Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau
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Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau
Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Magisterarbeit Humboldt-Universität zu Berlin Geographisches Institut eingereicht von: Stefan Dietrich Ob den Rainen 5 78315 Radolfzell Gutachter: Prof. Dr. Ludwig Ellenberg (Geographisches Institut der Humboldt-Universität zu Berlin) Dr. Leonore Scholze-Irrlitz (Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin) Berlin, den 8. April 2008 Vorwort Bei der Podiumsdiskussion zum Thema „Wohin treibt die Reichenau? Die Gemeinde im Spannungsfeld zwischen Tourismus, Siedlungsentwicklung, Naturschutz und Gemüsebau.“, bei der die Vertreter der verschiedenen Akteure zu Beginn meiner Feldforschung aufschlussreich diskutierten, kam gegen Ende der Veranstaltung ein Beitrag von einer Frau aus dem Publikum. Sie tat lediglich ihre Unsicherheit und Hilflosigkeit kund, sie sei sich während der Diskussion vor allem ihrer Unkenntnis klar geworden und wünsche sich eine verständlichere Vermittlung der zu einem Verständnis der Situation erforderlichen Informationen. Ein wenig wie dieser Frau ging es auch mir, der ich diese Diskussion um die aktuellsten Themen auf der Reichenau in mich aufnahm, die auch mein Magisterarbeitsthema, den Gemüsebau auf der Insel Reichenau unmittelbar betrafen. Ich wollte die Situation verstehen und dann eine Arbeit vorlegen, die deutlich macht, dass ich sie verstanden habe. Da ich mich vorab in meinem Studium wie in meiner Freizeit schwerpunktmäßig vor allem mit Nachhaltigkeit und Entwicklungsprojekten in Lateinamerika beschäftigt habe, betrat ich mit dem kleinen Eiland im Bodensee in vielerlei Hinsicht Neuland, das erst einmal von Grund auf erschlossen werden musste - obwohl ich ganz aus der Nähe stamme und die letzten vier Jahre meiner Schulzeit auf dem Weg zur Schule immer aus dem Seehas1 heraus auf die Reichenau blickte. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich einmal so intensiv mit der Landwirtschaft der Insel beschäftigen würde und dass sogar die Eisenbahnlinie, mit der ich da fuhr, etwas Entscheidendes mit deren Entwicklung zu tun hatte. Ein kleiner Umweg über mein Interesse für Produktsiegel und die zunächst aufgrund einer TV-Dokumentation bei den Reichenauer Fischern vermutete „geschützte Ursprungsbezeichnung“, die ich dann in Form eines von der Reichenauer Gemüsegenossenschaft gestellten Antrags beim Deutschen Patentamt in Bezug auf Gurken, Tomaten, Blattsalate und Feldsalat von der Insel Reichenau fand, führten mich auf die reiche Au, um mich dort dann weniger mit Siegeln, sondern mehr mit dem, was dahinter steckt, zu beschäftigen. Es war ein Umweg, den ich in keiner Weise bereue und der mir reiche Erfahrungen geschenkt hat. Auch war die Anfertigung der Arbeit insofern ein Umweg, dass ich sie nicht an einem Stück erstellt habe. Durch einen vielseitigen, mehrmonatigen Aufenthalt in Perú und Ecuador, zu dem mich die dort von mir mitbetreuten Projekte ebenso drängten wie der Wunsch einer gemeinsamen Reise mit meinen Eltern, klaffte eine zeitliche Lücke zwischen der Erhebung und der schriftlichen Ausarbeitung. Dies bedeutete einerseits, sich zweimal einarbeiten zu müssen. Andererseits war der Abstand aber auch nicht schlecht, um noch mal neu, noch mal anders über das Thema zu denken und kurz vor Schluss noch ein paar aktuelle Aspekte einfließen lassen zu können. 1 Nahverkehrszug, der u.a. zwischen Radolfzell und Konstanz verkehrt und auch die Haltestelle Reichenau (Baden) bedient. Für weitere, möglicherweise unbekannte und im Text nicht definierte Begriffe steht im Anhang ein Glossar zu Verfügung. I Ich möchte mich in diesem glücklichen Moment der Fertigstellung dieses Werks bei allen bedanken, die dazu beigetragen haben. Der Dank gilt vor allem drei Personengruppen. Zunächst sei allen „Erforschten“ auf der Reichenau gedankt, die mit mir Gespräche und Interviews führten, und vor allem denjenigen von ihnen, die mich in ihren Einrichtungen mitwirken ließen. Ohne diese wertvollen Erfahrungen würde es vorliegende Arbeit nicht geben. Dann bedanke ich mich bei allen mir Nahestehenden, vor allem meiner Freundin und meiner Familie, dass sie mir diese Arbeit ermöglichten, indem sie auf mich Rücksicht genommen haben, meiner Aufmerksamkeit entbehrten und mir aktiv bei anregenden Unterhaltungen sowie beim Korrekturlesen und Formatieren unter die Arme griffen. Und schließlich geht mein Dank an meine Betreuer Prof. Dr. Ludwig Ellenberg und Dr. Leonore Scholze-Irrlitz, die stets für Motivation und inhaltliche Gedanken fördernde Gespräche bereit standen. Nun hoffe ich nicht nur, dass ich die Situation verstanden habe, sondern dass es auch gelungen ist, sie verständlich und mit wissenschaftlichem Anspruch niederzuschreiben. Darüber mögen die Leserinnen und Leser2 entscheiden. Stahringen im März 2008 Stefan Dietrich 2 Im Folgenden wird der Annehmlichkeit des Autors und der Lesbarkeit wegen nicht konsequent die gendergerechte Schreibweise geübt. Implizit sollen stets, wenn nicht extra erkenntlich, alle erdenklichen Formen mit gemeint sein! II Inhaltsverzeichnis Vorwort..............................................................................................................................................I Verzeichnisse (Abkürzungen, Karten, Abbildungen, Tabellen)......................................................IV 1. Einleitung.................................................................................................................................. 1 1.1 1.2 1.3 2. Zugang zum Thema......................................................................................................... 1 Fragestellung ................................................................................................................... 2 Aufbau der Arbeit............................................................................................................. 4 Theorie ..................................................................................................................................... 6 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 Allgemeines zum Begriff der Modernisierung.................................................................. 6 Modernisierung der Landwirtschaft ............................................................................... 11 Strukturelle Ebene ..................................................................................................... 11 Individuelle Ebene ..................................................................................................... 15 Die ´zweite´ Modernisierung bezüglich der Landwirtschaft....................................... 16 Besonderheiten des Sonderkultur- und Gemüseanbaus .............................................. 19 3. Methoden ............................................................................................................................... 23 4. Die Insel Reichenau ............................................................................................................... 28 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.3 5. Historisch-genetischer Teil..................................................................................................... 50 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.4 5.5 6. Die Insel Reichenau: Physische Geographie................................................................ 28 Lage ........................................................................................................................... 28 Geomorphologie und Böden...................................................................................... 30 Klima .......................................................................................................................... 31 Die Reichenau: Siedlung, Wirtschaft, Kultur ................................................................. 35 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau ..................................................................... 41 Vormoderne Entwicklung und Ausgangssituation......................................................... 50 Die ‚erste’ Modernisierung in verschiedenen Phasen ................................................... 54 Vom Weinbau zum Gemüsebau: Formenwandel bei Funktionskontinuität .............. 54 Strukturwandel: Konzentration, Spezialisierung, Behauptung des Standorts .......... 62 Die ‚zweite’ Modernisierung der Landwirtschaft auf der Insel Reichenau .................... 72 Die individuelle Ebene der Modernisierung der Reichenauer Landwirtschaft .............. 75 Resümee historisch-genetischer Teil ............................................................................ 79 Aktueller Teil........................................................................................................................... 81 6.1 Zukunftsstrategien auf einzelbetrieblicher Ebene ......................................................... 81 6.2 Spannungsfeld 1: die genossenschaftliche Ebene ....................................................... 89 6.3 Spannungsfeld 2: Ökologisierungsdiskussion zum Reichenauer Gemüsebau ............ 93 6.4 Spannungsfeld 3: Raumwirksamkeit des Reichenauer Gemüsebaus in Bezug auf das Landschaftsbild .......................................................................................................................... 97 6.5 Resümee aktueller Teil ................................................................................................ 101 7. Schlussbetrachtungen.......................................................................................................... 105 Literaturverzeichnis ...................................................................................................................... 110 Anhang ......................................................................................................................................... 117 Erklärung ...................................................................................................................................... 138 III Verzeichnisse (Abkürzungen, Karten, Abbildungen, Tabellen) Abkürzungen BRD - Bundesrepublik Deutschland BUND - Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. BW - Baden-Württemberg EWG - Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EU - Europäische Union GIS - Geographisches Informationssystem GMO - Gemeinsame Marktordnung NGO - Non-Governmental Organization (Nichtregierungsorganisation) UNESCO - United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization USA - Vereinigte Staaten von Amerika Karten Karte 1: Die Lage der Insel Reichenau im Untersee (Kartenauszug aus IGKB 2004:176f.) (Seite 29) Karte 2: Höhenlinienkarte der Insel Reichenau (BLENCK 1971:124) (Seite 31) Karte 3: Spätfrostschäden an Blättern von Walnussbäumen im Mai 1957; aus REGIO (2005:32), dort verändert nach W ELLER (2001:314) (Seite 33) Karte 4: Mittlere Niederschlagshöhen am Bodensee in den Jahren 1931-1960; aus REGIO (2005:35) nach GUTERMANN (1982:107) (Seite 34) Karte 5: Strömungsverhältnisse im Untersee (aus KIEFER 1968:62) (Seite 35) Karte 6: Hagelschaden bei Gemüse am 26. Juni 1965 (BLENCK 1971:122) (Seite 52) Karte 7: Existing zones of protection on and around the Monastic Island of Reichenau; taken from BRD (2000:59) (Anhang) IV Abbildungen Abbildung 1: Logo des Reichenaugemüses und BW-Siegel (von: REICHENAUGEMÜSE EG ohne Jahr) (Seite 1) Abbildung 2: Klimadiagramm von Konstanz (Seite 31) Abbildung 3: Saisonkalender des Reichenauer Gemüsebaus (Seite 42) Abbildung 4: Leitlinien der Unternehmensaufgabe der Reichenauer Gemüsegenossenschaft (aus REICHENAUGEMÜSE EG ohne Jahr II) (Seite 47) Abbildung 5: Gemeinde Reichenau: Das Verhältnis von Rebland, Gemüseland und Ackerland 1865 bis 1965, erstellt von BLENCK (1971:157) (Seite 57) Abbildung 6: Viehbestand der Insel Reichenau von 1948 bis 1967, erstellt von BLENCK (1971:250) (Seite 63) Abbildung 7: Gemüseumsatz nach Monaten in % des Jahresumsatzes für die Jahre 1958, 1973 und 1988, erstellt von GLÖNKLER (1991:125) (Seite 65) Tabellen Tabelle 1: Größenverhältnisse Obersee-Untersee-Gesamtsee (erweitert nach SCHULZ -W EDDIGEN 2000:32) (Seite 29) Tabelle 2: Modernisierung der Reichenauer Landwirtschaft zwischen 1863 und 1948 (eigener Entwurf nach den Herausarbeitungen des historisch-genetischen Teils, Angaben insbesondere aus BLENCK 1971 und GLÖNKLER 1991) (Anhang) Tabelle 3: Modernisierung der Reichenauer Landwirtschaft von 1948 bis heute (eigener Entwurf nach den Herausarbeitungen des historisch-genetischen Teils, Angaben insbesondere aus BLENCK 1971, GLÖNKLER 1991 und aus der eigenen Feldforschung) (Anhang) V Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 1. Einleitung 1. Einleitung 1.1 Zugang zum Thema Abb. 1: Logo des Reichenaugemüses und BW-Siegel (von: REICHENAUGEMÜSE EG ohne Jahr) „Reichenau Gemüse - Herkunft und Qualität Baden Württemberg. Aus integriertem und kontrolliertem Anbau“. Immer mehr ist man als Kunde mit Siegeln auf Produkten konfrontiert, vor allem im Lebensmittelbereich. Diese Siegel sollen Informationen zur Qualität der Produkte in ökologischer oder sozialer Hinsicht und zu ihrer Herkunft transportieren. Oben zitierte Produktkennzeichnung ist ein Beispiel dafür, wie ein Siegel Herkunft und Qualität kommuniziert, das Produkt (Gemüse) einem bestimmten Ort (Reichenau in BW) und einem bestimmten Herstellungsprozess (integrierter Landbau) zuordnet (vgl. ILBERY et al. 2005). In meiner Ausgangssituation als Konsument (sowohl von Gemüse, als auch von öffentlichen, vor allem medial geführten Debatten über Nahrungsmittel und deren Herstellung) stellte sich für mich anfangs die Frage, welche Siegel was aussagen wollen (Anspruch) und inwieweit sie diesem Anspruch genügen können (Realität). Grundsätzlich nahm ich an, dass man Siegel vor allem als Unterscheidungs- und insofern als Marketingstrategie interpretieren sollte (die jedoch zu einem gewissen Grad unter dem Einfluss der Macht der Kunden stehen könnte). Was sich mir als Kunden als eine (wenn auch nicht immer einfache) Entscheidungsfrage präsentiert, ist gleichzeitig ein Wettbewerb mehr oder weniger unterschiedlicher, jedenfalls durch komplexe Ketten von Vorprodukten, Produktion, Vertrieb und Vermarktung gegangener Produkte, bei denen kommunizierte bzw. suggerierte binäre Unterscheidungskategorien (wie ‚gesund’ oder ‚ungesund’, ‚umweltfreundlich’ oder nicht, ‚fair’ oder ‚unfair’) es angesichts der Komplexität der Produktentstehung schwer haben, mich als kritischen Käufer und Forscher zu überzeugen. Ich wollte nun anhand eines ausgewählten Beispiels wissen: ‚Was steckt dahinter?’. Dieses ‚Dahinter-Schauen’ deutet bereits darauf hin, dass sich das Erkenntnisinteresse der Arbeit weg vom Siegel ‚an sich’ bewegt und sich dem Ort und Produkt ‚an sich’ zuwendet, für die das Siegel steht. Aus verschiedenen Gründen erschien die Reichenau als Standort für Gemüsebau hierfür geeignet: Zunächst wirbt sie eben mit Siegeln, die auf den Ort Bezug nehmen; nicht nur mit oben zitierter Qualitäts- und Herkunftsangabe, sondern es wurde im Jahr 1 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 1. Einleitung 2002 zudem bei der EU der Schutz der vier Hauptgemüse der Reichenau (Gurken, Tomaten, Feldsalat, Blattsalate) als „geschützte Ursprungsbezeichnung (g.U.)“ beantragt: neben der „geschützten geographischen Angabe (g.g.A.) und der „garantiert traditionellen Spezialität (g.t.S.)“ eine der geographischen Herkunftsangaben, mit denen die EU die ‚traditionelle’ Vielfalt der landwirtschaftlichen Produktion bewahren möchte3. Kurz vor Fertigstellung dieser Arbeit wurden alle vier Anträge schließlich als „geschützte geographische Angabe (g.g.A.)“ bewilligt (ZOCH 2008b)4. Darüber hinaus steht die Insel Reichenau im Licht der Öffentlichkeit, da ihr seit November 2000 der Welterbestatus der UNESCO verliehen wurde - vor allem wegen der drei berühmten romanischen Kirchen, aber letztlich bezieht sich der Status auf das Landschaftsbild der Insel als Ganzes. Zweitens handelt es sich bei der kleinen Insel im Bodensee um ein überschaubares Anbaugebiet. Drittens kann man es als ein traditionelles Anbaugebiet für Sonderkulturen (erst Wein-, dann Gemüsebau) bezeichnen, das sich im Zuge der Modernisierung, Europäisierung und Globalisierung der Landwirtschaft als spezifischer geographischer Standort behaupten konnte. Viertens hatte ich durch meine eigene Herkunft (aus einem Dorf in der Nähe kommend; über persönliche Kontakte auf der Insel Reichenau verfügend) einen erleichterten Zugang. 1.2 Fragestellung Allgemein möchte ich durch eine Forschung auf der Gemüseinsel Reichenau in Erfahrung bringen, was ‚Gemüse von der Insel Reichenau’ heißt, welche komplexe Wirklichkeit sich hinter dieser Bezeichnung verbirgt. Die Annahme aufgreifend, dass es sich bei Produktsie3 vgl. die Veröffentlichungen des Deutschen Patentamts zu geschützten geographischen Angaben, am Beispiel des Reichenauer Antrags zum Schutz ihrer Tomaten: Online im Internet: URL: <http://publikationen.dpma.de/DPMApublikationen/dld_gd_file.do?id=3> [Stand: 27.03.2008], abgedruckt im Anhang 4 Da diese Bewilligung erst kurz vor Fertigstellung dieser Arbeit erfolgte, konnte sie nicht mehr berücksichtigt werden. Es fällt aber sofort auf und erfordert eine Anmerkung, dass (laut der Publikation des Deutschen Patentamts) die vier Anträge auf „g.U.“ lauteten, nun aber in allen vier Fällen ‚nur’ eine „g.g.A.“ bewilligt wurde. Die „g.g.A.“ ist die weichere Schutzkategorie, sie ist „der Name einer Gegend, eines bestimmten Ortes oder in Ausnahmefällen eines Landes, der zur Bezeichnung eines Agrarerzeugnisses oder eines Lebensmittels dient, das aus dieser Gegend, diesem bestimmten Ort oder diesem Land stammt und bei dem sich eine bestimmte Qualität, das Ansehen oder eine andere Eigenschaft aus diesem geographischen Ursprung ergibt und das in dem begrenzten geographischen Gebiet erzeugt und/oder verarbeitet und/oder hergestellt wurde“, während die „g.U.“ „der Name einer Gegend, eines bestimmten Ortes oder in Ausnahmefällen eines Landes [ist], der zur Bezeichnung eines Agrarerzeugnisses oder eines Lebensmittels dient, das aus dieser Gegend, diesem bestimmten Ort oder diesem Land stammt und das seine Güte oder Eigenschaften überwiegend oder ausschließlich den geographischen Verhältnissen einschließlich der natürlichen und menschlichen Einflüsse verdankt und das in dem begrenzten geographischen Gebiet erzeugt, verarbeitet und hergestellt wurde“ (VERORDNUNG (EWG) Nr. 2081/92, zitiert Online im Internet: URL: <http://eurlex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:31992R2081:DE:HTML> [Stand: 27.03.2008]. Ob die lange Bewilligungsdauer von etwa 6 Jahren und die Zurückstufung von „g.U.“ auf „g.g.A.“ mit der etwas problematischen Konstruktion der Traditionalität des Produkts zusammenhängt (vgl. die Kapitel 4.3 und 5 dieser Arbeit), kann hier nur spekuliert werden. 2 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 1. Einleitung geln vor allem um eine wirtschaftliche Strategie handelt, möchte ich die Fragestellung dahingehend erweitern, welches insgesamt die Zukunftsstrategien der Reichenauer Gemüsegärtner sind. Dabei sollen, neben den verschiedenen Strategien selbst, die verschiedenen Einflussfaktoren auf die Zukunftsstrategien sowie deren Bezogenheit aufeinander identifiziert werden. In Hinblick auf die die heutige Entwicklung beeinflussenden Faktoren möchte die Arbeit herausarbeiten, dass die aktuellen Zukunftsstrategien und Spannungsfelder auf der Insel Reichenau nicht ohne ein historisch-geographisches Verständnis im Sinne einer pfadabhängigen Entwicklung erklärbar sind. Die vorliegende Magisterarbeit möchte somit im Einzelnen folgende Fragen beantworten: - Wie wurde die Reichenau unter besonderer Berücksichtigung der Modernisierung der Landwirtschaft zum Standort für gärtnerischen Gemüsebau? Inwiefern kann man die Reichenau als traditionelles Anbaugebiet bezeichnen? Und wie hat sich der Gemüsebau seitdem bis heute entwickelt? - Welches ist die heutige Situation des Gemüsebaus auf der Reichenau? Welche verschiedenen Zukunftsstrategien lassen sich identifizieren? Welche äußeren Einflüsse spielen dabei eine Rolle? Welche internen Aspekte sind dabei zu berücksichtigen? - Welches sind die wesentlichen Spannungsfelder, in denen sich die Aushandlung der Zukunftsstrategien vollzieht? In welche aktuellen und die Zukunft gestaltenden Prozesse ist der Gemüsebau auf der Insel Reichenau eingebettet? - Lassen sich, nach gründlicher Untersuchung des Ortes ‚an sich’, Rückschlüsse auf das Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit bei den Produktsiegeln des Reichenaugemüses (integriert/‚bio’, g.g.A.) machen? Die Arbeit ist explorativ, das gewählte Vorgehen qualitativ. Die Arbeit fragt nach den Akteuren, die hinter dem „Reichenau Gemüse“ stecken, um über diese zu einem Verständnis der heutigen Situation des Gemüsebaus auf der Insel Reichenau zu gelangen. Neben einem intensiven Literaturstudium wurde eine Feldforschung (zum Teil im wahrsten Sinne des Wortes) vor Ort unter Verwendung verschiedener qualitativer Methoden durchgeführt. Im Einzelnen waren dies Beobachtung, Teilnehmende Beobachtung, zahlreiche Gartenzaun- (oder oft besser: Gewächshaus-) Gespräche und offene, „problemzentrierte“ Interviews (W ITZEL 1985; MAYRING 2002). Die Arbeit möchte anhand der Insel Reichenau aufzeigen, dass diese im Zuge des Modernisierungsprozesses eine ganz spezifische Entwicklung genommen hat, die sich nur aus den entsprechenden spezifischen historischen und geographischen Bedingungen erklären lässt. So hat sich die Insel Reichenau als Standort für Sonderkulturen durch den Übergang vom Wein- zum Gemüsebau behaupten können. Durch diesen Formenwandel bei Funktionskontinuität (vom Weinbau zum Gemüsebau bei gleichbleibenden sozial- /arbeitsökonomischen Verhältnissen) konnten zunächst sonst sicher früher eingetretene Konzentrationsprozesse 3 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 1. Einleitung vermieden werden. So blieb eine auch personell starke landwirtschaftliche Gruppe, nämlich die Gemüsegärtner ‚erhalten’. Die mit der Europäisierung des Marktes und weiteren Modernisierungsschritten doch begonnenen Konzentrationsprozesse fielen schon bald zusammen mit einer Kritik an nämlicher Modernisierung mit ihren negativen Folgen für das Ökosystem (inklusive des Menschen) und das Landschaftsbild. Diese kritisierten Negativfolgen bestimmen auch die aktuelle öffentliche Diskussion um den Gemüsebau auf der Reichenau. Bei der Forschung vor Ort wurde deutlich, dass nicht nur die Gegenstände der öffentlichen Diskussion (unter dem besonderen Fokus der Wirkung und - bezüglich des Landschaftsbilds - gerade auch der Raumwirkung der Gemüsegärtner) von Interesse sind, sondern auch die Art und Weise, wie die öffentliche Diskussion geführt wird. Ein konstruktives Miteinander, mit dem eine nachhaltige Entwicklung der Insel Reichenau ermöglicht werden könnte, hat neben den ablaufenden Prozessen der Konzentration (als folgerichtige Auswirkungen der fortschreitenden ‚ersten’ Modernisierung) auch die besondere Situation der Landwirte in der öffentlichen Diskussion der ökologischen Frage zu berücksichtigen. Es wird (durch die Ergebnisse der Feldforschung) erkennbar, dass sich die Reichenauer Gärtner und die mit ihnen verknüpften Akteure in einem modernen gesellschaftlichen Spannungsfeld behaupten müssen, zwischen den ökonomischen Erfordernissen eines internationalisierten Agrarmarktes einerseits und den konkurrierenden Interessen wie Wohnen, Tourismus oder Natur- und Landschaftsschutz auf lokaler Ebene, den medial und verbraucherpolitisch gestellten Anforderungen an eine ökologische und nachhaltige Produktion auf überregionaler Ebene andererseits. Beide Pole dieses Spannungsfelds beeinflussen die Strategien und Perspektiven im Gemüsebau. Untereinander unterscheiden sich die Strategien und Perspektiven wiederum gemäß der historisch gewachsenen Ausgangsposition des jeweiligen Akteurs. 1.3 Aufbau der Arbeit Zunächst werden die der Arbeit zugrunde liegenden Theorien und Thesen sowie die angewandten Methoden vorgestellt und erörtert (2. und 3.). Dabei wird im theoretischen Teil erst die Unterscheidung von ‚erster’ und ‚zweiter’ Modernisierung entwickelt und das besondere Verhältnis von Bestand und Wandel (Tradition und Moderne) beleuchtet (2.1). Anschließend werden die allgemeinen Charakteristika der Modernisierung der Landwirtschaft dargestellt (2.2). Auch hierbei wird die Unterscheidung von ‚erster’ und ‚zweiter’ Moderne aufrechterhalten. Zudem wird die besondere Situation der Landwirte in der öffentlichen Diskussion der ökologischen Frage zu skizzieren versucht. Abschließend erfolgt eine kurze Einführung in die Besonderheiten von Sonderkulturen, insbesondere des gärtnerischen Gemüsebaus (2.3). Die Offenheit als Methode dieser qualitativ vorgehenden, explorativen Arbeit und die einzel- 4 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 1. Einleitung nen methodischen Schritte durch den Schaffensprozess der Arbeit hindurch werden dann nachvollziehbar dargelegt (3.). Nach einer kurzen Einführung in die Insel Reichenau und den dortigen Gemüsebau (4.) wird dann im ersten, dem historisch-genetischen Teil versucht, die Entstehung des Gemüsebaus auf der Insel Reichenau und seine Entwicklung bis heute unter besonderer Berücksichtigung der Modernisierung zu erklären (5.). Die „evolutionäre Perspektive“ (BATHELT/GLÜCKLER 2002) auf historische Prozesse und Strukturen als ausschlaggebende Erklärungsfaktoren für aktuelle wirtschaftsgeographische Prozesse im Allgemeinen und das Zusammenspiel von Bestand und Wandel im Besonderen spielen hier eine wichtige Rolle. Im zweiten, dem aktuellen Teil werden die Ergebnisse der Feldforschung systematisch vorgestellt (6.). Dabei werden zunächst die verschiedenen Zukunftsstrategien ausgewählter Betriebsbeispiele vorgestellt (6.1). Anschließend werden die Ausführungen zur einzelbetrieblichen Ebene in Bezug gesetzt zu den übergeordneten Ebenen. Dies ist zum einen die Genossenschaft als Vertreterin sowie Vertriebs- und Vermarktungsorganisation fast aller Reichenauer Gemüsebetriebe, zum anderen die gesamte Gemeinde bzw. die öffentlichen Diskussionen, die auf Gemeindeebene geführt werden. Dabei ergeben sich drei zentrale Spannungsfelder, die sich in Bezug auf den Gemüsebau auf der Insel Reichenau identifizieren ließen: Die Einheit der Gemüsegenossenschaft (6.2), die Frage nach der Ökologisierung des Gemüseanbaus (6.3) und die Frage nach der Raumwirksamkeit im Sinne der landschaftsgestaltenden Wirkung des Gemüsebaus (6.4). Die Schlussbetrachtungen (7.) fassen die erzielten Ergebnisse zusammen und werfen sowohl einen Blick auf deren Stärken und Schwächen, als auch auf Fragen, die offen geblieben sind bzw. sich erst im Laufe der Forschung ergeben haben. Die Ergebnisse verstehen sich dabei nicht als abgeschlossene und endgültige Resultate, sondern als (sorgfältig herausgearbeitete) ‚Zwischenstände’, die gerne wieder in die Diskussionen und Aushandlungen auf der Reichenau mit einfließen würden und innerhalb dieser weiter zu entwickeln wären. 5 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie 2. Theorie 2.1 Allgemeines zum Begriff der Modernisierung Bevor ich speziell auf die Modernisierung der Landwirtschaft eingehe, müssen zunächst einige allgemeine Überlegungen zur Modernisierung angestellt werden. Dabei ist sicherlich keine umfassende Begriffsdiskussion möglich, es kann aber herausgearbeitet werden, von welchen theoretischen Überlegungen meine Arbeit ausgeht. Der Begriff der Modernisierung ist bis heute sehr vielfältig verwendet worden. „Es gibt innerhalb der Modernisierungsforschung kein geschlossenes theoretisches System, sondern eine Fülle von Konzepten und Lösungsvorschlägen, zu denen die unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen Beiträge leisten“ (FLIEGE 1998:52). Das DIERCKE Wörterbuch Allgemeine Geographie bezeichnet Modernisierung5 (noch heute!) als einen „Prozess, der traditionelle Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen verändert, indem er sie an das Leitbild einer modernen Industriegesellschaft westlicher Prägung anzupassen versucht“ (LESER 2001:523f.) Hierin steckt allerdings noch die Bezogenheit des Begriffs auf aus Sicht des Westens ‚nicht entwickelte’ Gesellschaften, in der er Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre verwendet wurde (vgl. z.B. W EHLING 1992:22), nachdem die westlichen Länder bereits die erste Modernisierungsphase durchlaufen hatten (vgl. FLIEGE 1998:53). Später wurde er aus dieser entwicklungspolitischen Perspektive gelöst und allgemein auf den „historischen“ Umwandlungsprozess von einer „traditionalen Agrargesellschaft zur hochentwickelten, demokratisch-pluralistischen Industriegesellschaft“ angewendet (FLIEGE 1998:53, dort Zitat aus HARTFIEL/HILLMANN 1982:511). Diese beiden allgemeinen Definitionen weisen bereits auf wichtige Aspekte hin. (1)Erstens ist eine so allgemeine Definition erforderlich, da unter dem Begriff Modernisierung „eine große Anzahl von Teilprozessen und Phänomenen“ (FLIEGE 1998:52) zusammengefasst wird. Mit der Industrialisierung klingt bereits einer der zentralen Teilprozesse an. (2)Zweitens fällt der Begriff des ‚Traditionalen’/‚Traditionellen’, der durch das Moderne abgelöst zu werden scheint. Und (3)drittens fehlt auch bei der zweiten Definition immer noch die ‚zweite’ Moderne, die sich als Konsequenz aus der ‚ersten’ ergibt (BECK 1986). (1) Wenn ich von Modernisierung spreche, so meine ich einschneidende Wandlungsprozesse auf gesellschaftlicher wie auf individueller Ebene (RUCHT 1994:52), deren Auslöser einerseits geistige und politische Veränderungen und andererseits technische Neuerungen im 18. bzw. im 19. Jahrhundert waren6. Zu den geistigen und politischen Veränderungen sind unter 5 im hier verwendeten, im Wörterbuch unter 1. aufgeführten Sinne Dass ich mich hier, von der allgemeinen Definition wieder abweichend, auf die Modernisierung Europas und speziell Deutschlands beziehe, liegt natürlich an der Lage meines Untersuchungsgebiets im deutschen Teil Mitteleuropas. 6 6 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie anderen die Aufklärung7 und die Bauernbefreiung (vgl. auch BLENCK 1971:168) zu zählen, zu den technischen Neuerungen insbesondere die Dampfmaschine und der daraus resultierende Industrialisierungsprozess und Eisenbahnbau. So wurden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine Modernisierung geschaffen (Rationalität als verwissenschaftlichte8 Maxime der Aufklärung, Übergang zu einer weltlichen politischen Ordnung, Freisetzung der Bauern als Wirtschaftssubjekte und als Arbeitskräfte für die Industrie), die sich durch die technische und besonders auch verkehrstechnische Revolution (die ebenfalls aus der neuen Rationalität heraus forciert wurde) nicht nur einschneidend, sondern auch großräumig auswirken konnten. „Als die zentralen Dimensionen dieser Umgestaltung sind [...] zu betrachten: - Transformation der Produktions- und Tauschverhältnisse (Kapitalismus) - Entwicklung neuer Produktionstechnologien (Industrialismus) - Entstehung von mächtigen Verwaltungsapparaten (Bürokratisierung) zur Koordination und Kontrolle menschlicher Handlungen über zunehmend große räumliche und zeitliche Distanzen hinweg“ (WERLEN 2000:52; nach GIDDENS 1971) FLIEGE betont die Durchdringung dieser Dimensionen des Wandels durch die Rationalisierung. RUCHT (1994:54) folgend begreift er Modernisierung auf der Ebene der Gesellschaft als „Prozess funktionaler Differenzierung, verbunden mit Rationalisierung [...], Ökonomisierung und [Autonomisierung] von Teilsystemen“9 (FLIEGE 1998:65): Unter Rationalisierung versteht er „das Ordnen und Systematisieren der Wirklichkeit, mit dem Ziel, sie überschaubarer, berechenbarer und beherrschbarer zu machen“ (FLIEGE 1998:60). Die Verankerung des rationalen Denkens in der Gesellschaft führt dazu, dass sich „die Handlungsgrundlagen der Subjekte verschieben [...] weg von wertrationalen zu zweckrationalen Entscheidungsstrukturen. Funktionalistische Effektivitätsabwägungen treten an die Stelle von Wertüberzeugungen und Gesinnungsethik. Wertorientierungen werden nach und nach abgelöst von Output-Kalkulationen, Produktivitätssteigerungen und Erfolgbzw. Misserfolgwahrscheinlichkeiten. Dieser Teilaspekt der Modernisierung [...] geht Hand in Hand mit der Disziplinierung Ausdifferenzierung im Prozess der von inneren Politik (Verrechtlichung, Staatsbildung), Ökonomie Bürokratisierung, (kapitalistische Marktwirtschaft), Gesellschaftsverfassung (Sozialpolitik im ausgehenden 19. Jahrhundert, Institutionalisierung und Organisierung sozialer Konflikte) und Wissenschaft (Durchsetzung raum-zeitlich bestimmter Wissenschaftsparadigmen)“ (FLIEGE 1998:61, vgl. auch RUCHT 1994:52f.) Dabei ist einerseits ein „Trend zum Ausbau der Vormachtstellung wirtschaftlicher Rationalität“ (FLIEGE 1998:62) zu beobachten (Ökonomisierung). Andererseits führt besagte Ausdifferenzierung zu einer Verselbständigung von „Funktionen und Aktivitäten“ (FLIEGE 7 kritisch dazu W EHLING (1992:67ff.) s.u. 9 FLIEGE schreibt an der zitierten Stelle „Automatisierung von Teilsystemen“, im Abgleich mit RUCHT (1994:54) muss er aber „Autonomisierung“ meinen! 8 7 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie 1998:59), deren auf nämliche Funktionen und Aktivitäten spezialisierte Institutionen und Organisationen „eigenen (Binnen-)Rationalitäten“ (HÖHN 1995:6, zitiert bei FLIEGE 1998:59) folgen (Autonomisierung von Teilsystemen). Auf der Ebene des Individuums dagegen heißt Modernisierung neben der oben angesprochenen Verankerung zweckrationaler Handlungsgrundlagen „Individualisierung, [...] verbunden mit Mobilität und Rollenflexibilisierung“ (FLIEGE 1998:65; vgl. RUCHT 1994:53f.) „Individualisierung meint die Freisetzung der Individuen aus ständischen und lokalen Bindungen, aus sozialen Bezügen, wie sie durch Sozialformen und -bindungen, durch traditionelle Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge, durch Familienformen und Berufsbindungen, durch regionale und soziale Milieus bereitgestellt werden“ (FLIEGE 1998:63). Die Durchdringung der Gesellschaft durch die Rationalität erfolgte dabei nicht homogen und im Sinne der ‚eigentlichen’ Aufklärung von „»Selbstdenken« und [...] »Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit« (Kant)“ (W EHLING 1992:70). Vielmehr bildete sich die Wissenschaft als das „autonomisierte Teilsystem mit eigener Binnenrationalität“ (s.o.) heraus, das die Rationalität explizit zu seiner Methode gemacht hat. So ist „das aufklärerische »Projekt der Moderne« eng mit dem Prozess gesellschaftlicher Rationalisierung als Verwissenschaftlichung der sozialen Beziehungen und der gesellschaftlichen Naturverhältnisse verwoben [...]. Nicht zufällig steuert das Projekt der Moderne daher in »Strudel«, »Klippen« und »Engpässe«, wenn das hegemonial gewordene »Projekt« wissenschaftlich-technischer Weltbeherrschung selbst in eine Krise gerät - sichtbar in wissenschaftlich (mit-)erzeugten ökologischen Gefährdungen.“ (WEHLING 1992:70; dort nach SCHÄFER 1985:12) Die maßgebliche Rolle der Wissenschaft bei der Verwirklichung der Modernisierung wird unten bei der Behandlung der ‚zweiten’ Moderne wieder aufzugreifen sein. (2) Oft wurden in Modernisierungstheorien die Kategorien ‚traditional’ und ‚modern’ als sich ausschließende Gegensätze gesehen (RUCHT 1994:37). Dabei stand ‚traditional’ für das ‚Zurückgebliebene’, ‚modern’ dagegen für das ‚Fortschrittliche’. Die Modernisierung galt als eine Überwindung des Traditionellen, die nur dann vollständig abgeschlossen wäre, wenn alles Traditionelle verschwunden wäre, wenn sich eine „reibungslos[e] [...] Akzeptanz der technischen Zivilisation“ (FLIEGE 1998:56) vollzogen hätte. Dementsprechend wurden traditionale und moderne Gesellschaftseigenschaften oft katalogartig einander gegenübergestellt (s. Beispiel bei FLIEGE 1998:55). Im Gegensatz zu dieser überkommenen, ideologischen Sichtweise können ‚traditional’ und ‚modern’ auch als „Relationalbegriffe“ (BAUSINGER 1985:186) verstanden werden. Im Vergleich zueinander können Lebenszusammenhänge als „traditionaler“ bezeichnet werden, indem sie „eine gewisse Kontinuität“ aufweisen (BAUSINGER 1985:186). Tradition (überlieferte Kontinuität) und Modernität sind also weniger als Ge- gensätze, sondern vielmehr als zwei Seiten eines Prozesses, „als unterschiedliche Formen 8 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie Formen ein und desselben Wandels“ (FLIEGE 1998:58) zu verstehen (vgl. auch KASCHUBA 1999:165). Berücksichtigend, dass Kontinuität und Wandel stets gleichzeitig, aber „freilich in sehr unterschiedlicher Gewichtung“ (KASCHUBA 1999:165) auftreten, kann man die Modernisierung als ein Prozess charakterisieren, in dem der Wandel durch die einschneidenden Veränderungen ein größeres Gewicht hat als die ebenfalls vorhandenen Kontinuitäten. Es ist zum einen zu bemerken, dass es im Zuge von Modernisierungsprozessen immer wieder zur (Re-)Konstruktion von Traditionalem kommt. Dies vollzieht sich nicht selten aus ökonomischen Erwägungen heraus: So kann zum Beispiel die Verbindung eines Produkts bzw. dessen Produktionsweise mit einem traditionellen Bild zu einem Marketingkonzept werden (vgl. KASCHUBA 1999:174f.). Dieses konstruierte traditionelle Bild ist weder beliebig, noch ‚echt’. Es braucht einerseits eine „Fundsache“, also eine geschichtliche Grundlage, auf der die Re-Konstruktion aufbauen kann (vgl. KASCHUBA 1999:170). Andererseits nimmt man es bei der Re-Konstruktion dann nicht unbedingt genau, sondern passt diese an die aktuellen (‚modernen’) Erfordernisse an, zum Beispiel in der Imagegestaltung eines zu vermarktenden Produktes. Zum anderen kann entweder die Kontinuität einer Form zu beobachten sein, deren Funktion sich aber im Zuge von Wandlungsprozessen ändert10; oder es kann umgekehrt die Form sich wandeln, während die Funktion beibehalten wird. Letztgenanntes Muster ist bei der Entstehung des Gemüsebaus auf der Insel Reichenau zu beobachten. Es wird im Laufe dieser Arbeit gezeigt werden, dass ein Formenwandel bei Funktionskontinuität auf der Reichenau (nämlich der Übergang vom Wein- zum Gemüsebau) dazu geführt hat, dass es heute mit dem Gemüsebau eine traditionelle „Fundsache“ gibt (traditionell ist der Sonderkulturanbau), die eine Konstruktion der Ursprünglichkeit des (noch relativ jungen) Gemüsebaus auf der Reichenau überhaupt erst ermöglicht.11 Das Zusammenspiel von Traditionellem und Modernen kann als ein Aspekt der evolutionären Perspektive in der Wirtschaftsgeographie gesehen werden, die „den Einfluss historischer Prozesse und Strukturen auf aktuelle Entscheidungen mit einbezieht“ und davon ausgeht, „dass soziale und ökonomische Prozesse [also auch der Modernisierungsprozess, Anm. S.D.] generell pfadabhängig verlaufen und deshalb erfahrungsgebunden, kumulativ und durch Reflexivität geprägt sind“ (BATHELT/GLÜCKLER 2002:38). Ich werde die Entstehung und Entwicklung des Gemüsebaus auf der Insel Reichenau demzufolge in ihrer Pfadabhängigkeit, ihrer Beeinflussung durch historische Prozesse und Strukturen analysieren, unter besonderem Augenmerk des Verhältnisses von Bestand und Wandel. 10 vgl. hierzu das Beispiel von Weihnachten bei KASCHUBA 1999:S.179ff. Dabei wird sich auch zeigen, dass die Argumentation, die von vielen Akteuren dabei verwendet wird, indem sie nämlich auf den Gemüsegarten des Mönchs Walahfried Strabo zurückgreifen (STRABO 2002), nicht besonders geschickt vorgeht. Denn dieser Rückgriff auf Strabo, der leicht als reine Konstruktionsrhetorik zu durchschauen ist, erfolgt, obwohl eine aus historisch-geographischer Sicht viel plausiblere Argumentation vorhanden ist 11 9 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie (3) Die ideologisch aufgeladenen Modernisierungstheorien, laut denen das Traditionale im Sinne des linearen, unumkehrbaren Fortschritts überwunden werden sollte, haben spätestens ab den 1970er Jahren einen Einbruch erlitten, dadurch, dass sie mit ihren eigenen Folgen und damit mit Fehlern ihrer eigenen Prämissen konfrontiert wurden. Die Industriegesellschaft hatte sich durch ihr eigenes Handeln zur „Industriefolgengesellschaft“ gemacht (BECK 1990:47). Die ‚zweite’ Moderne als Konsequenz aus der ‚ersten’ zeichnete sich ab (vgl. BECK 1986). Besonders die negativen ökologischen Folgen einer bedingungslosen Modernisierung fanden mehr und mehr Beachtung. Bedeutende Rollen in dieser Entwicklung spiel(t)en die Wissenschaft, die Medien und neue soziale Bewegungen. Die Wissenschaft macht(e) die vielfältigen bedrohlichen Folgen des Modernisierungsprozesses oft überhaupt erst sichtbar und liefert(e) Argumentationsgrundlagen für die öffentliche Diskussion. Als prominentestes Werk für die erste Phase der Diskussionen zur Umweltkrise können sicherlich die „Grenzen des Wachstums“ aufgeführt werden (MEADOWS et al. 1973). Die zentrale Rolle der Wissenschaft bei der Bewusstmachung ökologischer Risiken, die eben oft der unmittelbaren Erfahrung nicht zugänglich sind (vgl. z.B. BECK 1986:70), wird in Bezug auf die Landwirtschaft wieder aufzugreifen sein. Den Medien wiederum kommt eine entscheidende Rolle zu bei der Verbreitung der (meist durch die Wissenschaft produzierten) Argumente in der Diskussion der Umweltkrise: „Aus der Diskrepanz von individueller Erfahrungslosigkeit und wissenschaftlicher Definitionsmacht leitet sich die Vermittlungsfunktion der Medien ab“ (PONGRATZ 1992:107). Möge über die Qualität der Beiträge (sowohl der wissenschaftlichen wie der massenmedialen) auch zu streiten sein (s. z.B. PONGRATZ 1992:109), so ist zunächst eine deutliche quantitative Zunahme der Medienbeiträge zur Umweltfrage ab den 1970er Jahren zu verzeichnen. (s. PONGRATZ 1992:87, dort: MARGEDANT 1987:19). Was die Qualität der Informationsvermittlung angeht, so ist zu berücksichtigen, dass sowohl Wissenschaftler als auch Medienschaffende autonomisierten Teilsystemen mit eigenen Binnenrationalitäten angehören: „Die Auswahl und Präsentation ökologisch relevanter Sachverhalte folgt dem Eigeninteresse der beteiligten Personen und Institutionen (Forscherruhm bzw. Forschungsmittel, Sensationswert bzw. Auflagensteigerung). Eine systematische und kontinuierliche Information kann dabei selten stattfinden, Zusammenhänge insbesondere mit gesellschaftlichen Bedingungen werden nur begrenzt berücksichtigt“ (PONGRATZ 1992:109). Schließlich bildete sich in der Diskussion der Umweltkrise eine neue soziale Bewegung heraus, die durch verschiedene Gruppen getragen wurde (s. auch RUCHT 1994). Für die BRD sind hier insbesondere ‚Die Grünen’ auf parteipolitischer Ebene, Greenpeace als internationale Umweltorganisation, die sich besonders die oben genannte Rolle der Medien zu nutze machte, der BUND als großer landesweiter Umweltverband (gegründet 1975; 1985 über 85.000 Mitglieder) und zahlreiche, meist auf lokale oder regionale Umweltprobleme konzentrierte Bürgerinitiativen zu nennen (vgl. PONGRATZ 1992:93f.). Grüne Politi- 10 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie ker, Greenpeace und der BUND (in seiner lokalen Ausprägung als Ortsgruppe) werden auch auf der Insel Reichenau wieder auftauchen. Die oben angesprochene maßgebliche Beteiligung der Wissenschaft bei der Durchsetzung der ‚ersten’ Moderne aufgreifend, wird hier bereits die Doppelrolle von Wissenschaft deutlich. Sie produzierte genau die Folgen entscheidend mit, die sie nun ‚entdeckt’ und als Argumente in die Diskussion der Umweltfrage einspeist. Diese Doppelrolle wird im Fall der Landwirtschaft besonders deutlich werden, sowohl was die wissenschaftsinterne als auch was die öffentliche Diskussion angeht. Die hier notwendigerweise kurze Skizzierung der Modernisierung zeigt, dass es sich bei ihr um einen „historischen“ (FLIEGE, s.o.) Prozess handelt, der weder das historisch Vorangegangene völlig ersetzt (Tradition und Moderne als relationale Begriffe, Pfadabhängigkeit), noch eine unumkehrbare Höherentwicklung darstellt (Krisenerscheinungen in der ‚zweiten’ Moderne). Charakteristisch für die Modernisierung ist jedoch die Wandlungskraft (im positiven wie im negativen Sinne), von der sämtliche Gesellschaftsbereiche und die in ihnen handelnden Individuen betroffen sind, sowie die aktive Rolle, die die Wissenschaften darin spiel(t)en. So sind auch die Landwirtschaft und der ländliche Raum durch die Modernisierung (und damit durch die Wissenschaft) einschneidend gewandelt worden. Im Folgenden möchte ich die Modernisierung der Landwirtschaft näher beleuchten. 