnis
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umgekehrt: Verschlusslaute bilden weltweit und auch in der frühen Entwicklung die häufigste
Lautklasse, während Liquide eher selten vorkommen bzw. spät erworben werden. Besonders
auffällig ist das fast völlige Fehlen der Konsonanten p, b, k, g. Diese Verschlusslaute, vor allem
p, gehören zu den einfachsten und am weitesten verbreiteten Konsonanten in den
Weltsprachen (Maddieson, 1984).
Die Lautstruktur in Samanthas Gesang lässt sich dadurch erklären, dass Samantha ihre Laute
nach musikalischen Kriterien auswählt. Dabei stehen die Laute im Vordergrund, die sich beim
Singen klanglich gut entfalten können bzw. kein Hindernis für die Klangentfaltung darstellen.
Das erklärt die große Differenziertheit im Bereich der Vokale und die Bevorzugung der Glottale,
bei denen der orale Resonanzraum frei bleibt. Ferner werden die Konsonanten bevorzugt, die
vokalische Eigenschaften in sich tragen, wie Liquide und Halbvokale.
Die Lautproduktion beim Singen wird bei fehlender Sprachfunktion nach musikalischen
Kriterien strukturiert. Diese lautliche Struktur unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von
dem, was als typisch für bekannte Sprachformen gilt.
Die Rolle der Musik in der verhaltenstherapeutisch orientierten Begleitung von Samantha
Die Musik, vor allem das Singen, hat in der Förderung von Samanthas Entwicklung und im
therapeutischen Konzept stets eine zentrale Rolle gespielt.
Die vierjährige Samantha war ganz in ihrer autistischen Welt absorbiert. Die meiste Zeit sang
sie oder ging ihren Stereotypien nach. Den Versuchen ihres Betreuers, Kontakt aufzunehmen,
verhielt sie sich überwiegend abwehrend. Einen Zugang zu dem Kind fand der Betreuer
schließlich, indem er ihr Lieder vorsang. Samantha zeigte ein wachsendes Interesse an diesen
Darbietungen und verlangte immer häufiger, ein Lied von ihm zu hören. Mit der zunehmenden
Bereitschaft von Samantha für Interaktionen mit dem Betreuer entwickelte sich allmählich eine
Beziehung zwischen den beiden, was sich z. B. bei der Begrüßung oder beim Abschied zeigte.
Das Singen ist seit dieser Zeit ein zentraler Bestandteil der therapeutischen Sitzungen mit
Samantha, indem es als Verstärker einbezogen wird: Nachdem Samantha eine geforderte
Handlung oder Teilhandlung vollbracht hat, darf sie sich ein Lied wünschen, das der Therapeut
ihr dann vorsingt. Das gewünschte Lied gibt sie an, indem sie es ansingt. Das Singen erwies
sich als außerordentlich wirksamer Verstärker, der ungleich besser motiviert als z.B.
Süßigkeiten, denen Samantha ebenfalls sehr zugeneigt ist.
Das Singen förderte auch die Entwicklung interaktiver Handlungsabläufe.
Es gelingt Samantha, sich auf einen Interaktionspartner dann am besten zu konzentrieren,
wenn dieser ihr etwas vorsingt. Eine Abstimmung ihrer Handlungen mit denen einer anderen
Person kann sich zum Beispiel darin äußern, dass sie beim Hören eines Liedes stumm die
entsprechenden Mundbewegungen mitartikuliert. Ferner hat Samantha über das Singen
einfache Gebärden gelernt, die jeweils Teil eines bestimmten Liedes sind. Sie ist auch in der
Lage, diese Gebärden spontan und intentional einzusetzen, um die Bitte nach dem
entsprechenden Lied auszudrücken. Diese Fähigkeit hatte wesentlichen Einfluss auf die
Entwicklung ihrer kommunikativen Kompetenz zur Artikulation von Bitten und Wünschen.
Außerdem fällt auf, dass im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Singen auch der sonst
sehr seltene Augenkontakt oft gelingt.
Auch außerhalb der Interaktionssituation ist zu beobachten, dass die Musik Samantha zu
Aktivitäten beflügelt, die sie ohne diese starke Motivation nicht bewältigen würde. Zum Beispiel
bedient sie, um Musik zu hören, das CD- oder Videogerät mit einer Geschicklichkeit, die sie
sonst nicht aufbringt.
Samanthas Singweise hat sich im Laufe der Jahre verändert, was sicherlich auch auf die
therapeutische Intervention zurückzuführen ist.
Zu Beginn des beobachteten Zeitraums sang Samantha nur solitär und völlig absorbiert, ohne
Bezug zur Umwelt. Mit Beginn der Intervention wurde dieses solitäre Singen weniger. An
dessen Stelle trat eine andere, interaktive Form des Singens: Samantha stimmte ein Lied an,
um jemanden aufzufordern, dieses Lied für sie zu singen. Dieses Singen in der Funktion „Bitte
um ein Lied“ macht heute fast den gesamten Umfang von Samanthas Gesang aus, zumindest
in den Zusammenkünften mit ihrem Therapeuten (Wenglorz, 2002).
In seltenen Fällen kam sogar ein echter musikalischer Dialog zwischen Samantha und ihrem
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Betreuer zustande. Eine solche Szene ist in der Videodokumentation erfasst (Wenglorz &
Deutsch, 1997). Samantha und ihr Therapeut sitzen auf einem Sessel nebeneinander.