2.2 Modernisierung der Landwirtschaft Strukturelle Ebene Die auslösenden Ereignisse der ersten Modernisierung und der so einsetzende Wandlungsprozess führten auch und gerade im landwirtschaftlichen Sektor zu einschneidenden Veränderungen. So gehören Innovationen in Technik und Wissenschaft „zu den stärksten Kräften des Strukturwandels in der Landwirtschaft seit dem 19. Jahrhundert“ (HENKEL 1999:120). Nicht gleichmäßig, eher schubweise, aber doch kontinuierlich bis heute kam es immer wieder zu Neuerungen sowohl im „mechanisch-technischen“, als auch im „organischtechnischen“ Bereich (vgl. HENKEL 1999:120ff.). Die mechanisch-technischen Erfindungen gelten dabei als „arbeitssparend“: Zunächst durch Kohlekraft, dann durch Motorisierung und Elektrifizierung, dem Einsatz von immer mehr und immer komplexeren Maschinen bis hin zu Betriebscomputern in der heutigen Zeit wurden viele von Menschen verrichtete „Hofarbeiten von Maschinen ersetzt“ (HENKEL 1999:S.121). Die organisch-technischen Innovationen dagegen gelten als „bodensparend“, indem sie „auf Verbesserungen bzw. Steigerungen der landwirtschaftlichen Produktion durch biologische Wirkungen“ zielen (HENKEL 1999:121f.). Im 11 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie Einzelnen sind hier die Züchtung hochwertiger, leistungsfähiger Kulturpflanzen12, der Mineraldünger und die chemischen Unkraut- und Schädlingsbekämpfungsmittel zu nennen (vgl. HENKEL 1999:122). So konnten nach und nach von immer weniger Arbeitskräften bei zunehmenden Arbeitserleichterungen immer größere Erträge erzielt werden. Jedoch sind die genannten Innovationen in der landwirtschaftlichen Produktion (als Resultat wissenschaftlicher Rationalisierung) weder die einzigen technischen Neuerungen, die sich auf die Landwirtschaft auswirkten, noch sind die einschneidenden Veränderungen allein durch technische Innovationen bedingt. Technische Neuerungen schufen auch die Voraussetzungen für die Industrialisierung und die großräumige Verkehrserschließung, zunächst durch den Eisenbahnbau im 19. Jahrhundert. Die Bauernbefreiung schuf die Voraussetzung für spätere Entwicklungen, indem sie „die Bauern zu freien Wirtschaftssubjekten werden ließ und den Einbau der Landwirtschaft in die liberale Wirtschaftsordnung ermöglichte“ (BLENCK 1971:168). Die Industrialisierung und Modernisierung erwies sich zunächst als „großer Vorteil“ für die Landwirtschaft: „Sie sog die auf dem Land überflüssig gewordenen Arbeitskräfte ab, bot neue Absatzmärkte für agrarische Produkte und sicherte damit den Lebensstandard der Bäuerinnen und Bauern“ (FLIEGE 1998:66). Dabei wirkten die neuen Abnehmer der agrarischen Produkte auch durch neue Konsumgewohnheiten (mehr „hochwertige Güter“, vor allem eiweißreiche tierische Veredlungsprodukte und „Vitaminträger“ wie Obst und Gemüse) auf die Anbaustruktur der Landwirtschaft zurück (s. z.B. HENKEL 1999:146). Die Verkehrserschließung durch die Eisenbahn (und später durch den LKW-Verkehr) mit der damit einhergehenden Verbesserung13 und Verbilligung der Transportmöglichkeiten bewirkte allerdings (zusammen mit ebenfalls nicht gleichmäßig, aber doch nach und nach erfolgenden wirtschaftspolitischen Marktöffnungen/-erweiterungen), dass einzelne Anbauregionen mit anderen, weiter entfernten in Konkurrenz traten. Durch die Verschiebung des Gewichts von den Transportkosten hin zu den Produktionskosten ergab sich zwischen den Anbaugebieten eine zunehmende Bedeutung der ökologischen Faktoren, vor allem des Klimas (vgl. BLENCK 1971; auch: VON THÜNEN 1930:424). Auch dies führte zu Veränderungen der Anbaustruktur. Die Feststellung von HENKEL, der Einfluss der „Naturfaktoren“ habe „gegenüber den Kulturfaktoren in den modernen Industrieländern - vor allem durch den technischen Fortschritt ständig abgenommen“ trifft also in Bezug auf den Vergleich bzw. die Konkurrenz zwischen verschiedenen Anbaugebieten nicht zu (HENKEL 1999:96). Nur innerhalb eines Anbaugebiets konnten natürliche Einflüsse teilweise reduziert werden. Für die Landwirtschaft selbst waren aus dem ‚immer mehr Ertrag durch immer weniger Arbeitskräfte’ (s.o.) Konzentrationsprozesse die Folge: Auf Dauer konnten nur ausreichend 12 und Nutztiere besonders wichtig für den Gemüsebau ist dabei die Entwicklung der Kühltechnik, die das Gewicht des Faktors der kurzen Haltbarkeit reduzierte 13 12 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie große Betriebe bestehen. Die erforderliche Mindestbetriebsgröße für rentables Wirtschaften stieg immer weiter an. Besonders der hohe Kapitalaufwand, den der fortschreitende Grad der Mechanisierung für die Anschaffung der Landtechnik erfordert, konnte oft nur von mittleren und großen Betrieben erbracht werden (vgl. z.B. HENKEL 1999:121; auch: BLENCK 1971:29f.). So wurden es immer weniger Betriebe, die dafür immer größer wurden. Viele Landwirtsfamilien waren gezwungen, ihren Hof nur noch als Nebenerwerb fortzuführen oder ganz aus der Landwirtschaft auszuscheiden (vgl. HENKEL 1999:113). Das bedeutet zwar nicht, dass sich eine Landwirtschaft der Großbetriebe durchgesetzt hat. Vielmehr ist Deutschland nach wie vor noch „geprägt durch klein- und mittelbäuerliche Betriebe“ (HENKEL 1999:112). Auch sind die durchschnittlichen Betriebsgrößen von Region zu Region unterschiedlich. Gründe für die in Deutschland (gerade im internationalen Vergleich relativ) kleinen Betriebsgrößen und die regionalen Unterschiede sind „u.a. die historischen Erbsitten und die Separationen des 19. Jahrhunderts“ (HENKEL 1999:112). Besonders die Verbreitung der unterschiedlichen Erbsitten mit den beiden Extremformen Anerbenrecht und Realteilung und dazwischenliegenden Mischformen sind in der geographischen/landeskundlichen Forschung viel beachtet worden (für Baden-Württemberg RÖHM 1957). Auf sie als historische Struktur und Praxis, die in ihrer Kontinuität die moderne Entwicklung bis heute mitprägt, wird im Falle der stark von der Realteilung geprägten Reichenau noch zurückzukommen sein. Trotz aller relativen Kleinheit und der regionalen Unterschiede ist generell ein Prozess zunehmender Konzentration bei den Betriebsgrößen und -zahlen zu beobachten. Die Einbindung der Landwirtschaft in die Gesamtwirtschaft hatte im Laufe des Modernisierungsprozesses die Folge, dass die wirtschaftliche Bedeutung der Landwirtschaft immer mehr abnahm. Sowohl was die Produktivität als auch was die Einkommen angeht, bleibt die Landwirtschaft weit hinter der Industrie und dem Dienstleistungssektor zurück. Ein wichtiger Grund dafür ist die geringe Einkommenselastizität im Lebensmittelbereich im Vergleich zu Industrie- und Dienstleistungsgütern: „Der Absatz von Nahrungsmitteln ist relativ unelastisch und kann kaum wie der Konsum von Industriegütern durch technische Innovation, Werbung usw. gesteigert werden“ (HENKEL 1999:141; vgl. auch SCHÄTZL 2003:174). Darüber hinaus ergibt sich für die moderne Landwirtschaft, dass „die Produktion zunehmend abhängig von industriell gefertigten, hoffremden Betriebsmitteln [wird]. In der Bundesrepublik wird etwa die Hälfte des Produktionswertes der Landwirtschaft aufgebraucht, um Betriebsmittel hinzuzukaufen“ (HENKEL 1999:141). Eine zusätzliche Schwierigkeit der deutschen Landwirtschaft ergibt sich aus der Konkurrenz mit anderen Ländern: „Durch die Öffnung des EU- und internationalen Marktes ist gerade die deutsche Landwirtschaft dem Druck von Agrarimporten aus billiger produzierenden Ländern ausgesetzt [...]. Des Weiteren wird die Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft hierzulande durch relativ ungünstige Produktionsstrukturen beein- 13 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie trächtigt. Dazu gehören vor allem die durchschnittlich geringe Betriebsgröße sowie in vielen Regionen die historisch bedingte Flurzersplitterung“ (HENKEL 1999:141). Nicht nur auf der Seite der industriell gefertigten Vorprodukte, die als Betriebsmittel zugekauft werden müssen, ist die moderne Landwirtschaft von außen stark abhängig geworden. Auch auf der Absatzseite finden Konzentrationsprozesse statt, die „einer großen Zahl von Anbietern (Landwirten) [...] meist eine kleine Zahl von marktbeherrschenden Abnehmern“ gegenüber stehen lässt (HENKEL 1999:148). Großen Einfluss auf Seite des Absatzes hat der Lebensmittelgroß- und -einzelhandel (HENKEL 1999:147). „Ernährungsgewerbe und Handel können durch größere Kapitalkraft, Marktnähe, Zwischenlagerung und Werbung die Preise14 bestimmen. Die große Schar der Agrarproduzenten gerät somit zunehmend in die wirtschaftliche Abhängigkeit der Vermarktungsindustrie“ (HENKEL 1999:148). Diesen Konzentrationsprozessen und der zunehmenden Außenabhängigkeit müssen sich auch die Erzeuger-Genossenschaften anpassen, die als Zusammenschluss mehrerer Produzenten Skalenvorteile sowohl beim Bezug von Betriebsmitteln als auch beim Absatz der Produkte zu nutzen versuchen: „Die ländlichen Bezugs- und Absatzgenossenschaften stehen gegenwärtig in einem Dilemma. Sie müssen ihre Geschäftspolitik wie die anderer großer Unternehmen nach wirtschaftlichen Leistungs- und Erfolgskriterien ausführen, zugleich aber den tradierten Genossenschaftsidealen Rechnung tragen. Letzteres bleibt oft auf der Strecke. [...] Unrentable Geschäftszweige werden stillgelegt, geringe Bezugsmengen mit höheren Kosten belastet, Kleinproduzenten benachteiligt. Die Ideen der Selbsthilfe, der Gleichheit der Mitglieder, der bäuerlichen und dörflichen Emanzipation und Bildung, die mit der Gründung von Genossenschaften verbunden waren, spielen heute nur noch eine untergeordnete Rolle.“ (HENKEL 1999:149f., Hervorhebung im Original). Ein Großteil der genossenschaftlichen Arbeit umfasst heute das Marketing: Verbraucherwünsche erkunden, Märkte und Zukunftsentwicklung erforschen, marktgerechte Produktion fördern und Werbung betreiben (vgl. HENKEL 1999:147). Dieses „Dilemma“ der Genossenschaften soll bei der Reichenauer Gemüsegenossenschaft wieder aufgegriffen werden. Mit der Modernisierung änderte sich nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch das Erscheinungsbild des ländlichen Raums. Als Begriff eigentlich erst entstanden als Restraum zur dominanten Stadt des Industriezeitalters, ist der ländliche Raum politisch wie wissenschaftlich auch bis heute entsprechend stiefmütterlich und stadtzentristisch behandelt worden. Traditionell von der Landwirtschaft nicht nur räumlich-optisch, sondern auch funktional und was die Beschäftigung seiner Bewohner angeht dominiert, prägt die Land- und Forstwirtschaft heute zwar immer noch das Landschaftsbild und erfüllt eine Versorgungsfunktion für die Städter, aber die Funktionen und die Alltagswirklichkeiten der Bewohner haben sich erweitert bzw. gewandelt (vgl. HENKEL 1999:35f.). Die Insel Reichenau im Bodensee ist ein Teil 14 [und nicht nur die Preise, sondern auch Produktionsstandards, wie unten am Beispiel der Reaktion des Handels auf die Greenpeace-Aktion zu sehen sein wird; S.D.] 14 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie ländlichen Raums, der heute neben der Funktion eines Gemüseanbaugebiets noch weitere Funktionen, vor allem die des Tourismus/der Erholung und des Wohnens (oft zugezogene, wohlsituierte Pendler, die in der Stadt, vor allem in Konstanz arbeiten), aufweist, deren jeweilige Bedeutung sich stets im Wandel befindet und auch von der Perspektive des Betrachters abhängt. Individuelle Ebene Der „Einbau der Landwirtschaft in die liberale Wirtschaftsordnung“ (s.o.) führte bei den Landwirten zu einem Wandel vom Selbstversorgerprinzip zum Marktprinzip: „Aus Rentabilitätsgründen wandelte sich die vielseitige Selbstversorgerwirtschaft, die auf Risikoausgleich und damit auf das Überleben bedacht war, in eine auf wenige Produkte hoher Qualität spezialisierte, marktorientierte Verkehrswirtschaft, bei der der Gewinn im Vordergrund steht“ (BLENCK 1971:29). Auch in der Landwirtschaft findet also eine Durchdringung des rationalen ökonomischen Denkens statt. Sozialprestige war in zunehmendem Maß durch wirtschaftlichen Erfolg bedingt (vgl. BLENCK 1971:26). Die Abnahme der Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe einerseits, die höheren Einkommensmöglichkeiten (bei oft erheblich geringerer Arbeitszeit) andererseits, ließen die Hofaufgabe oder das Zurückschrauben auf Nebenerwerb und die Ausübung einer Arbeit im Industrie- oder Dienstleistungssektor für viele, gerade der jeweiligen jüngeren Generation zur (teils freiwilligen, teils ökonomisch erforderlichen) Option werden. Bei den wirtschaftlich zukunftsfähigen Betrieben wurde die Hofübernahme durch den Hoferben oft von einer „ständischen“ Pflicht zu einer relativ freien, individuell-biographischen Entscheidung (vgl. FLIEGE 1998:183ff.; INTERVIEW III). „Ein Ausscheren aus den Bedingungen gesamtökonomischer Produktion ist kaum mehr möglich, ökonomisch-zweckrationale Kriterien bestimmen immer mehr die Grundlage bäuerlicher Existenz. Die Marktkonkurrenz zwingt die Landwirte, neue Produktionstechnologien anzuwenden. Vergrößerung, Spezialisierung, Rationalisierung, Industrialisierung oder Hofaufgabe sind die Probleme, denen sich heute Landwirte ausgesetzt sehen“ (FLIEGE 1998:69). Es wurde nun auf struktureller Ebene folgendes Schema für die Modernisierung der Landwirtschaft aufgezeigt: zunehmende Technisierung, zunehmende Marktintegration (Veränderung der Konkurrenzsituation und der Anbaustruktur, Spezialisierungen), zunehmende Konzentration der Betriebe, zunehmende Schwächung gegenüber den anderen Wirtschaftssektoren, zunehmende Bedeutung und Abhängigkeit von - ebenfalls Konzentrationsprozessen ausgesetzten - Zulieferindustrien einerseits und Absatz- / Vermarktungsindustrie anderer- 15 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie seits, abnehmendes Gewicht bzw. schwierigere Rolle von gemeinschaftlichen Institutionen. Einhergehend mit der abnehmenden Bedeutung des landwirtschaftlichen Sektors zeigt sich eine Differenzierung der Funktionen des ländlichen Raums. Auf individueller Ebene entspricht diesem Schema eine zunehmende ökonomische Zweckrationalität, (individualisierte) Lebensalternativen, die im außerlandwirtschaftlichen Bereich liegen, also den teilweisen oder völligen, freiwilligen oder unfreiwilligen Ausstieg aus der Landwirtschaft bedeuten, und zunehmende Fremdbestimmung. Diese Schemata können zu einer Analyse des Ablaufs der Modernisierung der Landwirtschaft auf der Insel Reichenau herangezogen werden. Die hier verallgemeinerten Prozesse liefen historisch in unterschiedlichen Phasen, mit unterschiedlichem Ausmaß und unter lokalen oder regionalen Besonderheiten ab. Diese Geschichtlichkeit und die zeitlichen wie räumlichen Unterschiede des Modernisierungsprozesses soll im historisch-genetischen Teil zum Gemüsebau auf der Insel Reichenau berücksichtigt werden. Damit soll dieser Teil ein Stück dazu beitragen, „Moderne und Modernisierung nicht singulär für die jeweils gelebte, geschlossene Gesellschaft, sondern als differenzierten multigenetischen Gestaltungs- und Verständigungsprozess unter je verschiedenen historischen [und geographischen; S.D.] Bedingungen zu verstehen“ (JACOBEIT/SCHOLZE-IRRLITZ 2005:246). An dem überschaubaren geographischen Beispiel der Reichenau kann gezeigt werden, wie historische Prozesse und Strukturen zu einer speziellen Form modernisierter Landwirtschaft bzw. zu einem speziellen Stück modernisierten ländlichen Raums geführt haben. Die ‚zweite’ Modernisierung bezüglich der Landwirtschaft Die bisherige Darstellung der Modernisierung der Landwirtschaft hat allerdings die im allgemeinen Teil zur Modernisierung (Kapitel 2.1) eingeführte ‚zweite’ Modernisierung noch nicht berücksichtigt. So kam es ab den 1970er Jahren bei der aufkommenden Diskussion der Umweltfrage dazu, dass besonders auch die negativen Folgen der ‚ersten’ Modernisierung der Landwirtschaft thematisiert wurden. Inhaltlich bestehen diese negativen Folgen aus den folgenden Aspekten: - Zunächst ergeben die mechanisch-technischen Innovationen einen „gewaltigen Energieverbrauch“: HENKEL gibt an, dass die „hochtechnisierte Landwirtschaft“ bis zu 5000 Kalorien Energie verbraucht, um 50 Nahrungskalorien zu produzieren; wobei die „höchsten Energieverluste [...] vor allem bei den Gewächshäusern und der Masttierhaltung“ in Kauf genommen werden (HENKEL 1999:122f.). - Es sind in Anpassung an die maschinelle Bearbeitung immer größere Feldflächen entstanden. Dafür mussten „topographische Unebenheiten, Feldgehölze, natürliche Bachläufe und Sümpfe“ weichen, wodurch zahlreiche Biotope zerstört wurden und 16 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie die „früher meist kleingekammerte Agrarlandschaft mit ihren hydrologischen und klimatischen Vorzügen“ vielerorts ausgeräumt wurde (HENKEL 1999:123). - Die „großflächigen Monokulturen belasten den Bodenhaushalt und begünstigen die Bodenerosion. Außerdem wird durch die schweren landwirtschaftlichen Maschinen der Boden verdichtet, was ebenfalls zu einer Beeinträchtigung des Bodenlebens führt“ (HENKEL 1999:123). - Überhöhte Anwendung von Kunstdünger führte zu einem Rückgang der Artenvielfalt und vor allem zu einer oft sehr starken Belastung der Grund- und Oberflächenwässer (vgl. HENKEL 1999:124; auch: FLIEGE 1998:68). - Überhöhte Anwendung von Unkraut- und Schädlingsbekämpfungsmitteln führten neben einer ebenfalls negativen Wirkung auf die Artenvielfalt zu einer direkten Belastung der Futter- und Nahrungsmittel mit Chemikalien, die gesundheitlich belastend bzw. gefährlich sein können (vgl. HENKEL 1999:124; auch: FLIEGE 1998:68) Besonders die beiden letztgenannten, kursiv hervorgehobenen Negativfolgen äußerten sich auch auf der Gemüseinsel Reichenau und wurden Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Zu diesen rein ökologischen Argumenten gesellten sich zudem mehr und mehr Forderungen gegen die Zerstörung bzw. für die Bewahrung des ‚traditionellen’ Kulturlandschaftsbildes, das durch die Konzentrationsprozesse der modernen Landwirtschaft bedroht ist (vgl. z.B. HENKEL 2005:43ff.). Der Landschaftsschutz hat mit der Erklärung der Insel Reichenau zum UNESCO-Welterbe eine besondere Bedeutung erlangt. Die Diskussion der ökologischen Folgen verlief weder innerhalb der Wissenschaften noch in der Öffentlichkeit reibungslos. Hier ist die bereits genannte Doppelrolle der Wissenschaft aufzugreifen. Durch die anfänglichen Erfolge der ersten Modernisierung bestärkt, gefördert durch eine Agrarpolitik, die Produktionssteigerungen auch noch aus den Hungererfahrungen nach dem zweiten Weltkrieg heraus stark befürwortete (vgl. z.B. PRIEBE 1990:28), forcierten die Agrarwissenschaften selbst weitere Modernisierungsmaßnahmen. Die „Orientierung an Modernisierungstheoremen, an Stadt-Land-Dichotomien ließ die Forschung zu einem [...] Instrument für ‚Bewusstseinskorrekturen’ bei Landwirten, für Anpassung des ländlichen Raumes werden. Die Agrarsoziologie wurde so, gewollt oder ungewollt, selbst zum Agens des Strukturwandels [...]“ (BRÜGGEMANN/RIEHLE 1990:115). Die aufkommende Kritik, die nun unter Wissenschaftlern vermehrt Anhänger einer alternativen, ökologisch orientierten Landwirtschaft hervorbrachte, führte vor allem in der Anfangsphase zu einem Neben- und auch Gegeneinander der ‚konventionellen’ und der ‚alternativen’ Agrarwissenschaftler. Unterschiedliche Paradigmen mit gegensätzlichen Dimensionen (Zentralisierung vs. Dezentralisierung, Abhängigkeit vs. Unabhängigkeit, Wettbewerb vs. Gemeinschaft, Beherrschung der Natur vs. Harmonie mit der Natur, Spezialisierung vs. Vielfalt) wurden für die entsprechende Diskussion in den USA herausgearbeitet (BEUS/DUNLAP 1990). Ideologisch aufgeladen fiel 17 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie bei gegenseitigen Wahrheitsansprüchen ein konstruktives Miteinander im Sinne einer sachlichen Diskussion oft schwer. Schuldzuweisungen von der ‚alternativen’ Seite standen Leugnungen auf der ‚konventionellen’ Seite gegenüber. „Die Agrarwissenschaften vermittelten und vermitteln weitgehend den Eindruck, eindeutige Aussagen zur Umweltbelastung ließen sich nicht treffen und eventuelle Probleme seien ohne weiteres technisch in den Griff zu bekommen“ (PONGRATZ 1992:122). Ein Beispiel dafür, dass dies auch in der deutschen agrarwissenschaftlichen Diskussion der Fall war, möge folgendes Zitat belegen: „Die Vorwürfe gegen die Landwirtschaft verschärften sich, als die öffentliche Meinung Alternativen zur „konventionellen“ Landwirtschaft - wie diese nun mit abfälligem Unterton betitelt wird - entdeckt zu haben glaubte. Da aber ernstzunehmende „alternative“ Aussagen über den Landbau ebenfalls um sehr differenzierte Zusammenhänge nicht herumkommen, wurden auch sie so lange vereinfacht, bis sie scheinbar Patentlösungen glichen. Fachlich wenig qualifizierte „Neo-Alternative“ verbreiten solche Scheinlösungen mit dem für Konvertiten stets kennzeichnendem dogmatischen Eifer“ (ZICHE/KROMKA 1982:109). Ohne jetzt auf Details einzugehen, illustriert dieser kurze Auszug allein durch seinen Tonfall die vorhandenen Spannungen. Ich gehe davon aus, dass solche ideologischen Spannungen, mögen sie zur Initiierung eines Problembewusstseins bisweilen auch unausweichlich sein, auch dabei im Weg stehen können, Gemeinsamkeiten und vielfältige Lösungswege zu finden. Denn alle Landwirte sind unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung und unabhängig davon, ob sie Biobauern sind oder nicht, derzeit sowohl den sich fortsetzenden Konzentrationsprozessen, als auch wachsenden ökologischen Anforderungen ausgesetzt (vgl. auch VOTH 2002:272). „Die Einsicht in eine gemeinsame Betroffenheit von den derzeitigen gesellschaftlichen Umwälzungen sollte zu einer Intensivierung des Dialogs zwischen den konventionellen und ökologischen LandwirtInnen führen, zu organisatorischen Annäherungen und gemeinsamen Strategien“ (INHETVEEN 2005:191). Diese ideologischen Spannungen sind auch in der öffentlichen Diskussion aufgetreten. So genießen zwar gerade die Klein- und Mittelbauern in der Bevölkerung einen guten Ruf und wurden oft mehr als „Opfer einer verfehlten Agrarpolitik“, denn als ‚Täter’ der Umweltzerstörung gesehen (PONGRATZ 1992:11f.). Trotzdem kann sich die öffentliche Kritik an der Produktion ökologischer Risiken und Schäden, gewollt oder ungewollt, unmittelbar gegen die Landwirte richten. Einerseits erreichen gegebenenfalls vorhandene Sympathien die Bauern oft nicht (PONGRATZ 1992:12). Auch stehen die Bauern der Ökologie-Bewegung meist fern, da diese sich hauptsächlich in den städtischen Mittelschichten entwickelte (vgl. PONGRATZ 1992:120). Andererseits wird Kritik öffentlich entweder pauschal geäußert oder in Einzelfällen von nicht-bäuerlichen Akteuren gegenüber den Landwirten hervorgebracht. Ein Beispiel für erstgenanntes sei der Buchtitel „Machen uns die Bauern krank?“ (DIETSCH 1986; s. bei 18 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie PONGRATZ 1992:9). Ein Beispiel für letztgenanntes wird die öffentliche Diskussion um den Reichenauer Gemüsebau sein. Die wirtschaftlichen Konzentrationsprozesse der (sich weiter fortsetzenden) ersten Modernisierung und die aus der zweiten Modernisierung gewachsene ökologische Kritik zusammengenommen, sind die Landwirte „durch solche sozio-ökonomischen und ökologischen Prozesse [...] nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in ihrem gesellschaftlichen Status aufs höchste verunsichert“ (FLIEGE 1998:68). „In einer ohnehin spannungsgeladenen Situation sehen sich die Bauern und Bäuerinnen nun zusätzlich mit ökologischen Ansprüchen konfrontiert“ (PONGRATZ 1992:12). „Sie leben in einer Gesellschaft, die ihnen immer mehr eine Art Spagat abverlangt“ (FLIEGE 1998:69). Anhand des empirischen Materials, das ich erhoben habe, werde ich im aktuellen Teil dieser Arbeit diesem Aspekt der ökologischen Diskussion folgend argumentieren, dass einerseits eine ideologische Aufladung der Diskussion im Fall der Insel Reichenau mögliche Ökologisierungsstrategien auch blockiert haben kann, und dass andererseits heute angesichts der überschaubaren und besonderen Strukturen und eben durchaus gemeinsamer Anliegen eine nachhaltige Entwicklung der Insel Reichenau unter Einbezug der natürlich zu diskutierenden ökologischen und landschaftsgestaltenden Fragen durch Bemühen der beteiligten Akteure eine Chance hat. 2.3 Besonderheiten des Sonderkultur- und Gemüseanbaus Schließlich sollen einige Besonderheiten des Sonderkultur- und des Gemüseanbaus vorgestellt werden. Unter Sonderkulturen werden hier - der Herleitung von VOTH folgend (2002:19f.) - alle Spezialkulturen verstanden, also Pflanzen, deren Anbau „einen hohen Grad an Spezialisierung außerhalb des Getreide-, Hackfrucht und Futteranbaus erkennen“ lässt (LESER 2001:802). Somit wird die bisweilen in der Literatur und auch in der amtlichen Statistik getroffene Unterscheidung zwischen Sonderkulturen und anderen Spezialkulturen, die den Gemüsebau von den Sonderkulturen ausschließt, vernachlässigt (vgl. LESER 2001:789). Mit GLASER (1967:20f.), PEZ (1989:2ff.) und VOTH (2002:19ff.) lassen sich dem Sonderkulturanbau, dem vor allem der gärtnerische Gemüsebau, der Obstbau, der Weinbau, der Hopfenanbau, der Tabakanbau, der Zierpflanzenanbau und Baumschulen zugeordnet werden (stets bezogen auf die mitteleuropäische Landwirtschaft), folgende Merkmale zuschreiben: - eine erhöhte Sorgfalt gegenüber der Einzelpflanze (Gartenbauprinzip) - weitestgehend keine Fruchtfolgenotwendigkeiten - hohe Arbeits- und Kapitalintensität - hoher finanzieller Ertrag pro Fläche 19 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie - spekulativer Charakter bei Marktprodukten / hohe Marktabhängigkeit - Erfordernis besonderer Kenntnisse, Geräte und oft auch Wirtschaftsgebäude - Ausbildung eines eigenen Berufsstands (Gärtner, Winzer etc.) - Orientierung evt. übriger Kulturen des Betriebs nach der Sonderkultur - räumliche Konzentration des Anbaus auf Standorte mit Boden- und Klimagunst und guter Verkehrslage - Standortbedingungen und pflanzenspezifische Merkmale lassen eine Mechanisierung zur Reduzierung der Arbeitsintensität meist nur begrenzt zu - hohes Risiko bei Ernte, Produktion und, ob der Kapitalintensität, im finanziellen Bereich - organisatorische Probleme und Preisschwankungen durch kulturspezifische Saisonalität, Erntespitzen und witterungsbedingte Schwankungen - Ausbildung eigener Absatzformen und Absatzorganisationen, geringe bzw. anspruchsvolle Lager- und Transportfähigkeit erfordern besondere Anstrengungen bei der Organisation der Vermarktung Schon früh wurde in der geographischen Literatur anknüpfend an VON THÜNENs Standortlehre (1930) die räumliche Anordnung des Sonderkulturanbaus in Marktnähe (in der Regel gleichzusetzen mit Großstadtnähe) thematisiert. Hierfür sprachen einerseits die aufgrund der leichten Verderblichkeit hohen Transportanforderungen und damit -kosten. Andererseits ließen sich die höheren Bodenpreise in Marktnähe durch den hohen monetären Flächenertrag der Sonderkulturen kompensieren (vgl. BATHELT/GLÜCKLER 2002:93ff.). Allerdings sah man schon damals, dass die erforderliche Nähe zum Markt abhängig war von den Transportmöglichkeiten und den mit diesen verbundenen Kosten. So ließ sich über einen vorhandenen Wasserweg (und auf der Reichenau war dies natürlich der Bodensee) bereits vor der verkehrstechnischen Revolution des Eisenbahnbaus verderbliche, teuer zu transportierende Ware im vergleich zum Landweg entsprechend weiter und günstiger transportieren. Je geringer die Transportkosten werden, desto eher richtet sich schließlich die Wahl des Standortes nach den Produktionskosten, die bei den anspruchsvollen Sonderkulturen entscheidend von den Naturfaktoren, besonders dem Klima abhängen (vgl. VON THÜNEN 1930:424). Folglich kam es in Europa durch die Modernisierung zu räumlichen Verlagerungen der Schwerpunkte des Sonderkulturanbaus „infolge wirtschaftlicher Entwicklung, verbesserter Transporttechniken und -infrastruktur, Abbau von Handelsschranken und [aus voranstehendem resultierend, S.D.] Nutzung naturräumlicher Standortvorteile“ (VOTH 2002:27). Die klimatisch begünstigten Gebiete West- und vor allem Südeuropas stehen hierbei im Vorteil gegenüber den deutschen Anbaugebieten (vgl. BLENCK 1971:299). Trotz aller Verlagerungsprozesse ist wegen der hohen Kapitalintensität (z.B. Investitionen in teure Gewächshäuser), gewachse- 20 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie nen Betriebsstrukturen, teils fehlenden Alternativen in den nichtlandwirtschaftlichen Sektoren und agrarpolitische Maßnahmen eine hohe Persistenz bei traditionellen Sonderkulturanbaugebieten zu beobachten (PEZ 1989:146ff., VOTH 2002:27) Speziell für den Gemüsebau sollen nun kurz die für das weitere Verständnis erforderlichen Unterscheidungen zwischen gärtnerischem und Feldgemüsebau und zwischen konventioneller, integrierter und biologischer Produktion getroffen werden. Wiederum nach GLASER (1967:90) ist ein Feldgemüsebaubetrieb „ein reiner Ackerbaubetrieb“, der mit einem gärtnerischen Betrieb „nur das Produktionsziel Gemüse“ gemein hat. Viele kleinere Ackerbaubetriebe haben sich, gedrängt durch die Konkurrenz- und Konzentrationsprozesse der Modernisierung, auf den Anbau von mechanisch bearbeitbarem Feldgemüse spezialisiert, das einen höheren Flächenertrag als das vorher angebaute Getreide ermöglichte (vgl. BLENCK 1971:33). Dagegen werden die Flächen im gärtnerischen Gemüsebau eben gärtnerisch genutzt, und das ist nach GLASER (1967:90) - entsprechend der obigen Sonderkulturmerkmale - der Fall, - „wenn sie ausschließlich der Erzeugung von marktwerthohem Gemüse [...] dient, d.h. wenn auf ihr kein Fruchtwechsel mit einem landwirtschaftlichen Massengut betrieben wird; - wenn sich dabei auf sie eine überdurschnittlich hohe Arbeitsintensität und [...] Kapitalintensität konzentriert; - wenn die Fruchtfolgen, soweit dies nur irgendwie möglich ist, durch Reaktionen auf dem Markt bestimmt werden; - wenn etwa gegebene Mängel des Naturraumes weitgehend künstlich behoben werden (Bodenverbesserung, Frostbekämpfung, Beregnung usw.)“. Die heutige Unterscheidung von konventioneller, integrierter und biologischer Produktion kann als ein Produkt der erstarkenden Kritik der modernisierten Landwirtschaft, besonders durch die alternative Landwirtschaft, verstanden werden. Während sich die konventionelle Landwirtschaft neben den gesetzlichen Bestimmungen keine weitere Einschränkungen bezüglich des Betriebsmitteleinsatzes auferlegt und beim betrieblichen Streben nach Gewinnmaximierung nur die „betrieblich bedeutsamen Umweltbedingungen“ (KUHLMANN 1990:33) berücksichtigt, verpflichten sich integriert und in noch stärkerem Maße biologisch wirtschaftende Betriebe zusätzlich zu den allgemeinen Bestimmungen zu einem für die Umwelt und das produzierte Nahrungsmittel schonenderen Betriebsmitteleinsatz. Beim integrierten Landbau sollen, wie der Name schon sagt, verschiedenste Maßnahmen in die Produktion integriert werden, um u.a. den Einsatz von chemischen Pflanzenschutz- und Düngemittel so weit wie möglich zu reduzieren und „nicht nur auf dem Pro- 21 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 2. Theorie duktionsstandort selbst, [...] sondern auch in dessen engerem und weiterem Umfeld negative schädliche Auswirkungen“ (HEITEFUSS 1990:15) zu vermeiden. Beim biologischen Landbau schließlich wird auf den Chemieeinsatz verzichtet bzw. dürfen nur ganz bestimmte, gesetzlich festgelegte Betriebsmittel eingesetzt werden. Bei einer unabhängiger Kontrolle unterworfener Anwendung der beiden selbstbeschränkenden Verfahren können Landwirte ihre Produkte mit einem zertifizierten Siegel verkaufen, das für die bessere Qualität des Produkts garantieren und den Produzenten einen angemessenen Preis bescheren soll (vgl. z.B. VOTH 2002:271f.). 22 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 3. Methoden 3. Methoden Im Literaturstudium fand neben dem theoretischen Aspekt der Modernisierung im Allgemeinen und der Landwirtschaft im Speziellen (s. Theorieteil) besonders die zum Reichenauer Gemüsebau vorhandene wissenschaftliche wie nicht-wissenschaftliche Literatur Verwendung. Kernstück der (sonst spärlichen) wissenschaftlichen Literatur zum Gemüsebau auf der Insel ist die Ende der 1960er Jahre erstellte Dissertation von BLENCK „Die Insel Reichenau. Eine agrargeographische Untersuchung.“ (BLENCK 1971). Diese arbeitet sehr detailliert heraus, wie sich die Insel Reichenau als Sonderkulturanbaugebiet bis dahin entwickelt hat und welche Zukunftsaussichten ihr zu Beginn der 1970er Jahre bescheinigt werden können. Sie eignet sich nicht nur wegen ihrer Ergebnisse. Sie ist auch durch den Zeitpunkt ihrer Erstellung interessant, durch den sie zu einer Folie dafür wird, wie die Entwicklung des Gemüsebaus von damals von BLENCK noch nicht vorhersehbaren Faktoren15 beeinflusst wurde. Zur nicht-wissenschaftlichen Literatur gehören einerseits Chroniken über die Reichenau, vor allem die von GLÖNKLER, der als langjähriger Geschäftsführer der Gemüsegenossenschaft biographisch bedingt den Schwerpunkt auf die Entwicklung des Gemüsebaus und der Reichenauer Genossenschaften setzt (GLÖNKLER 1991 und 1997), andererseits Zeitungsartikel der Lokalpresse, diverse Veröffentlichungen der lokalen Institutionen (Festschriften, Werbeund Informationsbroschüren) und interne Papiere (z.B. Strategiepapier der Genossenschaft)16. Vor Ort wurde eine Feldforschung unter Verwendung verschiedener qualitativer Methoden durchgeführt. Im Einzelnen waren dies Beobachtung, Teilnehmende Beobachtung, zahlreiche Gartenzaun- (oder oft besser: Gewächshaus-) Gespräche und offene, „problemzentrierte“ Interviews (W ITZEL 1985, MAYRING 2002). Dieses Vorgehen erschien einer Erforschung des Gemüsebaus auf der Insel Reichenau in der heutigen Zeit besonders angemessen, da so ein fremdes, in jüngster Zeit von der wissenschaftlichen Literatur wenig dokumentiertes Feld verstehend erschlossen und nach den Perspektiven der vor Ort in einem sehr überschaubaren Umfeld handelnden Akteure gefragt werden konnte. Der Einstieg in die Feldforschung war (nach einem nicht sonderlich ergiebigen ersten Interview17) gleich am zweiten Tag ein Glücksfall. Im Haus der Begegnung St. Pirmin auf der Insel Reichenau fand eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Wohin treibt die Reichenau? Die Gemeinde im Spannungsfeld zwischen Tourismus, Siedlungsentwicklung, Naturschutz und Gemüsebau.“ statt. Geladen hatte die Ortsgruppe Reichenau des BUND, auf dem Podium 15 angesichts des bei Fertigstellung seiner Arbeit gerade erst gescheiterten Versuchs einer Flurbereinigung und der bald bevorstehenden gesellschaftlichen Diskussion über die ökologischen Auswirkungen der modernen Landwirtschaft 16 REICHENAUGEMÜSE 2006b 17 INTERVIEW I 23 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 3. Methoden standen neben der Vorsitzenden dieser BUND-Gruppe der Bürgermeister der Gemeinde Reichenau, der Geschäftsführer der Gemüsegenossenschaft, der Geschäftsführer des Verkehrsamts Reichenau, ein Vertreter des Denkmalschutzes vom Regierungspräsidium Freiburg (als ‚hütendes Auge’ der UNESCO) sowie ein Stadtplaner aus Ravensburg als externer Experte. Gekommen waren über hundert (teils eifrig mitdiskutierende) Gäste, darunter ich, zwar nicht mitdiskutierend, aber beobachtend und dokumentierend (vgl. RAU 2007). Nach diesem beobachtenden Einstieg, der mir aktuelle Diskussionspunkte der Gemeinde gerade auch in Zusammenhang mit dem Gemüsebau auf dem Silbertablett servierte, wählte ich (neben einem ersten Gespräch mit dem Geschäftsführer der Genossenschaft18 und einigen Gesprächen mit Bekannten) zunächst den Weg der Teilnehmenden Beobachtung, um mir die Welt des Gemüsebaus auf der Insel Reichenau im engeren Sinne zu erschließen. Zwei Wochen arbeitete ich als Aushilfsarbeiter in einem größeren Gemüsebaubetrieb mit, um die inneren Abläufe kennenzulernen. Die meist gemeinsam in Gewächshäusern durchgeführten Arbeiten ermöglichten zudem zahlreiche Gespräche mit den Familienmitgliedern und Angestellten. Anschließend absolvierte ich ein viertägiges Kurzpraktikum bei der Gemüsegenossenschaft, das ergänzt wurde durch einen Tag beim gärtnerischen Beratungsdienst. So durchlief ich alle wichtigen Abteilungen von der Warenannahme über die Buchhaltung bis hin zur Warenauslieferung und kam dabei in Kontakt mit den verschiedensten bei der Genossenschaft Beschäftigten. Die Erfahrungen und vor allem die während der Teilnehmenden Beobachtung geführten Gespräche dokumentierte ich als Notizen in meinem Feldtagebuch.19 Nach dieser Phase der Teilnehmenden Beobachtung wählte ich systematisch (im Sinne der Ergebnisse der bisherigen Erhebung) Interviewpartner für offene, problemzentrierte Interviews. Drei Aspekte wurden bei der Auswahl berücksichtigt: Erstens wählte ich mit dem ehemaligen Geschäftsführer der Gemüsegenossenschaft und einer ehemaligen ortsansässigen Großhändlerin zwei ältere Menschen aus, die den Wandel der letzten Jahrzehnte selbst erlebt haben. Zudem ist letztere zu denjenigen zu zählen, die aus dem Kreis der wirtschaftlich vom Gemüsebau Lebenden ausscheiden mussten. So konnte die schwerpunktmäßig auf der Literatur aufbauende Analyse der Wandlungsprozesse im Zuge der Modernisierung stellenweise ergänzt werden durch empirisches Material. Zweitens wählte ich von jedem identifizierten Betriebstyp einen Betriebsleiter als Interviewpartner. Das waren zum einen ein Nebenerwerbsbetrieb (im Gegensatz zu den Haupterwerbsbetrieben), ein stark auf Intensivierung setzender Betrieb (im Gegensatz zu dem mehr 18 INTERVIEW II Der Vollständigkeit halbe muss hier erwähnt werden, dass ich im Februar 2007 die Fruit Logistica, die weltgrößten Fachmesse für Obst und Gemüse, in Berlin besuchte, auf der die Genossenschaft auch vertreten war. Auch wenn (abgesehen vom Innovations Award, vgl. Kapitel 6.1) keine konkreten Daten dieses Erlebnisses in diese Arbeit einfließen, so gehört es doch zu dem Versuch, in der ersten Phase der Beobachtung und Teilnehmenden Beobachtung ein möglichst umfassendes Bild von „Reichenau Gemüse“ zu bekommen, bevor sich eine ‚Feldgeleitete’ Konkretisierung der weiteren Vorgehensweise (inhaltliche Ausrichtung der problemzentrierten Interviews) ergab. 19 24 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 3. Methoden auf Ökologisierung setzenden Betrieb, in dem ich gearbeitet hatte) und ein unabhängig von der Genossenschaft wirtschaftender Betrieb (im Gegensatz zu den mehrheitlich über die Genossenschaft vermarktenden Betriebe). Drittens wählte ich Vertreter verschiedener Akteursgruppen der Gemeinde, so den Geschäftsführer des Verkehrsamts (als Vertreter des Tourismus), die Vorsitzende der Ortsgruppe des BUND als Vertreterin des Naturschutzes und eine (ebenfalls dem Naturschutz verpflichtete) Gemeinderätin. Bei diesen war die aktive Teilnahme an oben genannter Podiumsdiskussion ein gemeinsamer Bezugspunkt. Für die Betriebsleiter und für die Vertreter der verschiedenen Akteursgruppen wurde je ein Leitfragebogen erstellt (beide abgedruckt im Anhang). Für die anderen beiden Gesprächspartner wurden individuelle Leitfragebögen erstellt, die den allgemeinen ähnelten, jedoch durch spezifische Fragen, vor allem zur Chronik (GLÖNKLER 1991), ergänzt wurden. Bei allen Interviews wurden in der jeweiligen Gesprächssituation die Fragen allerdings nicht eins zu eins wie im Leitfragebogen gestellt, sondern mitunter dem Gesprächsverlauf angepasst. Zu Aussagen der Interviewpartner wurden während der Interviews Notizen gemacht, die direkt im Anschluss gedächtnisprotokollarisch ergänzt wurden. Es handelte sich also um „problemzentrierte Interviews“ (W ITZEL 1985, s. bei MAYRING 2002:67), die die „Befragten möglichst frei zu Wort kommen [lassen], um einem offenen Gespräch nahe zu kommen. Es ist aber zentriert auf eine bestimmte Problemstellung, die der Interviewer einführt, auf die er immer wieder zurückkommt. Die Problemstellung wurde vom Interviewer bereits vorher analysiert; er hat bestimmte Aspekte erarbeitet, die in einem Interviewleitfaden zusammengestellt sind und im Gesprächsverlauf von ihm angesprochen werden.“ (MAYRING 2002:67) Die Problemzentrierung meiner Interviews war die auf die Zukunftsstrategien des Reichenauer Gemüsebaus. So führte ich jedes der Interviews ein, indem ich mein Vorhaben schilderte, ich wolle die Abschlussarbeit meines Studiums über die Zukunftsstrategien des Reichenauer Gemüsebaus schreiben, wobei ich mich für die Entwicklung der einzelnen Betriebe gleichermaßen interessiere wie für Entwicklungen auf Gemeindeebene. Konsequenterweise ging ich dann nach kurzer Vorstellung meiner Vorgehensweise (bereits abgeschlossene Teilnehmende Beobachtung, jetzt stattfindende problemorientierte Interviews) und Begründung, warum ich gerade diese Personen um ein Interview gebeten hatte, auf die Verknüpfung meiner Interviewpartner mit dem Gemüsebau und auf die einzelnen Spannungsfelder der öffentlichen Diskussion (Einheit der Genossenschaft, Ökologisierung des Gemüsebaus, Veränderungen im Landschaftsbild) ein. 25 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 3. Methoden Die Interviews mit den Gärtnern liefen im Idealfall20 wie folgt ab: Ich fragte zunächst nach dem aktuellen Betrieb (Größe, Verhältnis Unterglas/Freiland, angepflanzte Kulturen, Anzahl der Mitarbeiter). Als zweitens wurde dann direkt nach der Zukunftsstrategie des Betriebs gefragt: Erst ohne dies zu spezifizieren, um zu sehen, was die Interviewpartner in ihrem Selbstverständnis als ihre Zukunftsstrategie angeben, anschließend wurde dann explizit nach geplanten Investitionen, nach der Nachfolgesituation des Betriebs und nach den Motiven für die genannten Strategien gefragt. Dritter Themenkomplex war die ‚Hofgeschichte’, um etwas über den spezifischen Entwicklungspfad des Betriebs zu erfahren. Die dahingehenden Fragen waren sehr offen gestaltet, um möglichst die aus Sicht der Befragten wichtigen Aspekte zu erfahren. Anschließend fragte ich speziell nach dem Ausbildungsweg meiner Interviewpartner und nach möglicherweise bestehenden Kooperationen mit anderen Betrieben. Zum Abschluss fragte ich einerseits allgemein nach der Einschätzung der Zukunftsperspektiven für den Gemüsestandort Reichenau, andererseits bat ich um die Einschätzung zu einigen Argumenten aus der öffentlichen Diskussion (zu Intensivierungsstrategien, zum Bioanbau, zum Verhältnis große Gewächshäuser - Welterbestatus und zum erdelosem Anbau). Die Interviewpartner, die an der Podiumsdiskussion teilgenommen hatten, fragte ich zunächst nach einer Beschreibung ihrer Tätigkeit (Tourismus, Naturschutz, Politik, Sonstiges), nach einem evt. persönlichen/familiengeschichtlichen Bezug zum Reichenauer Gemüsebau und nach evt. vorhandenen Kooperationen (des Tourismus/des Naturschutzes) mit dem Gemüsebau. Schließlich wurde die Podiumsdiskussion besprochen. Einleitend wurde die Leitfrage der Diskussion nochmals gestellt. Wohin treibt die Insel Reichenau? Dann wurde zum einen gefragt, ob und wie der durch die Podiumsdiskussion angerissene Dialog fortgeführt würde, zum anderen ebenfalls um eine Einschätzung zu einigen Argumenten der öffentlichen Diskussion gebeten (zu Intensivierungsstrategien, zum Bioanbau, zum Verhältnis große Gewächshäuser – Welterbestatus, zum erdelosem Anbau und zur Aussage der Genossenschaft, sie habe als einzige ihre Ziele perspektivisch für die nächsten Jahrzehnte definiert21). Zusätzlich zu den geführten Interviews (die sich durch eine vorherige Terminvereinbarung zum Zweck des Interviews auszeichnen) wurden während Aufenthalten, vor allem bei Spaziergängen, aber auch bei Bekanntenbesuchen, auf der Insel Reichenau zusätzliche Gespräche geführt, die anschließend als Feldnotizen festgehalten wurden und somit ebenfalls zu dem letztendlich ausgewerteten empirischen Material zu zählen sind. Der gesamte Forschungsprozess erfolgte im Sinne einer „kontinuierlichen Validierung“ (FLIEGE 1998:138), neue Aussagen aus dem Feld flossen stets in die weitere Verfolgung der 20 Leider war eine Terminfindung bei den Gärtnern angesichts derer hohen Arbeitszeit schwierig, sodass zwei der Interviews sozusagen zwischen zwei Arbeiten im bzw. vor dem Gewächshaus stattfinden mussten und sich dabei natürlich kein so ausführliches Gespräch ergab wie bei den anderen, wo wir nach Feierabend im Haus zusammen saßen. 21 INTERVIEW II 26 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 3. Methoden Fragestellung mit ein. Im Folgenden, die Ergebnisse der Feldforschung vorstellenden Text wird jedoch stets erkennbar sein, wann es sich um eine Aussage eines Interview- oder Gesprächspartners handelt, und wann bereits um eine Interpretation des Autors. Die Vorstellung der Interviewergebnisse im aktuellen Teil folgt nun nicht der Reihenfolge der hier vorgestellten Leitfragen der problemzentrierten Interviews. Auch werden diese Frage nicht vollständig beantwortet. Vielmehr fließen die Aussagen dort themenspezifisch (also sozusagen problemorientiert) ein, wo sie zur Erörterung der identifizierten Zukunftsstrategien und Spannungsfelder relevant bzw. interessant scheinen. Abschließend soll in den Schlussbemerkungen die eigene Interpretationsleistung selbstkritisch hinterfragt werden. Interessanterweise habe ich gerade anfangs im Feld immer wieder von den Erforschten selbst Tipps bekommen, wie ich mit Aussagen einzelner Gesprächspartner umgehen solle. So würde ich beispielsweise von den zukunftsfähigen Betrieben ein negatives Zukunftsbild gemalt bekommen, da das Jammern zur alltäglichen Praxis gehöre. Oder ich solle in dem Betrieb, in dem ich arbeiten würde, aufpassen, denn da sei anzunehmen, mir würde ein undifferenziertes, der offiziellen Genossenschaftslinie verschriebenes Bild vermittelt werden. Mit diesen Ratschlägen kann ich natürlich versichern, dass ich stets die Rolle meiner Interviewpartner innerhalb des Feldes zu reflektieren versucht habe und ihre Aussagen mit den durch die Literatur und meine Beobachtungen zu Verfügung stehenden Informationen abgeglichen wurden. Allerdings galt es, das kritische Hinterfragen auch auf die kritischen Ratschläge selbst anzuwenden, schließlich wird gerade am Beispiel des Betriebs, in dem ich gearbeitet habe, später deutlich werden, dass der diesen betreffende Ratschlag eine vereinfachende Außenperspektive reproduziert, die der von mir in zwei Wochen Feldforschung wahrgenommenen Realität nicht gerecht wird. Es kann bereits an dieser Stelle kritisch bemerkt werden, dass die genannte systematische Auswahl der Interviewpartner in zweierlei Hinsicht unvollständig bzw. unbefriedigend ist. Einmal kamen aus forschungspraktischen Gründen nicht alle in meiner Absicht stehenden Interviews zustande. Dies ist zum einen der begrenzten Zeit geschuldet, die zu Verfügung steht, eine Magisterarbeit zu erstellen. So wurden beispielsweise nur ‚typische’ Gemüsebaubetriebe befragt. Die in der Frage nach Zukunftsstrategien gleichermaßen interessanten ‚untypischen’ Betriebe, die sich von der eigentlichen Gemüseproduktion weg auf Nischen spezialisiert haben (z.B. Jungpflanzen, Hobbygärtnercenter, Nützlinge), konnten leider nicht berücksichtigt werden. Zum anderen kamen einige der von mir eingeplanten Interviews (Bürgermeister, großer Jungpflanzenbetrieb, Biojungpflanzenbetrieb u.a.) nicht zustande, weil keine Antwort auf schriftliche Anfragen erfolgte oder weil sich kein gemeinsamer Termin finden ließ. Außerdem kann aus dem erhobenen Material keine quantitative Gewichtung der jeweils als ‚typisch’ identifizierten Akteure und Positionen erfolgen. Die Identifikation des ‚Typischen’ würde allerdings ermöglichen, dies in einem nächsten Schritt sinnvoll zu erfassen. 27 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau Bevor nun die eigentliche Studie beginnt, muss zunächst der Untersuchungsraum, die Insel Reichenau, vorgestellt werden. Dabei werde ich zunächst einen Überblick über die physischgeographischen, dann über die humangeographischen Charakteristika geben. Anschließend werde ich den heutigen Gemüsebau auf der Insel Reichenau vorstellen. Dieses Kapitel hat einen einführenden Charakter. Es möchte erreichen, dass die Lesenden sich während der späteren Ausführungen zurechtfinden werden. Dementsprechend ist es in der notwendigen Kürze gehalten und erwähnt vor allem solche Details, die später wieder aufgegriffen werden bzw. die als Kontextwissen zum Verständnis des Folgenden von Bedeutung sind. 4.1 Die Insel Reichenau: Physische Geographie Lage Das Bodenseebecken mit seinem namensgebenden See liegt im nördlichen Alpenvorland. In ihm laufen die Grenzen von Süddeutschland, der Ostschweiz und Westösterreichs zusammen. Entstanden als geosynklinal absinkendes Molassebecken während der Auffaltung der Alpen im Tertiär und geprägt durch die eiszeitliche glaziale Überformung (vgl. SCHREINER 1968, IGKB 2004), ist es heute im Großrelief-Maßstab umgeben vom Schwarzwald im Westen und Nordwesten, der Schwäbischen Alb im Norden und den Alpen im Südosten. Der auf 395m (Mittelwasserstand nach IGKB 2004:9) gelegene Bodensee ist kein einheitlicher See. Der nach dem Genfersee zweitgrößte der Alpenrandseen mit einer Gesamtfläche von 571,5 km2 (SCHULZ-WEDDIGEN 2000:32) besteht aus zwei sehr unterschiedlichen Seeteilen, dem Obersee inklusive des Überlingersees und dem Untersee (IGKB 2004:8). Der Obersee ist nicht nur größer und tiefer als der Untersee (IGKB 2004:8), er ist auch einheitlicher. Der Untersee dagegen ist kleiner, flacher und buchtenreicher (vgl. BLENCK 1971:43; vgl. Tabelle 1, insbesondere die Tiefenangaben und bezüglich des unterseeischen Buchtenreichtums die unterschiedlichen Anteile an Fläche und Uferlänge). Er lässt sich in drei Teile untergliedern (Gnadensee mit Markelfinger Winkel, Rheinsee, Zeller See). Durchflossen wird der Bodensee vom Rhein von Ost nach West, wobei dieser auch die beiden Seeteile durch den 4 km langen Seerhein zwischen Konstanz und Gottlieben verbindet (vgl. KIEFER 1968:60f.). 28 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Fläche größte Tiefe durchschnittliche Tiefe Rauminhalt Uferlänge Anteil an der Fläche Anteil an der Uferlänge 4. Die Insel Reichenau Obersee Untersee Gesamtsee 500 km² 254 m 95 m 47,678 km² 186 km ca. 87,5 % ca. 68,1% 71,5 km² 46 m 11 m 0,808 km² 87 km ca. 12,5% ca. 31,9% 571,5 km² 254 m 85 m 48,486 km² 273 km 100% 100% Tabelle 1: Größenverhältnisse Obersee-Untersee-Gesamtsee (erweitert nach SCHULZ-WEDDIGEN 2000:32) Die Insel Reichenau ist die größte Insel des Bodensees. Sie ist etwa 4,5 km lang, misst an der breitesten Stelle etwa 1,5 km und bringt es auf eine Gesamtfläche von 430 ha (MINISTERIUM 1982). Sie liegt im Untersee zwischen dem Gnadensee und dem Rheinsee. Um die Reichenau als Standort für Sonderkulturen, insbesondere den heute dominanten Gemüsebau erklären zu können, sollte an dieser Stelle auf einige geomorphologische und klimatische Eigenschaften des Bodenseeraums im Allgemeinen und der Reichenau im Besonderen eingegangen werden. Karte 1: Die Lage der Insel Reichenau im Untersee (Kartenauszug aus IGKB 2004:176f.) 29 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau Geomorphologie und Böden Der würmeiszeitliche Bodenseegletscher hat die heutige Moränenlandschaft hinterlassen, die nach dessen Rückzug bis heute fluvial überformt wird. Aus den unterschiedlichen Rückzugsstadien des Gletschers ergeben sich Spezifika der heutigen Erdoberfläche. Der Untersee liegt zwischen dem Singener und dem Konstanzer Rückzugsstadium des Gletschers und verfügt so über einen einheitlichen geomorphologischen Formenschatz (BLENCK 1971:44; SCHREINER 1968). Die Ränder der Konstanzer Bucht, durch die sich der Seerhein seinen Weg in den Untersee bahnt, sind die Endmoränen des Konstanzer Stadiums (KIEFER 1972:23f.). So geht auch die Entstehung der Insel Reichenau auf die Würmeiszeit zurück, es stehen keine älteren Ablagerungen an (BLENCK 1971:130). Die Insel Reichenau besteht demnach weitgehend aus Grundmoränenmaterial, Teile dessen der Gletscher mit den beiden höchsten Erhebungen Vögelisberg (428m; d.h. 33m über dem Mittelwasserstand des Sees) und Hochwart (438m; d.h. 43m über dem Mittelwasserstand des Sees) heute noch sichtbar zu Drumlins geformt hat (BLENCK 1971:124,130; vgl. die Höhenlinien in Karte 2). Während dem Abschmelzvorgang zwischen dem Singener und dem Konstanzer Stadium der Würmeiszeit wurden in Eisrandnähe Schotter abgelagert, die heute in unterschiedlicher Mächtigkeit den größten Teil der Insel umfassen. Hinzu kamen dann postglazial verlandete Niederungen mit oft tonigen Ablagerungen und einige aufgeschüttete Sandwälle auf der Südseite (vgl. BLENCK 1971:130). „Von der würmeiszeitlichen Entstehung her ist [...] die große Mannigfaltigkeit der Bodenarten auf engem Raum zu verstehen“ (BLENCK 1971:130). Die vorwiegend „sandig-lehmigen Grundmoränenböden“ gelten als „vorteilhaft“ für den Gemüseanbau (SICK 1983:180, vgl. auch SEIFRIZ 1968:172, vgl. Tabelle bei BLENCK 1971:132). Innerhalb der Reichenau gibt es durchaus Unterschiede: So ist vor allem zumindest tendenziell eine Gunst der Südseite der Insel mit leichteren Böden gegenüber der Nordseite mit schwereren Böden vorhanden (vgl. BLENCK 1971:130; auch: SEEBERGER 1964:14). Aber dieser Vorteil der Südseite lässt sich nicht generalisieren, außerdem nimmt die Bedeutung der natürlichen Bodenqualität für den Gemüsebau teilweise ab (vgl. BLENCK 1971). Letzterer Aspekt spricht für die abnehmenden Einflüsse von Naturfaktoren innerhalb eines Anbaugebiets (vgl. Kapitel 2.2.1). 30 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Karte 2: 4. Die Insel Reichenau Höhenlinienkarte der Insel Reichenau (BLENCK 1971:124) Klima „Der Bodensee liegt in der warmgemäßigten feuchten Klimazone, im Einflussbereich von atlantischem und kontinentalem Klima. Aus westlicher Richtung erhält der Bodenseeraum feuchte Meeresluft, aus dem Osten Abb. 2: Klimadiagramm von Konstanz vorwiegend trockene, kühle Kontinentalluft. Daneben ist der Raum vom Alpenföhn betroffen, der das Rheintal wie einen Kanal durchströmt und auf den östlichen Teil des Obersees bis etwa Friedrichshafen hinausströmt“ (IGKB 2004:161). Als Beispiel zeigt das Klimadiagramm (s. Abb. 2) der zwischen Ober- und Untersee gelegenen größten Seestadt Konstanz eine Jahresdurchschnittstemperatur von 9,2°C und Niederschlag von 847mm im Jahresmittel. Im Monatsmittel haben sowohl Temperatur als auch Niederschlag ihre Maximalausprägungen in den Som- mermonaten, ihre Minima im Winter (IGKB 2004:161; vgl. auch WAIBEL 1968). Der Unterseeraum gehört „nicht zu Quelle: Online im Internet: URL: <http://www.klimadiagramme.de/Bawue/konstanz. html> [Stand: 27.03.2008] den besonders wärmebegünstigten Räumen Deutschlands“; im europäischen Rahmen „liegt der Unterseeraum hinsichtlich der Jahresdurchschnittstemperatur noch weit ungünstiger“ (BLENCK 1971:105) Trotz dieser relativen Ungunst ist die Reichenau gemäß den Durchschnittswerten durchaus geeignet für den Gemüsebau (BLENCK 1971:111). 31 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau Doch bedeutender als klimatische Durchschnittswerte (Jahres- oder Monatsmittel) sind agrargeographisch allgemein und auch im Zusammenhang mit dem Gemüsebau die jeweils konkrete Wetterlage und Witterung und mit diesen eintretende Schwankungen bzw. Abweichungen von den Mittelwerten (vgl. BLENCK 1971:S.14). Wichtige klimatische Größen sind dabei die Eintrittswahrscheinlichkeit von Frost zu einem bestimmten Datum und die Konstanz der Niederschläge (vgl. BLENCK 1971:111ff.). Für das Thema der Arbeit wichtige Aspekte des Bodenseeklimas sind (neben den erwähnten Schwankungen) der mildernde Einfluss des Sees, die räumlichen Unterschiede des Klimas innerhalb des Bodenseeraums und lokalklimatische Phänomene auf der Insel Reichenau22. Grundsätzlich kommen die Beckenlage und vor allem die klimatisch ausgleichende Wirkung des Bodensees als großer Wasserkörper dem Wein-, Obst und eben dem Gemüsebau entgegen (vgl. SICK 1983:180; IGKB 2004:161; BLENCK 1971:42). Der Hauptvorteil liegt dabei in der Herabsetzung der Frostwahrscheinlichkeit im Vergleich zu seefernen Gebieten gleicher Höhen- und Breitenlage: In Seenähe treten weniger Fröste auf, die auftretenden Fröste sind weniger streng und die Zeit zwischen dem letzten Frühjahrsfrost und dem ersten Herbstfrost ist länger als in Seeferne (s. REGIO 2005:29f.). Karte 3 veranschaulicht dies sehr schön23 am Beispiel von Spätfrostschäden an Blättern von Walnussbäumen im Mai 1957 (REGIO 2005:32, dort nach W ELLER 2001). Darüber hinaus wird auch die Jahresdurchschnittstemperatur um einige Zehntelgrad gehoben. Dabei sind es vor allem die schmalen Uferstreifen von „1 bis höchstens 2 km Breite“, die von der Ausgleichswirkung des Sees begünstigt sind (BLENCK 1971:43; vgl. WAIBEL 1968:121). Der Untersee wirkt aufgrund seiner geringeren Tiefe weniger ausgleichend als der Obersee (vgl. W AIBEL 1968:117). Im Vergleich zu den anderen Unterseegemeinden scheint die trotzdem vorhandene günstige Wirkung auf der Reichenau durch die Insellage am stärksten ausgeprägt zu sein („etwas höhere Wärmegunst“, siehe BLENCKS Beobachtungen: 1971:71,127; dem widerspricht W AIBEL 1968:125). Die Wasserfläche des Sees wirkt sich durch Reflektion der Sonnenstrahlen zudem im Sinne des Gemüsebaus positiv auf die Lichtverhältnisse aus (vgl. BLENCK 1971:121). Dies gilt jedoch nur für die sonnenreichen Sommermonate, die vom wolkenauflösenden Seewind zusätzlich begünstigt sind, während der winterliche Hochnebel sich negativ auf den Gemüsebau auswirken kann (BLENCK 1971:121f.). Während im Herbst die Verzögerung der Kälteeinbrüche und der Fröste für den Gemüsebau (im Wettbewerb mit Konkurrenzanbaugebieten) durchaus Vorteile bringen kann, so wirkt sich die ausgleichende Seewirkung im Frühjahr durch gemächlichere Erwärmung eher negativ aus: „Im Frühjahr beträgt der phänologische Vorsprung der 300 m tiefer gelegenen Oberrheinebene bis zu 3 Wochen, im Sommer hat sich dieser Unterschied weitgehend ausgeglichen [...], im Herbst verzeichnet der Unterseeraum sogar manchmal geringe Wärmevorteile“(BLENCK 1971:112f.). 22 23 vgl. die Einteilung von W EISCHET (1956) in regional-, subregional- und lokalklimatisch so schön, dass ich die Karte trotz fehlendem Maßstab ausgewählt habe 32 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Karte 3: 4. Die Insel Reichenau Spätfrostschäden an Blättern von Walnussbäumen im Mai 1957; aus REGIO (2005:32), dort verändert nach WELLER (2001:314[!]) Nicht nur bei der Temperatur (Ausgleichwirkung), sondern auch bei den Niederschlägen gibt es Unterschiede innerhalb des Bodenseegebiets. Durch die Lage des Bodensees im Großrelief (vgl. 4.1.1) nehmen die Niederschläge von Westen nach Osten hin ab. Dies ist einerseits auf die Leelage bezüglich des im Westen gelegenen Schwarzwaldes zurückzuführen, andererseits auf die Stauwirkung (Konvektionsniederschläge) der im Südosten gelegenen Alpen (vgl. W AIBEL 1968:130ff.; BLENCK 1971:42; REGIO 2005:35). „Zwischen Schwarzwald und Alpen gelegen, steht die Insel Reichenau sehr viel mehr unter dem Einfluss des Regenlees östlich des Schwarzwaldes als unter der Fernwirkung des Alpenstaus“ (BLENCK 1971:42; vgl. auch Karte 4). So weist die Reichenau nur etwa 760mm Jahresniederschlag auf (GLÖNKLER 1976:37; vgl. mit dem oben genannten Wert von 847mm in Konstanz). Hinzu kommen die zum Teil großen Abweichungen von den Jahres- und Monatsmitteln: „In jedem Monat können [...] am Untersee Niederschlagsmengen erreicht werden, die für einen gärtnerischen Gemüsebau zu hoch bzw. zu niedrig liegen“ (BLENCK 1971:115). Der zunehmende Unterglasanbau und die künstliche Beregnung mit Bodenseewasser haben dieses Risiko jedoch stark verringert (und im Falle der Beregnung mit der unbegrenzten Verfügbarkeit von Wasser 33 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau guter Qualität sogar zu einem Standortvorteil der Reichenau gegenüber konkurrierenden Anbaugebieten werden lassen; vgl. BLENCK 1971:115ff., besonders 119f.; SICK 1983:180). Karte 4: Mittlere Niederschlagshöhen am Bodensee in den Jahren 1931 – 1960; aus REGIO (2005:35) nach GUTERMANN (1982:107) Innerhalb der Insel Reichenau gibt es wiederum Unterschiede, wobei sich ähnlich wie bei den Böden die Südseite tendenziell günstiger als die Nordseite erweist. Der Rheinsee auf der Südseite ist tiefer und (zumal bis Ermatingen eigentlich noch Fortsetzung des Seerheins, s. bei KIEFER 1968:61) strömungsstärker24 als der Gnadensee auf der Nordseite (vgl. KIEFER 1968:62 und Karte 5). Er erwirkt dementsprechend eine stärkere Ausgleichswirkung für die Südseite der Insel als der Gnadensee für die Nordseite. Besonders offensichtlich wird dies meist im Winter, denn der Gnadensee friert alle 2-3 Jahre zu und fast jedes Jahr bildet sich zumindest eine Eisschicht an den Rändern, der Rheinsee dagegen gefriert nur alle 7-10 Jahre: „Nach kalten Wintern wird im Norden der Insel Reichenau ein Teil der eingestrahlten Sonnenenergie für das Auftauen des Eises verzehrt [...], während im Süden der Insel ein Wachstumsvorsprung der Gemüsepflanzen erzielt werden kann“ (BLENCK 1971:129). Hinzu kommt der Vorteil leichter Südexposition der Hänge des Südteils der Insel und eine stärkere Reflektionswirkung des Rheinsees gegenüber dem Gnadensee (vgl. BLENCK 1971:133).25 Weitere Reichenau-interne Differenzierungen sind zum einen für den Gemüsebau ungünstige Mulden, in denen sich die nächtlich absinkende Kaltluft sammelt, die demnach spätfrostgefährdet und auch für wärmeliebende Sommerkulturen schlecht geeignet sind; zum anderen die hochwassergefährdeten Stellen, das sind besonders die unter 397m gelegenen Orte (vgl. BLENCK 1971:125). 24 zudem mit im Winter wärmerem Wasser aus dem Obersee, s. bei BLENCK (1971:129) Allerdings ist die Südseite nicht immer von Vorteil. So kann es beispielsweise sein, dass bei Frösten im Frühjahr auf der Südseite die schützende Schneedecke bereits weckgetaut oder von den häufigen Südwest- und Westwinden weggeweht ist, während sie auf der Nordseite die Ernte rettet (BLENCK 1971:129f.). 25 34 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Karte 5: 4. Die Insel Reichenau Strömungsverhältnisse im Untersee (aus KIEFER 1968:62) Die hier vorgestellten physisch-geographischen Aspekte werden vor allem im historischgenetischen Teil wieder aufzugreifen sein. Es wird sich zeigen, dass sie bei der Entstehung und bei der Entwicklung der Reichenau als Standort für Sonderkulturanbau eine große Rolle gespielt haben. Dabei sind vor allem zwei Tendenzen festzustellen: Zum einen hat sich die Insel durch die Integration in immer größere Märkte von einem Gunstraum zu einem eher ungünstigen Raum gewandelt, zum anderen nimmt die Bedeutung einzelner Naturfaktoren und Reichenau-interner Differenzierungen im Laufe der Zeit ab (durch technische Modernisierung, Konzentrationsprozesse). Letztgenannte Entwicklung führte immer wieder zu unterschiedlichen Bewertungen einzelner Inselteile bzw. Grundstücke durch die Nutzer. 4.2 Die Reichenau: Siedlung, Wirtschaft, Kultur Bei der allgemeinen Einführung in die humangeographischen Begebenheiten der Insel Reichenau wie auch bei der Darstellung des heutigen Gemüsebaus werde ich besonders auf Dokumente von auf der Insel wirkenden Akteuren zurückgreifen. Zum einen sind dies Texte, die zum Antrag auf Anerkennung des UNESCO-Welterbestatus für die Insel Reichenau entstanden sind (BRD 2000, WICHMANN 2000, NEUER/LAZAR 2000). Zum anderen sind dies Dokumente der Gemüse-Genossenschaft. Letztere lassen sich unterteilen in Selbstdarstellungen und interne Dokumente einerseits und die Antragstellungen auf Anerkennung der EUSchutzmarke „geschützte Ursprungsbezeichnung (g.U.)“ für die vier Hauptgemüse des Reichenauer Gemüsebaus (Tomaten, Gurken, Feldsalat und Blattsalate) andererseits26. All diese Dokumente auszugsweise wiederzugeben, begründet sich nicht nur damit, dass sie das heutige Erscheinungsbild der Reichenau bzw. des Gemüsebaus oft gut illustrieren. Vor allem ist die Kenntnis der aufgeführten Kernaussagen wichtig für das spätere Verständnis der Ana26 s. im Anhang am Beispiel der Tomaten 35 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau lyse dieser Arbeit. Dies gilt sowohl für das Verhältnis von Tradition und Wandel, als auch für die aktuelle Diskussion um die (zunehmend kritisch gesehene) Raumwirksamkeit der Gemüsegärtner. Wichtig ist zunächst, zwischen der Gemeinde Reichenau und der Insel Reichenau zu unterscheiden. Die Gemarkung der politischen Gemeinde Reichenau geht nämlich über die Insel hinaus. Neben einigen unbewohnten Waldflächen (die immerhin ungefähr ein Drittel der Gemarkungsfläche ausmachen) gehören hierzu vor allem die Ortsteile Waldsiedlung und Lindenbühl27: „Die Waldsiedlung ist in den Jahren nach 1950 entstanden, als die Gemeinde Heimatvertriebenen Bauland zur Verfügung stellte“, das nördlich des Reichenauer Bahnhofs gelegene Lindebühl entstand im Umfeld des (1913 als badische Heil- und Pflegeanstalt bei Konstanz gegründeten) Zentrums für Psychiatrie Reichenau (SPICKER-BECK/KELLER 2001:97). Der Festlandteil der Gemeinde soll aber im Folgenden weitestgehend vernachlässigt werden und wird nur herangezogen, wenn er für das Thema Gemüsebau auf der Insel Reichenau relevant ist. Das Interesse der Arbeit richtet sich nach dem Gemüsebau auf der Insel Reichenau. Die Insel Reichenau ist durch einen 1838/39 aufgeschütteten Damm mit dem Festland verbunden. Über diesen führt heute eine mit Pappeln gesäumte Alleenstraße, sodass die Insel per PKW, LKW und auch per öffentlichen Linienbus (tagsüber im Stundentakt) erreichbar ist. Auf der Insel leben etwa 3400 der insgesamt gut 5000 Einwohner der Gemeinde. Die Insel selbst untergliedert sich in die drei Ortsteile Oberzell, Mittelzell und Niederzell. Allgemein kann man von einer Streusiedlung „mit freistehenden Gebäuden, weilerartigen Gruppierungen, langgestreckten Siedlungsreihen und Reihenhausgruppen“ sprechen (W ICHMANN 2000:160). Allerdings hat vor allem Mittelzell eine „dorfartig verdichtete Bebauung“ (W ICHMANN 2000:160) entwickelt: „Die Siedlungen konzentrieren sich in Mittelzell [...] und entlang der Uferbereiche im Nordosten, im Süden sowie im Westen der Insel. Das offene Land im mittleren Bereich der Insel bleibt [...] von Siedlungen weitgehend unangetastet.“ (NEUER/LAZAR 2000:193)28. Entsprechend verteilt sich die Inselbevölkerung auf die drei Ortsteile, mit rund 750 Einwohnern in Oberzell, 2300 in Mittelzell und 350 in Niederzell (vgl. BRD 2000:33). In der Einführung wurde erwähnt, dass auf der Insel Reichenau neben der früher dominanten Landwirtschaft heute vor allem auch die Funktionen Wohnen und Tourismus entwickelt sind. Dies soll hier etwas differenzierter betrachtet werden. Die Landwirtschaft ist mit etwa 140 Gemüsebaubetrieben (davon rund 90 Haupterwerbsbetrieben) im Vergleich zu anderen ländlichen Gemeinden gerade auch des Untersees immer noch durch eine sehr große Gruppe 27 28 vgl. Karte 7 im Anhang vgl. Photogalerie im Anhang 36 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau vertreten (INTERVIEW II)29. Was das Wohnen angeht, so ist es in der Tat so, dass ein Teil der Einwohner zur (meist zugezogenen) Wohnbevölkerung gehört, also auf der Insel Reichenau wohnt und auf dem Festland arbeitet. Als ein nicht zu unterschätzender Grund, auf der Reichenau zu wohnen, ist dabei sicherlich die reizvolle Insellandschaft anzusehen. Diese lockt im Jahr auch über eine Million Besucher auf die Reichenau. Viele davon kommen als Tagesgäste. Übernachtungen sind auf der Insel etwa 200.000 pro Jahr zu verzeichnen (INTERVIEW VI). Neben Hotels und Gaststätten gibt es zahlreiche Ferienwohnungen, die zum Teil auch von Gemüsegärtnern als Neben- oder Zuerwerb genutzt werden. Der Tourismus gilt heute neben dem Gemüsebau als das „zweite ökonomische Standbein“ der Insel (SPICKERBECK/KELLER 2001:120). Die Insellandschaft mitsamt dem kulturellen Erbe, das sie in sich birgt, und ihre Attraktivität für Wohnbevölkerung wie für Touristen sollen nun kurz nähergebracht werden. Die drei Ortsteile ordnen sich um drei noch erhaltene frühmittelalterliche romanische Kirchen. Diese sind die St. Georg-Kirche in Oberzell, das Münster St. Maria und Markus in Mittelzell und die Kirche St. Peter und Paul in Niederzell. Das Mittelzeller Münster ist die ehemalige Klosterkirche des im Jahr 724 von Wanderbischof Pirmin gegründeten Benediktinerklosters. Zusammen mit den nebenstehenden Klostergebäuden bildete sie das Zentrum des bis Anfang des 19. Jahrhunderts existierenden Konvents. Die Zeit von der Gründung bis zum 11. Jahrhundert gilt als die Blütezeit des Klosters: „Die Benediktinerabtei entwickelte sich zwischen 800 und 1100 zu einem geistigen und kulturellen Zentrum des Heiligen Römischen Reiches. [...] Die drei Reichenauer Kirchen gelten als geistige Vororte des Abendlandes zur Zeit der Karolinger und Ottonen. Das Marienmünster, ehemalige Klosterkirche, ist heute katholische Pfarrkirche. Ihr ältester Bauteil wurde 816 geweiht. Besonders markant in der dreischiffigen Basilika sind der gewaltige Dachstuhl und die reiche Schatzkammer. St. Georg [...] ist berühmt für die monumentalen ottonischen Wandmalereien aus dem 10. Jahrhundert. St. Peter und Paul [...] wurde 799 [...] geweiht. Sehenswert sind die prächtige Orgel und die romanischen Apsismalereien“30. Nicht nur die trotz späterem Niedergang des Klosters gut erhaltenen bzw. restaurierten Gebäude zeugen von der frühmittelalterlichen Glanzzeit. Auch in der Literatur brachte die Reichenauer Klosterschule Beachtliches hervor. Unter anderem berühmt geworden ist das Werk „Liber de cultura hortorum“ (Buch über den Gartenbau, genannt „Hortulus“) aus dem 9. Jahrhundert, in dem der Reichenauer Mönch Walahfried Strabo in 444 lateinischen Hexametern 24 Pflanzen beschreibt, die in seinem Klostergarten wuchsen (STRABO 2002; vgl. STOFFLER 1996, SPICKER-BECK/KELLER 2001:40f.). Dies ist gewiss nicht das kulturgeschichtlich zentrale Werk der klösterlichen Schaffenskraft, es ist aber für den Gemüsebau von Bedeutung, da es immer wieder in Bezug auf dessen Entstehung he29 s. auch Online im Internet: URL: <http://www.reichenaugemuese.de/index.html> [Stand: 27.03.2008], unter dem Punkt Gemüseanbau, Anbaustruktur 30 Online im Internet: URL: < http://www.unesco.de/317.html?&L=0> [Stand:27.03.2008] 37 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau rangezogen wird. So werden darin unter anderem auch die Gemüsearten Kürbis, Sellerie und Rettich beschrieben, die in modernen Zeiten von Reichenauer Gemüsegärtnern angebaut wurden und zum Teil auch noch werden. Allerdings sei an dieser Stelle bereits betont, dass es sich bei dem Gemüse in Strabos Klostergarten um therapeutische Pflanzen, nicht um Lebensmittel handelte. Die Fortsetzung einer Tradition, die der Reichenauer Gemüsebau durchaus darstellt, ist aus historisch-geographischer Sicht woanders zu suchen bzw. zu finden. Die drei Kirchen und das ehemalige Klostergebäude stehen nun nicht isoliert da. Zum einen finden sich neben den verstreuten, teils erhaltenen Nonnenhäusern (WICHMANN 2000) noch (in gut erhaltener, restaurierter oder aber in modernisierter, überprägter Form) viele der alten sogenannten Rebbauernhäuser bzw. Rebbauernfischerhäuser (vgl. die Photos bei BLENCK 1971:292ff.). Rebbauernhaus meint, dass es sich bei den Bewohnern um Weinbauern (ursprünglich zur Versorgung des Klosters) handelte, die zusätzlich (zur Selbstversorgung) Ackerbau und Viehzucht betrieben; dass das Haus also eine funktionale Mischform aus Winzer- und Bauernhaus war. Viele Reichenauer waren früher zusätzlich oder auch hauptsächlich Fischer. Noch heute gibt es einige wenige Berufsfischer, die wirtschaftliche Bedeutung des Fischfangs ist aber im Zuge der Modernisierung stark zurückgegangen. Zum anderen sind weitere Gebäude der klösterlichen wie säkularen Herrschaftsgeschichte und der bürgerlichen Geschichte der Reichenau erhalten. Es stehen noch die Ruine der Burg Schopflen (ehemaliger Verteidigungsposten, dort wo heute der Damm die Insel verlässt) und das Schloss Königsegg (ehemaliger Ministerialsitz des Klosters, heute eine Schule für Logopädie und Physiotherapie). Außerdem sind Gebäude um die Ergat erhalten, dem Dorfplatz, auf dem sich eine alte Gerichtslinde befindet und an dessen Südseite sich das Gebäude des Gemeindeammanns des säkularisierten Dorfes anschließt. Im ehemaligen Ammannhaus (eines der ältesten Fachwerke Süddeutschlands) befindet sich heute das Reichenauer Museum (vgl. SPICKER-BECK/KELLER 2001, BRD 2000). Des Weiteren finden sich einige Villenhäuser, die Städter, besonders auch Künstler meist vor dem ersten Weltkrieg errichten ließen, als sie die Annehmlichkeiten der Reichenauer „Sommerfrische“ entdeckten; das heutige Hotel Löchnerhaus schließlich ist eines der wenigen noch bestehenden Beispiele für die vor dem ersten Weltkrieg an vielen Bodenseeorten entstandenen repräsentativen Seehotels (vgl. WICHMANN 2000:164f.). Bis heute sind viele weitere Wohn- und auch Wirtschaftsgebäude entstanden, darunter auch zahlreiche Ferienwohnung für den an Bedeutung gewinnenden Tourismus. Trotz kleinerer ‚Bausünden’ und eines Anteils der historischen Gebäude von nur 10% bezogen auf den Gesamtgebäudebestand (ohne Gewächshäuser) wird das Erscheinungsbild der Insel als historisch wertvoll und gut erhalten eingestuft (vgl. NEUER/LAZAR 2000, WICHMANNN 2000). Im Jahr 1927 begann der Gewächshausbau der Reichenauer Gemüsegärtner. Diese passten 38 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau sich zunächst mit ihrer anfangs geringen Größe an die alte Siedlung an, entstanden oft auf Flächen, die vormals bereits als Freiluft-Gärten genutzt worden waren (vgl. NEUER/LAZAR 2000). Die kleinen Gewächshäuser und der intensive Freilandanbau von Gemüse passen also gut ins (zu konservieren gewünschte und zur Erholung zu konsumierende) Bild der mittelalterlich geprägten Insellandschaft. Diese Insellandschaft wurde im November 2000 von der UNESCO Liste der ‚Welterbestätten der Menschheit’ aufgenommen. Entscheidend für die spätere Diskussion der Raumwirksamkeit des Gemüsebaus ist die Tatsache, dass die frühmittelalterlichen Kirchen und das Kloster zwar im Mittelpunkt der Auszeichnung stehen und als Hauptgrund für den Status gesehen werden können, der Welterbestatus sich aber auf die Insel und ihre Landschaft als Ganzes bezieht. Dies sei bereits an dieser Stelle mit einigen Auszügen aus den WelterbeDokumenten belegt: Bei den Kurzdarstellungen auf den Internetseiten zur Welterbestätte Klosterinsel Reichenau31 liegt der Fokus nahezu ausschließlich auf Kirchen und Kloster. Auch die drei Kriterien, mit denen die UNESCO den Status rechtfertigt, lassen diesen Schwerpunkt erkennen32: „Monastic Island of Reichenau […] Criterion iii: The remains of the Reichenau foundation bear outstanding witness to the religious und cultural role of a great Benedictine monastery in the early Middle Ages. Criterion iv: The churches on the island of Reichenau retain remarkable elements of several stages of construction and thus offer outstanding examples of monastic architecture in Central Europe from the 9th to the 11th century. Criterion vi: The monastery of Reichenau was a highly significant artistic centre of great significance to the history of art in Europe in the 10th and 11th centuries, as is superbly illustrated by its monumental wall paintings and its illuminations.“33 Allerdings fällt bereits auf, dass immer von der Klosterinsel Reichenau die Rede ist. Schaut man etwas gründlicher in die Texte, die zur Beantragung des Welterbestatus entstanden sind, so finden sich zahlreiche Bezüge zur Insellandschaft als Ganzes und besonders auch zu den landwirtschaftlichen Sonderkulturen (s. Kasten auf der folgenden Seite). 31 Online im Internet: URL: <www.unesco.de>, <www.whc.unesco.org> [Stand: 27.03.2008] zu den möglichen Kriterien vgl. Online im Internet: URL: <http://whc.unesco.org/en/criteria/> [Stand: 27.03.2008] 33 Online im Internet: URL: < http://whc.unesco.org/en/list/974/> [Stand: 27.03.2008], s. auch: BRD 2000 32 39 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau Entsprechend der kulturlandschaftlichen Besonderheit und der von oberster Stelle verhängten Würde ist die Insel Reichenau in verschiedener Hinsicht unter Schutz Argumente zur Nominierung der Reichenau als Welterbestätte (eigene selektive Zusammenstellung) • gestellt. Insbesondere sind 230 ha der Insel als Land- schaftsschutzge- • biet (vgl. Karte 7 im Anhang) aus- • gewiesen. Daneben gibt es kleinere Natur- • schutzgebiete und zahlreiche Gebäude stehen unter • Denkmal- schutz. Diese rechtlichen • Ein- schränkungen sind von Bedeutung für die Entwicklungsperspektiven • „The monastic island of Reichenau is an outstanding example of traditional human settlement and land-use. Due to the intensive cultivation of crops such as fruit, vegetables and vines, geared to the monastery’s needs and documented as early as the 9th century, large parts of the island have remained free of buildings to the present day. Thus the island of Reichenau is representative of the culture of a monastic island through the centuries, in a manner extending beyond the architectural survivals.“ (BRD 2000:13) „Between 830 and 840 Walafried Strabo wrote his instructive poem De cultura hortorum, the first European description of horticulture.“ (BRD 2000:13) „The nomination for inscription on the World Heritage List covers the island of Reichenau, the causeway linking the island to the mainland, and the chapel of Kindlebild with its enclosure at the mainland end of the causeway.“ (BRD 2000:260) „[...]Houses once occupied by the wine-growers and fishermen still stand, in isolation or grouped along the roadside,[...] the island, whose whole landcape is indelibly marked by the traditional activities of vine-growing and horticulture.“ (BRD 2000:261) „The monastic island of Reichenau in its entirely bears a unique testimony to the monastic culture of Europe [...]“(BRD 2000:5) „A large part of the island has always been dedicated to the growing of crops to supply the monastery, including specialized crops, for example vines. To the present day the island is characterized by its large plots of specialized crops.“ (BRD 2000:5) „Land use of the Island for the purposes of dwelling, tourism, and the intensive use of large plots for the cultivation of crops continues practices which have been in use for centuries.“ (BRD 2000:46) der Funktionen Wohnen, Gemüsebau und Tourismus. Vor allem zur Weiterentwicklung von Wohnen und Gemüsebau (aber beispielsweise auch für neue Ferienwohnungen für Touristen) sind, wenn es nach Immobilienleuten, Wohnraumsuchenden und Gärtnern geht, Ausbautätigkeiten notwendig (neue Häuser, größere Gewächshäuser). Die tatsächlichen Möglichkeiten zur Umsetzung dieser Perspektiven sind durch die rechtlichen Schutzverordnungen nun allerdings sehr begrenzt. So sieht der Flächennutzungsplan 2010 vor, dass „die Wohnbauentwicklung in der Gemeinde Reichenau [...] sich grundsätzlich in den Bereichen Reichenau-Lindenbühl und Reichenau-Waldsiedlung [auf dem Festland] entfalten“ soll (BRD 2000:95, vgl. auch REGIONALVERBAND 1998:29,46,50,60). „Was den Gemeindeteil Insel betrifft, so ist im Grundsatz daran gedacht, nur für den Eigenbedarf eine Wohnbauentwicklung zuzulassen“ [im Plan 40 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau sind keine neuen Wohnbauflächen ausgewiesen]“ (BRD 2000:95). So ist durch die Inselidylle begehrter und durch die Insellage ohnehin schon knapper Raum zusätzlich begrenzt. Diese Tatsache des begrenzt vorhandenen Baulands ist mit zu berücksichtigen bei der Bewertung von Grundstücken auf der Insel, die in Bezug auf die landwirtschaftliche Gunst der Südseite der Insel im physisch-geographischen Teil bereits angesprochen wurde. Diese Begrenzung kann die dort festgestellte Bedeutungsabnahme der Naturfaktoren verstärken, gerade wenn das Vorhandensein einer ausreichend großen, bebaubaren Fläche für neue Gewächshäuser zum entscheidenden Faktor der betrieblichen Zukunft wird. Denn ähnliche Schwierigkeiten wie beim Wohnungsbau ergeben sich bei Erweiterungsplänen in Sachen Gewächshäuser, was im aktuellen Teil der Arbeit detailliert auftauchen wird. Zunächst soll der Gemüsebau auf der Insel kurz eingeführt werden. 4.3 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Auf etwa 160 ha der Insel Reichenau wird heute Gemüse angebaut. Davon entfallen 120 ha auf den Freilandanbau, 40 ha des Anbaus erfolgen Unterglas, also in Gewächshäusern (INTERVIEW II). Es gibt etwa 140 Gemüsebaubetriebe, davon rund 90 Haupterwerbs- und 50 Nebenerwerbsbetriebe (INTERVIEW II)34. Es handelt sich um traditionelle, kleine bis mittlere Familienbetriebe, bei denen die größeren saisonal zusätzliche Arbeitskräfte (meist polnische Saisonarbeiter) beschäftigen. In der Tendenz der letzten Jahrzehnte ist dabei der Freilandanbau im Abnehmen, der Unterglasanbau im Zunehmen begriffen. Der Unterglasanbau macht mengen- wie umsatzmäßig über 80% des Gesamtanbaus aus (Freilandanbau Geschäftsjahr 2005: 15,5% der wertmäßigen, 17,4% der mengenmäßigen Produktion35, ist also wesentlich intensiver als der Freilandanbau. Es wird das ganze Jahr über Gemüse angebaut. Einen Überblick über das Anbauspektrum im Jahresverlauf bietet der Kalender in Abbildung 3. Zu den Hauptgemüse, die ihrerseits wiederum etwa 80% an der produzierten Menge und am Gesamtumsatz halten, zählen Schlangengurken, Tomaten, Feldsalat und Blattsalate. Unter diesen fällt die Gurke am meisten ins Gewicht (MOVIEMAKER 2005). Es lassen sich im Wesentlichen drei Anbauverfahren unterscheiden: Der Freilandanbau, der Bodenkulturanbau Unterglas und der Substratanbau Unterglas („Reichenauer Topfkultur“). Biologischer Anbau wird zwar auf der Internetseite der Gemüsegenossenschaft auch als Anbauform aufgeführt, ist aber bis auf einen größeren Biojungpflanzenbetrieb, der unabhängig von der Genossenschaft wirtschaftet, nur in zwei oder drei kleineren Betrieben verwirklicht. 34 s. auch Online im Internet: URL: <http://www.reichenaugemuese.de/index.html> [Stand: 27.03.2008], unter dem Punkt Gemüseanbau, Anbaustruktur 35 (REICHENAUGEMÜSE EG 2006a:9) 41 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau Im Freilandanbau werden Blumenkohl, Kohlrabi, Broccoli, Fenchel, verschiedene Salate, Sellerie und (im Sommer auf ca. 5 ha) Tomaten angebaut. „Vor allem im Frühjahr werden zur Ernteverfrühung lien und [...] Fo- Vliese einge- setzt.“; dann beträgt die Fläche der Abb. 3: Saisonkalender des Reichenauer Gemüsebaus ausgelegten Folien und Vliese etwa 6570 ha (REICHENAUGEMÜSE EG 2006b). Unterglas wer- den im Winter hauptsächlich Feldsalat und Blattsalate angepflanzt, im Sommer vor allem Gurken und Tomaten. Seit 2003 werden auf etwa 5% der gesamten Anbaufläche (also etwa einem Fünftel der Unterglasfläche) von mittlerweile acht großen Betrieben Gurken und Tomaten erdelos in Substrat angebaut (REICHENAUGEMÜSE EG ohne Jahr). In Abgrenzung Umfassendes Angebot zu anderen Anbaugebie- Begrenztes Angebot ten, wo als Substrat anor- Kein Angebot ganische Substanzen (z.B. Steinwolle) verwendet Quelle: Online im Internet: URL: <http://www.reichenaugemuese.de/> [Stand: 27.03.2008], unter dem Punkt Gemüseanbau, Gemüsearten, Saisonkalender werden, darf auf der Reichenau nur Kokossubstrat verwendet werden.36 Außerdem müssen nach wie vor die Richtlinien des integrierten Anbaus erfüllt werden. Bei der im internationalen Gemüseanbauwettbewerb schon lange verwendeten Methode wachsen die Pflanzen nicht in der Erde, sondern stehen in Töpfen (oder in Säcken/auf Matten, was aber auf der Reichenau ebenfalls untersagt ist) in einem Substrat, dass den Wurzeln ledig36 Dies lässt sich als ein Kompromiss interpretieren, da die Einführung des Substratanbaus nicht unumstritten war und die Gegner als ein Hauptargument aufführten, den (eben erst wieder hergestellten) guten Ruf des Reichenau-Gemüses mit dem ‚unnatürlichen’ Substratanbau zu gefährden (vgl. Kapitel 6.2 dieser Arbeit) 42 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau lich Halt zu geben braucht. Sämtlicher Wasser- und Nährstoffbedarf wird durch gezielte Bewässerung in einem geschlossenen System zugeführt, d.h. „überschüssiges Gießwasser wird aufgefangen, über Biofilter geleitet und dem Kreislauf wieder zugeführt“ (REICHENAUGEMÜSE EG ohne Jahr). Mit dem Substratanbau kann ein höherer Flächenertrag als beim Bodenanbau erzielt werden, bei effizientem Nährstoffeinsatz, geringerem Wurzelkrankheitsrisiko und guter Gemüsequalität. Dieses Verfahren ist nicht allen Betrieben der Reichenau zugänglich: „Das Kulturverfahren setzt ganz spezielle Anforderungen an die Erdoberfläche voraus. Eine optimale Kulturführung ist nur bis zu einem natürlichen, minimalen Bodengefälle im Gewächshaus möglich. Da auf den meisten Flächen das natürliche Gefälle jedoch größer ist, scheidet dieses Kulturverfahren für den großflächigen Einsatz auf der Insel Reichenau aus. Weiter erfordert das Verfahren einen hohen Finanzbedarf. Dazu benötigte Investitionen sind z.B. Klima- und Bewässerungscomputer zur Steuerung einer pflanzenoptimalen Umgebung oder einer Biofilteranlage zur Aufbereitung des Gießwassers. Diese Investitionen sind nur ab einer gewissen Gewächshausgröße und einer entsprechend modernen Bausubstanz des Gewächshauses sinnvoll“ (REICHENAUGEMÜSE EG ohne Jahr). Auf freiwilliger Basis ist auf den Verpackungen des Reichenauer Gemüses gekennzeichnet, welcher Anbauform das im Laden preisgebotene Gemüse entstammt. Alle Reichenauer Betriebe, die ihr Gemüse über die Genossenschaft vermarkten (das sind 97% aller Betriebe37), bauen nach den Richtlinien des „integrierten und kontrollierten Anbaus“ des Qualitätszeichens des Landes Baden Württemberg an. Dabei werden vor allem folgende Maßnahmen in das Gesamtproduktionsverfahren integriert: - Die Böden der Gewächshäuser werden regelmäßig gedämpft. Das heißt, dass heißer Wasserdampf in die obere Schicht des abgedeckten Bodens mittels eines Dampfaggregats geführt wird. Dieser reduziert Schadensorganismen und führt so auf rein mechanische Weise zu einer nachhaltigen Aufrechterhaltung der Bodenfruchtbarkeit. - Zur Humusanreicherung wird heute weniger Stallmist (der aufgrund der ab den 1960er Jahren nicht mehr vorhandenen Viehhaltung von weit her gekauft worden war, vgl. BLENCK 1971), sondern mehr Schilf- und Riedgras verwendet, dass bei der Pflege des Naturschutzgebiets Wollmatinger Ried entsteht. - Es werden regelmäßig Bodenproben entnommen und von einem unabhängigen Labor auf Schadstoffe hin untersucht. Auf Grundlage dieser Untersuchungen werden Düngeempfehlungen gegeben, um die Verwendung von Düngemitteln auf ein Minimum zu reduzieren. - Im Pflanzenschutz werden neben Pflanzenschutzmitteln auch Nützlinge eingesetzt, also Insekten, die den Kulturen nicht schaden und mit denen Schadinsekten bekämpft werden können. So lässt sich der Einsatz von Insektiziden minimieren. Auf 37 INTERVIEW II 43 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau der Reichenau existiert ein Betrieb, der Nützlinge weit über die Insel hinaus verkauft und der maßgeblich an der innovativen Entwicklung des Einsatzes von Nützlingen im Gemüsebau beteiligt war. - Neben einer doppelten äußeren Qualitätskontrolle bei Anlieferung der Gemüse in der zentralen Markthalle und bei Auslieferung der Gemüse aus der Markthalle finden, ebenfalls durch ein unabhängiges Labor, regelmäßig Rückstandsproben auf Nitrat und Pflanzenschutzmittel im Gemüse statt. - Den Gärtnerbetrieben steht ein in Form eines Vereins organisierter Beratungsdienst zur Seite, bei dem zwei Dipl.