Samantha singt dem Betreuer ein kurzes, offenbar improvisiertes Motiv zu. Der Therapeut
greift das Motiv auf, indem er es wiederholt. Es entspinnt sich ein musikalischer Dialog, dessen
Verlauf allein durch Samanthas Initiative bestimmt wird, indem sie das zurückgesungene Motiv
wiederholt, variiert oder etwas Neues einwirft. Der Therapeut beschränkt sich auf das bloße
Wiederholen ihrer Einwürfe. Bezeichnend für diese seltene Interaktion ist das Abwechseln von
gerichtetem Singen und intensivem Zuhören.
Fazit und Ausblick
Innerhalb ihrer tiefgreifenden Entwicklungsstörung kann man Samantha für den Bereich der
musikalischen Entwicklung eine Inselbegabung nachweisen. Im Umgang mit den Liedvorlagen
tritt bei ihr eine hoch einzuschätzende Kreativität zu Tage.
„Kreativität“ und „Pathologie“ sind Begriffe, die man für gewöhnlich nicht miteinander
verbindet. Der Einzelfall Samantha zeigt aber, dass beides eng beieinander liegen kann. Durch
die Entwicklungsstörung fehlen Samantha die Anlässe, die für gewöhnlich den musikalischen
Ausdruck hemmen. Sie fängt dann an zu singen, wenn ihr danach zumute ist. Ihr Singen wird
also nicht von Gefühlen wie mangelndem Selbstvertrauen und Scham beeinträchtigt. Wenn
Samantha singt, improvisiert sie Teile von Liedvorlagen mit ihrer Stimme. Ihre
Liedimprovisationen bewegen sich durchaus in einem konventionellen Rahmen, was die
grundlegenden musikalischen Parameter wie Intonation und Rhythmus anbelangt. Samantha
entwickelt beim Singen eine Kreativität, die untrennbar ist von ihrer Störung, so dass man von
einer „kreativen Pathologie“ sprechen kann.
Samanthas Singen unterscheidet sich auch in der Form des Singens. Ihr Liedersingen endet
abrupt, wenn jemand mit ihr gemeinsam gleichzeitig zu singen anhebt. Gemeinsames Singen
ist bei ihr nur in der Form eines musikalischen Dialogs möglich, bei der sie und ihr Partner
ausschließlich abwechselnd hervortreten. So fehlt bei Samantha der Typus des Singens, der
bei entwicklungsunauffälligen Kindern besonders gut geeignet ist, um Hemmungen abzubauen
und zu überwinden: das gemeinschaftliche Singen zusammen mit anderen Kindern und/oder
Erwachsenen. In Samanthas verhaltenstherapeutischer Begleitung ist Singen neben
Süßigkeiten der wichtigste Verstärker, um soziales Verhalten zu initiieren und weiter
auszubauen. Musik ist ihr Lebenselexier und gleichzeitig der Weg, auf dem andere Menschen
wie ihr langjähriger Betreuer Markus Wenglorz mit ihr in Kontakt treten können. Musik kennt
keine Grenzen. Sie vermag selbst die Grenze zu überschreiten, die zwischen Personen mit und
ohne autistischer Störung liegt.
Literatur:
Deutsch, W. ; Sommer, G. & Pischel, C. (2003). Sprechen und Singen im Vergleich. In:
Rickheit, G., Herrmann, T. & Deutsch, W. (Hrsg.), Handbuch der Psycholinguistik. Berlin.
Deutsch, W., Wenglorz, M. & Bell, M. (1997). Was bringt die Tagebuchmethode für die
Autismusforschung? In Wilz, G. & Brähler, E. (Hrsg.), Tagebücher in Therapie und Forschung,
119-138. Göttingen.
Jaeger, S. (1985). The origin of the diary method in developmental psychology. In G.
Eckhardt, Bringmann, W.G. & Sprung, L. (Eds.), Contributions to a history of developmental
psychology, 63-75. Berlin.
Maddiesen, I. (1984). Patterns of Sounds. Cambridge.
Petermann, F. & Rudinger, G. (2002). Quantitative und qualitative Methoden der
Entwicklungspsychologie. In Oerter, R. & Montada, L. (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (5.
vollst. überarb. Auflage), 999-1025. Berlin.
Seemann, H. (1997). Tagebuchverfahren - Eine Einführung. In Wilz, G. & Brähler, E. (Hrsg.),
Tagebücher in Therapie und Forschung, 13-33. Göttingen.
Wallace, D. B., Franklin, M. B. & Keegan, R. T. (1994). The observing eye: A century of baby
diaries. Human Development, 37, 1-29.
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Wenglorz, M. (1995). Im Anfang war – die Gebärde. Ein Fallbeispiel. Sprache & Kognition 14,
104-115.
Wenglorz, M. (2003). Kreative Pathologie. Lieder ohne Worte. Braunschweig: Unveröffentlichte
Dissertation.
Wenglorz, M. & Deutsch, W. (1997) ( Film). Samantha. Die Entwicklung eines Mädchens mit
einer autistischen Störung. Göttingen: Institut für den Wissenschaftlichen Film.
Grit Sommer, technische Universität Braunschweig, Institut für Psychologie, Abteilung
Entwicklungspsychologie, Spielmannstr.19, 38106 Braunschweig.
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