-Gartenbau-Ingenieurinnen zur regelmäßigen Unterstützung bei anbautechnischen Fragen angestellt sind. Ein Arbeitsschwerpunkt der beiden ist dabei der biologische Pflanzenschutz (vgl. URICHER 1997a). Die meisten Betriebe bauen einige der oben im Anbaukalender aufgeführten Gemüse an und vermarkten diese über die Genossenschaft. Daneben haben sich einige Nischenbetriebe komplementär zur genossenschaftlichen Vermarktung entwickelt. So gibt es einen großen Jungpflanzenbetrieb, der nicht nur viele der Reichenauer Betriebe mit Jungpflanzen beliefert, sondern sich einen überregionalen Absatzmarkt erschlossen hat38. Allerdings befinden sich dessen Hauptproduktionsstandorte auf dem Festland (sowohl innerhalb der Gemarkung Reichenau, als auch weit außerhalb beim Autobahnkreuz Hegau). Auch ein Bio- Jungpflanzenbetrieb ist auf der Insel ansässig. Dessen Kunden liegen selbstverständlich hauptsächlich fast ausschließlich außerhalb der Reichenau, da - wie oben aufgeführt - so gut wie keine Bio-Betriebe auf der Reichenau existieren. Des Weiteren sind zu nennen: - ein Mehr-Generationenbetrieb, der ein eigenes Gärtner-Center eröffnet hat und sich auf die Rundumversorgung von Hobby-Gärtnern mit einem angegliederten Hofladen spezialisiert hat - weitere Blumenbetriebe und einige Kräuterbetriebe - einige wenige kleine Betriebe in der letzten Generation, die noch immer direkt auf die Märkte fahren Als einen Standortvorteil des heutigen Reichenauer Gemüsebaus ist die grenzenlose Verfügbarkeit von Beregnungswasser aufzuführen. Dafür sorgen vier in den 1950er Jahren errichtete Seepumpwerke, die das nicht nur in rauen Mengen vorhandene, sondern auch qualitativ gute Bodenseewasser in ein Leitungsnetz von etwa 60 km Länge einspeist, durch das alle Gärtnerbetriebe versorgt werden können. Gesteuert, kontrolliert und dokumentiert wird die Bewässerung durch eine zentrales EDV-System. Betreiberin des Bewässerungssystems ist die Genossenschaft. Zwischen den beiden Drumlins liegt das Gewerbegebiet Tellerhof. Hier haben unter anderem die Gemüse-Genossenschaften ihren Sitz. Formal gesehen handelt es sich um drei Unter38 wozu auch die Schweiz gehört 44 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau nehmen: die Reichenau-Gemüse eG (Absatzgenossenschaft), die Reichenau-GemüseVertriebs eG und die Raiffeisen-Lagerhaus eG (Warengenossenschaft). Diese Trennung hat vor allem steuertechnische Gründe. So kann zum Beispiel die Absatzgenossenschaft Reichenau-Gemüse eG nur als Anerkannte Erzeugergemeinschaft gemäß GMO in den Genuss von gewissen Fördergeldern kommen. Als Anerkannte Erzeugergemeinschaft darf sie keine Fremdware beziehen. Dies praktiziert die Genossenschaft jedoch, um den Gastronomiekunden ein umfassendes Angebot bieten zu können, das sich aus einem Mix von Reichenauer Gemüse und zugekauftem Obst und Gemüse zusammensetzen muss. Um weder auf den wirtschaftlich bedeutenden Status der Anerkannten Erzeugergemeinschaft, noch auf die ebenfalls ökonomisch bedeutenden Restaurant-Kunden verzichten zu müssen, wurden zwei getrennte Institutionen, nämlich die Absatzgenossenschaft und die Vertriebs eG geschaffen (s. BOTTLANG 1997). Aus ähnlichem Grund war 1967 die Trennung von Absatz- und Warengenossenschaft erfolgt (vgl. GLÖNKLER 1991:230). Die drei Unternehmen verstehen sich jedoch als Partnerunternehmen, werden in Personalunion geleitet (Vorstand, Aufsichtsrat, Geschäftsführung) und liegen auch räumlich direkt nebeneinander (vgl. auch URICHER 1997b:10). Seit 1994 (noch ohne Gärtner-Center) bzw. 1997 (ab dann mit Gärtner-Center) existiert die gemeinsame zentrale Vermarktungsanlage im Gewerbegebiet Tellerhof. „Die gesamte Einrichtung besteht aus drei Bauwerken. Eine Vermarktungshalle mit entsprechenden technischen Einrichtungen, in die der Verwaltungstrakt integriert ist, bildet das Herzstück der Anlage. Die bebaute Grundfläche der Halle beträgt 4.000 qm. Die Umschlagshalle bietet mit einer Nettofläche von 2.900 qm ausreichend Platz für die Erfassung und Verladung der angelieferten Ware. [...] Das Verwaltungsgebäude beinhaltet 280 qm Büroflächen, verteilt auf drei Stockwerke, sowie die erforderlichen Sozial- und Aufenthaltsräume. An die Halle angegliedert ist ein Kühltrakt mit 1.000 qm Kühlfläche. Davon ist die Hälfte ausgestaltet als Schnellkühlräume im Gegenstromverfahren, die andere Hälfte sind herkömmliche Verdampferkühlräume. Durch die Kühlkapazität ist die sachgerechte Zwischenlagerung zwischen Ernte und Versand gewährleistet. Eine zweite Halle mit 1.200 qm ist größtenteils als offenes Gebäude gestaltet. Es dient der Lagerung und teilweise auch der Herstellung und Aufbereitung von Verpackungsmaterial. [...] Das dritte Gebäude wurde in 1997 fertiggestellt und in Betrieb genommen von der [...] Raiffeisen-Lagerhaus e.G., [...] ein moderner Raiffeisenmarkt mit lukrativen Laden- und Freiflächen. Erste Aufgabe dieser Genossenschaft ist jedoch nach wie vor die Versorgung der Gärtner mit allen erforderlichen Betriebsmitteln“ (BOTTLANG 1997:5). Für die Auslieferung des Gemüses steht eine moderne LKW-Flotte mit Kühltechnik zu Verfügung. Diese zentrale Vermarktungseinrichtung wurde hauptsächlich durch Fremdkapital finanziert. Der Baubeschluss geht auf einen Mitgliederbeschluss der Genossenschaft zurück, bei dem die Stimmen nach dem Umsatz der einzelnen Mitglieder gewichtet wurden 45 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau (INTERVIEW III). Heute haben die drei genossenschaftlichen Unternehmen insgesamt etwa 60 Mitarbeiter39. Im vergangenen Jahr wurden 16.000 Tonnen Gemüse produziert (ZOCH 2007b) und über die zentrale Vermarktung umgesetzt. Insgesamt werden (Eigen- und Fremdware zusammengenommen) jährlich etwa 25.000 Tonnen Gemüse durch die Halle geschleust40. Hauptabsatzgebiete des Reichenauer Gemüses sind Baden-Württemberg (ca. 60%) und Bayern (ca. 40%). Neben Großkunden wie z.B. Edeka wird auch die regionale Gastronomie beliefert. Die benachbarte Schweiz scheidet wegen deren Schutz ihrer nationalen Produzenten als Absatzgebiet so gut wie vollständig aus. Der Reichenauer Gemüseverkauf ist also regional verankert, mit einem starken Handicap durch die abgeschottete Schweiz. Im Theorieteil wurde bereits bemerkt, dass die Genossenschaften im internationalisierten Agrarmarkt einerseits ihre Geschäftspolitik wie die anderer großer Unternehmen nach wirtschaftlichen Leistungs- und Erfolgskriterien ausführen, zugleich aber den tradierten Genossenschaftsidealen Rechung tragen müssen (HENKEL 1999:149f.; vgl. Theorieteil). Diese schwierige Doppelrolle findet sich in den Zielen wieder, die die Reichenauer Gemüse eG definiert und in einer anschaulichen Broschüre veröffentlicht hat (REICHENAUGEMÜSE EG ohne Jahr II). Diese und die in ihnen enthaltene Antragstellung auf „geschützte Ursprungsbezeichnung“ der vier Hauptgemüse werden nun abschließend kurz ausgebreitet, da auf sie noch zurückzukommen sein wird. Ihren Zielen voran stellt die Genossenschaft ihre „Vision“ und ihre „Mission“. Die Vision lautet: „Der Gemüsebau und die familiären Strukturen auf der Reichenau sollen auch in der Zukunft erhalten und gefördert werden“. Bei der Mission vollzieht sich bereits die Trennung in die „genossenschaftliche Grundaufgabe“ einerseits und die „Unternehmensaufgabe“ andererseits (REICHENAUGEMÜSE EG ohne Jahr II). Die genossenschaftliche Grundaufgabe wird wie folgt definiert: „Die Genossenschaft sichert den Absatz der Produkte ihrer Mitglieder unter Erzielung höherer Erlöse im Vergleich zu anderen Anbaugebieten. Die Politik der Genossenschaft ist ausgerichtet auf den Absatz des von den Mitgliedern produzierten Gemüses“ (REICHENAUGEMÜSE EG ohne Jahr II). Die Unternehmensaufgabe formuliert sich so: Die Genossenschaft strebt „eine langfristige Kundenbindung auf Basis einer hohen Kundenzufriedenheit und Mitarbeitermotivation an.“ Sie orientiert sich nach den Leitlinien in Abbildung 4. 39 telefonische Auskunft vom Sekretariat der Genossenschaft Online im Internet: URL: <http://www.reichenaugemuese.de/> [Stand: 27.03.2008], unter dem Punkt Täglich frisch..., Reichenau-Gemüse, Panorama Vermarktungshalle 40 46 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Abb. 4: 4. Die Insel Reichenau Leitlinien der Unternehmensaufgabe der Reichenauer Gemüsegenossenschaft (aus REICHENAUGEMÜSE EG ohne Jahr II) Zur Erfüllung der genossenschaftlichen Grundaufgabe werden acht Rahmenziele festgelegt (REICHENAUGEMÜSE EG ohne Jahr II): 1. Die Sicherung des Absatzes zu marktgerechten Preisen, wobei man den schwierigen Verhältnissen des Marktes mit einem intelligenten Absatzmarketing und Marktnähe, Kundennähe und Kontinuitäten der Qualitäten begegnen möchte. 2. Die Förderung von Nebenprodukten im Hinblick auf die Spezialisierung einzelner Betriebe, wobei die Genossenschaft in Kundengesprächen Möglichkeiten für Nebenund Nischenprodukte eruiert und die Produktion und Produkteinführung (auch im Sinne einer besseren Versorgung der Kunden) unterstützt und begleitet. 3. Die Erzielung höherer Marktpreise durch Spitzenqualität, Angebotskontinuität und Qualitätskontinuität der angebauten Produkte, wobei das Erzielen höherer Marktpreise im Vergleich zum Wettbewerb als von zentraler Bedeutung für den Fortbestand der Reichenauer Betriebe gesehen wird. 4. Die Verstärkung des lokalen und regionalen Absatzes der Produkte, wobei eine Konzentration auf Marktgänger und Gastronomie erfolgt, die Kunden werblich unterstützt werden und die Pressearbeit ausgeweitet werden soll. 5. Der Ausbau des Innenmarketings und die stärkere Einbeziehung der Mitglieder, wobei ein Schwerpunkt auf eine intensive Informationsarbeit gegenüber den Mitgliedern gesetzt wird, ein anderer in der stärkeren Partizipation der Mitglieder. Es wird betont, dass das Gemeinwohl über die Interessen einzelner Mitglieder gestellt werden muss. 6. Die Gesunderhaltung der Genossenschaft durch kontinuierliches Wachstum und Optimierung der Betriebsabläufe, wobei neben einer flachen und schlanken Organisationsstruktur, die permanent die Betriebsabläufe optimiert und auch sich selbst in Fra47 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau ge stellt, auch mögliche Förderungen, Unterstützungen und Beihilfen von europäischen und nationalen Mitteln konsequent genutzt werden sollen. 7. Die Förderung und Sicherung der Hauptkulturen (Kerngeschäft), wobei diesen bei Sortenwahl, Kulturführung und Beratung unter finanziellen, fachlichen und zeitlichen Aspekten angemessene Beachtung geschenkt werden soll. 8. Die Erhaltung und Förderung der Produktionsfähigkeit der Erzeuger, wozu neben den bereits unter 6. genannten möglichen Förderunge etc. auch die Unterstützung des Beratungsdiensts Reichenau e.V. und die Kontaktpflege zu öffentlichen Institutionen gehören. Unter 7. die Förderung und Sicherung der Hauptkulturen (Kerngeschäft) ist zudem die beantragte „geschützte Ursprungsbezeichnung“ aufgeführt. Die Beantragung erfolgte bereits 2002. Obwohl mittlerweile die Anerkennung als „geschützte geographische Angabe“ vorliegt (vgl. Fußnote 4 und ZOCH 2008b), lohnt an dieser Stelle ein Blick in einen Teil des Antragstexts. Der Antragsteller hat darin einen Ursprungsnachweis zu erbringen, der die beantragte Auszeichnung rechtfertigt. Diesen Nachweis erbringt die Genossenschaft - hier am Beispiel der Tomate - wie folgt: „Tomaten von der Insel Reichenau sind Erzeugnisse traditionellen Gemüsebaus, der auf die Klosterkultur auf der Insel Reichenau zurückgeht. Mit der Beschreibung seines Gartens „de cultura hortorum“ von 840, kurz „Hortulus“ genannt, begründete Abt Walahfried Strabo die Tradition der Insel Reichenau als Gemüsegarten. Der Anbau von Tomaten ist auf der Insel Reichenau erstmalig für das Jahr 1900 dokumentiert, 1932 hatte er sich bereits auf 500 ar ausgedehnt (vgl. Glönkler, „Vom Weinbau zum Gemüsebau“, 1991, S.61 und 70). Derzeit werden hier im geschützten Anbau auf ca. 5 ha Tomaten kultiviert. Die Tomaten werden aus auf Wildformen veredelten Jungpflanzen gezogen, die ausschließlich aus dem Gebiet der Insel Reichenau kommen. Durch Kennzeichnungszettel sind die einzelnen Erzeuger identifizierbar, so dass sich die Herkunft der Ware zurückverfolgen lässt.“41 Hier taucht also der Bezug auf STRABOS Kräutergarten wieder auf. In der Tat ist es so, dass die Reichenau ein traditionelles Anbaugebiet darstellt. Ohne diese Tradition wäre es, rein die jetzigen Bedingungen betrachtend, heute höchstwahrscheinlich gar nicht vorhanden. Bereits Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre, als sich der europäische Markt gerade erst zu öffnen begann, bemerkte BLENCK: „Durch den Verkauf des Gemüses steht die Insel Reichenau mit einem größeren Wirtschaftsraum in Beziehung. Hier gilt es, die Anpassung des Gemüsebaus auf der Insel Reichenau an die Entfernung zum Markt und an die sozialökonomischen und ökologischen Verhältnisse innerhalb des Wirtschaftsraumes zu prüfen. Dabei wird sich herausstellen, dass von der heutigen Marktsituation der Gemüsestandort der Insel Reichenau nicht erklärt werden kann. In einer historisch-genetischen Untersuchung wird des41 Quellennachweis s. Anhang 48 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 4. Die Insel Reichenau halb die Anpassung ererbter Strukturen an die kulturgeographische Situation der Gegenwart zu beurteilen sein“ (BLENCK 1971:156). In diesem Sinne soll nun der Entwicklungspfad, die Traditionalität des Gemüsebaustandorts Insel Reichenau erarbeitet werden. Dabei wird sich herausstellen, dass der Gemüsebau als Sonderkulturanbau auf der Reichenau, die Verordnung (EWG) VO2081/92 beim Wort genommen42, durch seine spezifische historischgeographische Entwicklung heute tatsächlich ein Überbleibsel darstellt, dessen Qualität, Ansehen und vor allem auch dessen Prägung der Insel in Landschaft und Alltag, sich aus seinem geographischen Ursprung ergeben und somit die erhaltene Auszeichnung rechtfertigen. 42 URL: <http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:31992R2081:DE:HTML>, [Stand: 27.03.2008], vgl. hierzu Fußnote 4 49 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil 5. Historisch-genetischer Teil 5.1 Vormoderne Entwicklung und Ausgangssituation Der Ursprung der Insel Reichenau als Anbaugebiet für Sonderkulturen wird in der Literatur mit dem im 8. Jahrhundert gegründeten Kloster in Verbindung gebracht (BLENCK 1971, GLÖNKLER 1991). Durch dieses spezialisierten sich die Reichenauer auf den Weinbau. Die mittelalterlichen Klöster hatten für den rituellen Gebrauch und besonders auch für ihre zahlreichen Gäste einen erhöhten Weinbedarf zu decken (vgl. SCHRÖDER 1953:46ff., GLÖNKLER 1991:35). Das Kloster auf der Reichenau, eines der bedeutendsten der Karolingerzeit, verfügte über großen Grundbesitz auf dem Festland, hauptsächlich im unmittelbaren Umland des Bodensees (Thurgau, Hegau). „Auf Grund der Naturalabgaben, die jährlich von diesen Besitzungen dem Kloster Reichenau zugute kamen, dürfte es wahrscheinlich sein, dass man auf der Insel Reichenau schon früh bevorzugt diejenigen Kulturen anbaute, die von außerhalb nicht oder nur in geringem Umfang geliefert wurden“ (BLENCK 1971:160). Der hohe Weinbedarf und die klimatische Gunst - gerade in Bezug zum Umland des Bodensees (vgl. Kapitel 4.1) -, die den Rebanbau nicht nur erlaubte, sondern auch einen Wein guter Qualität ermöglichte, sorgten dafür, dass sich der Weinbau über die ganze Insel ausbreitete. Nur in den „weniger [...] geeigneten Flurteilen wurde Getreide angebaut, die feuchten Niederungen wurden als Weideland genutzt“ (BLENCK 1971:160f.). Während der Weinbau der Versorgung des Klosters diente, erfolgten Getreidebau, Viehzucht und ebenfalls vorhandener Obst- und Gemüsebau in Hausgärten zur Selbstversorgung der Bauern (NEUER/LAZAR 2000:195). Abt Walahfried Strabo dichtete in jener Anfangszeit des Weinbaus43 auf der Insel nicht nur seinen „Hortulus“, vielmehr waren unter ihm „40 Rebleute aus Steckborn damit beschäftigt [...], Gärten und Weinberge für das Kloster anzulegen und zu bewirtschaften“ (GLÖNKLER 1991:34; dort nach STAIGER 1860 bzw. 1874). Für die Entwicklung der Sonderkulturen, die heute als traditioneller Wirtschaftszweig die Reichenau immer noch dominieren, ist diese Tätigkeit des Gottesdieners viel entscheidender gewesen als das berühmte Gedicht. Von Anfang an entwickelte sich die Siedlung auf der Insel abgesehen von einer Verdichtung um den Klosterkomplex herum zu einer Streusiedlung mit Einzelhöfen und kleinen Weilern (vgl. z.B. BADER 1960). Als Erklärungsfaktoren hierfür werden die Insellage, die eine geschlossene Siedlungsform als Schutzfunktion erübrigte44, und die Arbeitsintensität des Weinbaus, bei 43 der im Übrigen auf das gleiche Jahr - 840 n.Chr. - wie Walahfrieds Gedicht datiert wird (vgl. JÄNICHEN 1968:371) 44 Allerdings ist die Insel immerhin bei Niedrigwasserstand des Bodensees im Winter zu Fuss erreichbar. An der Stelle, an der dies möglich ist, stand ja auch die Burg Schopflen (s.u.) als Verteidigungsposten (BLENCK 1971:163 und eigene Beobachtung) 50 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil der eine geringe Distanz zwischen Hof und Rebland vorteilhaft war, aufgeführt (BLENCK 1971:163). Auch mit dem Bedeutungsniedergang des Klosters, der im 11. Jahrhundert einsetzte und zu Beginn des 15. Jahrhunderts mit nur noch zwei Mönchen seinen Tiefpunkt erreichte (vgl. SPICKER-BECK/KELLER 2001:66f.), wurde der Weinbau großflächig fortgeführt. Die Dominanz des Weinbaus ging soweit, dass die übrige landwirtschaftliche Fläche wahrscheinlich nicht zur Selbstversorgung ausreichte und Getreide von außerhalb zugekauft werden musste. „Der Wein wurde zum großen Teil für den Markt produziert, er scheint Ende des 15. Jahrhunderts sogar einen guten Absatz gefunden zu haben“ (BLENCK 1971:161f.). Für das Jahr 1492 wird für den Weinbau auf der Insel die Rekordfläche von ungefähr 200 ha geschätzt (MÜLLER 1953:51; vgl. BLENCK 1971:162, GLÖNKLER 1991:35). Für eine marktorientierte Produktion des damaligen Konsumgetränks kam der Reichenau neben dem geeigneten Klima vor allem die Verkehrsgunst zugute. Angesichts des damals schwerfälligen Landwegs ließ sich der Wein durch den See bei geringen Transportkosten im gesamten Bodenseeraum leicht absetzen. Die Weinbauern schufen sich gegenüber dem immer bedeutungsloser werdenden Kloster immer mehr Freiräume: „Die hörigen, unfreien Knechte, die die Weinberge des Klosters bearbeiteten, nutzten den Verfall der klösterlichen Fronhofswirtschaft aus und schufen sich im Laufe der Zeit selbständige Bauernbetriebe mit nur geringer Abhängigkeit vom Kloster“ (BLENCK 1971:161). Mit dieser zunehmenden Selbständigkeit bildete sich auch die Realteilung als das herrschende Erbrecht auf der Reichenau heraus. Wenn auch die Ursachen der Erbsitten stets zur Diskussion standen, sie vielfältig und im Einzelfall unterschiedlich gewichtet sein mögen (vgl. FLIEGE 1998:159, HENKEL 1999:108), somit kein unmittelbarer kausaler Zusammenhang zwischen Weinbau und Freiteilbarkeit bescheinigt werden kann (vgl. SCHRÖDER 1953:132), so spricht doch vieles dafür, dass der Weinbau im Allgemeinen und auch im Fall der Reichenau die Praxis der Realteilung als Erbsitte mindestens begünstigt und gefördert hat (BLENCK 1971:162, SCHRÖDER 1953:134). Zum einen ermöglichte die arbeitsintensive, bereits marktorientierte Bewirtschaftung schon bei geringer Fläche ein rentables Wirtschaften und wies dem Ackerland zur Selbstversorgung eine zweitrangige Bedeutung zu, zum anderen forcierten Bevölkerungsdruck bzw. Landknappheit die Teilung des Grundbesitzes bis zu seiner wirtschaftlichen Untergrenze (vgl. SCHRÖDER 1953:130). Auch der Zeitpunkt, zu dem die Realteilung auf der Reichenau begann, lässt sich nicht genau angeben. NEUER/LAZAR (2000:195) sehen die Freiteilbarkeit erst durch die endgültige Auflösung des Klosters und die Veräußerung des Weinbaulandes des Konvents Anfang des 19. Jahrhunderts ermöglicht, während andere Autoren diese bereits während der zunehmenden faktischen, aber noch nicht nominellen Unabhängigkeit der Bauern in den vorangehenden Jahrhunderten vermuten (s. bei BLENCK 1971:163; dort nach BADER 1960, METZ 1926). Spätes- 51 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil tens ab dem 19. Jahrhundert wurden dann die landwirtschaftlichen Besitzungen auf der Reichenau durch die Realteilung immer weiter zerteilt. Bedingt durch das (ehemalige) Kloster und die in diesem Sinne traditionelle Spezialisierung auf den Weinbau stellt die Reichenau ein Sonderfall für den Unterseeraum dar: „Nirgends am Untersee erreichten die landwirtschaftlichen Betriebsgrößen so geringe Werte wie auf der Insel Reichenau“ (BLENCK 1971:48). Dabei erfolgte nicht nur eine kontinuierliche Verkleinerung der Parzellen, sondern auch eine immer stärkere Streuung der Parzellen einzelner Betriebe über die gesamte Insel. Dies ist besonders auf die Strategie der Risikoverminderung bezüglich Unwetterschäden (Hagel) zurückzuführen. Ein altes Reichenauer Sprichwort besagt, „man soll nicht alles Land unter einem Wolken haben“ (FREUDENBERG 1939:13, GLÖNKLER 1976:34). Bei einem Hagelereignis wird meist nur ein Teil der Insel betroffen, wie nebenstehende Karte 6 erkennen lässt, in der BLENCK ein Hagelereignis aus dem Jahr 1965 kartiert hat(BLENCK 1971:121f.). So konnte bei Streulage der Besitzungen verhindert werden, dass im Unglücksfall die gesamte Ernte vernichtet wurde. Diese Vorsicht war beim Weinbau umso bedeutender, da dieser im Gegensatz zum Gemüsebau nur eine Ernte pro Jahr zuließ. Neben dieser Risikoverminderungsstrategie spielte aber auch die unterschiedliche Eignung der verschiedenen Inselteile hinsichtlich Klima und Bodenqualität eine Rolle (GLÖNKLER 1991:147; vgl. auch Kapitel 4.1). Karte 6: Hagelschaden bei Gemüse am 26. Juni 1965 (BLENCK 1971:122) Im 17. Jahrhundert (Dreißigjähriger Krieg) setzte ein Rückgang des bis dahin sich seit dem Frühmittelalter ausbreitenden Weinbaus ein (vgl. SCHRÖDER 1953:63ff.). Neben den direkten Folgen von Kriegen45 wird vor allem die Abnahme des Weinkonsums (als Folge schwindenden Wohlstands) und damit der Übergang des Weins vom Konsum- zum Genussgetränk als 45 nicht nur der Dreißigjährige Krieg, sondern auch spätere(SCHRÖDER 1953:64) 52 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil Ursache dafür angegeben (SCHRÖDER 1953:65, RUPPERT 1960:32). Diesem rückläufigen Trend folgte die Entwicklung des Weinbaus auf der Reichenau aufgrund der hohen Spezialisierung, der Verkehrslage und der ökologischen Gunst (und der damit bedingten qualitativen Eignung des Reichenauer Weins als Genussmittel) jedoch nicht. Vielmehr erfolgte zwischen den Jahren 1707 und 1863 eine erneute Zunahme des Reblandes von etwa 156 ha auf wieder knapp 200 ha, dem Rekordstand von 1492 (vgl. FREUDENBERG 1939, BLENCK 1971:165). Allerdings muss die wirtschaftliche Situation der Reichenauer Weinbauern zunehmend schwieriger, der Weinverkauf immer weniger einträglich geworden sein. Zusätzliche Gründe neben der bereits erwähnten schlechten wirtschaftlichen Gesamtsituation waren Rebschädlinge, wiederholt auftretende Hagelschäden und die Zollschranken der benachbarten Kleinstaaten (vgl. hierzu HOFER 1822, wiedergegeben bei GLÖNKLER 1991:12ff.). Zur Kompensation der zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten begannen die Reichenauer Weinbauern, zwischen ihren Rebreihen zusätzlich grüne Buschbohnen für den Markt anzubauen46. Für andere Gemüsearten war einerseits der Absatzmarkt vor dem Bau der Eisenbahn bereits gesättigt. Andererseits ließ der volle Arbeitskalender des Weinbaus keinen weiteren Gemüseanbau zu. Trotzdem konnten die Bohnen, mit denen sich die Reichenauer etwa zehnmal pro Jahr auf den Konstanzer Markt begaben, bereits einen Zusatzverdienst bedeuten (vgl. BLENCK 1971:166).47 Mit dem traditionellen Erbe des niedergehenden Klosters entwickelten sich auch die Anfänge des Tourismus. So war Mitte des 19. Jahrhunderts mit acht Gasthäusern eine Infrastruktur vorhanden, die über den internen Bedarf der damals knapp 1500 Einwohner zählenden Gemeinde hinausging und die auf den Klostertourismus ausgerichtet war. Die zwei jährlichen Hauptprozessionen zu Ehren der Klosterreliquien, besonders das Heiligblut-Fest jedes Jahr montags nach dem Dreifaltigkeitssonntag, zogen zahlreiche Besucher aus der näheren und weiteren Umgebung an und ermöglichten den Reichenauern ein zusätzliches Geschäft (BLENCK 1971:169; SPICKER-BECK/KELLER 2001:116). So lässt sich mit BLENCK zur Zeit vor 1863 resümieren, dass erstens mit „den Siedlungsformen, den Betriebsgrößenverhältnissen, den Flurformen und der Gewohnheit an intensives, auf die einzelne Pflanze gerichtetes Arbeiten [...] die heutige Kulturlandschaft der Insel Reichenau bereits im Mittelalter grundlegend gestaltet worden“ (1971:163) ist, und dass zweitens „die zwei wichtigsten Wirtschaftszweige der Gegenwart, der Gemüsebau und der Fremdenverkehr, auf der Insel Reichenau bereits kurz vor dem Eisenbahnbau in Ansätzen vorhanden [waren], wenngleich sie sich, der Verkehrssituation entsprechend, noch [weitestgehend, S.D.] auf den Unterseeraum beschränkten“ (1971:169). Dabei ist zu betonen, dass der Weinbau als Sonderkultur als Vorgänger für den Gemüsebau gesehen werden kann und 46 im Sinne einer räumlichen, nicht einer zeitlichen „Zwischenkultur“ nach RUPPERT 1960:21 allerdings betrieben bereits einige Weinbauern in ihren Hausgärten zusätzlich eine Gemüsejungpflanzenaufzucht (vgl. HOFER 1822, bei GLÖNKLER 1991:58) 47 53 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil dass nicht nur die Betriebs- und Flurformen, sondern auch die Praxis der Realteilung, die diese entscheidend prägte, bis heute nachwirkt (INTERVIEW III); und es ist zu ergänzen, dass unter den Reichenauer Bauern durch die Spezialisierung auf den Weinbau bereits im späten Mittelalter bzw. der frühen Neuzeit eine teilweise Marktorientierung vorhanden ist. 5.2 Die ‚erste’ Modernisierung in verschiedenen Phasen Vom Weinbau zum Gemüsebau: Formenwandel bei Funktionskontinuität Mit dem Anschluss an die Eisenbahnlinie Waldshut - Konstanz im Jahr 1863 (in Form des Reichenauer Bahnhofs auf dem Festlandteil der Gemeindegemarkung) begann der wirtschaftliche Niedergang des Weinbaus als Hauptwirtschaftszweig der Reichenau. Nach dem sukzessiven Rückgang ab dem 17. Jahrhundert (s.o.), bezeichnete SCHRÖDER die Verkehrsentwicklung als „die Generalursache für den Rückgang des deutschen Weinbaues überhaupt“ (1953:68). Durch die Erschließung mit der Eisenbahn veränderte sich das bis dahin lange Zeit einigermaßen stabile Gleichgewicht der Märkte. Der Reichenauer Wein trat „in Konkurrenz mit dem durch höhere Sonneneinstrahlung qualitativ wesentlich besseren Elsässer Wein. Damit verlor der Wein der Insel Reichenau seine Stellung als Konsumwein“ (BLENCK 1971:170). Hier tritt also zum ersten Mal in der Geschichte der Reichenauer Sonderkulturen die Situation ein, dass durch die Verkehrserschließung und Markterweiterung eine stärkere Gewichtung der ökologischen Faktoren zwischen einzelnen Anbaugebieten zu tragen kommt und dass die Reichenau durch die neue Konkurrenz von einem Gunstraum zu einem eher ungünstigen Anbaugebiet wird (vgl. S.12). Als Hauptkultur nicht mehr tragbar, vollzog sich zwischen 1863 und 1948 ein Rückgang des Weinbaus, bei dem er durch den Gemüsebau als Hauptkultur ersetzt wurde. Der Gemüsebau stellt auf der Insel Reichenau eine Nachfolgekultur des Weinbaus im Sinne von RUPPERT (1960) dar. „Der einzelne Betrieb, seiner Leitkultur entblößt, muss sich entweder strukturell wandeln, oder er muss im großen und ganzen unter Beibehaltung seiner Struktur eine andere Anbaufrucht an der Stelle des Weinbaues aufnehmen: die Nachfolgekultur“ (RUPPERT 1960:17). Ein struktureller Wandel weg vom Sonderkulturanbau hin zu normalen landwirtschaftlichen Betrieben (Ackerbau, Viehzucht) war auf der Reichenau nicht möglich. Die Betriebsgrößen waren - wie oben ausgeführt - so gering, dass sie für den Weinbau schon vor der Vergrößerung des Marktgebiets an der Untergrenze der Rentabilität lagen. Für die Umstellung auf einen normalen landwirtschaftlichen Betrieb wären aber Mindestbetriebsgrößen nötig gewesen, die die Reichenauer Betriebe als die kleinsten des Unterseeraums nicht aufzuweisen hatte. Durch die Insellage war kein Raum für eine Expansion vorhanden, noch hätten die ärmlichen Betriebe das nötige Kapital dazu gehabt. Auch waren 54 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil die meisten Reichenauer ihrem Selbstverständnis nach noch bis Ende der 1920er Jahre Weinbauern (vgl. FREUDENBERG 1939:17, BLENCK 1971:178ff., GLÖNKLER 1991:36) und wären zu dem Schritt in die normale Landwirtschaft gar nicht bereits gewesen. Blieb also die Möglichkeit der Umstellung auf eine Nachfolgekultur. Entscheidend ist dabei der Aspekt, dass die Nachfolgekultur die Funktion der bisherigen Kultur übernimmt: „Von einer Nachfolgekultur des Weinbaues kann man dann sprechen, wenn eine neue Anbaufrucht die gleiche Steuerwirkung innerhalb eines Betriebes ausübt, wie vorher der Weinbau. Die Kriterien hohe Arbeitsintensität, hoher Geldertrag pro Fläche, ein gewisser spekulativer Charakter und eine Orientierung aller übrigen Kulturen innerhalb des Betriebes nach dieser Anbaufrucht kennzeichnen die Stellung der Nachfolgekultur“ (RUPPERT 1960:20, Hervorhebung im Original). Für die Reichenau mit ihren Kleinstbetrieben kam dabei nur der Gemüsebau in Frage: „Die Nachfolgekultur kann nur im Bereich der Spezialkulturen liegen. Der Gartenbau erlaubt dabei bei uns als einzige Betriebsform eine lebensfähige Betriebsgröße [Ackernahrung, Anm. S.D.], die noch unter der Größe eines Weinbaubetriebs liegt“, insbesondere, wenn eine Spezialisierung auf den Unterglasanbau erfolgt (RUPPERT 1960:19). Für andere Sonderkulturen als Nachfolgekultur, etwa für den Obstbau48, waren die Reichenauer Betriebsflächen bereits zu klein (s. bei BLENCK 1971:182). Der Gemüseanbau brachte dabei neben seiner grundsätzlichen Fähigkeit, den Weinbau sozial- und arbeitsökonomisch zu ersetzen, mehrere Vorteile mit sich. Zunächst einmal ist der Gemüseanbau insofern weniger risikoreich, dass mit ihm mehrere Ernten pro Jahr möglich sind im Gegensatz zu nur einer Ernte im Weinbau und dass durch den teilweisen Unterglasanbau die Witterungsanfälligkeit geringer ist (vgl. GLÖNKLER 1991:45, SPICKER-BECK/KELLER 2001:103f.). Zweitens entstand durch die mit der Industrialisierung wachsenden Städte eine neue Nachfrage nach Gemüse, zu deren Deckung sich der Reichenauer Gemüsebau entwickeln konnte (vgl. SICK 1983:180). Und drittens war die Reichenau nicht „vorbelastet“ wie bereits bestehende Gemüseanbaugebiete und konnte sich einfacher auf das (wegen neuer Konsumgewohnheiten und der Konkurrenz im Grobgemüseanbau durch normale Kleinbauern, vgl. S.12 und 21) rentablere Feingemüse einstellen (BLENCK 1971:179f.). Die oben zitierte Wahl zwischen strukturellem Wandel des Betriebs und Übergang zu einer Nachfolgekultur lässt eine weitere Alternative unerwähnt, nämlich den Ausstieg aus der Landwirtschaft. Dieser stellte mit der aufkommenden Industrialisierung und ihrem Bedarf an Arbeitskräften vielerorts und besonders in dicht besiedelten Sonderkulturgebieten eine Option dar, sodass teilweise sogar rentable Sonderkulturen mit der Rentabilität der Industriearbeit nicht mithalten konnten, letztere also ihrerseits zur „Nachfolgekultur“ wurde (BLENCK 1971:30; dort nach RUPPERT 1957:623). Diese Entwicklung trat auf der Reichenau ebenfalls nicht ein. „Die ungünstigen Verkehrsverhältnisse [...] von der Insel Reichenau zum Bodan48 wie er sonst vielerorts im Bodenseeraum an die Stelle des Weinbaus trat, vgl. HÄRLE (1964) 55 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil ruck49 hemmten die tägliche Pendelwanderung in die Industrie von Konstanz und RadolfzellSingen. Bis 1924 waren auch die Arbeitsmöglichkeiten in der Industrie nicht sehr groß, nach 1924 brachte dann der Gemüsebau einen Ertrag, der die Reichenauer auf ihrem Hof bleiben ließ. Von 1929 bis 1933 war durch die Massenarbeitslosigkeit der Arbeitssuche in der Industrie wieder ein Riegel vorgeschoben“ (BLENCK 1971:184; auch 177). Wie sehr historische Diskontinuitäten und Individualitäten die Entwicklung prägen können, zeigt in diesem Zusammenhang der geplante Anschluss der Insel an das Straßenbahnnetz der Stadt Konstanz: Dieser war 1913 beschlossene Sache. Die Gemeinde hatte diese Anbindung an die Straßenbahn gegenüber dem ebenfalls zur Wahl stehenden Bau einer Trinkwasserversorgung für die ganze Insel bevorzugt. Letztere wäre nicht nur für die Versorgung der Bewohner, sondern zum Ausgleich eines Standortnachteils des Gemüsebaus (und des Tourismus), nämlich der sommerlichen Wasserknappheit auf der Reichenau, wichtig gewesen (BLENCK 1971:177, GLÖNKLER 1991:78f.). Der erste Weltkrieg verhinderte dann die Umsetzung dieses Beschlusses. Wäre sie erfolgt, hätte sich das Verhältnis von Gemüsebau und Einfluss der Industriearbeit als „Nachfolgekultur“ (s.o.) für den Weinbau leichter zugunsten des letzteren entwickeln können (INTERVIEW VII). Nach BLENCK vollzog sich der Wandel zur Nachfolgekultur Gemüsebau zwischen 1863 und 1948 in fünf verschiedenen Stufen (1971:158f.): das (1) Ausgangsstadium, das (2) Auslösungsstadium, das (3) Stadium des sozialen Statuswechsel, das (4) Konsolidierungsstadium und das (5) Spezialisierungsstadium. (1) Das Ausgangsstadium wurde bereits skizziert: Datiert bis 1863, dem Zeitpunkt des Eisenbahnbaus, existiert in dieser Phase die künftige Nachfolgekultur bereits „im Gesichtskreis der Landwirte“ (BLENCK 1971:158, nach RUPPERT 1960:17). (2) Mit dem Anschluss ans Eisenbahnnetz und dem damit verbundenen Eintritt in ein erweitertes Marktgebiet wurde der Niedergang des Weinbaus auf der Reichenau ausgelöst. „Die Nachfolgekultur gewinnt langsam an wirtschaftlicher Bedeutung infolge sinkender Rentabilität bei der Hauptkultur“ (BLENCK 1971:158). In dieser von 1863 bis 1918 datierten Phase behält der Weinbau aber noch den Status der Hauptkultur. In einer ersten Phase (bis 1890) erfolgt vor allem eine Intensivierung des Anbaus der Buschbohnen als Zwischenkultur50, in einer zweiten Phase (bis 1914 bzw. 1918) erfolgt dann auch eine erste Ausbreitung von reinem Gemüsebauland auf Kosten von Rebland (BLENCK 1971:157f., 170f.)51. Der Vertrieb des Gemüses erfolgte anfangs per Schiff, 1885 erhielt dann der Reichenauer Bahnhof auch eine Güterstation als zusätzlichen Vertriebsweg (BLENCK 1971:174; s. auch SICK 1983:180). Insbesondere durch den Bahnversand ließ sich die relative Markt-/Großstadtferne kompensieren. Im Anbau dominierten durchweg die Buschbohnen, es kamen daneben aber weitere 49 Festlandteil zwischen Gnadensee und Überlingersee (ebenfalls Drumlinlandschaft) räumlich (zwischen den Rebzeilen), nicht zeitlich zu verstehen 51 1893 etwa 5 ha Gemüseland, 1913 37 ha, 1918 25 ha (s. bei BLENCK 1971:173) 50 56 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil Gemüsearten ins Sortiment, so vor allem Salat, Kraut, Grüne Erbsen und Zwiebeln (BLENCK 1971:173). Im Durchschnitt lag der Anteil des Gemüseverkaufs an den Gesamteinnahmen der Bauern vor Ausbruch des ersten Weltkriegs bereits bei 35% (mit Spitzenwerten bis zu 60%), die meisten Reichenauer sahen sich aber nach wie vor als Rebbauern (BLENCK 1971:178). (3) „In der Zeit der Weimarer Republik löst der Gemüsebau auf der Insel Reichenau den Weinbau als Hauptkultur ab“ (BLENCK 1971:178), aus „der Weinbaugemeinde wird eine Gemüsebaugemeinde“ (BLENCK 1971:158). BLENCK unterscheidet dabei zwischen einer finanziellen (die Rentabilität betreffenden), einer arbeitsökonomischen und einer ideologischen Ablösung (1971:179). Was die Rentabilität des Gemüsebaus angeht, so hatte dieser den Weinbau in manchen Jahren bereits vor dem ersten Weltkrieg überholt, gerade wenn man die jeweils aufgewendeten Arbeitszeiten ins Verhältnis setzt (BLENCK 1971:179). „Arbeitsökonomisch und auch räumlich“ datiert BLENCK den Vollzug des Übergangs auf die konjunkturell guten Jahre 1925-1927: Von da an dominierte der Gemüsebau in der aufgewendeten Arbeitszeit sowie in der mit Sonderkultur bebauten Fläche (1971:179; siehe auch Abb. 5). ‚Ideologisch’, besser wäre wohl: im Bewusstsein und Selbstverständnis der Bauern, wurde der Wandel nach dem harten Winter 1928/29 vollzogen, als ein Totalfrost sämtliche Reben zerstörte. Lange noch sprach man von einer „fast schlagartige[n] Umstellung“ (vgl. GLÖNKLER 1991:36, auch BLENCK 1971:179). Selbst während meiner Feldforschung wurde mir diese Mär nochmals aufgetischt (INTERVIEW I). Abb. 5: Gemeinde Reichenau: Das Verhältnis von Rebland, Gemüseland und Ackerland 1865 bis 1965, erstellt von BLENCK (1971:157) 57 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil In diese Zeit des Statuswechsels fallen zum einen die ersten kleinen Technisierungs- und Professionalisierungsschritte. Besonders erwähnenswert sind die ersten kleinen Gewächshausbauten, die ab 1926 entstanden (GLÖNKLER 1991:67f.). Interessant ist daran, dass die Pioniere des professionellen Gartenbaus keine Rebbauern waren, sondern ein Schreiner, ein Schlosser und eine Fischer52, und dass deren Innovationen durch Außenkontakte zu anderen Gemüsebaugebieten zustande kamen: „Die Kenntnisse für das Kultivieren der Pflanzen nahmen sie aus dem gärtnerischen Lehrbuch. Anregungen und Erfahrungen für den Gewächshausbau aber holten sie sich in Heidelberg, in Mainz und am Niederrhein (Straelen53), wo sie wiederholt mit dem ortsansässigen Schlossermeister Josef Wieser hinfuhren. Sie bauten nun aber nicht die dortige Bauweise nach (aufgelegte Frühbeetfenster auf eine Holz- oder Eisenkonstruktion), sondern sie entwickelten zusammen eine eigene Konstruktion mit aufgeschraubten Fenstern als stabiles Haus“ (GLÖNKLER 1991:68). Diese stabilere Bauweise kann man auch als Anpassung an die lokalen Gegebenheiten interpretieren, da hier mit einer stärkeren Schneebelastung als in den tiefergelegenen Anbaugebieten gerechnet werden muss (vgl. BLENCK 1971:237). Die Bedeutung von Außenkontakten bzw. die Kenntnis anderer Anbaugebiete sowie die Bildung (wenn diese auch nicht mehr aus dem Lehrbuch, sondern durch eine formalisierte Ausbildung erworben wird), spielen heute bei Neuerungen sowohl im Intensivierungs- als auch im Ökologisierungsbereich immer noch eine Rolle: so erwies sich bei meiner Feldforschung, dass die Befragten ‚Innovativen’ (INTERVIEW s III, IX, X) stets über beides verfügten. Erste Motorisierungsschritte durch die Anschaffung von Motorfräsen erfolgten ab 1927 (BLENCK 1971:182, auch GLÖNKLER 1991:69). Einige Gemüsebauern schlossen sich zu Gruppenwasserversorgungen mittels Pumpbetrieb zusammen (GLÖNKLER 1991:69,79). Auf Seiten der Vermarktung wurden 1926/1927 von den Händlern die ersten LKWs angeschafft, mit denen sie das Gemüse nun leichter aufs Festland schaffen konnten (GLÖNKLER 1991:67). Die Gemüsehändler der damaligen Zeit können der dörflichen Oberschicht zugerechnet werden (INTERVIEW VII). 1927 organisierte sich in Oberzell eine erste Absatzgenossenschaft für Gemüse, die aber unter Druck der Nationalsozialisten 1938 wieder aufgelöst wurde (GLÖNKLER 1991:64,250ff.). Zum anderen wurden bereits 1926 die Nachteile der Flurzersplitterung für den Gemüsebau erkannt und Gedanken zu einer erforderlichen Flurbereinigung geäußert, da der Gemüsebau im Vergleich zum Weinbau breitere und somit nicht vorhandene Zufahrtwege zum Abtransport benötigte (s. bei BLENCK 1971:182, bei GLÖNKLER 1991:69). Das Spektrum der angebauten Gemüsearten wurde zunehmend breiter. Auch wenn die grünen Bohnen nach wie vor das Hauptprodukt darstellten, verloren sie doch an relativem Ge52 nicht nur die Rentabilität des Weinbaus, auch die des Fischfangs war stark zurückgegangen, schon damals lebten nur noch wenige ausschließlich vom Fischen (vgl. BLENCK 1971:181) 53 vgl. zu Straelen PANHUYSEN (1961) 58 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil wicht. Zwar waren die Anbauschwerpunkte noch andere, aber es waren bereits die meisten Gemüsearten vorzufinden, die noch heute angebaut werden. Das Sortiment entsprach (von vornherein) den Ansprüchen des Marktes. Die Gesamtanbaufläche für Gemüse wuchs bis 1932 auf 82 ha an. Sie vergrößerte sich nahezu ausschließlich auf Kosten des Reb- und kaum auf Kosten des Ackerlandes (vgl. BLENCK 1971:180f.). (4) „Das Stadium der Konsolidierung der Nachfolgekultur [...] fällt in eine Zeit, die durch starke Eingriffe des Staates in die Wirtschaft gekennzeichnet ist“ (BLENCK 1971:184). Die Nationalsozialisten setzten 1933 die bereits 1929 im Zuge der Wirtschaftskrise eingeleitete protektionistische Wirtschaftspolitik fort und funktionierten diese von einer vorübergehend gedachten Maßnahme in die Kriegsernährungswirtschaft um. „Die totale Bewirtschaftung der Agrarerzeugnisse wurde nach dem Krieg bis zum 20. Juni 1948, dem Tag der Währungsreform beibehalten“ (BLENCK 1971:185). In diesem, wenn auch bedenklichen, geschützten Rahmen konsolidierte sich der Gemüsebau, ohne einer weiteren Integration in größere Märkte und damit stärkerer Konkurrenz ausgesetzt zu sein. In diese totalitäre Zeit fallen verschiedenste Maßnahmen, die zur Festigung des Gemüsebaus auf der Insel Reichenau beitrugen. 1933 erfolgte der Bau der bereits vor dem ersten Weltkrieg einmal zur Disposition stehenden Trinkwasserversorgung auf der Insel in Form eines Brunnens, aus dem das Wasser in einen Hochbehälter auf der Hochwart gepumpt wurde (GLÖNKLER 1991:79,167). Durch diese konnte zusammen mit den bereits bestehenden privaten, oft gemeinschaftlich organisierten Versorgungen über Pumpanlagen Gemüseland in Hausnähe bewässert werden, dies waren insgesamt etwa 30 ha (BLENCK 1971:189). Durch die Beregnung verstärkte sich die Auswaschung der Böden und es musste verstärkt gedüngt werden, wobei die Reichenauer nicht genügend eigenes Vieh dafür hatten und auf den Zukauf von Stallmist angewiesen waren (BLENCK 1971:190, GLÖNKLER 1991:78). Die Motorisierung und die Unterglasflächen nahmen zu (vgl. BLENCK 1971:190f.). Die Abteilung Gemüsebau, die ab 1938 von oben verordnet den Vertrieb des Gemüses übernahm (womit sich auch die oben erwähnte, zwangsweise Auflösung der ersten Gemüsegenossenschaft verbindet), nahm bei der Festigung und Entwicklung des Gemüsebaus Einfluss. Sie zwang sieben der vierzehn vorhandenen Gemüsegroßhändler zur Aufgabe und sorgte so für einen ersten Konzentrationsschritt auf der Abnehmerseite (GLÖNKLER 1991:76). Sie eröffnete eine Fachbücherei, verwirklichte Ansätze einer Berufsausbildung (wobei allerdings bereits Ende der 1920er Jahre einige Gärtner eine Lehre absolviert hatten), organisierte Vorträge von Gemüsebaufachleuten, legte Versuchsfelder an, mithilfe derer ökologisch angepasste Sorten ermittelt und daraufhin als einheitliches Sortiment etabliert wurden, und führte einheitliche Verpackungen ein, wovon die Abnehmerseite durch bessere Handhabbarkeit profitierte (BLENCK 1971:193, GLÖNKLER 1991:80f.). Eine vorgesehene Flurbereinigung wurde wegen des Kriegs nicht mehr durchgeführt (BLENCK 59 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil 1971:191).54 Die Gemüsebaufläche wuchs weiter auf Kosten des Reblandes und ab 1938 auch auf Kosten des Ackerlandes auf insgesamt 130 ha im Jahr 1943 an (BLENCK 1971:193). Durch die politische Begrenzung des Marktgebiets war der Anbau geprägt durch eine Ausrichtung auf Frühgemüse mit einem entsprechenden Ernteschwerpunkt im April und Mai, da keine große Konkurrenz mit höherer frühjährlicher Klimagunst auf dem Markt war (BLENCK 1971:199f.). Ab dieser Zeit fiel die Schweiz als Absatzgebiet weg, ein Umstand, der bis heute anhält. Allerdings wirkte sich dies während des Dritten Reichs aufgrund des Protektionismus nicht sonderlich negativ auf die Reichenau aus (BLENCK 1971:201f.). Trotz dieser ‚konsolidierenden’ Schritte war der Gemüsebau auf der Insel Reichenau nach dieser von Protektionismus und Diktatur geprägten Phase noch wenig intensiviert und gerade bezogen auf die in der Folgezeit gefragte internationale Wettbewerbsfähigkeit noch in den Kinderschuhen. Bevor nun das Spezialisierungsstadium (5), das im weitesten Sinne bis heute andauert, näher betrachtet wird, soll dieser geringe Intensivierungs- und Spezialisierungsgrad nach Ende der ‚Konsolidierungsphase’ deutlich gemacht werden und ein erstes Resümee gezogen werden. Die aufgeführten Anfänge von Beregnung, Glashäusern, Motorisierung und Spezialisierung sind bis zum Abschluss der ‚Konsolidierungsphase’ zwar rein qualitativ in Erscheinung getreten, fallen aber in der Quantität ihres Auftretens noch gering aus. Mit den etwa 30 ha bewässerbaren Gemüselands konnte nur knapp ein Viertel der gesamten damaligen Gemüsefläche (ca. 130 ha) beregnet werden. Für einen intensiven gärtnerischen Gemüsebau war dies angesichts der immer wieder auftauchenden Wasserknappheit noch deutlich zu wenig (vgl. BLENCK 1971:189). Der für die Intensivierung wichtige Unterglasanbau hatte trotz beachtlicher Zuwächse über die Jahre hinweg 1943 einen Anteil an der Gemüsefläche von unter 3%, an der zunehmenden Motorisierung hatte lediglich etwa ein Viertel der Betriebe Anteil (vgl. BLENCK 1971:190). Das Ackerland und die Viehbestände hatten kaum abgenommen, das heißt, die Reichenauer Betriebe hatten sich noch nicht absolut auf den Gemüsebau spezialisiert, sondern führten parallel noch weitere Betriebszweige (vor allem als Subsistenzwirtschaft).55 An der Entwicklung der Betriebszahlen schließlich lässt sich verdeutlichen, dass beim Übergang vom Weinbau auf den Gemüsebau so gut wie keine Konzentration stattgefunden hat. Der bereits erwähnte Text von HOFER aus den 1820er Jahren berichtet von 295 Familien auf der Reichenau (1822, bei GLÖNKLER 1991:14), bei denen man davon ausgehen kann, dass die meisten von ihnen auch in der Landwirtschaft tätig waren. Für die Insel ist bis 1948 ein 54 Trotz gewisser Parallelen ist der Bezeichnung von BLENCK (1971:188), die Abteilung Gemüsebau sei genossenschaftsähnlich gewesen, sicherlich problematisch und nicht zu übernehmen. 55 Zudem hatten Kriegsfolgen auch den Gemüsebau getroffen, wobei besonders die vorübergehende Evakuierung der Inselbevölkerung durch die französische Besatzung 1945 Erwähnung findet (GLÖNKLER 87ff., BLENCK 1971:193). 60 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil nur geringes Bevölkerungswachstum zu verzeichnen (vgl. BLENCK 1971:168). Zieht man die von BLENCK (1971:172,180,182,214) aufgeführten Statistiken heran, so hielt sich die Anzahl der Betriebe während der ganzen Übergangsphase bei etwa 300 Stück (1925: 333 Stück, 1932: 320 Stück, 1939: 291 Stück, 1943: 302 Stück). Dem Einwand von GLÖNKLER (1991:71) folgend, dass BLENCK alle Betriebe, selbst die Kleinstbetriebe „mit nur wenigen ar Anbau für den Verkauf“ mitzählte, bleiben bei der differenzierten Aufführung der 302 Betriebe von 1943 immer noch 225 Stück übrig, wenn man nur die Haupterwerbsbetriebe56 berücksichtigt. Kleingartenbetriebe sind von den 302 nur 12 (BLENCK 1971:214). Im Jahr 1946 waren immer noch 62,5% der Reichenauer Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig (BLENCK 1971:218). Diese Zahlen machen klar ersichtlich, dass der Gemüsebau als Nachfolger des Weinbaus tatsächlich dessen Funktion im Großen und Ganzen übernehmen konnte. Die kleinen Sonderkulturbetriebe mit dem bezogen auf die Fläche hohen Arbeitskräftebesatz konnten sich weitestgehend erhalten. Auf der Reichenau fanden durch den Wandel vom Wein- zum Gemüsebau, verbunden mit langen Jahren des wirtschaftpolitischen Protektionismus zunächst keine der für die Modernisierung der Landwirtschaft typischen Konzentrations- und Strukturwandlungsprozesse statt, die ohne diesen Wandel in welcher Form auch immer, aber doch mit Sicherheit eingetreten wären. Auf der Reichenau hat also ein Formenwandel (vom Wein- zum Gemüsebau) bei Funktionskontinuität (arbeitsintensive kleine Sonderkulturbetriebe) stattgefunden, durch den die für die Reichenau typische (traditionelle) landwirtschaftliche und landschaftliche Struktur erhalten werden konnte. Der Tourismus entwickelte sich während der Umstellungszeit vom Wein- auf den Gemüsebau ebenfalls weiter. Vor dem ersten Weltkrieg war auf der Insel Reichenau eine Malerkolonie entstanden (BLENCK 1971:177). Nach dem ersten Weltkrieg stiegen die Zahlen der Übernachtungen kontinuierlich an auf durchschnittlich über 2000 pro Jahr. Einen Höhepunkt stellte das 1925 gefeierte 1200-jährige Klosterjubiläum dar, zu dem Zehntausende gekommen sein sollen. Es gab 1930 nicht nur vier Gaststätten und 14 Pensionen, auch private Zimmer wurden vermietet. Neben dem Kloster bzw. den Kirchen war auch der Wassersport auf dem Bodensee eine Attraktion. Ein nachteiliger Faktor für den Tourismus war die fehlende Trinkwasserversorgung, die besonders im Sommer zu Wasserengpässen und hygienischen Problemen führte (vgl. hierzu BLENCK 1971:183f.). Während des Dritten Reichs wurde der Tourismus systematisch gefördert, da die Reichenau Ziel von Kraft-durch-Freude-Reisen war (BLENCK 1971:217).57 56 im Sinne der heutigen Definition von Haupterwerbsbetrieb als Überbegriff von Voll- und Zuerwerbsbetrieben; BLENCK selbst verwendet den Begriff Haupterwerbsbetrieb im heutigen Sinne von Vollerwerbsbetrieb (1971:70), vgl. die Begriffsklärung im Glossar 57 weitere damalige Erwerbsmöglichkeiten auf der Reichenau s. bei BLENCK (1971:217) 61 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil Strukturwandel: Konzentration, Spezialisierung, Behauptung des Standorts (5) Mit der Währungsreform begann 1948 das ‚Spezialisierungsstadium’. Diese Reform war jedoch nur ein erster Schritt eines Marktintegrationsprozesses, dem weitere folgten, vor allem mit der EWG und den dieser folgenden Erweiterungsschritten. Also zum zweiten Mal in der Geschichte des Sonderkulturbaus der Insel Reichenau kam es dazu, dass das Anbaugebiet infolge einer Marktvergrößerung, in diesem Fall der schrittweise Europäisierung und Globalisierung des Marktes, mit ökologisch (vor allem klimatisch) und auch strukturell besser gestellten Anbaugebieten in Konkurrenz trat (vor allem Holland und Südeuropa) und somit relativ noch mehr Ungunstraum wurde. Dieses Mal stand keine mögliche Nachfolgekultur zu Verfügung. Was durch Formenwandel bei Funktionskontinuität und durch Protektionismus einst vermieden werden konnte, sollte nun beginnen. Die Ausgangssituation war vergleichbar schwierig wie 1863 für den Weinbau: Neben der nun relativen ökologischen Ungunst waren die Betriebsgrößen zu klein und kaum überlebensfähig, ein Umstand, der durch den hohen Zersplitterungsgrad der Parzellen noch verstärkt wurde. Die Gemüsebaubetriebe waren zudem mit ihren mangelhaften Bewässerungsmöglichkeiten und ihrem geringer Technisierungs- bzw. Intensivierungsgrad schlecht aufgestellt. Während am Klima nicht viel zu ändern war58, lagen in den Betriebsstrukturen und im geringen Modernisierungsgrad des Gemüsebaus ‚Rationalisierungsreserven’, durch deren Ausschöpfung der Standort Reichenau für Gemüsebau wettbewerbsfähiger gemacht werden konnte. Mangels einer Nachfolgekultur im funktionalen Sinne waren also strukturelle Veränderungen in Form von Konzentrationsprozessen und in Form des Ausstiegs aus der Landwirtschaft zu erwarten (s.o.). Beide Strukturwandlungen sind eingetreten bzw. bis zum heutigen Tage im Gange. Dies wird im Folgenden gezeigt und hinsichtlich der einzelnen Aspekte der Modernisierung der Landwirtschaft (zunehmende Marktintegration, Veränderung der Konkurrenz und Anbaustruktur, Spezialisierungen, zunehmende Konzentration der Betriebe, zunehmende Bedeutung von Zulieferern und Absatzhandel, abnehmendes Gewicht bzw. schwierigere Rolle gemeinschaftlicher Institutionen, zunehmende Technisierung, abnehmendes Gewicht des landwirtschaftlichen Sektors, zunehmende Zweckrationalität, zunehmende Lebensalternativen außerhalb der Landwirtschaft; s.o.) differenziert betrachtet. Die zunehmende Marktintegration mit der damit verbundenen erschwerten Konkurrenzsituation wurde bereits erwähnt und bedarf an dieser Stelle nur einer weiteren Erläuterung. Nicht nur wurde der Markt durch die Wirtschaftspolitik der europäischen Staaten immer weiter vergrößert. Parallel dazu fand eine weitere Herabsetzung der Transportkosten statt. Zum einen wurden die Eisenbahntransporte billiger, vor allem aber entwickelte sich der LKW-Verkehr 58 zumindest nicht systematisch 62 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil zum Haupttransportmittel für Güter und damit auch für Gemüse (vgl. BLENCK 1971:219). Es verschob sich also weiter das Gewicht von den Transportkosten hin zu den Produktionskosten, was die ökologischen Standortfaktoren im Sonderkulturanbau und damit die Reichenauer Ungunst nochmals nuancierte. Hier nun macht sich der politische Wegfall von Absatzgebieten, die als solche durch räumliche Nähe eigentlich prädestiniert wären, negativ bemerkbar. Dies ist bei der Reichenau bis heute direkt die Schweiz, indirekt hat aber auch beispielsweise das Abschneiden des Gemüsebaugebiets Kitzingen-Bamberg von seinen in der entstehenden DDR liegenden Absatzgebieten den Druck auf den für die Reichenau bedeutenden bayrischen Markt (Nürnberg, für die Reichenau vor allem München) erhöht (BLENCK 1971:224). Die Folgen dieser veränderten Rahmenbedingungen lassen sich auf Ebene der Konzentration der Betriebe, der Anbaustruktur und der zunehmenden Spezialisierungen für die Reichenau leicht anhand einiger Zahlen zu den vergangenen Jahrzehnten anschaulich machen. Ausgehend von den 290 Betrieben59 (225 Haupterwerbsbetriebe) aus dem Jahr 1943 nahm die Zahl der Betriebe bis heute immer weiter ab. 1965 waren es immerhin noch 278 Betriebe60 (205 Haupterwerbsbetriebe); hier begann sich die Einführung des gemeinsamen europäischen Marktes allerdings gerade erst auszuwirken und es konnten noch innerbetriebliche Rationalisierungsreserven61 ausgeschöpft werden (BLENCK 1971:73, 299). Heute sind es nunmehr nur noch etwa 140 Betriebe (90 Haupterwerbsbetriebe). Für die Zukunft wird es voraussichtlich weiter weniger und dafür größere Betriebe geben (INTERVIEW II). Die Zahl der Betriebe hat sich also seit den 1940er Jahren mehr als halbiert. Abb. 6: Viehbestand der Insel Reichenau von 1948 bis 1967, erstellt von BLENCK (1971:250) 59 ohne die 12 Kleingartenbetriebe ohne nun 19 Kleingartenbetriebe 61 vor allem Spezialisierung durch Abschaffung anderer Betriebszweige (BLENCK 1971:252), s.u. 60 63 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil Die Anbaufläche für Gemüse hat in derselben Zeit stark zugenommen. Hier ist zu unterscheiden zwischen der Entwicklung der Gesamtfläche und der Entwicklung der Unterglasfläche. Die Gesamtanbaufläche nahm bis Anfang der 1970er Jahre von 130 ha (1943) auf etwa 300 ha zu (GLÖNKLER 1991:117). Diese Entwicklung spiegelt vor allem die Aufgabe des Ackerlands (Aufgabe der Selbstversorgung) als ein Ausdruck der nun erfolgenden ausschließlichen Spezialisierung auf den Gemüsebau wieder (BLENCK 1971:248f.). Weiterer Ausdruck dieser Spezialisierungstendenz sind die ‚fast schlagartige’ Aufgabe fast des gesamten Rindviehbestands in den 1960er Jahren (s. Abb. 6 und die gleichzeitige überdurchschnittliche Zunahme derjenigen Haupterwerbsbetriebe, die sich hauptsächlich auf Gemüsebau Unterglas beschränkten und damit die rentabelste Betriebsform wählten (BLENCK 1971:250,280,307). Dadurch vergrößerte sich auch die Außenverflechtung, da von nun an aller Stallmist zur Düngung von außerhalb bezogen werden musste, was heute aber meist durch beim Naturschutz anfallendes Schilfgras ersetzt ist (INTERVIEW s I, XI). Ab Mitte der 1970er Jahre ist die Gesamtfläche des Gemüsebaus wieder rückläufig. Sie ist heute mit 160 ha beinahe wieder bei dem Wert von 1943 angelangt. Diese Entwicklung lässt sich nur verstehen, wenn man das Wachstum der Unterglasflächen berücksichtigt. Diese sind bis zum heutigen Tage kontinuierlich von 1,4 ha (1943) auf etwa 40 ha angewachsen (RAIFFEISENLAGERHAUS EG 1997:28f., GLÖNKLER 1997:9). Es findet also zunehmend eine Verlagerung auf den um ein Vielfaches produktiveren und arbeitsintensiveren Unterglasanbau auf Kosten des Freilandanbaus statt, ein Zeichen für die zunehmende Intensivierung des Reichenauer Gemüsebaus. Hält man die notwendige Trennung von Gesamtfläche und Unterglasfläche aufrecht, so resultiert aus der Flächensteigerung und der Abnahme der Betriebszahlen eine immer weiter schreitende Vergrößerung der durchschnittlichen Betriebsgrößen. Die Intensivierung des Anbaus kommt auch bei der Entwicklung der Erntemengen zum Ausdruck. So konnte die Gemüsegesamtproduktion von knapp 6.000 Tonnen (1943)62 auf nunmehr regelmäßig über 15.000 Tonnen (2007: 16.000 Tonnen, vgl. ZOCH 2007b) gesteigert werden. Ein Wandel des Anbauschwerpunkts weg vom Frühgemüse hin zu einer gleichmäßigeren Verteilung im Jahresverlauf lässt sich an der Entwicklung der Anteile der einzelnen Monate am Gesamtjahresumsatz der Genossenschaft in Abb. 7 ablesen (GLÖNKLER 1991:125). Diese Angleichung entspricht der neuen Konkurrenzsituation, in der die Reichenau kein Frühgemüsegebiet im klassischen Sinne mehr darstellt (BLENCK 1971:269), den ausgeglicheneren Anbaumöglichkeiten im Unterglasanbau, der Verbreiterung des Sortiments und vor allem auch den Anforderungen der Kunden bzw. des Handels nach ganzjähriger Belieferung. Bezüglich des Marktanteils schließlich betonen die Reichenauer Gemüsebauern bzw. deren Genossenschaft gerne, dass dieser stets gehalten werden konnte, dass nämlich die Produktions62 vgl. z.B. bei GLÖNKLER (1997:10) 64 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil steigerungen der Reichenau prozentual immer ungefähr dem Zuwachs an Gemüseeinfuhr in die BRD entsprochen haben (REICHENAUGEMÜSE EG 2006b). Diese wenigen, sozusagen ‚makroökonomischen’ Bilanzen des Reichenauer Gemüsebaus geben den Kern der Entwicklung seit 1948 wieder, die man unter den Begriffen Strukturwandel, Konzentration und Intensivierung, aber auch Behauptung des Standorts gut zusammenfassen kann. Abb. 7: Gemüseumsatz nach Monaten in % des Jahresumsatzes für die Jahre 1958, 1973 und 1988, erstellt von GLÖNKLER (1991:125) Bei der Frage, wie sich dieser Wandlungsprozess nun im Detail vollzog und wie er dabei von den beteiligten Akteuren auch gestaltet werden konnte und gestaltet wurde, soll nun die Unterscheidung erfolgen zwischen der Ebene des Gemüsestandortes Insel Reichenau, dessen Interessen durch die Genossenschaft vertreten werden, und der einzelbetrieblichen Ebene. Diese Unterscheidung wird auch im aktuellen Teil dieser Arbeit von Bedeutung sein. Unter Federführung der Reichenauer Gemüsegenossenschaft63 sind seit 1948 vor allem drei zentrale Maßnahmen durchgesetzt worden, die den Standort Insel Reichenau für den Gemüsebau betreffen und dessen Standortfaktoren nachhaltig verbessert haben. Diese Maßnahmen sind im Einzelnen (1)der vollständige Ausbau der Bewässerung, (2)die Durchfüh- 63 Im Folgenden wird der Einfachheit halber von der Genossenschaft gesprochen, wenn die Unterscheidung in eine der drei Partnerunternehmen Gemüse eG, Raiffeisen eG und Vertriebs eG inhaltlich nicht relevant ist. Zu dieser Unterscheidung s. Kapitel 4.3. 65 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil rung einer inselweiten Flurbereinigung in den 1970er Jahren und (3)die Zentralisierung der Vermarktung Mitte der 1990er Jahre. (1) Die Genossenschaft übernahm 1948 die Abteilung Gemüsebau von der Gemeindeverwaltung (GLÖNKLER 1991:226). Die Vereinigung der Gemüsebauern ging also von einer totalitären in eine demokratische Organisationsform über, die Mitgliedschaft war freiwillig, etwa 97% der Gemüsebauern hatten den Willen dazu. Die Ziele der Genossenschaft können von da ab als den heutigen im Grunde entsprechend angesehen werden. Um das Ziel zu erreichen, den Gemüsebau mit seinen familiären Betrieben zu erhalten, wurde als erste wesentliche Maßnahme ab 1950 die Beregnung ausgebaut. Die Ausbaumaßnahmen erfolgten in acht Bauabschnitten im Zeitraum von 1950-1971, es entstanden dabei nach und nach vier Pumpwerke, die das Wasser dem See entnehmen, und ein immer längeres, heute über 60km messendes Rohrleitungsnetz (vgl. GLÖNKLER 1991:166ff.). Bei der anschließend ab 1973 durchgeführten Flurbereinigung mussten dann nochmals (bis 1981) enorme Änderungsarbeiten, vor allem am Leitungsnetz zur Anpassung an die neuen Flurformen bzw. Wegeläufe erfolgen (GLÖNKLER 1991:181ff.). Einige Aspekte beim Ausbau der Beregnung sind bemerkenswert. Erstens verwundert den außenstehenden Betrachter, warum zuerst der Ausbau der Beregnung, und dann erst die Flurbereinigung umgesetzt wurde, wo doch andersherum die sehr kostspieligen Änderungen erspart geblieben wären. Dass zur Verbesserung des Standorts die Bewässerung ausgebaut werden und eine Flurbereinigung durchgeführt werden müsste, war den Verantwortlichen der Genossenschaft bereits Ende der 1940er Jahre klar. Allerdings konnten nun nicht, wie es die Praxis der Abteilung Gemüsebau während der Diktatur gewesen wäre, die Strukturmaßnahmen von oben herab befohlen und durchgesetzt werden, vielmehr mussten jedes Mal die Genossenschaftsmitglieder überzeugt werden. Angesichts der Interessenlage Anfang der 1950er Jahre war den Planern der Beregnung 1952 „aber klar, dass man zu diesem Zeitpunkt absolut nicht von einer Flurbereinigung reden durfte. Hätte man dies trotzdem ernsthaft getan, so wäre Mit ziemlicher Sicherheit der weitere Ausbau der nun mal begonnenen Beregnungsanlagen nicht nur ins Stocken geraten, sondern für lange Zeit wieder »gestorben«“ (GLÖNKLER 1991:150). Auf die Ablehnungsgründe der Flurbereinigung wird unten zurückzukommen sein. Bezüglich der Beregnung an sich war anfangs bereits Überzeugungsarbeit zu leisten, besonders die älteren Gemüsebauern waren von deren Notwendigkeit nicht überzeugt. Neben Informationsarbeit seitens der Genossenschaft half vor allem ein trockener Sommer 1952, nachdem das regenreiche Jahr 1951 noch die Kritiker genährt hatte (GLÖNKLER 1991:172). Zweitens erklärt sich die hohe Dauer der Ausbauphase von über zwei Jahrzehnten durch den immer weiter steigenden Wasserbedarf. Waren es ausgangs um die 130 ha, die zu drei 66 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil Vierteln noch nicht bewässert werden konnten, so stieg die Gemüsebaufläche ja weiter an. Mit dem zunehmenden Unterglasanbau wuchs der Wasserbedarf noch weiter, da im Gewächshaus aller ‚Niederschlag’ Bewässerungswasser ist, während im Freiland nur die Differenz aus Gesamtbedarf und natürlichem Niederschlag künstlich zugeführt werden muss. Entsprechend werden seit 1957 Unterglasflächen auch mit einem doppelt so hohem Bewässerungspreis versehen als Freiland64. Drittens kann der Ausbau der Beregnung als eine für die meisten65 unmittelbar erfahrbare Gemeinschaftsleistung angesehen werden. In den Bauabschnitten I bis einschließlich IV, und damit etwa die Hälfte aller bis 1971 erforderlichen „Rohrgräben bzw. Erdarbeiten wurden von den Mitgliedern [der Genossenschaft, S.D.] unentgeltlich ausgeführt, wodurch mehrere hunderttausend Mark eingespart werden konnten“ (GLÖNKLER 1991:180f.). Erst ab 1962 wurden dann Maschinen zum Graben verwendet (GLÖNKLER 1991:187). Dass dies nicht nur ein vertraglich festgelegter Pflichtbeitrag der Genossenschaftsmitglieder war, sondern dass dieser Beitrag auch als eine Gemeinschaftsleistung empfunden wurde und wird und damit sicherlich zur Stärkung der genossenschaftlichen Gemeinschaft beigetragen hat, wurde mir bei zwei Interviews mit Zeitzeugen ausführlich geschildert (INTERVIEW s V, VII). Der spürbare Erfolg der immer weiter reichenden und abschließend flächendeckenden Beregnung trägt gewiss dazu bei, dass dies66 von den damals Beteiligten67 so empfunden. Somit wurde mit einer Gemeinschaftsmaßname, deren Finanzierung auch einen hohen Anteil an staatlichen Förderungen erhielt (vgl. GLÖNKLER 1991:166ff.), einer der wenigen heutigen Standortvorteile der Insel Reichenau geschaffen, nämlich eine ständig verfügbare, günstige, qualitativ hochwertige68 Wasserversorgung, wie sie für eine Insel in einem großen, (heute) sauberen Süßwassersee standesgemäß ist. (2) Bereits 1964 hatte es eine Abstimmung unter allen Grundbesitzern der Insel zur Durchführung einer inselweiten Flurbereinigung gegeben, der die Gemüter erregende Diskussionen vorausgegangen waren. Eine deutliche Mehrheit von 79,7% (435 Stimmen) stimmte gegen eine Flurbereinigung (BLENCK 1971:244, GLÖNKLER 1991:154). Die Ablehnung erfolgte besonders auch seitens der Gemüsebauern, obwohl von außen betrachtet bereits viel mehr Gründe für als gegen eine Flurbereinigung sprachen. Viele der Parzellen waren für den zunehmend zusammenhängenden Flächenbedarf (für Maschineneinsatz, Gewächshausbau) 64 Nach GLÖNKLER (1991:166) sind im für ganzjährigen Gemüsebau bis zu 1200mm Jahresniederschlag nötig, das macht beim Niederschlagsmittel von etwa 760mm eine zusätzliche Beregnung von 400 bis 500mm (GLÖNKLER 1991:175) 65 In dieser Zeit waren ja tatsächlich die meisten noch ‚dabei’ (s. weiter unten im Text). 66 zumindest in der Rückschau 67 auch von einer inzwischen aus dem Gemüsebau ‚Aisgeschiedenen’ 68 gegenüber dem Leitungswasser bessere 67 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil zu klein und unförmig, die Streulage der Parzellen war bei der hohen Arbeitsintensität zu hoch und es waren nicht ausreichend Zufahrtswege zu einzelnen Parzellen vorhanden. Die Gründe dafür, dass eine Flurbereinigung trotzdem abgelehnt wurde, waren vielfältig. Folgende werden in der Literatur angegeben (BLENCK 1971:243ff.): - Für die Nebenerwerbs- und Kleingartenbetriebe und für Verpächter von Ackerland war eine Flurbereinigung wirtschaftlich nicht notwendig und konnte sich durch ein Mittragen der Kosten des Verfahrens auch nachteilig auswirken. - Bei allen nicht vom Gemüsebau lebenden Grundbesitzern bestand die Angst, eventuell „Bauland, Bauerwartungsland und die so begehrten Grundstücke mit Seeanschluss“ gegen wertlosere Grundstücke zu verlieren (BLENCK 1971:244). - Die Vertreter der Flurbereinigungsbehörde legten bei einer Flurbereinigungsversammlung ein Verhalten an den Tag, dass der Ablehnung der Maßnahme förderlich war. - Unter den Gemüsebauern waren teilweise Befürchtungen vorhanden, höher bewertetes Land auf der klimatisch (und auch die Böden betreffend) günstigeren Südseite der Insel zu verlieren, und dass die Reduzierung der Streulage die Witterungsanfälligkeit wieder erhöhen würde. Gerade letztgenannter Punkt traf zumindest nicht mehr in dem Ausmaße zu, wie ihn viele Gemüsebauern von früher kannten. Gerade der klimatische Aspekt, bei dem der Vorteil der Südseite vor allem in den früheren Ernten im Frühling besteht, hatte bei der 1964 bereits stattgefundenen Veränderung der Anbaustruktur weg vom Frühgemüse hin zu einer gleichmäßigeren Verteilung des Anbaus im Jahresverlauf an objektiver Bedeutung verloren (BLENCK 1971:245). In der Einschätzung vieler Gemüsebauern wurde dieser Wertewandel allerdings zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht wahrgenommen. Der durch Kleinparzellierung und Streulagen immer nachteiliger werdenden Situation versuchten die Gemüsebauern vor und nach dieser aus Sicht der Genossenschaftsleitung gescheiterten Abstimmung durch privaten Grundstückstausch zu begegnen. Dies konnte das Problem jedoch nur stellenweise lindern, aber bei weitem nicht beheben. Ausgehend von den Größen und der Verteilung der einzelnen Betriebsparzellen kam BLENCK für 1965 zu dem Schluss, dass für 16,5% aller Betriebe eine Flurbereinigung unumgänglich, für 47,9% dringend nötig und für 22,9% nötig war (1971:240ff.). Acht Jahre später, am 18.2.1972 wurde unter den Genossenschaftsmitgliedern nach einer dieses Mal sachlich verlaufenden Diskussion erneut über eine Flurbereinigung für die Insel Reichenau abgestimmt, mit dem Ergebnis, dass sich die Mehrheit mit 57,9% der gültigen Stimmen (91 Stück) für eine Flurbereinigung aussprach (GLÖNKLER 1991:164). Wenn man nun nach den Gründen für die nun erfolgte Zustimmung fragt und diese mit den Argumenten für die Ablehnung 1964 bei BLENCK vergleicht, wird deutlich, dass sich nun der (vorher schon 68 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil vorauszusehende) Wertewandel vollzogen hat. Zwar hatte auch eine vorangegangene kleinere Flurbereinigung zwischen Mittelzell und Niederzell, bei der vor allem durch Melioration neu gewonnenes Gemüseland betroffen war, Überzeugungsarbeit geleistet. Dies war möglich gewesen, weil hier die Brisanz von bereits bestehendem, umzuverteilendem Gemüseland fehlte, und sich anschließend die Vorteile der größeren Flurteile allen vor Augen führen ließen (vgl. GLÖNKLER 1991:157ff., BLENCK 1971:247). Aber vor allem war es die Notlage, die bei den meisten Betrieben inzwischen noch größer geworden war, die nun die Mehrheit einem Flurbereinigungsverfahren zustimmen ließ. Es war in der genossenschaftlichen Rhetorik gesprochen „5 Minuten vor zwölf“69. Zur Sicherung der Überlebensfähigkeit der Betriebe im sich verschärfenden Wettbewerb, und das war den meisten klar geworden, war eine Vergrößerung und Zusammenlegung der Betriebsflächen, die eine ökonomisch sinnvolle Intensivierung durch Technisierung und Rationalisierung erst ermöglichen würde70, nun zum Hauptkriterium, die einst wichtigen Unterscheidungen lokalökologischer Unterschiede (wie die zwischen Nord- und Südseite) waren zweitrangig geworden71. Am Werden der Flurbereinigung lässt sich also die Verschiebung von natürlichen Bestimmungsfaktoren zu technischökonomischen Anforderungen, die Abnahme der Bedeutung ökologischer Faktoren innerhalb eines Anbaugebiets nachvollziehen (vgl. S.12). Schließlich kam es in den Jahren 1973 bis 1980/81 doch zur Flurbereinigung auf der Insel Reichenau. Mit der Mehrheit der Genossenschaftsmitglieder und einer Gemeindepolitik, die „alles tun [werde], um den Gemüsebau auf der Insel Reichenau zu fördern bzw. zu erhalten“, wurde das Verfahren am 12. August 1973 angeordnet (GLÖNKLER 1991:164). In das Verfahren wurden von etwa 500 Grundeigentümern rund 1060 Nutzungseinheiten mit einer Gesamtfläche von ca. 280 ha eingebracht, nach Abschluss des Verfahrens verblieben für den Gemüsebau „302 Nutzungseinheiten mit einer durchschnittlichen Größe von 39 ar. Der Zweck der gesamten Flurbereinigungsmaßnahme [aus Sicht des Gemüsebaus; S.D.], nämlich die Schaffung ausreichend großer, regelmäßig geformter und wegemassig gut erschlossener Grundstücke wurde voll erreicht. Dabei wurde die Landschaftserhaltung bzw. Gestaltung ausreichend berücksichtigt“ (GLÖNKLER 1991:165). Was die Landschaftspflege angeht, so sind unter anderen folgende Einzelmaßnahmen zu nennen: - „Ausweisung und Wiederaufbau eines 10 ha großen Rebgebiets in den für den Gemüsebau ungeeigneten, frostsicheren, steileren Hanglagen [...] - Einteilung von Bauplätzen im Flurbereinigungsverfahren [...] 69 damaliger Vorstandsvorsitzender Walter Blum 1971, zitiert bei GLÖNKLER (1991:162) So war mittlerweile ja auch die Viehhaltung abgeschafft und die Motorisierung zur Bewirtschaftung der Parzellen vorangeschritten (vgl. z.B. GLÖNKLER 1976:37). 71 Was nicht heißt, dass sie völlig bedeutungslos geworden wären und bei der Durchführung der Flurbereinigung nicht mehr hätten berücksichtigt werden müssen (vgl. GLÖNKLER 1991:164). 70 69 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau - 5. Historisch genetischer Teil Neuanpflanzung von 900 Bäumen, 2.000 Heistern und Sträuchern entlang von Wegen. Erhaltung von 200 Obstbäumen durch Übereignung der Flächen (3 ha) an die Gemeinde. - Anlage eines Uferweges und von Wanderparkplätzen - Dorfentwicklung [:] Umbau des ungenutzten alten Rathauses zu einem Heimatmuseum, Umgestaltung des Innenhofes des ehemaligen Klosters in Mittelzell nach historischen Vorlagen, Ankauf des Schlosses Königsegg im öffentlichen Interesse der Gemeinde, Restaurierung der Kindlebildkapelle, Fassadengestaltungen und Erneuerungen an privaten Gebäuden, darunter das historisch bedeutsame Gebäude „Uricher“ aus dem 16. Jahrhundert im Klosterbereich [...]“ (MINISTERIUM 1982) Dieser Auszug zeigt, dass bei der Flurbereinigung auch den neuen Funktionen der Gemeinde als Wohnort und Touristendestination Rechnung getragen wurde und dass das Bemühen um ein traditionelles Erscheinungsbild bereits lange vor dem Bemühen um den Welterbestatus ‚Tradition’ hatte. Für den Gemüsestandort Reichenau bedeutete dies eine wichtige Strukturverbesserung der (verbleibenden) Betriebe und damit eine Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation, die nach GLÖNKLER sogar wesentlich der drohenden (aber bis heute nicht erfolgten) Eingemeindung durch die Stadt Konstanz entgegenwirkte (INTERVIEW VII, auch GLÖNKLER 1991:163). (3) Ebenfalls nicht reibungslos verlief die Zentralisierung der Vermarktung. Die zunehmenden Konzentrationsprozesse auf der Abnehmerseite (mit den entsprechend höheren Mengennachfragen), ließen die Struktur des Handels auf der Insel Reichenau mit den sechs nach dem zweiten Weltkrieg verbleibenden Großhändlern, denen die Genossenschaft als Vertragspartner gegenüberstand, zunehmend ungünstiger werden. Bereits 1970 wurden, diese Entwicklungen voraussehend, von der Genossenschaft ausgehend Gespräche mit den sechs Händlern über „einen Zusammenschluss der 6 Sammelstellen bzw. Großhändler mit der Genossenschaft“ geführt (GLÖNKLER 1991:139). Diese scheiterten, die Position der Händler war zu diesem Zeitpunkt noch zu stark. Allerdings wurde kurz danach, im Flächennutzungsplan von 1974, im Gewann Tellerhof, dem heutigen Gewerbegebiet und Standort der zentralen Vermarktungsanlage, eine für die angestrebte Zusammenlegung geeignete Nutzfläche ausgewiesen (GLÖNKLER 1991:102,139). „Ohne diese vorausschauende Planung [...] wäre die Verwirklichung zwanzig Jahre später kaum mehr möglich gewesen“ (BOTTLANG 1997:4). An dieser Stelle zeigt sich, wie entscheidend es unter Umständen sein kann, wenn Visionen oder einfach vorausschauendes Denken einer Entwicklung vorgreifen, die sich anbahnende ‚Not’ ohnehin wahrscheinlich macht.72. Mit erkennbaren Parallelen zum Zustande72 Auch wenn der Verdacht aufkommen kann, dass hier zitierte Ehrerweisungen diesen Aspekt hochstilisieren, so lohnt sich dieser Gedanke doch hinsichtlich der künftigen Entwicklung der Insel Reichenau und dem für diese 70 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil kommen der Flurbereinigung hatte sich etwa fünfzehn Jahre später die Konzentration und damit die Wettbewerbsbedingungen weiter verschärft, sodass erneut Gespräche mit den Händlern geführt wurden. „Die Gespräche zogen sich über Jahre hin bis man deren Scheitern erklären musste. Ab diesem Zeitpunkt befasste sich die Genossenschaft ReichenauGemüse eG im Alleingang mit der Verwirklichung einer zentralen Vermarktungseinrichtung“ (Bottlang 1997:4). Die zentrale Vermarktung wurde schließlich wie oben (S.36f.) beschrieben verwirklicht. Dabei sind drei miteinander zusammenhängende Aspekte zu bemerken: Das ‚Ausschalten’ der ‚Zwischenhändler’73 verlief nicht mit deren Einverständnis, es sind personelle Kontinuitäten zu beobachten in Form von ‚ehemaliger Händler gleich heutiger Verkäufer’74 und beim genossenschaftlichen Mitgliederbeschluss zum Bau der teuren Zentraleinrichtung wurden die Stimmen nach Umsatz des Stimmgebers gewichtet (s. Kapitel 4.3). Umsatzschwache Mitglieder, also tendenziell diejenigen, die bald bei dem ‚immer weniger, dafür immer größere Betriebe’ ausscheiden werden, haben entsprechend geringeres Interesse an (für sie sich nicht mehr auszahlenden) Investitionen, die sie in ihrer verbleibenden Zeit über höhere Marktgebühren gegenüber der Genossenschaft mittragen müssen. Diese Aspekte deuten auf einen Dualismus auf der Ebene der einzelnen Betriebe (auch der verdrängten Händlerbetriebe), der unten aufgegriffen werden soll. Für den Gemüsestandort Reichenau kann sich diese Zentralisierung nun durchaus zum Vorteil wenden. Dies kann in dieser Arbeit nicht bewertet werden, allerdings deutet ein überzeugend vorgeführtes Vermarktungskonzept, dass immer mehr mit den Etiketten Regionalität und Ökologie aufzutrumpfen scheint und so auch den Anforderungen der ‚zweiten Modernisierung’ (s.u.) begegnet, darauf hin (vgl. ZOCH 2008a und 2008b). Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass die Genossenschaft die Entwicklung des Gemüsebaus Reichenau in den letzten Jahrzehnten entscheidend mitgeprägt hat, indem sie drei wesentliche gestaltende Maßnahmen forciert hat, die allesamt den Standort Reichenau stabiler gemacht haben und insofern sich als „Ausschöpfen von Rationalisierungsreserven“ (s.o.) interpretieren lassen. Mit einer heute vorteilhaften Wasserversorgung, einer verbesserten Betriebsgrößen- und -formenstruktur im Vergleich zur Ausgangssituation 1948 und einer zentralisierten Vermarktung konnte sich der Gemüsebau bis heute überzeugender behaupten, als ihm dies Ende der 1960er Jahre (bei BLENCK 1971) noch bescheinigt wurde.75 erstrebenswerten normativen Inselleitbild. Im Übrigen deutet diese Einflussnahme auf den Flächennutzungsplan wie schon die gute Zusammenarbeit bei der Flurbereinigung auf eine aus Sicht des Gemüsebaus hervorragende Verankerung mit der Lokal- und Landespolitik hin. 73 wie wir es im entwicklungspolitischen Jargon bezüglich ‚gerechterer’ Warenketten bzw. Handelsbedingungen sagen würden 74 vermutlich wurden die ökonomisch stärksten Händler mit ins Boot geholt, während die schwächeren ausscheiden 75 Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass BLENCK (1971:299ff.) alle wesentlichen Entwicklungen wie die Konzentration auf den Unterglasanbau, die Reduzierung des Freilandanbaus und den Rückgang der Betriebszahlen in der Tendenz ziemlich beeindruckend vorausgesagt hat, lediglich hat sich aufgrund der in dieser Arbeit 71 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil Neben diesen drei zentralen Schritten wirkte die Genossenschaft außerdem im Bereich der Technisierung (z.B. die vorerst gemeinschaftliche Anschaffung von Maschinen wie etwa Tomatensortier- und -putzmaschinen ab 1954), in der fachlichen Beratung (einst eigener, heute ausgelagerter, aber immer noch finanziell unterstützter Beratungsdienst), der Gemüsebauern, bei immer weiteren Neuerungen im Verpackungswesen und vor allem auch in der Verbesserung der Berufsausbildung (GLÖNKLER 1991:95ff.). 5.3 Die ‚zweite’ Modernisierung der Landwirtschaft auf der Insel Reichenau Was in der Prognose von BLENCK (1971:299ff.) ebenfalls noch nicht vorauszusehen war, was aber die Entwicklung des Gemüsebaus auf der Reichenau mit beeinflusste und auch die heutige öffentliche Diskussion prägt, ist die im Theorieteil eingeführte ‚zweite Modernisierung’, die auf der Reichenau auf ökologischer Ebene zu einer Diskussion der negativen Folgen des Gemüsebaus insbesondere bei der Nitratbelastung des Bodensees und bei den Pestizidrückständen im Gemüse führte.76 Diese in der Öffentlichkeit und in der Gemeinde geführten Debatten sind weder in der wissenschaftlichen noch in der sonstigen Literatur dokumentiert. Leider ist es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich gewesen, diese Debatten systematisch zu recherchieren. Ich muss mich an dieser Stelle mit allgemeinen Feststellungen, einigen Interviewaussagen und punktuellen Texten begnügen. Diese Bruchstücke hier trotz der Dürftigkeit der Informationsdichte aufzuführen, hat zwei Gründe. Zum einen soll es eine Anregung zu systematischer Recherche auf diesem Feld sein, die eine genaue(re) Rekonstruktion des Ablaufs der zweiten Modernisierung auf der Reichenau erlauben würde, zum anderen sind die hier aufgeführten Aspekte von Bedeutung für den aktuellen Teil dieser Arbeit. In der gründlichsten Untersuchung des Reichenauer Gemüsebaus, die je stattgefunden hat77, nämlich die Dissertation von BLENCK (1971), tauchen Aspekte der Umweltverschmutzung (Nitratbelastung des Sees) und der Belastung von Gemüse mit Pestizidrückständen noch überhaupt nicht auf. Es hat jedoch kurze Zeit später, spätestens ab Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre eine öffentliche Diskussion dieser beiden Themen stattgefunden (INTERVIEW XI, verschiedene Gespräche während der Feldforschung). Den genossenschaftlichen Publikationen und der78 Chronik von GLÖNKLER (1991, 1997) sind lediglich indirekt Angaben hierzu zu entnehmen, die aber keine Rückschlüsse auf Existenz, Inhalte, Ablauf und Tonfall solcher Debatten zulassen. Es ist von der Gemüse konsumierenaufgeführten Entwicklungen diese Tendenz nicht so vehement ausgewirkt und sich auch über das Jahr 2000 eine große Gemüsebaugruppe gehalten. 76 Auf der Ebene des Landschaftsbild kam dann außerdem die Diskussion zur Gestaltung der Landschaft durch den Gemüsebau (große Gewächshäuser, Brachflächen) hinzu. 77 und die diesen Status wahrscheinlich auch auf ewig inne haben wird 78 im weitesten Sinne zu diesen Publikationen gehörenden 72 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil den Öffentlichkeit nur als „der Verbraucher“ die Rede. So legte 1975 „Der Verbraucher [...] heute großen Wert auf Produkte mit bester innerer Qualität! Dieser berechtigten Forderung des Verbrauchers kommt entgegen das Bemühen der Genossenschaft um Lieferung rückstandsfreier bzw. -armer Produkte nach durchgeführter Schädlingsbekämpfung“ (GLÖNKLER 1976:39, Hervorhebung im Original). 1991 werden „allergrößte Anstrengungen hinsichtlich einer einwandfreien inneren Qualität“ als möglicherweise „gute, indirekte Werbung“ in Erwägung gezogen (GLÖNKLER 1991:140, unterstrichen im Original). In den 1990er Jahren war der Gemüsebau „stark geprägt vom Wunsch des Verbrauchers nach natürlich produzierten Lebensmitteln. Die Antwort der Gemüsegärtner war die „Integrierte Produktion“.“(URICHER 1997a:7). Dass diesem berechtigte Wunsch des Verbrauchers bisweilen sehr druckvoll Ausdruck verliehen wurde, deutet lediglich eine Stelle des Geschäftsberichts 2004/2005 an, wo von „immer größeren Anforderungen der Kundenseite“ und einer „medienwirksamen Greenpeace-Aktion“ , durch die die Situation „verschärft“ wurde, die Rede ist (REICHENAUGEMÜSE EG 2006a:5). Doch bereits viel früher müssen druckvolle, scharfe Anforderungen bis hin zu Anschuldigungen bei den Gemüsebauern vía Öffentlichkeit angekommen sein. Die Belastung des Bodensees mit anthropogen eingeleiteten Nährstoffen und Giftstoffen war vor allem zu deren Höchststand Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre ein öffentliches Thema und unterliegt bis heute einem Monitoring, bei dem auch die Landwirtschaft als Mitverursacherin im Blick war/ist (vgl. IGKB 2004). Die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln seitens der Reichenauer Gemüsebauern wurde öffentlich kritisiert und attackiert. Eine Interviewpartnerin spricht von einer aufgeheizten, feindseligen Stimmung Anfang der 1980er Jahre, als auch die Ortsgruppe Reichenau des BUND als Ausdruck der erstarkenden Umweltbewegung gegründet wurde. Chemie-verspritzende Gemüsebauern passten ins Feindbild der neuen Gruppe des Reichenauer öffentlichen Lebens. Die Gemüsegärtner waren in die Defensive gedrängt und insofern auf ‚Grüne’ nicht gut zu sprechen. Welche Heftigkeit die damalige öffentliche Debatte annehmen konnte, illustriert folgender Zeitungsartikel des Südkuriers vom 24.2.198679. 79 recherchiert mit Hilfe von INTERVIEW XI 73 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil Die erhobenen Vorwürfe rüttelten jedoch auch am wichtigen Ruf ihres Produkts und erzwangen Image-verbessernde Maßnahmen, die mitunter in der oben aufgeführten Einführung der integrierten Produktion als Reaktion auf den Wunsch des Verbrauchers zu sehen sind. Als mitten im Modernisierungsprozess steckend, der von den äußeren Verhältnissen, besonders der Politik und Wissenschaft forciert worden war, wurden die Landwirte nun in ihrem Handeln angegriffen (vgl. S.18f.). Entsprechend der aufgeladenen Atmosphäre hatten es aber auch die ganz wenigen frühen Ökologisierer unter den Gemüsebauern schwer, fanden innerhalb der Gemeinde kaum Rückhalt (eher hofften wohl einige, sie mögen mit ihren Versuchen auf die Nase fallen) und waren auf Unterstützung von außen angewiesen (INTERVIEW XI). Diese Erzählungen decken sich mit Untersuchungen zur Stellung ökologischer Landwirte innerhalb der Dorfgemeinde: Die neuen Ökobauern verfügen über zahlreiche Außenkontakte, die ihnen den Rücken stärken, dagegen finden sie in der eigenen Gemeinde selten Akzeptanz. Vielmehr „werden sie von anderen in der Landwirtschaft tätigen Dorfbewohnern stigmatisiert, da diese den Ökologischen Landbau als Angriff auf die eigene Lebensform betrachten“ (KÖLSCH 1990:117, vgl. auch KÖLSCH 1988). Dies gilt vor allem für die ideologisch aufgeladene Anfangszeit, in der die frühen 1980er Jahre auf der Reichenau (gemäß den Interviewaussagen) einzuordnen sind. Später wurde „der ökologische Landbau immer mehr zu einer von Politik und Wissenschaft akzeptierten Marktnische für die Landwirte. Die ideologische Ausrichtung des Ökologischen Landbaus wird nicht mehr so häufig als Gefahr für die eigene 74 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil Lebensform betrachtet. Wenn der ökologische Landbau von dem, der ihn betreibt, nur als eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, verstanden wird, wird eine Umstellung akzeptiert und die Umsteller werden nicht stigmatisiert“ (KÖLSCH 1990:119). Dies gilt heute, fast 20 Jahre später und zu Zeiten des Siegeszugs der Bioprodukte, natürlich umso mehr. Ökologische Strategien aus ökonomischen Erwägungen heraus sind zu einer gewissen Selbstverständlichkeit geworden und in die Mission der Genossenschaft zum Erhalt des Reichenauer Gemüsebaus integriert. Unter diesem Gesichtspunkt kann vielleicht eines Tages die Einführung der „Integrierten Produktion“ und die nun wohl teilweise folgenden Umstellungsbemühungen auf Bioproduktion zusammen mit der Betonung der Regionalität des Produkts als vierte unter den wesentlichen Maßnahmen zur Haltung des Gemüsestandorts Reichenau eingereiht werden. Diese Skizzierung zeigt trotz ihrer Kürze, dass mit der ‚zweiten Modernisierung’ ökologische Fragen bezüglich der Reichenauer Gemüseproduktion aufgeworfen worden sind, Ansprüche an eine ökologische Qualität der Produktion gewachsen sind und besonders in der Anfangsphase die öffentliche Diskussion mit einer gewissen Heftigkeit auftrat, die die Gemüsebauern einerseits in die Defensive drängte und auf ‚grüne Politik’ nicht gut zu sprechen kommen ließ, andererseits den Ausschlag für Ökologisierungsmaßnahmen in der Reichenauer Gemüseproduktion gab. Seit den 1980er Jahren wirken also auch auf der Reichenau die Einflüsse der ersten wie der zweiten Modernisierung parallel (Intensivierung/Konzentration und Ökologisierung). 5.4 Die individuelle Ebene der Modernisierung der Reichenauer Landwirtschaft Wie gestaltete sich nun diese, für den Gemüsebau als Ganzes doch relativ positiv zu bewertende und eindrucksvolle Entwicklung seit 1948 auf individuellem Niveau? Auf der Ebene des einzelnen Betriebs müssen für diese Zeit, in der sich der Gemüsebau trotz hartem Wettbewerbs und den damit verbundenen Konzentrationsprozessen behauptete, zunehmend zwei grundsätzlich verschiedene Entwicklungsstränge unterschieden werden. Man könnte, ein wenig wertend ausgedrückt, von ‚Gewinnern’ und ‚Verlierern’ sprechen, oder neutraler: Es gibt solche Betriebe und in ihnen wirkende Menschen, die bis heute noch (zumindest teilweise oder aber voll und ganz) vom Gemüsebau leben, und solche, die aus dem primären Sektor der Reichenau aussteigen wollten oder eben mussten. Diese zweiseitige Entwicklung impliziert der stattfindende Konzentrationsprozess. Bereits für die Zeit zwischen 1943 und 1965 stellte BLENCK (1971:280f.) fest, dass sich zwei parallele Entwicklungstendenzen zeigen: einerseits die bereits angesprochene Spezialisierung auf Unterglasanbau unter Abschaffung anderer Betriebszweige (vor allem Großvieh), andererseits die Zunahme der 75 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil Kleingarten- und Nebenerwerbsbetriebe, die wirtschaftlich nur noch teilweise oder gar nicht mehr auf das Einkommen aus dem Gemüsebau angewiesen sind. Diejenigen, die ‚voll dabei bleiben’, entwickeln sich mehr und mehr zu professionellen Gemüsegärtnern. Die einseitige Ausrichtung auf den Gemüsebau macht sie von teilweisen zu vollständig marktorientierten Unternehmern, es vollzieht sich also eine verstärkte ökonomische Zweckrationalität in der Wirklichkeit der Landwirte. Damit einher geht eine immer stärkere Professionalisierung. Die Tatsache, „dass die erfolgreicheren Gemüsebauern [...begannen], ihre Kinder oder mindestens einen Teil ihrer Kinder nach Konstanz auf die höhere Schule zu schicken“, deutet somit nicht nur darauf hin, dass über den Generationenwechsel der Gemüsebau aufgegeben wird (BLENCK 1971:312), sondern auch darauf, dass der formale Ausbildungsstand der jüngeren Generation, die den Gemüsebau bis heute fortführt, immer besser geworden ist. So haben heute die meisten vor allem der jüngeren Gemüsebauern eine gärtnerische Berufsausbildung, einige einen Meistertitel oder anderweitig vor allem auch betriebswirtschaftliche Kenntnisse erworben und ein paar junge Nachwuchsgärtner studieren Gartenbau an der Fachhochschule in Weihenstephan (verschiedene Gespräche während der Feldforschung). Eine große Schar von geschätzten mindestens 30-40 ‚Junggärtner’ steht als nächste Generation für den Reichenauer Gemüsebau heute bereit (INTERVIEW s III, X). Die Betriebe wurden im Laufe der Jahrzehnte immer weiter aufgerüstet. Einerseits erfolgten Investitionen in die jeweils neusten und den Umständen entsprechend größtmöglichen Gewächshäuser. Nicht nur die Größe änderte sich, auch die Möglichkeiten der klimatischen Einflussnahme. Anfangs mit einfacher Beheizbarkeit ausgestattet, verfügen die modernsten Gewächshäuser heute über eigene kleine Klimastationen, deren Messdaten über einen Betriebscomputer ausgewertet werden und eine gesteuerte Beeinflussung unter anderem von Temperatur, Feuchtigkeit und Beschattung erlauben (Gespräche während der Feldforschung, INTERVIEW X). Andererseits wurden mehr und mehr Maschinen angeschafft: Unter anderen angefangen bei Motorfräsen und Einachsschleppern, über Zweiachsschlepper und geräteträger, Spritz- und Stäubegeräte und Sämaschinen, bis zu Tomaten- bzw. Gurkensortier- und Putzmaschinen und Erddämpfanlagen und, als eine der jüngsten Neuerungen, den Systemen für das neue Substratkulturverfahren (vgl. GLÖNKLER 1991:96, BLENCK 1971:238f., Gespräche während der Feldforschung, INTERVIEWs I, III, IX, X, ; letzteres siehe auch Kapitel 4.3). Nicht nur der Gemüsebau auf der Reichenau allgemein ist spezialisiert. Viele Betriebe haben sich innerhalb des von der Reichenau abgedeckten Angebotsspektrums spezialisiert. So gibt es beispielsweise viele Betriebe, die im Sommer entweder nur Tomaten oder nur Gurken anbauen. Ein paar Betriebe spezialisieren sich innerhalb des genossenschaftlichen Angebots auf Nischenprodukte, wobei vor allem Gartenkräuter zu nennen sind. Einige Betriebe 76 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil haben sich außerhalb des genossenschaftlichen Angebots auf Nischen spezialisiert (vgl. Kapitel 4.3). Die Betriebe wurden durch die (nicht selten in generationsweisen Schritten erfolgenden) Erweiterungen vor allem im Unterglasbereich irgendwann so groß, dass sie nicht mehr von den Familienarbeitskräften alleine bewältigt werden konnten. So wurden in den größeren Betrieben ab vor etwa 20 Jahren vor allem aus Polen ‚pendelnde’ Saisonarbeiter eingestellt. Diese Praxis wurde teilweise auch dadurch verstärkt, dass die Frau des Betriebsleiters einem Beruf nachging, mit dessen Gehalt sich mehrere Saisonarbeiter bezahlen ließen (Gespräche während der Feldforschung, INTERVIEW V). Dieses gegenseitige Ausschöpfen von Faktorunterschieden (Lohnniveaus), um es im wirtschaftlichen Jargon auszudrücken, ist stets Schwankungen unterworfen, die mit Veränderungen der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen einhergehen. So scheint der derzeit auf der Reichenau übliche Lohn (5 € pro Stunde) nicht mit Konkurrenzgebieten mithalten zu können, sodass die Saisonarbeiter mittlerweile teilweise schon andere Gebiete präferieren (Gespräche während der Feldforschung, INTERVIEW V). Die dem kontinuierlichen Wachstum der Betriebe entgegenstehende Realteilung ist aufgeweicht worden. Inzwischen ist es aus wirtschaftlicher Notwendigkeit heraus durchaus üblich, dass der gesamte Hof an einen Nachkommen weitergegeben wird (vgl. erste Beobachtungen dazu bei BLENCK 1971:247). Allerdings ist die anstelle der Grundstücksteilung tretende Auszahlung der Geschwister eine der ökonomischen Hürden bei der Frage nach der Weiterführung des Elternbetriebs und es ist anzunehmen, dass diese Hürde in traditionellen Anerbengebieten geringer ist als in der von der Realteilung geprägten Reichenau (INTERVIEW III). Die Übernahme des elterlichen Betriebs erhält - nach Einschätzung der Befragungsergebnisse - von Generation zu Generation freiwilligeren Charakter. Was früher nicht zur Debatte stand, wird bei der Elterngeneration und vermutlich noch mehr bei der heutigen Generation reflektiert und abgewägt (INTERVIEW s III, IV, V, VII). Jedoch lässt sich eine gewisse Erwartungshaltung nicht ausschließen, wenn man von den Eltern über den Nachwuchs, der sich gegen den Gemüsebau entschied, hört. „Das ist jetzt schon auch gut, was die machen“ (Gesprächsnotiz während eines Spaziergangs). Eine solche Entwicklung muss also erst mal geschluckt werden und die neue Tätigkeit hat nicht nur schlechte Seiten, obwohl es sich nicht um Gemüsebau handelt. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die nur noch teilweise bzw. auf begrenzte Zeit ‚dabei bleiben’ (können) oder schon ausgeschieden sind. Während meiner Forschung konnte ich einige Gespräche und Interviews führen mit Menschen, die entweder schon keine Gemüsebauern mehr sind oder die als letzte Generation tätig sind, also deren Kinder einen anderen Weg gehen werden (Gespräche während der Feldforschung, INTERVIEW s IV, V). Auch wenn persönliche Schicksalsschläge (wie Krankheit des Nachwuchses oder frühes Sterben der Großelterngeneration) den Ausstieg aus der Landwirtschaft bestimmen können, so ist 77 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil insgesamt davon auszugehen, dass der entscheidende Moment für die Aufgabe des Gemüsebaus in der Eigenschaft ungünstige Betriebsstruktur (zu klein) für die nächste Generation liegt. Nämliches galt für die besondere Situation vor der Zentralisierung der Vermarktung. Auf dem Thema der Aufgabe des Gemüsebaus lag stets eine Schwere und Traurigkeit, die eine Tiefe Verbundenheit der Betroffenen mit dem (ehemaligen) Beruf offenkundig werden ließ. Zusammen mit der als Berufung empfundenen bzw. mit persönlicher Freiheit und Zufriedenheit verbundenen Ausführung des Gärtnerberufs der noch ‚Aktiven’ lässt sich durchaus der Eindruck gewinnen, dass man vom Gemüsebau als einer Lebensform, nicht bloß einer Wirtschaftsform sprechen kann und nicht umgekehrt, wie BLENCK behauptete (1971:300). Das Neue, Größere - sei es nun die große, zentrale Genossenschaftsanlage oder die konzentrierten Riesen auf Seiten des außerreichenauer Handels, wird besonders von den nun Außenstehenden oder bald Ausscheidenden mit einem gewissen Unbehagen empfunden. Ein Aspekt der mehrfach Erwähnung fand, war der Rückgang der persönlichen Kontakte, sozusagen der ‚Face-to-Face’-Kontakte , mit der zunehmenden, konzentrierend wirkenden Rationalisierung. Dieser Aspekt klang an bei der rasch(er)en zentralen Abfertigung an der Annahmestelle, wo ein kurzer Plausch und vor allem Extrabemerkungen zur Lieferung nicht mehr so angebracht sind bzw. nicht mehr so berücksichtigt werden können, wie dies früher vielleicht noch der Fall war (Beobachtung und Gespräch während des Kurzpraktikums bei der Genossenschaft); bei der Genossenschaftsführung, bei der die erforderlichen Leistungen auf unternehmerischer Seite bzw. gegenüber den Kunden größer geworden sind und hinter die besonders der persönliche Draht zu den Mitgliedern weiter zurückfällt; bei den auswärtigen Großhändlern, die das Gemüse abkaufen. Letztere kamen früher oft persönlich zur Abholung des Gemüses zum ortsansässigen Händler, wenn die Lieferung noch nicht fertig war, vesperte man gemeinsam oder blieb sogar zum Mittagessen, bei den Preisen gab es immer wieder gegenseitiges Entgegenkommen und das Aushandeln wurde als fair empfunden. Mit den Jahren nahm der Preisdruck dann zu („es wurde um halbe Pfennige gefeilscht“), heute wird kaum noch persönlich abgesprochen, Aushandlungen werden nicht mehr beim Mittagessen, sondern per Faxgerät erledigt (Interview V, Gespräch während des Kurzpraktikums bei der Genossenschaft). Die Konzentrationsphase bewirkt also - um auf die Ebene des Gemüsebaus und der ihn vertretenden Genossenschaft zurückzukommen - einen zweischneidigen Prozess, bei dem immer mehr ausscheiden und immer weniger übrig bleiben. Dieser Umstand betrifft die einzelnen Gärtner untereinander, da sie sich gegenseitig mehr denn je Konkurrent sind, wenn es zum Beispiel darum geht, wer seinen Betrieb bei knappen Flächen noch vergrößern kann. Und er betrifft auch die Genossenschaft, die tendenziell insgesamt weniger Personen und eine sich spaltende Mitgliedschaft vertritt, nämlich einerseits diejenigen mit einem zukunftsfähigen, andererseits diejenigen mit einem auslaufenden Betrieb. 78 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil 5.5 Resümee historisch-genetischer Teil Zum Abschluss des historisch-genetischen Teils wurden die Ergebnisse in zwei Tabellen zusammengefasst, die unter Aufgliederung in das theoretische Analyseraster einen anschaulichen Überblick über den konkreten, historisch-geographischen Ablauf der Modernisierung der Landwirtschaft auf der Insel Reichenau geben. Tabelle 2 stellt den Ablauf bis 1948 dar, Tabelle 3 den Ablauf von 1948 bis heute (abgebildet im Anhang). Zunächst wurde die bereits vormoderne Ausrichtung der Reichenauer Bauern auf Spezialkulturen (Weinbau) wegen des Klosterstandortes und der klimatischen und verkehrsgeographischen Gunst im Vergleich zum seefernen Umland betont. Für eine erste Phase der Modernisierung von 1863 bis 1948 wurde mit RUPPERT (1960) und besonders mit BLENCK (1971) herausgearbeitet, dass bei dem durch die Verkehrserschließung (Zunahme der Bedeutung ökologischer Faktoren zwischen den Anbaugebieten) mit der Eisenbahn erfolgten Formenwandel vom Wein- zum Gemüsebau eine Funktionskontinuität (hohe Arbeitsintensität auf geringer Fläche) zu verzeichnen ist, die das Reichenauer Landschaftsbild und die Agrarstruktur weitestgehend fortbestehen ließ. Es fanden durch den Wandel vom Wein- zum Gemüsebau, verbunden mit langen Jahren des wirtschaftpolitischen Protektionismus zunächst keine der für die Modernisierung der Landwirtschaft typischen Konzentrations- und Strukturwandlungsprozesse statt, die ohne diesen Wandel in welcher Form auch immer, aber doch mit Sicherheit eingetreten wären. Die Reichenauer Landwirte konnten durch den Umstieg auf Feingemüseanbau, der nur kleine Betriebsgrößen brauchte und von den wachsenden Städten gefragt war, also kompensieren, dass sich durch Eintritt einer Markterweiterung die ökologische Gunst der Reichenau im Vergleich mit ihren Konkurrenzgebieten verschlechterte. Der Ablauf des Übergangs wurde anhand der Einteilung von BLENCK (1971) in fünf Stadien (Ausgangs-, Auslösung-, Übergangs-, Konsolidierungs- und Spezialisierungsstadium) genau beschrieben, wobei besonders die Entwicklungen von Technisierungen, Spezialisierungen und Intensivierungen und die des Tourismus als heute zweitwichtigster Wirtschaftszweig herausgestellt wurden. Die sich anschließende Phase der Modernisierung (1948-heute) ließ sich mit den Begriffen Strukturwandel, Konzentration und Intensivierung, aber auch Behauptung des Standorts umschreiben. Seit 1948 hat mit der bis heute zunehmenden Europäisierung und Globalisierung der Märkte die Konkurrenz weiter zugenommen, wodurch sich auch die relative Reichenauer Ungunst verstärkte. Nun vollzog sich (mangels einer weiteren Nachfolgekultur) ein Strukturwandel, der sich an geringeren Betriebszahlen, wachsenden durchschnittlichen Betriebsgrößen (mit Zurückdrängen der - allerdings immer noch indirekt wirksamen - Realteilung) und einer hohen Spezialisierung auf den gärtnerischen Gemüsebau (Abschaffung übriger Be- 79 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 5. Historisch genetischer Teil triebszweige, Technisierung der Betriebe, Verbesserung der Ausbildung, Verlagerung auf Unterglasanbau, Produktionssteigerungen, Sortimentsverbreiterung, Professionalisierung der Vermarktung) deutlich ablesen lässt. Mit dem Ausbau der Beregnungsanlage (1950-1971), der Flurbereinigung (1973-1981) und der Zentralisierung der Vermarktung (1994) wurden drei wesentliche Maßnahmen erörtert, die unter Federführung der Genossenschaft als Vertreterin des Gemüsebaus die Standortbedingungen für den Gemüsebau (Wasserverfügbarkeit und -qualität, Betriebsgrößen und -formen, Produktvertrieb und -vermarktung) verbesserten und zur Behauptung des Standorts beitrugen. Am Scheitern und anschließenden Gelingen der Flurbereinigung konnte die Abnahme der ökologischen Faktoren innerhalb des Anbaugebiets auf Kosten von betriebswirtschaftlich-technisch bedingten Faktoren (Flächenbedarf) veranschaulicht werden. Mit der Diskussion der ökologischen Frage in Bezug auf den Reichenauer Gemüsebau (Verunreinigung des Bodensees, Pestizidrückstände im Gemüse) im Zuge der ‚zweiten Modernisierung’ wurde eine weitere wichtige Größe in der Entwicklung des heutigen Gemüsebaus eingeführt, die in der bisherigen Literatur zu diesem weitestgehend ausgeblendet worden ist, die aber zum Verständnis der aktuellen Situation wichtig ist: Die in ihrer Anfangsphase (Ende 1970er/Anfang 1980er Jahre) durchaus als heftig zu bezeichnende Diskussion drängte die Gemüsegärtner einerseits in die Defensive und ließ sie auf ‚grüne Politik’ nicht gut zu sprechen kommen, gab andererseits den Ausschlag für Ökologisierungsmaßnahmen in der Gemüseproduktion. Die Positionierung letzterer in der Vermarktung könnte zusammen mit der Regionalität des (im historisch-geographischen Sinn in der Tat traditionellen) Produkts zur vierten wesentlichen Maßnahme bei der Behauptung des Standorts werden. Auf individueller Ebene konnte eine zweiteilige Entwicklung konstatiert werden, unterscheidend zwischen denen, die im Gemüsebau verbleiben und in diesem immer professioneller werden, und denen, die - meist schweren Mutes - aus dem Gemüsebau ausscheiden (müssen). Es wächst die Konkurrenz unter den Gärtnern, es schrumpft die Zahl derer, die durch die Genossenschaft vertreten werden, und auf Gemeindeebene gewinnen andere Funktionen, vor allem die des Wohnens und des Tourismus, an Bedeutung. Die Konzentrationsprozesse der ersten Modernisierung und die kritischen Diskussionen einer zweiten Modernisierung: Dies sind die gleichzeitig wirksamen Rahmenbedingungen, unter denen die im folgenden erörterten Zukunftsstrategien und Spannungsfelder des Gemüsebaus auf der Insel Reichenau ausgehandelt werden. Somit wurde der konkrete Entwicklungspfad der Reichenauer Landwirtschaft im Rahmen der allgemeinen Vorgänge der Modernisierung Europas gründlich und unter Berücksichtigung beider im Theorieteil eingeleiteten Modernen aufgearbeitet. Aus dieser evolutionären Perspektive werden die nun im aktuellen Teil folgenden, heutigen Zukunftsstrategien und Problemfelder, die für die einzelnen Betriebstypen, die Genossenschaft und die Gemeinde Reichenau während der Feldforschung identifiziert wurden, verständlich und interpretierbar. 80 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil 6. Aktueller Teil 6.1 Zukunftsstrategien auf einzelbetrieblicher Ebene Während meiner Feldforschung arbeitete ich zwei Wochen in einem der größeren Haupterwerbsbetriebe mit. So konnte ich zum einen einen Eindruck von den inneren Betriebsabläufen gewinnen. Vor allem aber ließen sich während den meist gemeinsam in den Gewächshäusern durchgeführten Arbeiten zahlreiche Gespräche mit den Familienmitgliedern und Angestellten führen, die sich neben Gott und der Welt meinerseits bevorzugt - „problemorientiert" - um die Zukunftsstrategien des Betriebs und des Gemüsebaus drehten. Zur Einführung in den aktuellen Teil dieser Arbeit möchte ich diese Erfahrungen vorstellen. Sie werden anschließend mit relevanten Aussagen der um denselben Problemkreis (Zukunftsstrategien) orientierten Interviews mit Betriebsleitern anderer Betriebe ergänzt. (1) Beschreibung des Betriebs, in dem ich mitgearbeitet habe: Ich war in einem gemischten Vollerwerbsbetrieb tätig, der auf 0,7 ha Unterglas und auf 2,5 ha im Freiland Gemüse anbaut. Früher war der Betrieb ein Zuerwerbsbetrieb, die Frau des Betriebsleiters arbeitete in der Konstanzer Industrie. Heute kommt das gesamte Familieneinkommen aus dem Gemüsebau (Arbeitsplätzeabbau in den Konstanzer Betrieben). Die Familie hat drei Kinder. Der Sohn absolviert gerade eine Gärtnerlehre und ist dabei in einem anderen Betrieb beschäftigt, die jüngere Tochter besucht ein Gymnasium in Konstanz und die ältere Tochter studiert (nicht Gartenbau) in einer anderen Stadt. Sie wird die erste in der Familie sein mit einem Hochschulabschluss, die zweite nach ihrer Mutter mit einer außergärtnerischen Ausbildung und sich einen ähnlichen Weg durchs berufliche Leben suchen müssen wie der Autor dieser Arbeit. Der Vater ist Gärtnermeister, er ist bereits mehrmals in anderen Anbaugebieten gewesen, besonders in Holland, wo viele Innovationen herkommen. Sein Betrieb ist einer der fünf Ausbildungsbetriebe auf der Insel Reichenau80, schätzungsweise 80% der bisherigen Azubis stammten von der Insel, derzeit ist niemand zur Ausbildung da. Die Entscheidung für den Gärtnerberuf war ihm freigestellt. Er ist gerne Gärtner, man werde dabei zwar nicht reich, aber man könne gut davon leben und es bereite Freude. Diese Freude bringe zum einen die Unabhängigkeit, seinen eigenen Betrieb zu führen, zum anderen das Arbeiten mit der Natur, also der Pflanze und der sie beeinflussenden Faktoren. Im Betrieb arbeiten neben dem Ehepaar noch die Eltern des Betriebsleiters mit, bei Bedarf bzw. in den Ferien helfen die Töchter auch aus und darüber hinaus sind zu arbeitsintensiven Zeiten (vor allem Ende Februar/Anfang März und im Sommer) zwei Saisonarbeiter aus Polen ange80 s. die Liste der Ausbildungsbetriebe zum Gärtnerberuf mit fünf Reichenauer Gemüsebaubetrieben und einem Floristikbetrieb (Schnittblumen): Online im Internet: URL: <http://www.hortus.de/pdffiles/Aus_Konstanz.pdf> [Stand: 27.03.2008] 81 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil stellt. Einer von ihnen ‚pendelt’ bereits seit über 15 Jahren, seitdem der Betrieb nicht mehr nur durch die familieneigenen Arbeitskräfte gemeistert werden konnte. Der Betrieb wendet den erdelosen Substratanbau nicht an. Hauptkultur bezüglich Umsatz und Arbeitsintensität sind Tomaten Unterglas, für die der Betrieb als einer der wenigen die Jungpflanzen noch selber zieht und nicht vom ortsansässigen Jungpflanzenbetrieb zukauft. Die Abwägung, die es bei dieser Unterscheidung zu treffen gilt, ist diejenige zwischen dem Preis der käuflichen Jungpflanzen einerseits, und dem Arbeits- und Raumbedarf der eigenen Jungpflanzenaufzucht andererseits81. Im Winter werden Unterglas Salate und Radieschen angebaut. Im Freiland finden sich ebenfalls Salate, aber auch Sellerie. Die Zeit meiner Mitarbeit fiel mit Ende Februar/Anfang März in eine der interessantesten Phasen des Jahresverlaufs. So waren wir (meist vormittags) noch mit der Ernte des Feldsalats, der Blattsalate und der Radieschen beschäftigt, die rechtzeitig zur Warenannahme der genossenschaftlichen Zentralvermarktung geliefert werden mussten und arbeiteten außerdem (meist nachmittags) an den Tomatenjungpflanzen, mit deren veredelnden Aufzucht82 bereits im Januar begonnen wird. Jede Tomatenpflanze geht viele Male durch die Hände der Gärtner, bevor sie (etwa ab Juni bis hinein in den Herbst) geerntet werden kann. Die Arbeitszeit im Gärtnerbetrieb ist sehr hoch, begonnen wird (Montag bis Samstag) morgens um sechs, bei einer eineinhalbstündigen Mittagspause wird mindestens bis sechs Uhr abends (wenn es im Winter ja schon dunkel wird), oft aber auch länger, gearbeitet. Die Familie hat in der Regel eine Woche Urlaub pro Jahr, im Herbst, nachdem die Tomatenkulturen aus den Gewächshäusern geräumt sind und bevor mit den Winterkulturen begonnen wird. Entsprechend der im historischen Teil dargestellten Entwicklung hat der - von den Eltern übernommene - Betrieb sukzessive an Größe gewonnen, insbesondere die Unterglasfläche ist schrittweise erweitert worden, wobei die einzelnen der nunmehr sieben Gemüseblockteile jedes Mal auch moderner geworden sind. Heute verfügt der Unterglaskomplex über eine eigene Klimastation (mit Messinstrumenten außen und in den sieben Einheiten), deren Daten an einen Computer übermittelt werden, mit dessen System die Gewächshausteile klimatisiert werden (u.a. Heizung, Beschattung). Seit gut einem Jahr wurde ein verbessertes Programm angeschafft, es löste ein bereits 13 Jahre arbeitendes Vorgängermodell ab. Der Betrieb ist maschinell gut ausgestattet, unter anderem mit einer Gemüsewaschanlage und einer Setzmaschine. In den Gesprächen mit dem Betriebsleiter stellte sich schnell heraus, dass dieser die Kernstrategie seines Gärtnerbetriebs als „Ökologisierungsstrategie“ bezeichnet, in Abgrenzung zu anderen Betrieben, die mehr eine „Intensivierungsstrategie“ fahren. Mit letzteren sind vor allem die acht großen Betriebe gemeint, die seit kurzem den gegenüber dem Unterglasanbau in Erde noch intensiveren Anbau in Substrat praktizieren (vgl. Kapitel 4.3). Nun ist es 81 vgl. den Transaktionskostenansatz der neuen Institutionenökonomik nach W ILLIAMSON (BATHELT/GLÜCKLER 2002:156ff.) 82 auf den unteren Teil einer resistenten Sorte wird der obere Teil einer Sorte mit hoher Fruchtqualität gesetzt, woraus eine für den Gärtner optimale Pflanze wächst 82 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil zunächst einmal, die Herleitung erster und zweiter Moderne aus dem Theorie- und dem historisch-genetischen Teil bedenkend, nicht verwunderlich, dass ich während meiner Feldforschung in den Betrieben sowohl auf Ökologisierungs-, als auch auf Intensivierungsstrategien gestoßen bin. Schließlich sind die Gärtner als Produzenten für den Markt beiden Anforderungen ausgesetzt, der zunehmenden Konkurrenz und Konzentration genauso wie den wachsenden ökologischen Anforderungen von Handel und Konsumenten. (2) Die Präsenz der Anforderungen beider Modernen im Arbeitsalltag: Dass beide Anforderungen im Arbeitsalltag präsent sind und auch als Druck wahrgenommen werden, ist mir während der beiden Wochen immer wieder begegnet. So wurde vom Betriebsleiter mehrfach (an drei verschiedenen Tagen) die Greenpeace-Aktion zu Pestizidrückständen im Gemüseangebot der großen Supermärkte (Discounter und Vollsortimenter, u.a. Aldi, Lidl, Edeka) angesprochen (vgl. GREENPEACE 2005a, 2005b): In einer 2005 durchgeführten Studie, die von der Umweltschutzorganisation standesgemäß medienwirksam präsentiert wurde, sind die Gemüse der Supermärkte auf Rückstände getestet und die Supermärkte selbst anhand der Ergebnisse miteinander verglichen worden. Die gleiche Studie wurde zwei Jahre später wiederholt, wobei sich die erzielten ‚Plätze’ bzw. die Rangfolge der einzelnen Geschäfte durchaus gewandelt hatten (vgl. GREENPEACE 2007). Diese öffentlichkeitswirksame Aktion hat den Handel zu handeln veranlasst, die internen Grenzwerte wurden strenger gesetzt als die gesetzlich vorgeschriebenen, die Kontrollen verschärft. Die verschärften Grenzwerte und Kontrollen, die einerseits die Anforderungen an die Gemüsequalität erhöhen, andererseits die Kosten steigern, da zusätzliche Kontrollen den Produzenten angerechnet werden, werden im Reichenauer Betrieb als Belastung wahrgenommen. Greenpeace habe zwar gewiss mit dem Umweltschutz gute Ziele, schade aber mit seiner Aktion vor allem den Kleinproduzenten, die von den zusätzlichen Kontrollkosten aufgrund ihrer Kleinheit besonders betroffen sind. Einmal während meines Aufenthalts war es der Fall, dass im Kontrolllabor ein Stoff nachgewiesen worden war, der im Betrieb schon seit vielen Jahren nicht mehr verwendet wird, was man sich mit einem unreinen, zuvor mit jenem Stoff gefüllten Gefäß erklärte. Dieser Zwischenfall sorgte für besonderen Frust, da nun ohne eigenes Verschulden eine (selber zu bezahlende) Extrauntersuchung erforderlich war, um das Gemüse doch noch verkaufen zu können. Auf der anderen Seite war die parallel zu den ökologischen Anforderungen steigende Konkurrenz immer wieder präsent. So erzählte die Frau des Betriebsleiters von Feldsalat aus Frankreich, der neuerdings maschinell geerntet werden kann. Derlei Entwicklungen können die Reichenauer besonders treffen, da sie sich wegen der Kleinheit ihrer Betriebe, die keinen rentablen Maschineneinsatz erlaubt, vor allem auf solche Gemüse spezialisiert haben, die nicht maschinell bearbeitet werden können. Viel Geld bliebe inzwischen in Betriebsmitteln 83 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil (teure Samen, Maschinen etc.) und Vermarktung, wenn ich künftig im Supermarkt Gemüse kaufen würde, wüsste ich, welche Arbeit dahinter steckt und dass nur die Hälfte des Geldes bei den schwer arbeitenden Produzenten ankomme. Während wir gemeinsam an den Tomatenjungpflanzen arbeiten, regt sich die Familie über eine Werbung eines Konstanzer Supermarkts auf, in der zu einem sehr günstigen Preis im Februar Tomaten aus dem Senegal angeboten werden. Beim Gespräch über die sieben Unterglaseinheiten fehlt nicht der Verweis darauf, dass in Holland nur zwei Einheiten die Regel und diese Einheiten auch wesentlich größer sind, beides Vorteile im internationalen Wettbewerb. Und schließlich beschwört man die Einheit der Genossenschaft (die angesichts zweier abspaltungswilliger größerer Betriebe zu jenem Zeitpunkt bröckelte83), da sonst der ohnehin schon harte Wettbewerb weiter verschärft würde. (3) Aktive Strategien im Umgang mit beiden Anforderungen, Fokus auf Ökologisierung: Die Präsenz der ökologischen wie der ökonomischen Anforderungen sind also im gärtnerischen Arbeitsalltag deutlich spürbar. Es war zu beobachten, dass ‚mein’ Betrieb84 als professionelles Familienunternehmen beiden Anforderungen auch aktiv/strategisch begegnet. Es ist also anzunehmen, in allen Betrieben, egal, ob sie eher als ökologisierende oder intensivierende Betriebe klassifiziert werden können, sowohl Ökologisierungs- als auch Intensivierungsstrategien anzutreffen sind. Auf der Intensivierungsebene wurde bereits die gute technische Ausstattung ‚meines’ Betriebs skizziert. In ein modernstes Steuerungsprogramm für die Klimatisierung der Gewächshäuser zu investieren, bezeichnete der Betriebsleiter als Teil seiner Zukunftsstrategie. Wo andere ihr Geld möglicherweise lieber in ein neues Auto stecken, zieht er die Optimierung seines Betriebs vor, die ihm neben der Freude an der professionellen Ausübung seines Berufs auch ein Stück weit mehr Unabhängigkeit bringt: Mit einer modernen, teilautomatischen Klimatisierung lässt es sich im Sommer entspannter mal in den See baden gehen. Als eine weitere Strategie fielen die vielen verschiedenen Tomatensorten (mit roter, oranger, gelber und schwarzer Farbe) auf, die in kleinen Kistchen als „Reichenauer Tomatenvariationen“ verkauft werden. Eine Vermarktungsidee, die von einem Berater gekommen war und die auf der größten internationalen Obst- und Gemüsemesse, der Fruit Logistica 2007 in Berlin, sogar für den „Innovations Award 2007“ nominiert war85. Wie lässt sich nun urteilen, dass es sich tatsächlich um einen Betrieb mit „Ökologisierungsstrategie“ handelt, wo dies doch zunächst einfach eine Selbstbezeichnung des Betriebsleiters war? Zum einen identifiziert sich die Ökologisierungsstrategie anhand der ‚Natürlichkeit’, am Anbau im Boden festzuhalten. Die Ablehnung des Substratanbaus ist eine bewusste Entscheidung aufgrund persönlicher Einstellung sowie vermuteter (künftiger) Kundenpräfe83 s.u. um nicht ständig umständlich schreiben zu müssen, „der Betrieb, in dem ich mitgearbeitet habe“, nenne ich diesen im Folgenden ‚mein’ Betrieb 85 s. z.B. Online im Internet: URL: <http://www.best-practice-business.de/blog/?p=1936> [Stand: 27.03.2008] 84 84 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil renzen, von der Struktur des Betriebs her und aus betriebswirtschaftlicher Perspektive könnte eine solche Umstellung86 durchaus sinnvoll (rentabel) sein. Vor allem aber ist in diesem Zusammenhang aufzuführen, dass der Betriebsleiter für das bevorstehende Tomatenjahr dabei war, etwas auszuprobieren: bei 25% der angepflanzten Tomaten sollten zwar die Düngebeigaben gemäß dem integrierten Anbau sein, im Pflanzenschutz aber nur solche Mittel angewendet werden, die auch im Bioanbau (nach EU-Richtlinien) erlaubt sind. Dieser Versuch ist einerseits als Reaktion auf die verschärften Anforderungen des Handels, also indirekt auch der Kunden (als wertende Konsumenten medialer Greenpeace-Aktionen) zu verstehen und insofern ein professioneller Umgang mit dem als durchaus negativ und belastend empfundenen Druck. Andererseits kann man aber zusätzlich diesen Schritt auch perspektivisch als Senkung der Transformationskosten87 einer in Zukunft möglicherweise sinnvoll erscheinenden Umstellung auf biologischen Anbau interpretieren. Im Gespräch wird eine Umstellung auf biologischen Anbau, ggf. auch für die komplette Reichenau bezüglich der wachsenden Anforderungen von außen konsequenterweise als schon sinnvoll angesehen, gleichzeitig aber aus praktischen, vor allem aus ideologischen Gründen (Vorbehalte vieler Gärtner88) als derzeit nicht durchführbar angesehen. Angesichts der beobachtbaren, handfesten Ökologisierungsstrategie des Pestizid-Auslassversuchs kann also bestätigt werden, dass der Betrieb Ökologisierungsstrategien anwendet und diese Selbstbezeichnung nicht erfolgte, um mir etwas zu sagen, was ich hören wollte bzw. sollte. (4): Die Frage der Nachfolge als entscheidendes Moment jeglicher Zukunftsstrategie: Ein weiteres Gesprächsthema bezüglich der Zukunftsstrategien war wiederholt das der Hofnachfolge. Die Frage nach dem Nachwuchs wurde als das zentrale Moment jeglicher Zukunftsstrategie bezeichnet. Dabei stellt sich einerseits die Frage, ob der Betrieb hinsichtlich seiner Struktur überhaupt die Zukunft einer nächsten Generation sichern kann. Für den Fall, dass dies bejaht werden kann, steht andererseits im Raum, ob sich unter den Kindern eines findet, dass bereit ist oder zumindest Interesse hat, die Nachfolge anzutreten. Im Falle ‚meines’ Betriebs können beide Ungewissheiten ausgeräumt werden. Zur Klärung der Zukunftsfähigkeit der Betriebsstruktur ist es nicht nur von Bedeutung, wie der aktuelle Bestand aussieht. Hier steht der Betrieb als einer der größeren mit einer modernen Ausstattung des Unterglases und des Maschinenbesatzes durchaus gut da. Wichtig ist aber auch (in Hinblick auf die wachsende Konkurrenz und Rationalisierung) die Expansionsmöglichkeit in die Fläche, um weiter (hauptsächlich in zusätzliche, ausreichend große Gewächshäuser) investieren zu können. Auch diesbezüglich soll in ‚meinem’ Betrieb vorgesorgt, sollen also brauchbare Grundstücke in der Hinterhand sein. Nun hat sich der Sohn der Familie nach der Mittleren 86 soweit ich das einschätzen kann vgl. Fußnote 81 88 vgl. mit Kapitel 5.3 dieser Arbeit 87 85 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil Reife auf einer Wirtschaftsschule zu einer Gärtnerlehre entschlossen und kommt als Betriebsnachfolger in Frage. Eine zukunftsweisende Ausrichtung des Betriebs (sei es eine Grundsatzentscheidung wie die Umstellung auf biologischen Anbau, oder die Investition in ein großes Gewächshaus oder gar doch in Substratkultur) soll, wenn dann in Abstimmung mit dem Sohn erfolgen, für den die eingeschlagene Richtung schließlich auf viele Jahre seine Arbeitsgrundlage sein wird89. Die Tatsache, ob ein Nachfolger vorhanden ist oder nicht, unterscheidet schließlich über den Grad der Investitionsbereitschaft in den Reichenauer Betrieben. Dies betrifft nicht nur die Modernisierungen und Spezialisierungen (also auch Ökologisierungen) im eigenen Betrieb. Auch gemeinschaftliche Investitionen wie die zentrale Vermarktung sind vorwiegend für diejenigen interessant, die ihre (noch junge bzw. lange) Zukunft haupterwerblich im Gemüsebau sehen. (5) Die beiden interviewten Betriebe mit Betonung der Intensivierungsstrategien: Nach intensiver Mitarbeit in diesem ‚ökologisierenden’ Betrieb führte ich zwei (leider relativ kurze Gewächshaus-) Interviews90 mit zwei Betriebsleitern, die auf Substratkultur (Gurken bzw. Tomaten) umgestellt haben und die insofern den ‚Intensivierungsstrategen’ zuzuordnen sind (INTERVIEW IX, INTERVIEW X). Außerdem interviewte ich ein Gärtnerehepaar eines Nebenerwerbsbetriebs (INTERVIEW IV). Bei den ‚Intensivierern’ handelt es sich selbstverständlich ebenfalls um größere Betriebe, der eine mit 0,97 ha Unterglasfläche, der andere mit 1,3 ha Gewächshäusern. Beide Betriebe sind schrittweise gewachsen, hatten früher Freiland und Unterglas und haben sich dann völlig auf Unterglas und im Produkt vorwiegend auf den Schlangengurkenanbau bzw. auf den Tomatenanbau als Hauptkultur im Sommer spezialisiert. Im Winter werden weiterhin vor allem Salate in der Erde angebaut. Am Beispiel des einen Betriebs lässt sich der Ablauf anschaulich machen. Der Betriebsleiter, schon der jungen Generation zuzurechnen, hat den Betrieb vom Vater übernommen, der ihn bereits als Nachfolger des Großvaters weitergeführt hatte. Der Betrieb hatte bis in die 1960er Jahre als zusätzlichen Zweig noch Weinanbau, bis dann alle Reben erfroren. Das erste Glashaus bauten sie in den 1960er Jahren. Anfang der 1970er waren es 500m² Unterglasfläche, in den 1980ern dann 2000m², vor zehn Jahren wurde in den ersten Computer zur Klimasteuerung investiert, vor vier Jahren erfolgte die endgültige Einstellung des Freilandanbaus, vor drei Jahren wurde dann auf Substratkultur umgestellt. Letztere erfolgte laut dem Gärtnermeister, der bereits einige Zeit im Ausland war und auch gute Kontakte nach Heidel- 89 In einem Gespräch kurz vor Fertigstellung der Arbeit wurde dies bestätigt. Der Sohn hat mittlerweile die Lehre abgeschlossen und sammelt nun Arbeitserfahrung in einem Schweizer Biobetrieb. Die künftige Ausrichtung des Betriebs ist also (sinnvoller Weise) auf den anstehenden Generationenwechsel orientiert. 90 vgl. Fußnote 20 im Methodenteil 86 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil berg hat91, aus betriebswirtschaftlichen Gründen, es sei die effektivste Form der Intensivierung. Im Betrieb arbeiten, wie in ‚meinem’ Ökologisierungsbetrieb, die Eltern und in der Hauptarbeitszeit (März bis August) ein bis zwei zusätzlich angestellte Arbeitskräfte. In seiner Zukunftsstrategie plant er die Fortsetzung dieser Intensivierung. Gemeinsam mit einem Kollegen soll ein 2 bis 3 ha großes Gewächshaus entstehen. Diese Größe sei in Zukunft aus Rentabilitätsgründen erforderlich, durch die geringere Außenhaut bezogen auf die Fläche könne Energie eingespart werden, die Arbeitskraft könne bei entsprechender Ausstattung rationaler eingesetzt werden und die Investitionen in die teure Technologie des Substratanbaus würden sich schneller amortisieren92. Als wirtschaftliche Perspektive des Gemüsebaus für die gesamte Reichenau, auf der schätzungsweise 30-40 junge, gut ausgebildete Gärtner zwischen 20 und 35 Jahren bereit stehen, sieht er größere Betriebe, eine Gesamtunterglasfläche von etwa 70 ha bei ca. 2 (möglichst zusammenhängenden) ha pro Betrieb, außerdem 5-10 Freilandbetriebe, die durchaus rentabel seien, sie bräuchten eben eine Mindestfläche von etwa 5 ha pro Betrieb, die mit einer modernen Ausstattung (Fuhrpark) bewirtschaftet werden könnten. Erforderlich sei für die Sicherung der Zukunftsfähigkeit der nächsten Gemüsegärtnergeneration eine erneute Flurbereinigung, damit die genannten Flächen auch im erforderlichen Ausmaß zusammengelegt werden können. Es darf nun umgekehrt nicht verwundern, dass bei diesen beiden Betrieben, die sehr die Intensivierung betonen, auch die ökologischen Strategien bzw. Argumente nicht fehlen. So denkt der eine Betriebsleiter bei dem geplanten (für Reichenauer Verhältnisse) Riesengewächshaus an erneuerbare Energien. Auch werden von dem anderen Betriebsleiter ökologische Vorteile des Substratanbaus aufgeführt. Neben den ökonomischen Vorteilen (30% weniger Kosten, mehr Ertrag, kein Pilzdruck) werde durch die Bewässerung mit Nährlösung die Nährstoffzufuhr optimiert und somit nicht überstrapaziert, durch das geschlossene System würden Boden und Wasser nicht mit überschüssigen Chemikalien belastet und durch die geringere Schädlingsanfälligkeit der Substratkultur sei die Belastung mit Pestizidrückständen besonders niedrig. (6) Der interviewte Nebenerwerbsbetrieb: Der von mir befragte Nebenerwerberwerbsbetrieb schließlich befindet sich in der letzten Generation. Das Gärtnerehepaar lebt nur noch zu etwa einem Viertel vom Gemüsebau. Der Mann arbeitet in einem Dienstleistungsberuf in Konstanz und erwirtschaftet so die anderen drei Viertel des Einkommens. Er beginnt seinen Arbeitstag um halb sechs mit dem Gemüse und hängt abends ab 19 Uhr nochmals ein bis drei Stunden dran. Außerdem widmet er den Samstag ganz dem Gemüsebau. Die Frau arbeitet im Haushalt und im Gemüsebau. Sie 91 Gemüseanbaugebiet Handschuhsheimer Feld (durch das ich kürzlich in anderem Zusammenhang einen Spaziergang machen durfte) 92 als Vergleichsvorstellung seien etwa in Holland oder Belgien Gewächshäuser von 10ha keine Seltenheit 87 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil bauen auf 1,5 Ar im Freiland ganzjährig Schnittlauch an, was 5 bis 6 Ernten ergibt. Auf 9 Ar Unterglas pflanzen sie als „Standardkombination“ im Winter Feldsalat und Radieschen und im Sommer Gurken. Außerdem bauen sie Reben für etwas Wein und auch Speisetrauben an. Dass sie den Gemüsebau im Nebenerwerb noch betreiben, liegt nicht am Verdienst (der den Aufwand nicht rechtfertigen würde), sondern nur an ihrer Begeisterung für den Gemüsebau. Sie haben den Betrieb von seinen Eltern übernommen, er ist ausgebildeter Gärtner. Anfangs haben auch sie - parallel zu den bisherigen Betriebsbeispielen - Erweiterungsschritte durchgeführt, die Gesamtfläche des Betriebs war auch schon mal etwas größer als heute. Dann stießen sie jedoch an ihre Grenzen, da für sie kein an die bereits vorhandenen Unterglasflächen angrenzendes Land für eine Expansion zu Verfügung stand, sodass sie zurückschrauben und letztlich in den Nebenerwerb gehen mussten. Die Kinder (im jungen Erwachsenenalter) befinden sich mittlerweile in Ausbildung zu anderen Berufen, sie werden nicht mehr im Gemüsebau tätig sein. Diese Möglichkeit stand aufgrund der Zukunftsunfähigkeit des Betriebs überhaupt nicht zur Disposition. Das Nebenerwerbsgärtnerpaar plant keine weiteren Investitionen, schließlich seien die Kosten für Maschinen und Technologien von gleicher absoluter Höhe wie für einen großen Betrieb, der aus ihnen der Fläche entsprechend mehr bzw. überhaupt einen Nutzen ziehen kann. Für die ihnen verbleibende Zeit reicht der Bestand aus (was auch ‚mein’ Betriebsleiter sagte für den Fall, dass sein Sohn den Betrieb doch nicht übernehmen würde). Ihr Ziel ist es, so lange sie noch können, möglichst keinen Quadratmeter zu verkaufen. Hier ist, wie bei den Gesprächen mit bereits ‚Ausgeschiedenen’ genauso wie mit den oben vorgestellten Haupterwerbsbetrieben, eine tiefe Verbundenheit mit dem Gemüsebau offenkundig spürbar. Entsprechend des auslaufenden Stadiums sind nicht nur keine Intensivierungsstrategien, sondern auch keine weiteren Ökologisierungsstrategien über den in allen Betrieben der Reichenau mittlerweile etablierten integrierten Anbau hinaus zu erkennen. Leider konnten im Rahmen dieser Arbeit keine weiteren Betriebe befragt werden. Es sind mit den Haupterwerbsbetrieben einerseits eher ökologischer, andererseits eher intensivierender Ausrichtung und dem Nebenerwerbsbetrieb bewusst solche Betriebe ausgewählt worden, die nach Einschätzung der von mir erarbeiteten Information und der im Vorfeld der Interviews geführten Gespräche die typischen Reichenauer Betriebe darstellen. Es wäre nun für die Zukunft sowohl interessant, mehr dieser typischen Betriebe zu untersuchen, als auch Betriebe hinzuzuziehen, die sich auf Nischen innerhalb des genossenschaftlichen Sortiment (Sortiments), besonders aber auch außerhalb dessen spezialisiert haben (vgl. Kapitel 4.3). Die untersuchten Betriebe bestätigen bzw. veranschaulichen aber die im historisch-genetischen Teil gekennzeichnete strukturelle Entwicklung, nämlich die Konzentrations- und Spezialisierungsprozesse (bei denen manche Betriebe wachsen, andere - meist gezwungenermaßen - 88 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil auslaufen), die zunehmend überlagert werden von den Einwirkungen der ökologischen Diskussion im Zuge der zweiten Modernisierung. Bezüglich der Zukunftsstrategien auf einzelbetrieblicher Ebene lassen sich die empirischen Ergebnisse in einem ersten Schritt dahingehend zu einem differenzierten Bild zusammenfassen, dass sich vermutlich in allen Betrieben (jenseits der Etiketten Biobetrieb oder Integrierter-Anbau-Betrieb) sowohl Intensivierungs- als auch Ökologisierungsstrategien finden lassen, allerdings mit je unterschiedlicher Gewichtung, und dass ein innovatives Verhalten in beiden Bereichen vor allem von denjenigen Betrieben zu erwarten ist, die in Form von Expansionsmöglichkeiten und in Form einer nachfolgenden Generation eine langfristig auf dem Gemüsebau fußende Zukunftsperspektive haben. Im Folgenden werden diese Überlegungen zur einzelbetrieblichen Ebene in Bezug gesetzt zu den übergeordneten Ebenen. Dies ist zum einen die Genossenschaft als Vertreterin, Vertriebs- und Vermarktungsorganisation fast aller Reichenauer Gemüsebetriebe, zum anderen die gesamte Gemeinde bzw. die öffentlichen Diskussionen, die auf Gemeindeebene geführt werden. Dabei ergeben sich drei zentrale Spannungsfelder, die sich in Bezug auf den Gemüsebau auf der Insel Reichenau identifizieren ließen: Die Einheit der Gemüsegenossenschaft, die Frage nach der Ökologisierung des Gemüseanbaus und die Frage der Raumwirksamkeit im Sinne der landschaftsgestaltenden Wirkung des Gemüsebaus. Alle drei Spannungsfelder sind in jüngster Zeit auch durch Berichte in der Lokalpresse für die unbeteiligte Öffentlichkeit getrennt voneinander in Erscheinung getreten (RAU 2007, ZOCH 2007a und 2007c). Mit dem im historisch-genetischen Teil erarbeiteten historisch-geographischen Vorverständnis über den spezifischen Verlauf der Modernisierung der Landwirtschaft auf der Insel Reichenau werden sie als miteinander zusammenhängende Probleme einer Entwicklung versteh- und interpretierbar. 6.2 Spannungsfeld 1: die genossenschaftliche Ebene Durch die zunehmenden, sich bis heute vollziehenden Konzentrationsprozesse der letzten Jahrzehnte ist auch die Genossenschaft als Vertreterin der Gemüsegärtner einem nicht zu unterschätzenden Strukturwandel unterworfen. Sie vertritt immer weniger vom gärtnerischen Gemüsebau lebende Mitglieder. Außerdem sind diese Mitglieder untereinander einem immer stärkeren Konkurrenzkampf ausgesetzt, bei dem bereits viele entweder nur noch im Nebenerwerb Gemüse anbauen oder bald gänzlich aus der Anbautätigkeit ausscheiden müssen. Die Rolle der Genossenschaft hat sich zudem seit der Zentralisierung des Handels auf der Insel in einem grundlegenden Aspekt geändert. War sie vorher Partnerin der Mitglieder gegenüber den ortsansässigen Großhändlern, die ihrerseits Geschäfte mit den eigentlichen Großhändlern außerhalb der Reichenau machten, ist sie jetzt selbst einzige Reichenauer Großhändlerin, die ihrerseits Geschäfte mit dem eigentlichen Großhandel 89 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil außerhalb der Reichenau machen muss. Durch die Reduzierung auf eine Sammelstelle für die gesamte Insel ist der Warenabsatz ‚größer’, ‚unnahbarer’ geworden und mehr denn je muss sie nun „ihre Geschäftspolitik wie die anderer großer Unternehmen nach wirtschaftlichen Leistungs- und Erfolgskriterien ausführen“ (HENKEL 1999:149; vgl. oben S.14). In Hinblick dieser Leistungs- und Erfolganforderungen ist zusammen mit dem Teilergebnis aus 6.1, dass nur bei den großen, für eine weitere Generation zukunftsfähigen Betrieben intensive Bemühungen um Intensivierungs- und Ökologisierungsstrategien erkennbar waren, nachvollziehbar, dass eine auf Erfolg bedachte Geschäftsführung vor allem auf diese zukunftsfähigen Großbetriebe setzen muss. Dass dies geschieht, lässt sich an verschiedenen Handlungen der Genossenschaft ablesen. Hier ist erstens die bereits oben erwähnte Gewichtung der Mitgliederstimmen nach dem jeweiligen Umsatz beim Beschluss zum Bau der große Investitionen erfordernden zentralen Vermarktungsanlage zu nennen. Zweitens fällt auf, dass SPICKER-BECK/KELLER in ihrem Buch über die schöne Welterbestätte Reichenau 2001 noch feiern, dass mit „dem Argument einer qualitätsorientierten Produktion [...] von der Mehrheit der Genossenschaftsmitglieder abgelehnt [wurde], Gemüse - um des höheren Ertrags willen - auf Substrat, statt in der Erde anzubauen“ und so „die ReichenauGemüse e.G. die Weichen für die Zukunft in eine andere Richtung gestellt [hat]: Nicht hochtechnisierte Gemüsefabriken sind das Ziel, vielmehr soll der erworbene gute Ruf für qualitativ hochwertiges Gemüse erhalten werden“ (2001:110). Zwei Jahre später wird die „Reichenauer Topfkultur“ eingeführt (vgl. Kapitel 4.3), der Substratanbau eben, wenn auch leicht dahingehend modifiziert, dass statt wie anderswo Steinwolle, nur organisches Substrat, nämlich Kokosfasern angewendet werden dürfen. Ein kompromissloser Kompromiss, den die Genossenschaftsleitung gegen die Bedenken der Mehrheit der Mitglieder, im Sinne der wirtschaftlichen Zukunftsfähigkeit durchsetzte93; nicht ohne vorher gründlich per Gutachten geprüft zu haben, dass – bei zwar vorsichtshalber besser defensiver Information darüber in der Öffentlichkeit – keine Einbußen des erworbenen guten Rufs zu befürchten sind. Damit zusammenhängend feierte die Genossenschaft ihrerseits kürzlich in der Lokalpresse, dass nun drei der größeren Betriebe auf Bioanbau umstellen wollen und dadurch ab 2010 (erfolgreiche Umstellung vorausgesetzt) über 10% des auf der Reichenau produzierten Gemüses (und damit mehr als im Landesschnitt) ‚bio’ sein werden94 (s. ZOCH 2008a und 2008b). Analog zu den (großen, zukunftsfähigen) Betrieben setzt die 93 Einschätzung verschiedener Gesprächspartner während der Feldforschung. Schmunzeln lässt im Übrigen die Formulierung, mit der die „Reichenauer Topfkultur“ auf einer Internetseite zur g.g.A. beschrieben wird. Da heißt es nämlich am Beispiel der Gurken: „Gurken von der Insel Reichenau werden ausschließlich auf organi- schem Substrat, in dem natürlich begrenzten Anbaugebiet der Insel kultiviert. Dieses Kulturverfahren ist im Vergleich zu anderen Anbauregionen europaweit völlig untypisch. Hier wird größtenteils auf Steinwolle, Styropor oder vergleichbaren synthetischen Grundlagen kultiviert.“(Online im Internet: URL: <http://www.geo-schutz.de/verbraucherinfos/deutsche_produkte/_downloads/Gurken_Reichenau.pdf> [Stand: 27.03.2008]; Hervorhebung S.D.) 94 Darunter übrigens nämlicher Betrieb, den SPICKER-BECK/KELLER in ihrem Welterbe-Buch in einem zweiseitigen Portrait als Familienbetrieb feiern, der „am Boden bleibt“ und ganz bewusst nicht auf erdelosen Anbau setzt (2001:108f.). 90 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil Genossenschaft also sowohl auf Intensivierungs- als auch auf Ökologisierungsstrategien, um sich mengen- wie qualitätsmäßig auf dem schwierigen Markt behaupten zu können. Diese alles in allem aus Unternehmersicht gewiss erfolgreiche Politik verläuft nun nicht reibungslos, was mit dem „Dilemma“ zusammenhängt, neben der Unternehmenspolitik auch den „tradierten Genossenschaftsidealen Rechnung tragen“ zu müssen, was dann gegenüber ersterem „oft auf der Strecke“ bleibt (HENKEL 199:149; vgl. oben S.14). Dies begegnete mir zum einen in Äußerungen in den geführten Interviews und Gesprächen. So wurde die Genossenschaft besonders von kleinen Erzeugern und Außenstehenden als „undurchsichtig“, als „Machtapparat“ und eben als nur im Interesse der Großen handelnd benannt. Aber auch innerhalb der Mitarbeiter war eine gewisse gefühlte Distanz zu den Erzeugern zu bemerken. Diese äußerte sich meist in der ja durchaus positiven Grundhaltung, man würde gerne mehr von „denen“ wissen, welche Strategien sie verfolgen, welche Schwierigkeiten sie haben, welche Einstellungen und Zukunftsgedanken sich bei ihnen vorfinden zu Bioanbau oder zu künftigen Investitionen in ihre Betriebe. Diese Äußerungen fielen oft, wenn ich während meinem Kurzpraktikum in den verschiedenen Arbeitsbereichen der Genossenschaft meine Absicht kundtat, eine Arbeit über die Zukunftsstrategien der Gemüsegärtner zu schreiben. Doch ließen sich nicht nur diese allgemeinen Distanzierungstendenzen während meiner Feldforschung erheben. Das Konfliktpotential des Strukturwandels wurde auch in einem Fall offenbar, der alle Gemüsebaugemüter sehr bewegte, nämlich die Tatsache, dass sich zwei der größeren Betriebe, beides Intensivierer a la Substratkultur, von der Genossenschaft abspalteten (ohne die 60monatige Kündigungsfrist einzuhalten), um künftig direkt ‚no name’ an Großhändler außerhalb der Reichenau zu verkaufen. Dieser Konflikt, der mittlerweile auf dem Stand ist, dass einer der beiden „Abtrünnigen“ wieder ‚zurückgekehrt’ ist, den anderen (weiter flüchtigen) eine Schadensersatzklage seitens der Genossenschaft droht (ZOCH 2007c), konnte und wollte von mir nicht näher untersucht werden. Es lohnt aber ein kurzer Blick auf einige der mir gegenüber erwähnten Argumente beider Seiten95. So beanstandeten die „Abtrünnigen“ (so wurden/werden sie auf der Reichenau genannt), die Genossenschaft sei zu aufgebläht, insbesondere auch durch die Restaurantbelieferung der Vertriebs eG, die zu viele Mitarbeiter benötige. Man fordert(e) eine schlankere Vermarktung. Außerdem sollten die großen Betriebe eine niedrigere Marktgebühr zu entrichten haben, da mit ihrer in großen Mengen bereits kommissionierten Ware weniger Arbeitsaufwand zwischen Warenannahme und Auslieferung an die Kunden entstünde als bei den kleinen Erzeugern. Dem widerspricht die Genossenschaft, indem sie sagt, dass zum einen mit dem ‚aufgeblähten’ Vermarktungskonzept, zu dem die Restaurantschiene der Vertriebs eG gehört, sich insgesamt und auf Dauer höhere Preise erzielen lassen, und dass zum anderen die Höhe 95 Schließlich hatte ich einen der interviewten Intensivierungsbetriebsleiter auch deshalb gewählt, weil es sich um einen „Abtrünnigen“ handelte. 91 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil der Marktgebühren auch auf die Investition in die zentrale Vermarktung zurückgehe und man insofern die ‚Kleinen’, die diese Investition ja für die mehr davon profitierenden ‚Großen’ mittragen müssen, nicht zusätzlich belasten könne (Grundsatz der Gleichheit der Mitglieder, s. HENKEL 1999:149 und oben). Von den auf der Genossenschaftsseite stehenden Personen wurde das Verhalten zudem verbal damit sanktioniert, dass man den beiden vorwarf, nur aufs Geld aus zu sein, nur noch mehr verdienen zu wollen, aber dadurch nur den ohnehin schon harten Wettbewerb zu verschärfen und auf kurz oder lang ohnehin damit auf die Schnauze zu fallen. Ohne dies noch weiter vertiefen zu wollen, wird an diesem sensationellen Ereignis aber das gleiche offenbar, wie aus den davor festgestellten, eher latenten Tendenzen. Es kann nämlich als ein Beispiel des herrschenden Konkurrenzkampfes eben auch unter den Reichenauer Gärtnern selbst interpretiert werden, nur dass er hier eben nicht in Richtung der immer größer werdenden Zahl der Ausscheidenden zu Tage tritt, sondern in Richtung der wenigen, die noch im Spiel sind und hier nun die Neigung verspüren, aus der schwächer werdenden Gemeinschaft auszureißen. Einschränkend muss an dieser Stelle bemerkt werden, dass es auch früher schon Fälle von „Abtrünnigen“ gegeben hat. In einem Interview thematisiert wurden drei sich Abspaltende Ende der 1968er Jahren. Allerdings kann ich über mögliche Parallelen an dieser Stelle nur spekulieren. Immerhin waren damals wie heute Konzentrationsprozesse im Gange und man stand damals wie heute vor einem Flurbereinigungsbedarf aus betrieblicher Sicht. Jedoch sollte man nicht vergessen, dass bei einem so überschaubaren Umfeld wie der Insel Reichenau auch persönliche Verquickungen jenseits dieser strukturellen Erklärungsansätze eine große Rolle spielen können, bei einer doch stark begrenzten Erhebung wie dieser aber nicht berücksichtigt, lediglich als möglicherweise existent reflektiert werden können.96 Abschließend lohnt vielleicht ein Blick zurück auf die acht Ziele der Genossenschaft zur Erfüllung der genossenschaftlichen Grundaufgabe (vgl. Kapitel 4.3), die darin besteht, „den Absatz der Produkte ihrer Mitglieder unter Erzielung höherer Erlöse im Vergleich zu anderen Anbaugebieten“ zu sichern und dafür ihre Politik „auf den Absatz des von den Mitgliedern produzierten Gemüses“ auszurichten (REICHENAUGEMÜSE EG ohne Jahr II). Weder die Definition der Grundaufgabe noch die acht Einzelziele tangieren den Ausstieg bzw. das Ausscheiden aus der Gemüseproduktion als Folge des stattfindenden Strukturwandels. Es mag dies tatsächlich nicht in den Aufgabenbereich fallen und von der Genossenschaft in ihrer heutigen Form nicht leistbar sein, doch drängen die aufgezeigten Entwicklungen den Gedanken auf, ob nicht im Sinne der Mitglieder eine Koordination des Weitermachens und des Aufhören mit 96 Außerdem muss natürlich klar sein, dass wohl schon immer ein gewisser Konkurrenzkampf zwischen den Erzeugern geherrscht hat. Dies untermauert eine hübsche Anekdote aus der Anfangszeit des Gemüsebaus auf der Reichenau Ende des 19. Jahrhunderts: Durch den dichten Nebel ihre Gemüsekarren über den Damm gen Konstanzer Markt ziehend, drehte einer der Gärtner des anderen Karren um 180°, während dieser sich in eine m Busch erleichterte. Das eine Geschäft erledigt, machte er sich auf, den Weg fortzusetzen, um das andere zu beginnen, kam aber zu seinem Erstaunen wieder auf die Reichenau zurück anstatt nach Konstanz (Glönkler 1991:65, mit dem gleichen Gespür für Wortspiele). 92 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil eventueller Unterstützung auch bei letzterem eine sinnvolle Erweiterung der genossenschaftlichen Grundaufgabe darstellen könnte. Was früher durch mehr informelle, persönliche Kontakte oft nebenbei geschah, müsste heute (re)institutionalisiert werden. Die Fragen nach den Betriebsbeständen (vor allem auch in Bezug auf Flächengröße, -verteilung und expansionsperspektiven) und nach dem Vorhandensein eines Betriebsnachfolger ließen in vielen Fällen die Entwicklung voraussagen und in harmonisierender Weise zu koordinieren versuchen. 6.3 Spannungsfeld 2: Ökologisierungsdiskussion zum Reichenauer Gemüsebau Bei der bereits im Methodenteil angesprochenen, von der Reichenauer Ortsgruppe des BUND organisierten Podiumsdiskussion mit dem Titel „Wohin treibt Insel? Die Gemeinde im Spannungsfeld zwischen Tourismus, Siedlungsentwicklung, Naturschutz und Gemüsebau.“, bei der neben der Vorsitzenden der BUND-Gruppe der Bürgermeister der Gemeinde, der Geschäftsführer der Gemüsegenossenschaft, der Geschäftsführer des Verkehrsamts Reichenau, ein Vertreter des Denkmalschutzes vom Regierungspräsidium Freiburg (als ‚hütendes Auge’ der UNESCO) sowie ein Stadtplaner aus Ravensburg als externer Experte auf dem Podium standen, wurden die anderen beiden den Gemüsebau betreffenden Spannungsfelder (Ökologisierung, Landschaftsgestaltung) engagiert diskutiert (vgl. RAU 2007). Diese öffentlich diskutierten Spannungsfelder sollen nun mit Hilfe der in dieser Arbeit vorangegangenen Ausarbeitungen und unter Auswertung der Interviews, die mit der BUNDVorsitzenden, dem Geschäftsführer des Verkehrsamts und einer (an der Diskussion aus dem Publikum heraus beteiligten) grünpolitischen Gemeinderätin geführt worden sind, analysiert werden. Es kam nun zwar eher am Rande auf, nämlich vor allem in der abschließenden, das Publikum beteiligenden Diskussion, aber es wurde thematisiert: das Thema der Ökologisierung des Reichenauer Gemüsebaus. Es wurden aus dem Publikum zwei Argumente eingebracht: Zum einen wurden Bedenken geäußert über die Einführung des erdelosen Anbaus auf Substrat. Es würde doch bestimmt Vorbehalte seitens der Bevölkerung bzw. der Konsumenten geben. In diesem Zusammenhang wurde an den Imageschaden erinnert, den der Reichenauer Gemüsebau durch die Umweltdiskussion bezüglich ihrer konventionellen Anbaupraxis in den 1980er Jahren erlitten hatte und den man durch die Einführung der integrierten Produktion gerade erst wieder kompensiert habe. Man „spielte mit dem Feuer“, wenn man dieses mühsam wiedergewonnene Image nun durch die Topfkultur leichtfertig aufs Spiel setze. Zum anderen wurde die Forderung gestellt, dass alle Reichenauer Betriebe auf Bioanbau umstellen sollten; möglichst nicht nur in großen Gewächshäusern, sondern auch im Freien. Die Argumente, die auf diese Einwände hin ausgetauscht wurden, sind nicht sonderlich über- 93 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil raschend oder interessant. Sie lassen sich kurz paraphrasieren. Die aus einer ökologischen und naturverbundenen, der Anbaupraxis eher fernen Position entstammenden Argumente gegen ‚erdelos’ und für ‚bio’ führen nicht (mehr) nur die Folgen für Gewässer und unmittelbare menschliche Gesundheit durch Konsum belasteten Gemüses ins Feld, sondern (wahrscheinlich neuerdings) auch die Bedeutung für das Image gegenüber den Touristen und die wirtschaftlichen Vorteile der boomenden Bionische. Die damit Konfrontierten entgegnen, man habe ja immerhin schon seit nunmehr mehr als 15 Jahren die integrierte Produktion, die auch für den erdelosen Anbau gelte, für den man im übrigen eine offene Kommunikation mit dem Verbraucher führe (wobei man auf freiwillige Kennzeichnung verweisen kann) und keine negativen Imagekonsequenzen fürchten müsse (gestützt durch ein vorher angefertigtes Gutachten, was das uninformierte Publikum wahrscheinlich nicht weiß). Zudem gebe es einige Verbraucher, die mit dem Gedanken spielen, auf ‚bio’ umzustellen (was sich in diesen Tagen als ernstzunehmendes Argument erweist, vgl. ZOCH 2008a). Allerdings sei die Umstellung auf ‚bio’ auch eine Frage der Wirtschaftlichkeit, letztlich werde der Markt entscheiden, ob sich die durch die Transformation anfallenden Mengeneinbußen durch den höheren Preis für Bioprodukte kompensieren ließen. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass auch Bioanbau gerade angesichts des Booms und der damit wachsenden Konkurrenz nur auf ausreichend großen, zusammenhängenden (Glashaus)Flächen möglich sei. Interessanter als die inhaltliche Argumentation ist am Beispiel dieser öffentlichen Diskussion die Konstellation und die Art und Weise, in der Argumente und Gegenargumente hervorgebracht werden. Am imposantesten war für mich die Heftigkeit der Reaktion, mit der einer der aus dem Publikum sich einschaltenden Gemüsegärtner gegen den Naturschutz (als Akteur) und gegen die grüne Politikerin sich erzürnte. Der Naturschutz habe die Perspektive der Betriebe zu berücksichtigen, die einem starken Druck des Marktes bei all den sich konzentrierenden Discountern ausgesetzt sind, bei dem auch die positiven Abweichungen des Biopreises nur noch minimal seien. Angesichts der Konstellation ist dies - vor allem inhaltlich betrachtet - noch nicht sonderlich verwunderlich. Schließlich nimmt gerade der Naturschutz und die klassische grüne Politik ein kritische Position gegenüber (potentiellen) ökologischen Sünden der Landwirtschaft ein. Auch in der konkreten Podiumsdiskussion war es ja so, dass der Naturschutz durch die Organisation der Veranstaltung eine gerade gegenüber dem Gemüsebau kritische Diskussion in die Öffentlichkeit trug, auch wenn es im Kern eher um die Insellandschaft und weniger um den Bioanbau ging. Und als lokale NGO von hobbymäßig ehrenamtlich engagierten Umweltfreunden muss er ja in der Tat in seiner Argumentation die ökonomische Perspektive der Gemüsebetriebe (zumindest zunächst bzw. nicht unmittelbar) nicht berücksichtigen. So setzt sich ‚der Landwirt’ zu Wehr, indem er (zurecht) auf seine subjektive Situation verweist, die von den Kritikern nicht bzw. nicht ausreichend gewürdigt wird. Das Erstaunliche daran ist nun besagte Heftigkeit der Reaktion, die einem ersten Eindruck 94 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil folgend nicht angemessen erschien gegenüber der in sachlichem Ton (und auch nicht dem Redebeitrag direkt vorausgehend) geäußerten Kritik. Es verstärkte sich mein Erstaunen, als sich zu einem späteren Zeitpunkt meiner Forschung herausstellte, dass der erzürnte Gärtner einen Betrieb führt, der wie ‚mein eigener’ eindeutig eine Ökologisierungsstrategie verfolgt, die wohl früher oder später in eine Umstellung auf Bioanbau münden wird. Das heißt, ein sich in seiner alltäglichen Arbeitspraxis mit konkreten, ernstzunehmenden Schritten in Richtung eines ökologische(re)n Anbaus bewegender Reichenauer Gemüsegärtner entgegnet in der Öffentlichkeit dem (von Naturschutz, grüner Politik vorgebrachten) Argument, die Reichenauer Gemüsegärtner sollten mehr/weiter ökologisieren, mit einer einem Außenstehenden in ihrer Heftigkeit unverständlich anmutenden, ablehnenden Haltung, das könne man nicht einfach so fordern, der Naturschutz müsse (endlich) auch die ökonomische Situation der Betriebe berücksichtigen. Wie lässt sich nun diese nicht ohne weiteres nachvollziehbare Reaktion interpretieren? Die zentrale Interpretation, die sich mit Hilfe vorliegender Arbeit anbietet, ist die, dass hier eine Erfahrungskomponente, nämlich die Vorerfahrung des Gemüsegärtners als Landwirt mit dem Naturschutz bzw. der ökologischen Diskussion, im Spiel ist. Die Heftigkeit der Reaktion könnte ihr (auslösendes, entsprechendes) Gegenstück also in der Diskussion der Umweltfrage bezüglich der Reichenauer Gemüsegärtner haben, die besonders in der frühen Phase Anfang der 1980er Jahre ebenfalls sehr heftig gewesen sein soll. Wie oben aufgeführt, soll die Stimmung feindselig gewesen, die Landwirte in die Defensive gedrängt worden sein. Die bereits durch den sich immer weiter verschärfenden Modernisierungswettbewerb unter Druck stehenden Bauern sahen sich mit Aufkommen der Umweltdiskussion nun zusätzlich noch Kritik aus dem ökologischen Lager ausgesetzt. So konnten die Landwirte einerseits meist nur reagieren auf den wissenschaftlich geebneten und agrarpolitisch vorangetriebenen Fortschritt, der sie dem andauernden Druck der ersten Modernisierung nach dem Motto Wachsen oder Weichen97 aussetzte. Die Kritik an dieser durch Wissenschaft und Politik forcierten gesellschaftlichen Entwicklung schlug nun ebenfalls auf die Bauern zurück. Gerade für kleinere Familienbetriebe, wie sie auf der Reichenau anzutreffen sind, hieß (heißt) dies, dass ein eigentlich gesellschaftlicher Konflikt, auf den sie wenig Einfluss haben, mit ihnen und ihrer Existenz ausgetragen wird. Dies trifft umso mehr dann zu, wenn lokale Umweltgruppen diesen gesellschaftlichen Konflikt auf die lokale Ebene herunterbrechen und die Argumente des ‚ökologischen Lagers’ auf die lokalen Landwirte schießen, ohne dabei diese Tatsache des Herunterbrechens ausreichend zu reflektieren bzw. ihr Vorgehen an den Kontext der betroffenen Bauern anzupassen. Diese gesellschaftlich schwierige Position der Bauern lässt sich mithilfe von anderen Befunden untermauern. Wie oben erwähnt, wurden nach KÖLSCH vor allem in der Anfangsphase 97 nach dem ehemaligen EG-Agrarkommisar für die Landwirschaft MANSHOLT (s. z.B. bei HENKEL 1999:161) 95 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil der ökologischen Diskussion Forderungen nach einem Ökologischen Landbau von vielen Landwirten als einen Angriff auf ihre Lebensform wahrgenommen (1990:116ff., auch 1988)98. Auch PONGRATZ (1992) stellte fest, dass die gesellschaftliche Konstellation, in der die Umweltfrage diskutiert worden ist, eine konstruktive Beteiligung der Bauern erschwert hat: So wurde erstens die Diskussion der Umweltfrage „von gesellschaftlichen Gruppen aus städtischen und intellektuellen Milieus bestimmt, die in relativ großer sozialer und kultureller Distanz zu den Bauern leben“, zweitens fand die Verbreitung der Umweltdiskussion „wesentlich über die Massenmedien und weitgehend unabhängig von Alltagserfahrungen“ statt, drittens ließ sich in der ökologischen Diskussion „eine Tendenz zur einseitigen und theoretisch abstrakten Ausrichtung an der Ökologie als neuer Leitwissenschaft [...] beobachten, die gesellschaftliche Bedingungen und Bedürfnisse vernachlässigt“ und viertens ist die Diskussion der Umweltfrage „wenig verhaltensrelevant geworden und konnte deshalb kaum Vorbildcharakter gewinnen“ (PONGRATZ 1992:250). Die ersten beiden Punkte lassen PONGRATZ vermuten, „dass der ökologische Diskurs den Bauern von außen, als fremde Anforderung von Gruppen entgegentritt, denen sie nur begrenzt Vertrauen entgegenbringen“, die zweiten beiden „verweisen auf Unstimmigkeiten der gesellschaftlichen Ansprüche: Die Bauern sehen sich weitreichenden Forderungen an die Änderung ihres Verhaltens in einem Diskurs gegenüber, der gesellschaftliche Bedingungen zu wenig berücksichtigt und in weiten Bereichen nicht verhaltensrelevant geworden ist“ (1992:250). Besonders die letzten beiden Merkmale passen zu einigen Details meines erhobenen Materials: Dass die Bauern besonders auf der Verhaltensebene gemessen werden, während das (auch ökologisch kritisierbare) Verhalten anderer gesellschaftlicher Gruppen weniger öffentliches Thema ist, zeigt sich an einem Beispiel für den Umgang der Gemüsebauern mit ihren Kritikern. So beklagte eine der Naturschützerinnen, es werde ihr oft vorgehalten, wenn sie mal wieder im Auto gesehen worden ist. Auch wenn man die Heftigkeit der oben geschilderten Reaktion des Gärtners bei der Podiumsdiskussion beiseite lässt und sich dem Inhalt des Gesagten zuwendet, wird der eigentliche Vorwurf deutlich: Die Aussage, der Naturschutz müsse (endlich) auch die ökonomische Situation der Betriebe berücksichtigen, impliziert ja gerade, dass bei der bisherigen Diskussion die Gesamtsituation, der Kontext der Gärtner als ein Ausdruck gesellschaftlicher Bedingungen (einer durch und durch modernisierten Gesellschaft) bei den Argumentationen des Naturschutzes aus seiner Sicht zu wenig berücksichtigt worden ist. Die emotional vorgetragene Kritik99 richtet sich also nicht gegen Forderungen der Ökologisierung (und umsichtigen Landschaftsgestaltung) an sich, sondern gegen die Ausblendung von für die gärtnerische Existenz wichtigen Aspekten. 98 Dass KÖLSCH von den Ökolandwirten gegenüber den konventionellen Landwirten mehr, und dass er von dörflichen Institutionen offenbar wenig hält, zeigt übrigens beispielhaft folgendes Zitat: „Die Landwirte, die ihre Produktion umstellen, sind in der Regel sehr konsequente Menschen, die weniger als andere zu „faulen“ Kompromissen neigen. Die Folge dieser Konsequenz ist die Ablehnung der üblichen dörflichen Aktivitäten in Vereinen, Clubs oder am Stammtisch, die in ihrer Oberflächlichkeit keine wahre Gemeinschaft generieren können“(1990:117). 99 vgl. auch die Emotionalität der Interviewpartner von PONGRATZ (1992)! 96 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil Mit der historisch-geographischen Vorgehensweise und der intensiven empirischen Forschung bei den Gärtnern hat diese Arbeit die für die Existenz des Gemüsebaus und seiner Akteure auf der Reichenau wichtigen Aspekte besonders zu berücksichtigen versucht. Aus der dabei offenkundig gewordenen Tatsache, dass durchaus auf Ökologisierung zielende Bestrebungen im Reichenauer Gemüsebau vorhanden sind und diese den von Naturschutzseite her gestellten Forderungen durchaus gerecht werden können, ist an dieser Stelle nach der aus meinen Resultaten abzuleitenden Konsequenz des Naturschutzes, sei es jetzt in der Gemeindepolitik oder auf NGO-Ebene, zu fragen. Durch die Art und Weise, in der Argumente für die Ökologisierung des Gemüsebaus durch den Naturschutz auf lokaler Ebene in die öffentliche Diskussion (mit ihrer spezifischen gesellschaftlichen Beschaffenheit) gebracht worden sind, scheinen von den Naturschutzaktivitäten nicht nur Fortschritte, sondern auch Hemmnisse für eine Ökologisierung auszugehen. Nicht umsonst werden von Interviewpartnern ideologische Vorbehalte vieler Gärtner als Grund für die Ablehnung von Bioanbau genannt; Vorbehalte, die mit dem beschriebenen öffentlichen Klima nachvollziehbarer werden. Es stellt sich also aus meiner Sicht die Frage nach einer Modifizierung von Ökologisierungsstrategien lokaler NGOs bezüglich der Landwirtschaft im ländlichen Raum. Solche Ökologisierungsstrategien müssen die Gesamtsituation der Bauern, besonders den existentiellen Konkurrenzkampf in einem modernen internationalisierten Agrarmarkt berücksichtigen, wenn sie konstruktive Ergebnisse im von ihnen propagierten Sinne einer nachhaltigen Entwicklung, die ökologische und soziale Aspekte berücksichtigen soll, erzielen wollen. Im Sinne einer gründlicheren Reflektion des Herunterbrechens gesellschaftskritischer Ökologisierungsargumente auf die lokale Ebene müsste neben einer Kritik erstmoderner Landwirtschaft, die gegen Politik, Wissenschaft und Agrarindustrie zu richten ist100, eine Solidarität mit den Bauern, gerade den kleinen Familienbetrieben entstehen, durch die (nicht zuletzt durch materielle Bereitschaft, regionale Produkte kleinerer Anbieter zu bevorzugen) eine nachhaltigere Landwirtschaft erst möglich werden kann. 6.4 Spannungsfeld 3: Raumwirksamkeit des Reichenauer Gemüsebaus in Bezug auf das Landschaftsbild NEUER/LAZAR kommen bei einer GIS-unterstützten Kulturlandschaftsanalyse im Rahmen eines historisch-geographischen Gutachtens für den Antrag auf Aufnahme der Klosterinsel Reichenau in die Weltkulturerbeliste der UNESCO zu einem mit der Auswertung der historischen und agrargeographischen Literatur im historisch-genetischen Teil dieser Arbeit vergleichbaren Ergebnis: „Der Gemüsebau, der aus den Gärten und Weingärten hervorgegangen ist, bricht [...] nicht grundsätzlich mit dem roten Faden der Geschichte. Vielmehr wird 100 vgl. an dieser Stelle die im Theorieteil herausgearbeitete Rolle von Politik/Bürokratie und Wissenschaft an der Modernisierung und ihren Folgen 97 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau dieser durch die Existenz der 6. Aktueller Teil Glashäuser und Gemüsefelder weitergeflochten“ (NEUER/LAZAR 2000:196). „Problematisch an den Gewächshäusern ist damit keineswegs ihre Existenz an sich. Durch ihre Nutzung [Funktion, S.D.] und ihre Lage greifen sie die Verbindung zur Geschichte mit ihren siedlungsnahen, intensiv genutzten Haus- und Weingärten auf. Einzig die ständig wachsende Größe der Glashäuser könnte dazu führen, dass mit den historischen Entwicklungslinien gebrochen wird, da sie ab einem bestimmten Punkt historisch geprägte Fluren verdecken“ (NEUER/LAZAR 2000:196). Diese Problematik der ständig wachsenden Größe der Reichenauer Gewächshäuser war im Rahmen der Frage nach der Entwicklung des Landschaftsbilds der Insel Reichenau nun ein zentraler Bestandteil der Podiumsdiskussion. Der Plan meines Interviewpartners, zusammen mit einem Kollegen das erste Riesengewächshaus von 2 bis 3 ha zu bauen, war dem informierten Teil der Anwesenden zum Zeitpunkt der Diskussion bereits bekannt. Damit sich die Lesenden einen ungefähren Eindruck verschaffen können über die Wirkung der unterschiedlich großen Gewächshäuser im Landschaftsbild, sei hier auf die erstellte Photogalerie im Anhang verwiesen. Wie in Kapitel 4.2 veranschaulicht wurde, ist die Insel als Ganzes in die Welterbeliste aufgenommen worden und somit soll die ganze Insellandschaft inklusive der kleinen Gewächshäuser und des Freilandanbaus für Gemüse erhalten werden. Da lässt es, an andere, weniger ländliche deutsche Welterbestätten denkend, aufhorchen, wenn besagter Vertreter des Denkmalschutzes aus Freiburg auf dem Podium bemerkt, Riesengewächshäuser seien eine „substantielle Bedrohung für den Welterbestatus“. Noch erscheint dies eher als drohende Rhetorik denn als ernsthafte Bedrohung. Dass der Geschäftsführer des Verkehrsamts sich dieser Rhetorik nicht bedient (s. RAU 2007), liegt auf der Hand, schließlich droht man nicht mit dem Imageverlust, der der eigenen Branche am meisten Schaden zufügen würde. „Gespräche und Verhandlungen“, um das „Gesamtkunstwerk“ Insel Reichenau zu erhalten, scheinen da angebrachter. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass eine zweiseitige Entwicklung stattfindet, was nach den Erkenntnissen aus dem historischgenetischen Teil auf der Hand liegt: Nicht nur nehmen die Gewächshausflächen und die durchschnittlichen Gewächshausgrößen zu, die andere Medaillenseite dieser Intensivierungstendenz ist schließlich der Rückgang der Freilandflächen. Entsprechend sind in der Reichenauer Öffentlichkeit nicht nur die großen Gewächshäuser, sondern auch die zunehmenden, als unschön empfundenen Brachflächen eine Thema (vgl. ZOCH 2007a). Angesichts dieser zweiseitigen Entwicklung stecken die Bemühungen um den Erhalt der Reichenauer Insellandschaft in einem Dilemma: Die zu erhaltene Landschaft ist deutlich geprägt vom Gemüsebau, die erwünschten Freilandanbauflächen und kleinen Gewächshäuser hören ohne ihn auf zu existieren. Angesichts der Modernisierungsanforderungen, die an die Gemüsebaubetriebe im verschärften Wettbewerb gestellt werden, besteht nun aber die Gefahr, dass Freiland und kleine Treibhäuser auch mit ihm aufhören, zu existieren. 98 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil Kritisch sehen diese Entwicklung neben dem Denkmalschutz und dem Tourismus auch Vertreter des Naturschutzes und der Wohnbevölkerung. Dem Denkmalschutz geht es darum, die lockere Streusiedlung zu erhalten, der Tourismus fürchtet um sein Image, wenn die idyllesuchenden Gäste mit den gläsernen „Gemüsefabriken“ konfrontiert werden101. Der Naturschutz befürchtet, dass durch die sukzessive Bautätigkeit sowohl im Gewächshaus- als auch im Wohnbereich der langfristige Trumpf der Gemeinde, nämlich ihre Landschaft, zerstört werde und sagt, es sei höchste Zeit, „die Reißleine zu ziehen“ (RAU 2007, INTERVIEW XI). Die Wohnbevölkerung wohnt lieber in der bisherigen Landschaft als zwischen noch mehr Glashäusern und Mitbewohnern, am besten aber auch ohne die massenhaften, durch den Welterbetitel verstärkt angezogenen Tagestouristen. Motivation des BUND, diese Podiumsdiskussion zu organisieren, war, Öffentlichkeit herzustellen, damit seiner Sprachrohrfunktion für Unzufriedene und ‚stille’ Kritiker gerecht zu werden und einen echten, partizipativen Interessensausgleich einzufordern. Dieser vielbeschworene Interessensausgleich (vom Bürgermeister, vom Verkehrsamt) sei einseitig, berücksichtige nur die Interessensvertreter der Wirtschaft und lasse die Bürger und den Umweltschutz außen vor. Verlangt wird ein, möglichst von einem kompetenten, externen Mediator moderierter, Verständigungsprozess über ein langfristiges, mindestens auf zwanzig bis dreißig Jahre angelegtes Leitbild, das die nicht vorhandenen Rahmenbedingungen für eine Entwicklung festlegt, bei der die Landschaft der Insel doch noch gerettet werden kann. Diese Motivation, die Argumente bei der Diskussion und das rege Interesse an der Veranstaltung zeugen von einem sich in Zukunft sicherlich zuspitzenden Interessenskonflikt von in ihrer Ausgangsposition ungleichen Parteien. In der Tat versuchen vor allem die beiden Wirtschaftsvertreter Gemüsebau und Tourismus, ihre Interessen durchzusetzen. Ihre Argumentation verwendet dabei Drohung wie Beteuerung. Der Tourismus fordert, größere Gewächshäuser sollen nur noch auf dem Festland entstehen, ohne übrigens zu wissen, ob dort überhaupt Flächen in Frage kommen (INTERVIEW VI). Darauf der Gemüsebau droht, Betriebe, die aufs Festland verdrängt würden, würden der Gemeinde den Rücken kehren; nur ein Gemüsebau auf der Insel habe Zukunft. Der Gemüsebau sagt (bei der Podiumsdiskussion), die kleinen Gewächshäuser bräuchten innovative Konzepte - quasi im Sinne eine Nachfolgekultur - und könnten erhalten werden, wenn die Betriebe wachsen können; die Beteuerung, eine von den anderen befürchtete Entwicklung würde abgewendet, wenn man den eigenen Willen, nämlich den nach größeren Gewächshäusern, bekomme. Die Erhaltung des Freilandanbaus fordere ebenfalls eine Flurbereinigung. 101 es reichen schließlich schon die bisherigen Reibereien, dass man sich über spritzende Gärtner und die Beregungsanlagen als Verursacher von störenden Geräuschen und nassen Wegen aufregt; vgl. BLENCK 1971, Gespräche während der Feldforschung 99 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil Es kann hier wiederum nicht die Absicht sein, die Argumentationen vollständig wiederzugeben und nach ihrem Inhalt zu gewichten oder zu entscheiden, was unter Umständen bloße Rhetorik ist. Es können aber abschließend zwei interessante Merkmale der Diskussion herausgestellt werden. Zunächst fällt auf, dass die ökologische Frage des Gemüseanbaus in der Diskussion um das Landschaftsbild eine zweitrangige Bedeutung hat. So sagen Gemüsebau und Tourismus einhellig, dass auch der Bioanbau nur auf großen Flächen und auch Unterglas erfolge, sodass eine Umstellung auf ‚bio’ keine unmittelbare Auswirkung auf das Landschaftsbild hat und insofern als für diese Diskussion weitestgehend uninteressant abgetan wird. Allerdings gibt es einen indirekten Zusammenhang, vermittelt durch das Image. Wird auf der Reichenau ‚bio’ angebaut, ist das auch ein Pluspunkt für den Tourismus. Umgekehrt profitiert der Gemüsebau vom hohen, durch das Welterbe erhöhten, Bekanntheitsgrad der Touristendestination, der die Positionierung der Marke ‚Reichenau Gemüse’ erleichtert (INTERVIEW II). Im Sinne des Images dürften es Tourismus wie Gemüsebau derzeit begrüßen, dass sowohl eine Teilumstellung auf Biobetriebe ansteht, als auch endlich das Prädikat der ‚geschützten geographischen Angabe’ von der EU gewährt wurde (ZOCH 2008a und 2008b). Zweitens fordert der Tourismus einhellig mit dem Naturschutz, es müssten die Rahmenbedingungen für die nächsten zwanzig bis dreißig Jahre definiert werden, ein „Masterplan“ müsse her (INTERVIEW VI). Dagegen lässt der Gemüsebau durchblicken, man selbst habe die langfristigen Ziele bereits definiert102, habe aber die der anderen Akteure nicht berücksichtigen können, weil diese sie nicht artikuliert haben bzw. weil man sie nicht kenne (INTERVIEW II). Dies ist nun nicht nur dem puren Zufall zuzuschreiben, sondern macht vielmehr die grundsätzliche Problematik deutlich. Während der Gemüsebau mit ökonomischen Anforderungen operiert (operieren muss), die sich klar dahingehend festlegen lassen, dass die Betriebe weiter (und gerade auch in der Fläche) wachsen müssen, haben die anderen, um Landschaftserhaltung bemühten Akteure es mit der Schwierigkeit zu tun, normative Rahmenbedingungen festzulegen im Sinne eines Inselleitbilds, dass es schaffen könnte, die sukzessiven, „alle zwei Jahre mit den gleichen Argumenten“ durchgesetzten Bautätigkeiten im Sinne einer akzeptablen Insellandschaft zu regulieren. Die Kunst, dass „Gesamtkunstwerk“ Insel Reichenau (vgl. RAU 2007) zu erhalten, wird also - analog zu den oben vorgeschlagenen Ökologisierungsstrategien für den Naturschutz - die sein, einen Weg zu finden, unter Berücksichtigung der Situation des Gemüsebaus mit seiner bereitstehenden Nachwuchsmannschaft von 30 bis 40 Junggärtnern Rahmenbedingungen schaffen zu können, die uns auch in dreißig Jahren noch ein ansehnliches Inselbild antreffen lassen werden. Hier sind in der Tat innovative Konzepte gefragt, die mit dem Gemüsebau einen Weg finden, ohne die Gärtner zu bezahlten Landschaftspflegern umfunktionieren zu müssen; mit ihm nicht 102 vgl. die Auflistung der Ziele in Kapitel 4.3 100 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil zuletzt deshalb, weil er auf der Insel eine der letzten gelebten traditionellen Praxen darstellt, nämlich der durch das Kloster gewordene, auf den Markt orientierte Sonderkulturanbau. 6.5 Resümee aktueller Teil Im aktuellen Teil wurden die Ergebnisse meiner Feldforschung präsentiert. Zunächst wurden die identifizierten Zukunftsstrategien auf der Ebene einzelner Betriebe vorgestellt (6.1). Besonders bei meinem Arbeitseinsatz in einem der Betriebe, aber auch bei den anschließenden Interviews mit Leitern anderer Betriebe, ließ sich feststellen, dass die im historischgenetischen Teil herausgearbeiteten, gleichzeitig wirksamen Rahmenbedingungen der ersten und zweiten Modernisierung (zunehmende Konzentrationsprozesse, steigende ökologische Anforderungen) im Arbeitsalltag - Leistungsdruck erzeugend - präsent sind und sich in den Zukunftsstrategien der Betriebe niederschlagen. Es kann also durch die Ergebnisse der Erhebung angenommen werden, dass sich in allen Betrieben sowohl Intensivierungs- als auch Ökologisierungsstrategien vorfinden lassen, allerdings mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung. Ein zukunftsorientierter Betrieb muss sich beiden Herausforderungen stellen. Als für die Zukunft eines Betriebs entscheidend können zwei Aspekte genannt werden. Zum einen spielt nicht nur die aktuelle Größe und Ausstattung eine Rolle, sondern vor allem die Möglichkeit künftigen Wachstums. Dabei ist sowohl bei mehr intensivierenden, als auch bei mehr ökologisierenden Betrieben die Möglichkeit, in der Fläche zu wachsen, mit das entscheidende Kriterium. Zum anderen muss, die rein strukturelle Zukunftsfähigkeit inklusive Expansionspotential vorausgesetzt, ein bereitwilliger und entsprechend ausgebildeter Betriebsnachfolger vorhanden sein, der den Familienbetrieb weiter führt. Einschneidende Spezialisierungsschritte wie die Umstellung auf Substratanbau oder die auf Bioanbau103 orientieren sich nach der wichtigen Zäsur der betrieblichen Entwicklung, der Hofnachfolge. So können, wie am Beispiel ‚meines Betriebs’ zu sehen, im Falle der Ökologisierungsmaßnahmen diese schon lange Zeit - sozusagen latent - vorhanden sein, bevor sie in Form eines Siegels dem ortsunkundigen Käufer sichtbar werden. Diese lange Vorlaufzeit begründet sich einerseits mit den mit neuen Verfahren verbundenen wirtschaftlichen Risiken und Umstellungskosten, andererseits mit dem Moment der Betriebsübergabe an die nächste Generation. Wiederum für Ökologisierung und Intensivierung gemeinsam gilt, dass nur dann mit Innovationen und Investitionen gerechnet werden kann, die über bereits etablierte Standards wie die integrierte Produktion oder vorhandene Maschinen und Gebäude hinaus gehen, wenn die beiden für die Zukunftsfähigkeit entscheidenden Aspekte positiv ausgeprägt sind. Dies zeigt das Beispiel des befragten Nebenerwerbbetriebs, wo weder Expansionsfläche noch 103 beides zusammen schließt sich - zumindest derzeit - aus 101 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil gärtnerischer Familiennachwuchs vorhanden ist und entsprechend keine besonderen Ökologisierungs- oder Intensivierungsstrategien anzutreffen waren. Anschließend an die Zukunftsstrategien auf einzelbetrieblicher Ebene wurden, ebenfalls mit Hilfe der Ergebnisse des historisch-genetischen Teils, drei zentrale, den Gemüsebau auf der Insel Reichenau betreffenden Spannungsfelder analysiert: (1)die genossenschaftliche Ebene (6.2), (2)die Ökologisierungsdiskussion zum Reichenauer Gemüsebau (6.3.) und (3)die Raumwirksamkeit des Reichenauer Gemüsebaus in Bezug auf das Landschaftsbild (6.4). (1) Auf genossenschaftlicher Ebene konnte für die während der Feldforschung festgestellten Unzufriedenheiten (gegenüber der unnahbarer gewordenen Genossenschaft), Unsicherheiten (gegenseitige Unkenntnis, Distanz der Akteure) und Spannungen (Abspaltung zweier größerer Betriebe) aufgezeigt werden, dass für diese ein Zusammenhang mit der strukturellen Entwicklung des Reichenauer Gemüsebaus seit 1948 nahe liegt. Als eine als wirtschaftliches Unternehmen zu führende Institution muss die Genossenschaft in Hinblick auf ihre Zukunftsfähigkeit ebenfalls sowohl auf Intensivierungs- als auch auf Ökologisierungsstrategien setzen. In beide Richtungen kann sie, entsprechend den Ergebnissen aus 6.1, mit Fortschritten, die über das bereits Etablierte hinausgehen104, weitestgehend nur bei den größeren, zukunftsfähigen Betrieben rechnen. Die äußeren Erfolgsanforderungen und die wachsenden Unterschiede zwischen den Mitgliedern angesichts des auf immer weniger, dafür immer größere Betriebe hinauslaufenden Strukturwandels, stellen die Einheit der Genossenschaft und die Gleichheit der Mitglieder vor eine große Herausforderung. Angesichts dieser sich auch in Zukunft fortsetzenden Tendenz drängte sich die Überlegung auf, ob allein über die Förderung des Gemüseabsatzes die genossenschaftliche Grundaufgabe im Sinne der Gleichheit der Mitglieder überhaupt bewältigt werden kann oder ob nicht eine Ergänzung der Ziele sinnvoll wäre. Eventuell könnte über eine Koordination von Ausstieg und Weitermachen mit dem vorhandenen Spannungspotential besser umgegangen werden. Was früher durch mehr informelle, persönliche Kontakte oft nebenbei geschah, müsste heute (re)institutionalisiert werden. Die Fragen nach den Betriebsbeständen (vor allem auch in Bezug auf Flächengröße, -verteilung und -expansionsperspektiven) und nach dem Vorhandensein eines Betriebsnachfolger ließe in vielen Fällen die Entwicklung voraussagen und in harmonisierender Weise zu koordinieren versuchen. (2) Bei der öffentlichen Diskussion über die Ökologisierung des Reichenauer Gemüsebaus fiel auf, dass ein sich in seiner alltäglichen Arbeitspraxis mit konkreten, ernstzunehmenden Schritten in Richtung eines ökologische(re)n Anbaus bewegender Reichenauer Gemüsegärtner in der Öffentlichkeit dem (von Naturschutz, grüner Politik vorgebrachten) Argument, die Reichenauer Gemüsegärtner sollten mehr/weiter ökologisieren, mit einer einem Außen104 Für die Genossenschaft als vermarktende Organisation gilt im Übrigen ja das gleiche, wie für den ortsfernen Kunden: das Ergebnis von Ökologisierungsmaßnahmen wird erst sichtbar bzw. lässt sich erst sichtbar machen, wenn die Stufe der institutionalisierten Siegel erreicht wird. 102 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil stehenden in ihrer Heftigkeit unverständlich anmutenden, ablehnenden Haltung begegnete. Diese interessante Sequenz der hier vieldiskutierten Podiumsdiskussion lässt sich interpretieren, wenn man die Merkmale und den Verlauf der öffentlichen Diskussion der Umweltfrage in Bezug auf die Landwirtschaft (im Allgemeinen genauso wie im konkreten Verlauf auf der Reichenau) beleuchtet. So kann mit PONGRATZ (1992)105 und mit einigen Aspekten des von mir erhobenen Materials argumentiert werden, dass die Art und Weise, wie die ökologische Kritik an der Landwirtschaft oft hervorgebracht wurde (von den Bauern sozial eher fernen Gruppen, gesellschaftliche Bedingungen - insbesondere die Situation der Landwirte – vernachlässigend, wenig verhaltensrelevant, als Angriff zu empfinden), die Bauern in die Defensive drängte, sie auf Umweltschutz und ‚Grüne’ nicht gut zu sprechen kommen ließ. So hat die ökologische Kritik nicht nur Ökologisierungsmaßnahmen in der Landwirtschaft ausgelöst. Durch die Art und Weise, wie sie vorgebracht wurde, kann sie auch Ökologisierungsschritte gehemmt oder zumindest ihr Potential hinsichtlich Effektivität nicht völlig ausgeschöpft haben. So bezog sich die ablehnende Haltung des ökologisierenden Gärtners bei der Podiumsdiskussion nicht auf die Ökologisierung an sich, sondern darauf, dass der Naturschutz auch die ökonomische Situation der Gemüsebetriebe zu berücksichtigen habe (Forderung nach mehr Berücksichtigung gesellschaftlicher Verhältnisse). Diese Befunde heranziehend werfe ich also die Frage auf „nach einer Modifizierung von Ökologisierungsstrategien lokaler NGOs bezüglich der Landwirtschaft im ländlichen Raum. Solche Ökologisierungsstrategien müssen die Gesamtsituation der Bauern, besonders den existentiellen Konkurrenzkampf in einem modernen internationalisierten Agrarmarkt berücksichtigen, wenn sie konstruktive Ergebnisse im von ihnen propagierten Sinne einer nachhaltigen Entwicklung, die ökologische und soziale Aspekte berücksichtigen soll, erzielen wollen. Im Sinne einer gründlicheren Reflektion des Herunterbrechens gesellschaftskritischer Ökologisierungsargumente auf die lokale Ebene müsste neben einer Kritik erstmoderner Landwirtschaft, die gegen Politik, Wissenschaft und Agrarindustrie zu richten ist, eine Solidarität mit den Bauern, gerade den kleinen Familienbetrieben entstehen, durch die (nicht zuletzt durch materielle Bereitschaft, regionale Produkte kleinerer Anbieter zu bevorzugen) eine nachhaltigere Landwirtschaft erst möglich werden kann.“(s.o.). (3) Schließlich wurden die aktuelle Diskussion um die Entwicklung des Landschaftsbildes der Reichenau und der Einfluss der Gemüsebetriebe darauf beleuchtet. Hier kann eine zweischneidige Entwicklung konstatiert werden. Die in Folge der Konzentrationsprozesse abnehmenden Freiland- und zunehmende Glashausflächen werden als problematisch angesehen. Dabei stehen die Landschaftsschützer vor dem Dilemma, dass sowohl ohne den Gemüsebau das zu schützen beabsichtigte Landschaftsbild zerstört würde (dem die Freilandbeete und kleinen Gewächshäuser als wichtige Komponente angehören), als es auch mit 105 und mit Einschränkungen auch mit KÖLSCH (1988 und 1990) 103 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 6. Aktueller Teil dem Gemüsebau zu verschwinden droht. Die Ökologisierungsfrage spielt bei dieser Diskussion (in Form des Imagegewinns bei Bio-Besiegelung) eine untergeordnete Rolle, da sich die Raumwirksamkeit ökologisierender Betriebe nicht von anderen unterscheidet. Eine Patentlösung für das Problem gibt es nicht. Lediglich lässt sich sagen, dass die neben dem Gemüsebau stehenden Akteure (Tourismus, Landschaftsschutz, Naturschutz, Wohnbürger) in Gegensatz zu diesem vor der Herausforderung stehen, ein nicht nur nach den ökonomischen Kriterien106 ausgerichtetes Leitbild für die Gemeinde zu erstellen, das einen normativen Rahmen für den Erhalt des Landschaftsbildes schafft. Dass der Gemüsebau dabei berücksichtigt werden sollte, fordert nicht zuletzt die Tatsache, dass er auf der Insel eine der letzten gelebten traditionellen Praxen darstellt, nämlich der durch das Kloster gewordene, auf den Markt orientierte Sonderkulturanbau. Die oft geforderte Heranziehung eines kompetenten externen Mediator zur Aushandlung des Leitbilds kann an dieser Stelle lediglich dringendst empfohlen werden. Angesichts der allseits engagierten Akteure und ihrer nicht zu unterschätzenden Außergewöhnlichkeit hat sie prinzipiell eine gute Chance, wenn sie es schafft vorausschauend zu handeln und nicht den Dingen ihren freien Lauf zu lassen. 106 die der Gemüsebau vergleichsweise leicht durch Aufstellen des Flächenbedarfs aufstellen könnte 104 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 7. Schlussbetrachtungen 7. Schlussbetrachtungen Abschließend sollen nun die eingangs aufgeworfenen Fragen wieder aufgegriffen werden, um zu prüfen, inwieweit vorliegender Arbeit ihre Beantwortung gelungen ist, was offen geblieben ist, was während des Entstehungsprozesses der Arbeit erst aufgeworfen worden ist und wie der begonnene Weg fortgesetzt werden könnte, stünde mehr Zeit und Energie zu Verfügung. Die ersten drei Fragen107 konnten dahingehend beantwortet werden, dass es sich beim Gemüsebau auf der Reichenau insofern um ein traditionelles Anbaugebiet handelt, dass der Gemüsebau funktional gesehen (als Sonderkultur) den auf das frühmittelalterliche Kloster und das milde Seeklima zurückgehenden Weinbau fortsetzt. Wie in der historischen und agrargeographischen Literatur ausführlich belegt, konnte durch einen Formenwandel vom Weinbau zum Gemüsebau verbunden mit einer langjährigen protektionistischen Wirtschaftspolitik die funktionale und mit ihrer Funktionalität das Landschaftsbild prägende Struktur der Reichenauer Landwirtschaft in einer ersten Phase der Modernisierung (1863-1948) erhalten werden. Der Gemüsebau kompensierte - mit Hilfe der Verkehrserschließung und dem wachsenden Bedarf der Städte an Gemüse - den - durch die Verkehrserschließung und der mit dieser eingetretenen relativen ökologischen Ungunst im neuen Marktgebiet ausgelösten Niedergang des Weinbaus. Es sind kaum Konzentrationsprozesse eingetreten, die Zahl der Betriebe ist während dieser ersten Phase fast konstant geblieben, was sich bis heute auswirkt, indem auf der Reichenau eine ungewöhnlich große landwirtschaftliche Gruppe, die Gemüsegärtner, anzutreffen ist. Von 1948 bis heute wurde dann eine zweite Phase der Modernisierung festgestellt, die sich zunächst mit den Begriffen Konzentration, Intensivierung, Spezialisierung und Behauptung des Standortes umschreiben ließ. Durch die Marktgebieterweiterungen (Wegfall des Protektionismus, Europäisierung und Globalisierung des Marktes, sich fortsetzende Verkehrserschließung) verringerte sich die relative ökologische Gunst abermals, sodass nach dem Wein- nun auch der Gemüsebau mit den damaligen kleinen, zersplitterten und kaum spezialisierten Betrieben nicht mehr wettbewerbsfähig war. In der Folge nahm die Zahl der Betriebe ab, die durchschnittliche Betriebsgröße zu und die verbleibenden Betriebe spezialisierten sich durch Abschaffung sonstiger Betriebszweige und Verlagerung des Anbauschwergewichts auf den Unterglasanbau. Durch verschiedene Maßnahmen (v.a. Ausbau der Bewässerung, Durchführung einer Flurbereinigung, Zentralisierung der Vermarktung), die unter Federführung der Gemüsegenossenschaft durchgeführt worden sind, konnte sich die Reichenau jedoch trotz der ökologischen wie strukturellen Ungunst bis heute als Standort für Gemüsebau behaupten. Zu den ökonomischen Anforderungen dieser 107 Wie wurde die Reichenau unter besonderer Berücksichtigung der Modernisierung der Landwirtschaft zum Standort für gärtnerischen Gemüsebau? Inwiefern kann man die Reichenau als traditionelles Anbaugebiet bezeichnen? Und wie hat sich der Gemüsebau seitdem bis heute entwickelt? 105 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 7. Schlussbetrachtungen zweiten Modernisierungsphase gesellten sich bald die Anforderungen der ‚zweiten’ Modernisierung nach einer Ökologisierung des Gemüsebaus. Diese beiden, von unserer modernisierten Gesellschaft gestellten Anforderungen wirken bis heute parallel auf die Gemüsegärtner ein. Diesen auf den gesamten Standort bezogenen Entwicklungen konnte auf der Ebene der Individuen eine entsprechende zweigeteilte Entwicklung festgestellt werden, bei der auf der einen Seite immer weniger, immer professionellere Gärtner, auf der anderen Seite immer mehr (oft schweren Mutes) aus dem Gemüsebau ‚Ausgeschiedene’ stehen. Mit dieser Herausarbeitung des konkreten historisch-geographischen Entwicklungspfades des Reichenauer Gemüsebaus konnten dann die während der Feldforschung erhobene aktuelle Situation erklärt und die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen108 beantwortet werden. Der heutige Gemüsebau befindet sich also in einer Situation, in der er sowohl ökonomischen, als auch ökologischen Anforderungen gerecht werden muss. Entsprechend wurden in allen Betrieben sowohl Intensivierungs- als auch Ökologisierungsstrategien festgestellt. Allerdings waren dabei zum einen Gewichtungen entweder auf Ökologisierung (via Bioanbau) oder auf Intensivierung (Substratkultur) zu beobachten. Zum anderen konnten nur bei den für eine weitere Generation zukunftsfähigen Betrieben größere Bemühungen um Innovationen und Investitionen bezüglich Ökologisierung und Intensivierung vorgefunden werden. Für die Zukunftsfähigkeit eines Betriebs wiederum entscheidende Kriterien sind die Verfügbarkeit von Nutzflächen und von Nachwuchs. Das historisch-geographische Vorverständnis und die identifizierten Zukunftsstrategien auf Ebene der einzelnen Betriebe ließen die Analyse der drei wesentlichen Spannungsfelder (Einheit der Genossenschaft, Ökologisierung des Gemüsebaus, Raumwirksamkeit des Gemüsebaus in Bezug auf das Landschaftsbild) zu. Spannungen innerhalb der Genossenschaft wurden in Beziehung gesetzt zu der zweigeteilten Entwicklung auf individueller Ebene im Zuge des ‚Wachsen oder Weichen’ und den wachsenden äußeren Anforderungen durch den Markt (Handel und Konsumenten). Bei der öffentlichen Diskussion um die Ökologisierung des Gemüsebaus wurde festgestellt, dass die Kritiker ökologischer Gefährdungen oder Missstände in der Landwirtschaft ihrem Ziel einer nachhaltigen Produktion teilweise selbst im Weg stehen können, indem sie ihre Kritik in einer Art und Weise vorbringen, die die gesellschaftlichen Bedingungen und vor allem die Situation der Produzenten zu wenig berücksichtigt. In Bezug auf die Diskussion über die Gestaltung bzw. Verunstaltung des Landschaftsbilds wurde schließlich aufgezeigt, dass die um Erhalt Bemühten bezüglich des Gemüsebaus in einem Dilemma stecken. Zum einen erlaubt das zu konservieren gewünschte Land108 Welches ist die heutige Situation des Gemüsebaus auf der Reichenau? Welche verschiedenen Zukunftsstrategien lassen sich identifizieren? Welche äußeren Einflüsse spielen dabei eine Rolle? Welche internen Aspekte sind dabei zu berücksichtigen? Welches sind die wesentlichen Spannungsfelder, in denen sich die Aushandlung der Zukunftsstrategien vollzieht? In welche aktuellen und die Zukunft gestaltenden Prozesse ist der Gemüsebau auf der Insel Reichenau eingebettet? 106 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 7. Schlussbetrachtungen schaftsbild nicht die Entscheidung zwischen Gemüsebau ja oder nein. Nämliches Landschaftsbild spiegelt in Form der kleinen Freilandbeete und der kleinen Gewächshäuser einen fossilen Gemüsebau, der unter den heutigen Bedingungen ökonomisch nicht mehr praktikabel ist. Zum anderen besteht für die Landschaftsschützer die Herausforderung, im Gegensatz zum Gemüsebau, der sich weitestgehend mit Flächenansprüchen begnügen kann, ein normatives Leitbild zu schaffen, das ökonomische und landschaftsästhetische Gesichtspunkte zusammenbringen sollte. Bevor ich nun mit einem Antwortversuch auf die letzte Frage109 schließe, stellt sich mir die Frage nach den Stärken und Schwächen der Arbeit und nach ungelösten bzw. neu aufgeworfenen Problemen, die künftigen Untersuchungen vorbehalten bleiben müssen. Die Breite des Ansatzes ist - denke ich - zugleich Stärke und Schwäche dieser Untersuchung. Der durch seine breite Fächerung110 sicherlich problematische Ansatz der Theorie der Modernisierung, der umfassend erklären möchte, aber doch stets unvollständig bleiben muss, erlaubt andererseits einen grundlegenden Zugang zum Verständnis des Gemüsebaus auf der Insel Reichenau. Ohne ein Grundverständnis der Modernisierung im Allgemeinen und der Landwirtschaft im Besonderen schien mir eine geographische Monographie zum Gemüsebau der Insel Reichenau an Erklärungskraft einzubüßen; dies vielleicht auch angesichts der Erfahrung, dass viele Argumente in Gesprächen mit wenig oder gar ohne Vorverständnis (weder geographischem noch historischem) eingebracht werden. Zu oft wird eine Insel im Bodensee als klimatisch optimal für Gemüsebau angesehen, zu oft werden die Landwirte als uneinsichtige Umweltsünder dargestellt, zu oft alles, was nicht schon ‚bio’ ist, als anti-ökologisierend eingestuft. Da schien mir, auch in Hinblick auf mögliche lokale Leser, eine Herausarbeitung der grundsätzlichen Relativität dieser Aussagen und der Prozesshaftigkeit und Komplexität des Wandels, gerade auch hin zur Ökologisierung, als ein wichtiger, von einer solchen Arbeit zu leistender Ansatz. Durch die Breite des Ansatzes, nicht nur in der Theorie, sondern auch in den angewendeten Methoden, konnten so einerseits viele wichtige Themen berührt werden, andererseits blieb so der Gang in die Tiefe manchmal verwehrt. So möchte ich, mir dessen bewusst, einige Vorschlägen machen, wie weitergeforscht werden könnte. Ein geographisch besonders interessanter Ansatz wäre, den qualitativ festgestellten Zusammenhang der Zukunftsfähigkeit eines Betriebs mit der Chance auf Expansion in die Fläche einerseits und dem Vorhandensein eines Nachfolgers andererseits quantitativ, am besten im Sinne einer Vollerhebung für die ganze Insel Reichenau zu vollziehen. Dabei würde sich für das Expansionspotential eine Kartierung der einzelnen Betriebsflächen, differenziert in Glasflächen und Freiland, empfehlen. Zusammen mit einer genauen Kenntnis der Per109 Lassen sich, nach gründlicher Untersuchung des Ortes ‚an sich’, Rückschlüsse auf das Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit bei den Produktsiegeln des Reichenaugemüses (integriert/‚bio’, g.g.A.) machen? 110 die zusätzlich den ohnehin schon vorhandenen interdisziplinären Spagat verstärkt 107 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 7. Schlussbetrachtungen spektive der einzelnen Betriebe, gerade auch in Bezug auf die Betriebsnachfolge, könnte so eine fundierte Prognose für die weitere Entwicklung des Gemüsebaus gegeben werden111. Ebenfalls lohnend erscheint eine fundiertere Rekonstruktion des Verlaufs und der Beschaffenheit der ökologischen Diskussion auf der Reichenau. Hierfür wäre eine intensivere und quantitativ breitere Befragung von damals wie heute Beteiligten erforderlich. Auch müssten die Beziehungen der einzelnen Personen untereinander systematisch beleuchtet werden (Netzwerkanalyse). Letzteres gilt auch für eine Vertiefung der genossenschaftsinternen Beziehungen und Dynamiken. Zusätzlich wäre eine systematische Auswertung der Lokalpresse der letzten 30 Jahre interessant112, z.B. mit diskursanalytischen Methoden. Außerdem wäre es reizvoll, über Konzepte nachzudenken, wie - als Lösungsansatz für die Landschaftsdiskussion - der Bedarf großer Gewächshäuser durch Gestaltung der einzelnen Glashäuser sowie durch deren Positionierung in der Siedlungsstruktur landschaftsgerecht gestaltet werden könnte. Denn hierin könnte eine große Chance liegen für die Reichenauer, vorausgesetzt, es gelingt ihnen, sich zusammenzuraufen und miteinander vorausschauend zu handeln, anstatt den Dingen ihren freien Lauf zu lassen. Lassen sich nun abschließend, nach gründlicher Untersuchung des Ortes ‚an sich’, Rückschlüsse auf das Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit bei den Produktsiegeln des Reichenaugemüses (integriert/‚bio’, g.g.A.) machen? Die Reichenau als Ort des Gemüseanbaus weist die Qualität traditioneller und mindestens integriert, bald zu etwa 10% auch ‚bio’ produzierter Produkte vor. Die besiegelte Traditionalität der Hauptprodukte (Gurken, Tomaten, Blattsalate, Feldsalat) kann mit den Ergebnissen dieser Arbeit als eine Rekonstruktion von Traditionalität zum Zweck des Marketings eingestuft werden, die zwar mit der historischen Fundsache nicht unbedingt exakt umgeht, die aber auf Grund der traditionellen Funktion, die dem Gemüsebau aus historisch-geographischer Sicht bescheinigt werden kann, einer Berechtigung nicht entbehrt. Bei den Siegeln bezüglich der Ökologisierung wird der Reichenau wohl oft Mittelmäßigkeit bescheinigt, schließlich herrscht hier (bislang) fast nur der integrierte Anbau, dem besonders von Anhängern des Biolabels nicht selten eine Alibifunktion unterstellt wird. Hier muss man allerdings berücksichtigen, dass die Zertifizierung mit einem (Bio)Siegel das (erfolgreiche) Ende eines Prozesses ist, der für die Öffentlichkeit selten wahrnehmbare Vorbereitungsschritte beinhaltet. So kann das Biosiegel für die Produzenten ein Anreiz sein, Ökologisierungsmaßnahmen durchzuführen, für Konsumenten eine Orientierungshilfe beim Einkauf. Zur Bewertung des Stands der Ökologisierung und des dahingehenden Potentials eines Standorts ist es dagegen wenig geeignet. Für öffentlich Engagierte, die sich um eine Ökologisierung bei der Produktion von Lebensmitteln bemühen, sollte dem111 Wer das macht, bricht dann doch den ewigen Rekord (vgl. Fußnote 77) von BLENCK (1971)! Und eine gehörige Fleißarbeit, da meines Wissens kein systematisches Archiv vorliegt, sondern die einzelnen Gesamtausgaben der Tageszeitung (vorhanden in der Bibliothek der Universität Konstanz) durchforstet werden müssten, was ich nach Januar 1984 bis April 1984 frustriert aufgegeben habe. Eines der vielen Dinge, die ich das nächste Mal anders machen würde! 112 108 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 7. Schlussbetrachtungen nach das Biosiegel nicht Messlatte sein, sondern ein Ziel, dessen Erreichen nicht nur an der Bereitschaft oder der Einstellung der Produzenten liegt, sondern auch die Überwindung von (betriebsexistentiellen) Schwierigkeiten erfordert. Ein weiterer Aspekt der Ökologisierungsdiskussion, der durch die Siegel nicht direkt zum Ausdruck kommt, wegen dem man aber Reichenauer Gemüse kaufen sollte und in dem sein Zukunftsgarant liegen könnte, ist der, dass für Reichenauer Gemüse neben der ökologischen Produktion (die Fortsetzung des Trends zu mehr Bioanbau vorausgesetzt) auch das ökologische Qualitätsmerkmal der kurzen Wege zutrifft. ‚Verbindung von regional und ökologisch’: Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau scheint auf keinem schlechten Weg, diese Zauberformel umzusetzen. 109 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis BADER, Karl S. (1960), „Friedrich von Hundbiss, der letzte Obervogt der Reichenau, und seine »Historisch-Topographische Beschreibung der Insel Reichenau«", in: VEREIN FÜR GESCHICHTE DES BODENSEES UND SEINER UMGEBUNG (Hrsg.), „Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees uns seiner Umgebung. 78. 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Ackernahrung: Mindestgröße der landwirtschaftlichen Nutzfläche, die zur Existenzsicherung eines bäuerlichen Familienbetriebs notwendig ist. Die Ackernahrung bezieht sich auf Vollerwerbsbetriebe (s. bei Haupterwerb), und stellt eine dynamische Größe dar. Sie hängt von den natürlichen Produktionsverhältnissen, dem ausgeübten Betriebssystem, den Eigentumsverhältnissen und dem Lebensstandard des Betriebsleiters ab. Alpenföhn: Warmer Fallwind in den Vorländern des Alpenkamms. Anerbenrecht: Regelung des Erbrechts für landwirtschaftlichen Grundbesitz. Hierbei kommt es zur geschlossenen Erbfolge eines Hoferben. Der sog. Anerbe ist in der Regel der Älteste (Majorat), seltener der Jüngste (Minorat). Drumlin: Länglich-tropfenförmiger Sedimentkörper aus aufgepresstem Material der Grundmoräne, der meist als Gruppenform auftretende Hügel bildet. Sein ungefähres Längen-Breiten-Verhältnis beträgt oftmals 4:1, bei einer Variabilität von 1:1 bis 20:1. Die Hügellängsachse liegt in Stoßrichtung des Eises. Das Vorderende des Drumlins ist flach, das Hinterende jedoch steil geneigt. Die Drumlins ordnen sich auch um präglaziale Reliefunstetigkeiten des Untergrunds an, z.B. Schotterplatten oder Festgesteinsauftragungen. Haupterwerbsbetrieb: Landwirtschaftlicher Familienbetrieb, der als ausschließliche Erwerbsquelle (Vollerwerbsbetrieb) oder als überwiegende Erwerbsquelle (Zuerwerbsbetrieb) dient. Achtung: BLENCK (1971) hat den Begriff Haupterwerbsbetrieb im Sinne von Vollerwerbsbetrieb verwendet! Melioration: Kulturtechnische Maßnahme zur agrarwirtschaftlichen Bodenverbesserung. Formen der Melioration sind die Trockenlegung versumpfter oder vernässter Flächen durch Entwässerung bzw. Drainage, die Bewässerung oder Beregnung von Wassermangelgebieten sowie die Moor- und Ödlandkultivierung. Nebenerwerbsbetrieb: Im Nebenerwerb bewirtschafteter Landwirtschaftsbetrieb. Dies bedeutet, dass die eigentliche Erwerbsgrundlage außerhalb der Landwirtschaft liegt. Die außerlandwirtschaftliche Tätigkeit des Nebenerwerbsbetriebsleiters liegt dabei über 960 Stunden/Jahr. Phänologie: Wissenszweig der Klimatologie, der sich mit der jährlichen Wachstumsentwicklung (Eintrittszeit der Wachstumsphasen) der wildwachsenden und kultivierten Pflanzen in Abhängigkeit von Witterung und Klima befasst. 118 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Anhang Realteilung: Erbsitte, bei der im Gegensatz zum Anerbenrecht in der Landwirtschaft die gesamte Nutzfläche eines Betriebs unter allen Erbberechtigten aufgeteilt wird. Seewind: Im periodischen Land-See-Windsystem der tagsüber vom Meer (oder See) zum Land wehende Wind. Der Seewind ist eine Ausgleichsströmung, die durch das Aufsteigen der über den Landflächen stärker erhitzten Luft in Gang gesetzt wird. Weiler: Kleine ländliche Gruppensiedlung, die aus drei, maximal 15 Wohnstätten (bzw. Gehöften) besteht. Der Weiler kann locker oder eng bebaut sein. Würmeiszeit: Letzte der vier klassischen Kaltzeiten (ca. 115.000 bis 10.000 v.Chr.) des Pleistozäns in den Alpen und im Alpenvorland, das durch Vorlandgletscher zur Jungmoränenlandschaft umgestaltet wurde. 119 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Anhang Leitfragebogen bei einem Gärtnerbetrieb 1.) Vorstellung, Erklärung der Arbeit, warum ihn/sie ausgewählt: 2.) Angaben zum Betrieb: Größe? (differenziert: Freiland/Unterglas), welche Kulturen? 3.) Wie würden Sie Ihre persönliche betriebliche Zukunftsstrategie formulieren? dann: - Welche Investitionen planen Sie? - Was bewegt Sie/ hat Sie bewegt, gerade diesen Weg einzuschlagen? - Wie sieht es bezüglich einer Betriefnachfolge aus? 4.) Können Sie mir etwas zu Ihrer „Hofgeschichte“/Betriebsgeschichte erzählen? Wie hat sich Ihr Betrieb in den letzten (60) Jahren entwickelt? 5.) Welchen Ausbildungsweg haben Sie genommen (und nimmt ggf. Ihr Betriebsnachfolger? 6.) Gibt es Betriebe oder sonstige Einrichtungen, mit denen Sie zusammenarbeiten oder in engem Kontakt stehen (indem Sie z.B. Pläne besprechen/Ideen austauschen)? 7.) Wie sehen Sie die Zukunft für Ihren Betrieb und wie für die Reichenau als Standort für Gemüsebau? 8.) Gegenüberstellung mit Argumenten, die an anderem Ort genannt wurden "Intensivierungsstrategie setzt auf Massenware und bei dieser haben die Reichenauer Betriebe aufgrund ihrer kleinen Strukturen langfristig keine Chance gegen die Konkurrenz aus Holland und aus dem Süden" "Umstellung auf Bioanbau bedeutet 30% weniger Ertrag. Dieser Verlust kann durch den Bio-Mehrpreis nicht kompensiert werden, da ReichenauGemüse als Regionalmarke bereits in einem hohen PreisSegment angesiedelt ist" "der Bau größerer Gewächshäuser und die Aufgabe der kleinen Gewächshäuser ist eine substantielle Bedrohung für den Welterbestatus“ „eine Studie hat ergeben, dass Handel und Verbraucher kaum den erdelosen Anbau bewerten“ 120 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Anhang Leitfragebogen bei TeilnehmerInnen der Podiumsdiskussion 1.) Vorstellung, Erklärung der Arbeit Warum ihn ausgewählt: Vertreter des Tourismus, Teilnahme an Podiumsdiskussion 2.) Können Sie zunächst Ihre Tätigkeit als Geschäftsführer des Verkehrsamts beschreiben? Und einige Informationen zum Tourismus auf der Reichenau geben? 3.) persönlicher Hintergrund (Ausbildung, familiärer Bezug zum Gemüsebau?) 4.) Gibt es Betriebe oder sonstige Einrichtungen, mit denen Sie zusammenarbeiten oder in engem Kontakt stehen (indem Sie z.B. Pläne besprechen/Ideen austauschen)? 5.) Wohin treibt die Insel Reichenau? Wohin sollte sie treiben (aus Sicht des Tourismus)? Wie sehen Sie die Rolle des Gemüsebaus? Wie sehen Sie die Zukunft die Reichenau als Standort für Gemüsebau? 6.) Wird der bei der Podiumsdiskussion angeschnittene Dialog fortgeführt, wenn ja wie? 7.) Gegenüberstellung mit Argumenten, die an anderem Ort genannt wurden "Intensivierungsstrategie setzt auf Massenware und bei dieser haben die Reichenauer Betriebe aufgrund ihrer kleinen Strukturen langfristig keine Chance gegen die Konkurrenz aus Holland und aus dem Süden" "Umstellung auf Bioanbau bedeutet 30% weniger Ertrag. Dieser Verlust kann durch den BioMehrpreis nicht kompensiert werden, da Reichenau-Gemüse als Regionalmarke bereits in einem hohen Preis-Segment angesiedelt ist" "der Bau größerer Gewächshäuser und die Aufgabe der kleinen Gewächshäuser ist eine substantielle Bedrohung für den Welterbestatus“ „eine Studie hat ergeben, dass Handel und Verbraucher kaum den erdelosen Anbau bewerten“ „die Genossenschaft hat im Gegensatz zu den anderen Akteuren ihre Ziele perspektivisch für die nächsten Jahrzehnte klar formuliert“ 121 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Anhang Zitierte Artikel aus dem Südkurier RAU 2007, ZOCH 2007a, ZOCH 2007b, ZOCH 2007c, ZOCH 2008a, ZOCH 2008b (alle ohne Photos) Südkurier vom 19.01.2007: URL: <http://www.suedkurier.de/region/konstanz/art1077,2411104> [Stand: 27.03.2008]: Eine Insel sucht ihren Kern von Jörg-Peter Rau Das Bild ist gut, und fast jeder kennt es. Im Hintergrund die uralte Kirche, vorne propere, bunt angepflanzte Salatbeete. Und eine scheinbar gut gelaunte Familie, die im ersten Morgenlicht das Gemüse von Hand erntet, auf dass es die Wochenmärkte in der Region frisch und lecker erreiche. Das Bild, betont Johannes Bliestle, ist echt. Keine Fotomontage. Die Kirche, mit deren Wandmalereien sich Kunstgeschichte-Studenten in aller Welt beschäftigen, gibt es wirklich. Das Salatbeet ebenso. Und eine Morgenstimmung auf der Insel kann in der Tat so bezaubernd sein wie auf dem Foto, das der Geschäftsführer der Gemüse-Genossenschaft so gerne mag. Doch wenn das Bild echt ist, spiegelt es dann auch die Wirklichkeit wider? Tut es nicht, findet Irene Strang. Sie ist die Vorsitzende der Reichenauer Ortsgruppe des Bundes für Umwelt- und Naturschutz in Deutschland (BUND). Naturgemäß hat sie nichts gegen Gemüse. Schon gar nicht gegen Beete. Doch Tomaten oder Salat von der Reichenau, sagt sie, sind nicht so, wie es die Werbung gerne hätte. Weil 80 Prozent der Ernte aus Gewächshäusern stammen, oft nicht einmal mehr in richtiger Erde wachsen. Weil die Reichenau dabei sei, sich in riesiges Glashaus zu verwandeln, das mit der ursprünglichen Insel, auf der die Mönche im Mittelalter die Gartenkultur einst einführten, nicht mehr viel zu tun habe. Sagt Irene Strang. Nicht nur sie beschleicht offenbar ein mulmiges Gefühl, wenn es um die Zukunft der Reichenau geht. Als an einem Mittwochabend der BUND zu einer Podiumsdiskussion zum Thema ins Haus der Begegnung St. Pirmin lädt, kommen statt der erwarten 40, 50 Gäste über 100. Zwei Stunden lang stehen einige von ihnen sogar im Vorraum, und sie müssen sich anstrengen, alles mitzubekommen. Doch die Grundfrage wiegt schwer: Wem gehört die Insel eigentlich? Den Grundbesitzern, die gerne mehr Wohnungen bauen möchten oder der mächtigen Sparkasse? Den Gemüsebauern, die möglichst große, moderne Glashäuser wollen? Den Touristen, die ein Idyll mit kleinen Beeten und alten Kirchen suchen? Den Winzern, den Fischern, den wohlhabenden Wohnbürgern? Karl Wehrle, als Geschäftsführer des Verkehrsamts so etwa wie der oberste Touristenbeschaffer für die geschichtsträchtige Insel, spricht von einem "Gesamtkunstwerk". Und er mahnt zum Ausgleich. Wer erwartet, dass hier einer wacker gegen Glashäuser und Mehrfamilienhäuser kämpft und der - die aktuellen Diskussionen in Köln und Dresden gäben Anlass genug - mit einem Verlust des UNESCOWeltkurturerbe-Prädikats droht, wird enttäuscht. Diplomatisch fordert er Gespräche und Verhandlungen. Auch als das Wort "Arbeitskreis" zum ersten Mal fällt, geht ein leises Stöhnen durch das Publikum: Viele Gruppen haben sich bereits getroffen auf der Reichenau und teils auch wieder aufgelöst. Auch dem Tisch liegt vor Bürgermeister Volker Steffens ein 15 Zentimeter hoher Stapel mit Papieren, Berichten und Gutachten. Bürger konnten ihre Meinung einbringen, das räumt auch Irene Strang ein. Doch konkret herausgekommen ist bisher kein Leitbild, sondern ein Leitsystem. Wegweiser zu den Kirchen und zum Campingplatz, aber keine Marschroute durch die kommenden Jahrzehnte. Doch genau die fordern viele Reichenauer in der Diskussion ein. Die Frage ist nur, wer dabei bestimmen darf. Die Engagierten, die Zeit und Hirnschmalz opfern, die Ideen einbringen? Die auch einmal deutlich werden wie Irene Strang, die sagt: "Wir sollten jetzt die Reißleine ziehen?" Oder die Gewählten im Gemeinderat, die das politische Mandat zum Gestalten haben? Die über Bebauungspläne die Entwicklung steuern könnten, denen aber vorgeworfen wird, dass viel zu oft Ausnahmen gemacht würden, wenn einer von der Insel ein Haus bauen will? Werden die Kritischen als "Nestbeschmutzer" wahrgenommen, wie Strang beklagt? Oder sind sie Vordenker, die doch in alle Prozesse eingebunden sind, wie Bürgermeister Steffens betont? Der Abend führt nicht unmittelbar in den Kern der Insel hinein. Zumal die Probleme auch anderswo existieren. In Konstanz etwa, wo dem Oberbürgermeister die letzten Reste der einst euphorisch gegründeten Agenda-Gruppen lästig zu werden scheinen. Auch Martin Albeck, der das Bauordnungsamt in Ravensburg leitet und Gemeinden bei der Suche nach Leitbildern berät, bestätigt: Die Reichenauer sind nicht allein mit ihren Problemen. Doch so viele Ansprüche auf so wenig Raum, das überrascht selbst den langjährigen Stadtplaner. 122 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Anhang Unterdessen werden Wünsche laut. Bliestle erinnert an eine andere Bodenseeinsel: "Wir sind keine Mainau. Wir haben kein Kassenhäusle am Inseldamm. Unsere Gärtner müssen von ihren Erträgen leben." Doch wie viel Fläche unter Glas sie brauchen, wie groß ein wirtschaftlich sinnvolles Gewächshaus sein muss, sagt er auch nicht. Genauso wenig, wie Bürgermeister Steffens eine konkrete Zielmarke für die Bautätigkeit vorgibt. Während Bliestle von einem "gordischen Knoten" spricht, wird Erik Roth vom Regierungspräsidium Freiburg deutlicher. Als Anwalt des Denkmalschutzes warnt er davor, die kleinen und unrentabel gewordenen Gewächshäuser neben den Häusern der Besitzer allzu oft durch neue Wohnbauten zu ersetzen: Die UNESCO, sagt er, achtet darauf, dass an den Weltkulturerbestätten Integrität und Authentizität gewahrt bleiben. Will heißen: Dass die Reichenau zwar nicht unter einer musealen Käseglocke verschwindet, aber ihren Charakter mit ihrer lockeren Bebauung behält. Keine leichte Aufgabe: Gerhard Uricher fordert eine klare Perspektive für den Gemüsebau und verweist auf einen langen Investitionsstau bei den Betrieben. Gemeinderätin Ines Happle-Lung will die Insel zum Öko-Eiland machen, wo nur noch Biogemüse erzeugt wird und wo die Feriengäste nicht immer nur an Gewächshäusern entlangspazieren. Johannes Bliestle wendet ein, dass auch Ökolandbau nur auf zusammenhängenden Flächen wirtschaftlich sei. Es gibt noch ein Bild von der Reichenau. Es ist schwarz-weiß und hängt im Erdgeschoss-Flur des Rathauses, ein Luftbild der Insel. "Aus den 50er-Jahren", sagt Bürgermeister Steffens. Es zeigt die alten Kirchen, verstreute Häuser, ein paar kleine Gewächshäuser und viele kleine und kleinste Felder. Es ist schon alt, aber es war einmal Wirklichkeit. Südkurier vom 05.02.2007: URL: <http://www.suedkurier.de/region/radolfzell/art1078,2438019> [Stand: 27.03.2008]: Die Welterbe-Insel soll schöner werden von Thomas Zoch Reichenau (toz) Brach liegende Gemüsefelder und ungepflegte Wiesen sind schon lange ein Ärgernis auf der Reichenau. Nun ist ein Brachflächenkonzept in Arbeit, mit dem neue Nutzungsmöglichkeiten und finanzielle Anreize für die Grundstückseigentümer angeboten werden sollen. Heute berät der Gemeinderat, der schon 10000 Euro im Haushalt für das Konzept bewilligt hat. "Oberste Zielsetzung ist es, die Brachflächen wieder in den Freilandanbau einzubringen", so Bürgermeister Volker Steffens. An zweiter Stelle gehe es darum, welche alternativen Nutzungen es geben könnte - zum Beispiel Weinbau oder Streuobst. Das Minimalziel sei es, die Brachflächen wenigstens zu ordentlich gepflegten Wiesen zu machen. "Es gibt Gebiete, wo nicht viel wächst", so Steffens, "aber auch hochwertige Böden." Ein Landschaftsplanungsbüro soll eine Konzeption erarbeiten, welche Nutzung sich für die jeweilige Fläche anbieten würde. Vier Planungsbüros haben sich beworben, so Patrick Trötschler von der Bodensee-Stiftung in Radolfzell, die das Konzept gemeinsam mit der Gemeinde und der Gemüse-Genossenschaft initiiert hat. Wenn der Gemeinderat zustimmt, wird bis Mitte Februar ein Antrag beim Plenum Westlicher Bodensee auf eine 50-prozentige Bezuschussung des Projekts gestellt. Nachdem bereits Plenum-Vertreter an den Gesprächen beteiligt waren, gebe es gute Chancen für einen Zuschuss, meinen Trötschler und Steffens. Neben der Gemeinde steuern die GemüseeG und der Verkehrsverein kleinere Beträge bei. "Wir wollen nicht nur eine Anstoßfinanzierung", so Steffens. "Die Umsetzung des Konzepts wird längere Zeit dauern." Geplant sei, bereits im Frühjahr mit der Umsetzung von Maßnahmen zu beginnen dort, wo die Eigentümer selbst froh sind, dass etwas getan wird, so der Bürgermeister. Und Trötschler ergänzt, ein zweiter Schwerpunkt in diesem Jahr seien Brachflächen, bei denen auf Grund des Ortsbilds hoher Handlungsbedarf bestehe. Steffens kündigt an: "Es soll nicht nur für die Planung, sondern auch für die Umsetzung Geld vorhanden sein." Wer von den Grundstücksbesitzern mitmache, soll bezuschusst werden. Es können auch Pächter gesucht werden. In den vergangenen Jahren hat das Thema Brachflächen an Brisanz zugenommen, weil der Freilandanbau immer unrentrabler wird, so Johannes Bliestle, der Geschäftsführer der GemüseeG. Allerdings gehe es nicht nur um Flächen, die Gärtner aufgeben. "Es sind auch solche dabei, die Privatleuten oder Erbengemeinschaften gehören." Bliestle findet es gut, dass jetzt konkret gehandelt werden soll. "Wir wollen alle eine Verbesserung des Erscheinungsbilds." Freilich müssen die Eigentümer mitmachen. "Da wird's spannend, es sind ja keine öffentlichen Flächen", so Trötschler. Der Bürgermeister weiß aus Erfahrung, wie zäh das sein kann. Die Gemeinde habe immer wieder mal Grundstückseigentümer aufgefordert, ihre Flächen zu pflegen. Manchen fehlen dazu die nötigen Geräte, so Steffens. Doch viele kamen der Aufforderung schlicht nicht nach. Vielleicht helfe da ja der finanzielle Anreiz. 123 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Anhang Südkurier vom 18.05.2007: URL: <http://www.suedkurier.de/region/konstanz/art1077,2600011> [Stand: 27.03.2008]: Schwieriges Jahr von Thomas Zoch Auf ein schwieriges, aber zufriedenstellendes Jahr 2006 blickte die Reichenauer GemüseGenossenschaft zurück. Die Menge an Gemüse und Salaten blieb mit 16000 Tonnen gegenüber dem Vorjahr in etwa gleich. Dies gelte auch für die Erträge der knapp 140 Gärtner, so Geschäftsführer Johannes Bliestle. Die 2006 vorgenommene Neustrukturierung im Vertrieb sorgte jedoch für einen Rekord-Bilanzgewinn von rund 664000 Euro. Reichenau - Leicht positiv war die Entwicklung bei den Hauptprodukten. Knapp 15,5 Millionen Gurken wurden produziert, zirka 500000 mehr als im Vorjahr. Der Ertrag war im Schnitt mit 29 zwei Cent besser, wie bei der Generalversammlung bekannt wurde. Tomaten zogen die Gärtner erneut knapp 1000 Tonnen. Auch hier konnten etwas bessere Erträge erzielt werden, bei den Rispentomaten sogar mit 1,22 Euro pro Kilo ein Spitzenwert. Bei den Freilandtomaten konnte der Preis zwar ebenfalls um drei Cent pro Kilo gesteigert werden, dennoch wurden mit 280 Tonnen weniger produziert. Hier mache sich der fortschreitende Rückgang im Freilandanbau bemerkbar, so Bliestle. Insgesamt macht diese Produktionsweise auf der Insel wert- und mengenmäßig nur nochknapp 15 Prozent aus. Speziell für die Freilandtomaten wolle man jedoch mit einer speziellen Verpackung besser werben. Schlechter fiel die Bilanz bei den in Glashäusern gezogenen Salaten aus. Die Menge war mit 4,7 Millionen Stück etwa gleich, der Preis sank jedoch. Beim Feldsalat (insgesamt 210 Tonnen) waren die Preise am Jahresbeginn gut, im milden Winter zuletzt aber schlecht. Zudem machten die drastisch gestiegenen Energiekosten den Gärtnern zu schaffen. "Unterm Strich ist für die Erzeuger weniger in der Tasche geblieben", so Bliestle. Vor allem aus diesem Grund wurde 2006 die Vertriebs-Genossenschaft neu strukturiert. Der dadurch ermöglichte Rekord-Bilanzgewinn wird aber nicht an die Mitglieder ausgeschüttet. Stattdessen wurden für die Erzeuger die abzuführenden Marktgebühren zur Kostenreduzierung um 4,5 Prozent stark gesenkt. Der ausscheidende Vorstandsvorsitzende Gerhard Uricher betonte: "Die wirtschaftliche Lage blieb für die Erzeugerbetrieb schwierig - insbesondere wegen der gestiegenen Energiekosten." Umso wichtiger sei die zusammen mit der Gemeinde angestrebte Flurneuordnung. Wenn man den Gemüsebau erhalten wolle, müsse man ihn auch fördern, meinte Uricher: "Hier ist die Gemeinde gefordert.". Bürgermeister Volker Steffens sagte, ein jüngst erstelltes Standortgutachten hierzu werde demnächst dem Gemeinderat und Genossenschaftsvorstand vorgestellt. Und auch beim Brachflächenkonzept gehe es voran, so Steffens. Unter seiner Leitung wurden die Vorstände und Aufsichtsräte der Gemüse- und der LagerhauseG entlastet. Der Aufsichtsratsvorsitzende Egino Wehrle hatte zuvor berichtet, dass der Badische Genossenschaftsverband bei seiner Prüfung alles für ordnungsgemäß befand. Die LagerhauseG (Gärtner-Center) habe sich "erfolgreich entwickelt", sagte Bliestle. Für ein Umsatzplus von 4,6 Prozent sorgten ein Anstieg beim Erde- und Brennstoffverkauf und das neue Verkaufsgewächshaus. Viele Informationen im Netz: www.reichenaugemuese.de Südkurier vom 29.10.2007: URL: <http://www.suedkurier.de/region/konstanz/art1077,2876442> [Stand: 27.03.2008]: Gemüse-Streit auf der Insel von Thomas Zoch Ärger bei der Gemüse-Genossenschaft: Gegen einen größeren Gärtnerbetrieb wird eine Schadensersatzklage eingereicht, weil er im Januar die Mitgliedschaft in der Genossenschaft kündigte und seither weder seiner Anlieferungspflicht nachkommt noch die Marktgebühr entrichtet, so Geschäftsführer Johannes Bliestle. Die Kündigungsfrist beträgt fünf Jahre. Reichenau - Der Streitwert liegt im sechsstelligen Bereich, erklärte Bliestle. Für die Genossenschaft geht es dabei nicht nur um den einen Gärtner. Auch ein weiterer größerer Betrieb war Anfang des Jahres ausgeschert. Diesen konnte man Anfang Oktober wieder zurückgewinnen, so Bliestle. Doch wenn nach und nach mehrere, gerade größere Gemüsebetriebe ausscheiden würden, wäre das natürlich eine Schwächung der Genossenschaft. Und es könnte beim Verbraucher für Verwirrung sorgen. 124 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Anhang Zwar ist der Schriftzug "Reichenau Gemüse" geschützt, aber wer auf der Insel anbaut, kann seine Ware natürlich als Reichenauer Gemüse vermarkten. Allerdings unterliegt er dann nicht den Qualitätsansprüchen und -kontrollen, die die Genossenschaft regelmäßig durchführt. Vorstand und Aufsichtsrat der Genossenschaft sowie die große Mehrheit der Erzeuger hätten sich dafür ausgesprochen, alles zu unternehmen, um einen Aufbruch der genossenschaftlichen Einheit zu verhindern - notfalls auch mit rechtlichen Mitteln, so der Geschäftsführer. "Es war ganz einhellig die Meinung, so geht's nicht." Der Klageweg sei schon deswegen nötig, weil sonst nach der Prüfung durch den Genossenschaftsverband der Vorstand selbst möglicherweise schadensersatzpflichtig gegenüber den Mitgliedern wäre, erklärte Bliestle. Die Chancen auf einen Erfolg der Klage hält der Geschäftsführer für gut: "Wir haben es mehrfach prüfen lassen." Die recht lange Kündigungsfrist hänge damit zusammen, dass die Genossenschaft Fördergelder von der EU für in der Regel über fünf Jahre laufende Projekte zum Umweltschutz und zur Verbesserung der Vermarktung erhalte. Demnach könne der betreffende Betrieb erst im Frühjahr 2012 ausscheiden. "Bis zu diesem Zeitpunkt pochen wir auf die Anlieferungsverpflichtung", so Bliestle. Ebenso muss die Marktgebühr entrichtet werden, die der Geschäftsführer als Hauptgrund fürs Ausscheren des Gärtners vermutet. Dabei habe die Genossenschaft die Gebühr, mit der die gesamte Vermarktung und auch der Beratungsdienst finanziert wird, dank einer Neustrukturierung gerade in 2007 von 16 auf zehn Prozent senken können. Sehr gefreut habe man sich daher darüber, dass der andere ausgescherte Betrieb wieder zur Genossenschaft zurückgekommen ist, so Bliestle. Freilich musste der Gemüsegärtner die Marktgebühr nachträglich entrichten und eine Strafe bezahlen, weil er einige Monate keine Ware bei der Genossenschaft abgeliefert habe, so der Geschäftsführer. Zur Einsicht hätten wohl auch die Erfahrungen bei der Selbstvermarktung beigetragen. "Er hat festgestellt, dass er unterm Strich schlechter fährt." Vor weiteren Austritten werden man wohl nie gefeit sein, meint Bliestle. "Es muss letztendlich jeder selbst entscheiden, aber gewisse Spielregeln müssen eingehalten werden." Und abschreckende Wirkung könnte gerade das Beispiel des zurückgekehrten Gärtners haben, meint der Geschaftsführer, "weil es zeigt, wie schwer es für einen Einzelbetrieb ist". Südkurier vom 07.03.2008: URL: <http://www.suedkurier.de/region/konstanz/art1077,3094848,0> [Stand: 27.03.2008]: Insel-Gärtner auf Öko-Kurs von Thomas Zoch Erstmals setzen auf der Reichenau drei größere Gärtnerbetriebe auf Bio-Produktion. "Uns freut es, dass sich diese Familienbetriebe jetzt dazu bereit erklärt haben", sagt Johannes Bliestle, der Geschäftsführer der Gemüse-Genossenschaft. Nach der Umstellungsphase ab dem Jahr 2010 werde dann die Vermarktung von Biogemüse und -kräutern knapp ein Zehntel des Umsatzes ausmachen, schätzt er. Reichenau - Die Nachfrage nach Lebensmitteln aus ökologischem Anbau ist deutlich gestiegen. "Es ist ein starker Wachstumsmarkt", weiß Johannes Bliestle. Es gebe auch teils Kunden der GemüseeG, die Bio wollen. "Ich habe in unseren Erzeugerversammlungen immer wieder auf diese Entwicklung hingewiesen", berichtet der Geschäftsführer. Bisher gab es nur drei kleinere Betriebe auf der Insel, die auf Bio gesetzt haben. Der Anteil am Umsatz der Genossenschaft lag bei ein bis zwei Prozent, erklärt Bliestle. Nun stellen gleich drei größere Familienbetriebe sowie noch ein Nebenerwerbsbetrieb um. Produziert wird nach EU-Bio-Standard, so Bliestle. Berndt und Benjamin Wagner wollen auf einem Hektar unter Glas hauptsächlich Gurken sowie auf zwei Hektar Freiland, das dadurch größtenteils reaktiviert wird, Feld- und andere Salate anbauen. Renate Beck und Peter Blum werden auf einem halben Hektar unter Glas als Hauptkulturen Tomaten und Feldsalat produzieren. Friedbert Deggelmann stellt seinen 9000 Quadratmeter großen Topfkräuterbetrieb um. Außerdem will noch der Nebenerwerbs-Gärtner Johann Honsell biologisch produzieren. Der Umsatzanteil dürfte dadurch auf acht bis zehn Prozent steigen, schätzt Bliestle. Das ist fast doppelt so viel wie derzeit im deutschlandweiten Durchschnitt. Und es gebe noch mehr Gärtner, die Interesse haben, berichtet er. "Das kommt halt auch auf den wirtschaftlichen Erfolg an." Die Umstellung sei eigentlich für die Reichenauer Gärtner gar nicht so groß. "Wir sind mit unserer integrierten Produktion ja schon sehr weit", erklärt Bliestle. Schon lange wird dabei der Spritzmitteleinsatz stark reduziert und auf Nützlinge (spezielle Insekten) gesetzt. Und die Genossenschaft werde die Gärtner auch begleiten. Schwierig sei die zweijährige Umstellungspha- 125 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Anhang se. "Das hängt mit dem Boden zusammen", so der Geschäftsführer. Die Gärtner müssen bereits ab diesem Jahr mit erhöhtem Aufwand, Kosten und Risiko Bio produzieren, vermarktet werden darf das Gemüse aber bis 2010 nur als konventionelle Ware aus Umstellungsbetrieben. Eine Ausnahme ist der Betrieb Deggelmann: Weil er seine Kräuter in Töpfen zieht, können diese bereits ab Mai als Bio-Ware verkauft werden. Die Umstellung sei dennoch eine Herausforderung, meint Deggelmann. Die Jungpflanzen, Bio-Erde und der Dünger seien viel teurer. Benjamin Wagner weiß, dass vor allem Gurken eine "Risiko-Kultur" sind. Das Hauptproblem sei der falsche Mehltau, eine Pilzerkrankung. Peter Blum erklärt, beim Bioanbau müsse man mehr vorbeugende Maßnahmen ergreifen, zum Beispiel dem Boden organische Substanzen zuführen. Sie haben alle längere Zeit über die Umstellung nachgedacht. Doch sie sind zuversichtlich, dass es sich danach wirtschaftlich rechnet. Und Benjamin Wagner betont: "Wir tun auch was für die Bodengesundheit." Südkurier vom 08.03.2008: URL: <http://www.suedkurier.de/nachrichten/bawue/art1070,3097000> [Stand: 27.03.2008]: Im Zeichen der Insel von Thomas Zoch Brüssel/Reichenau (toz) Die vier Hauptprodukte der Gemüseinsel Reichenau genießen seit neuestem einen besonderen EU-Schutz: Gurken, Tomaten, Salate und Feldsalat von der Bodenseeinsel sind in die Kategorie "geschützte geografische Angabe" (g.g.A.) eingetragen worden. "Wir sind mit diesen Produkten jetzt in der Bundesliga", sagte Johannes Bliestle, der Geschäftsführer der Reichenauer Gemüse-Genossenschaft, die die entsprechenden Anträge bereits vor sechs Jahren gestellt hatte. "Das ist ein weiterer Mosaikstein in unserer Markenpolitik und sicher ein Vorteil im härter werdenden Wettbewerb", so Bliestle weiter. Die Reichenauer Gärtner haben durch ihre kleinen Anbauflächen strukturelle Nachteile. Diese versucht man vor allem durch gehobene Qualität auszugleichen. Aktuell stellen zudem drei größere Betriebe auf Bioproduktion um. Unter EU-Schutz können Bezeichnungen von traditionsreichen Agrarerzeugnissen und Lebensmitteln gestellt werden, die durch ihre regionale Herkunft, geografische Gegebenheiten, die Produktionsweise und die Erfahrung der Erzeuger etwas Besonderes sind. Mit der Aufnahme der Reichenauer Erzeugnisse steigt die Zahl der europaweit geschützten deutschen Produktbezeichnungen auf 42. In die Schutzkategorie "g.g.A." eingetragen sind unter anderem Schwarzwälder Schinken, Nürnberger Bratwürste und Lebkuchen, Kölsch sowie Lübecker Marzipan. 126 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Anhang Veröffentlichung im Markenblatt des Deutschen Patentamts vom 25.04.2003 zum Antrag der Reichenauer Gemüse eG an die EU auf Schutz der Reichenauer Tomaten durch eine „geschützte Ursprungsbezeichnung (g.U.)“ URL: <http://publikationen.dpma.de/DPMApublikationen/dld_gd_file.do?id=3> [Stand: 27.03.2008]: Schutzkategorie: g.U. Aktenzeichen: 30099007.3 Tomaten von der Insel Reichenau Antragstellende Vereinigung/Antragsteller: Reichenau-Gemüse e. G. Marktstraße 1, 78397 Insel Reichenau Zusammensetzung: Erzeuger Vertreter: Rechtsanwälte Kappert, Kaul, Wild Herrenstraße 18, 76133 Karlsruhe Art des Erzeugnisses: Klasse 1.6, Gemüse Schädlinge werden in den Gewächshäusern Nütziinge, also auch wiederum Insekten zur Bekämpfung eingesetzt. Nach der Anbaumethode der Insel Reichenau werden von Mai bis Oktober Tomaten im geschützten Anbau geerntet. Die Ernte im Freiland erstreckt sich von Ende Juli bis September. Die Ernte findet in den Vormittagsstunden von Hand statt. Im geschützten Anbau werden die Tomaten mit dem grünen Kelch und dem Stielansatz geerntet. Dies setzt eine Größensortierung und Einfüllen in das Packstück von Hand voraus, da im Falle einer Maschinensortierung Fruchtbeschädigungen durch den noch vorhandenen Stiel vorprogrammiert wären. Nur eine kleine Menge (ca. 0,5 ha) wird als Rispentomate kultiviert und auch dementsprechend geerntet. Der Sortier- und Packvorgang der Tomaten aus dem Freilandanbau wird in der Regel maschinell durchgeführt. Dies ist hier möglich, da ohne Grünkelch und Stiel geerntet wird. f) Zusammenhang mit geographischem Gebiet: Beschreibung des Erzeugnisses (Zusammenfassung der Angaben gemäß Art. 4 Abs 2) a) Name: Tomaten von der Insel Reichenau b) Beschreibung: Tomaten - lycopersicon lycopersicum; die Tomaten haben eine runde Form, sind schnitttest, von mittelroter Farbe und arttypischem Geschmack. c) Geographisches Gebiet: Insel Reichenau, Bodensee, Baden-Württemberg d) Ursprungsnachweis: Tomaten von der Insel Reichenau sind Erzeugnisse traditionellen Gemüseanbaus, der auf die Klosterkultur auf der Insel Reichenau zurückgeht. Mit der Beschreibung seines Gartens "de cuitura Hortorum" von 840, kurz "Hortulus" genannt, begründete Abt Walahfried Strabo die Tradition der Insel Reichenau als Gemüsegarten. Der Anbau von Tomaten auf der Insel Reichenau ist erstmalig für das Jahr 1900 dokumentiert, 1932 hatte er sich bereits auf 500 ar ausgedehnt (vgl. Glönkler, "Vom Weinbau zum Gemüsebau", 1991, S. 61 und 70). Derzeit werden hierim geschützten Anbau auf ca. 5 ha Tomaten kultiviert. Die Tomaten werden aus auf Wildformen veredelten Jungpflanzen gezogen, die ausschließlich aus dem Gebiet der Insel Reichenau kommen. Durch Kennzeichnungszettel sind die einzelnen Erzeuger identifizierbar, so dass sich die Herkunft der Ware zurückverfolgen lässt. e) Herstellungsverfahren: Tomaten von der Insel Reichenau werden nach den Richtlinien für den integrierten und kontrollierten Anbau von Frischgemüse in Baden-Württemberg zur Verwendung des Herkunfts- und Qualitätszeichens erzeugt, und zwar ausschließlich auf organischem Substrat. Das heißt, der Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln wird auf ein Minimum reduziert. Der Boden wird sorgfältig gepflegt und gesund erhalten. Es wird nur bestes Saatgut eingesetzt. Unkraut wird nur durch Hacken, Dämpfen oder Abflammen, also mechanisch bekämpft, um den Einsatz chemischer Mittel auszuschließen. Der Boden wird jährlich analysiert, um die Düngerabgaben zu reduzieren. Gegen Die Insel Reichenau ist für den Gemüseanbau grundsätzlich prädestiniert. Mit ihrer Insellage im Bodensee hebt sie sich aufgrund ihrer besonderen geographischen und kiimatologischen Bedingungen (Feuchtigkeit, Wärme, Boden) von anderen Gemüseanbauregionen ab. Sie eignet sich auch hervorragend für den Anbau von Tomaten, die für ihr Wachstum hohe Temperaturen und eine regelmäßige Wasserzufuhr benötigen. Der Bodensee als große Wasserfläche bringt immerausreichend Feuchtigkeit. Durch die Lichtreflexion auf der Wasserfläche ergibt sich eine höhere Strahlungsintensität für das Produkt. Der Bödensee fungiert hier als Wärmespeicher. Die Bodenbeschaffenheit fördert die Anpassung an den Wärmespeicher See. Der Boden ist Moränenschuttboden mit hohem Anteil an Stein und Kies, also sehr wasserdurchlässig, gut zu bearbeiten und schnell erwärmbar. Diese positiven klimatischen Bedingungen fördern die Erzeuger durch ihr spezielles Knowhow im geschützten und im Freilandanbau. Beim Gewächshausanbau ist die Insel Reichenau in Deutschland führend. Es wird speziell und ausschließlich Anbau in Erde mit thermischer Bodengesundung ohne Einsatz chemischer Mittel vorgenommen, was zumindest bundesweit eine Ausnahme darstellt. Eine spezielle Nährstoffversorgung und die kontrollierte Klimaführung im geschützten Anbau optimieren den Anbau weiter. Die genannten naturlichen und menschlichen Einflüsse wirken sich bei den Tomaten von der Insel Reichenau so positiv auf die Qualität aus, dass diese über die Region hinaus einen besonderen Ruf genießen. g) Kontrolleinrichtung: Regierungspräsidium Karlsruhe, Referat 34 Schlossplatz 1-3, 76131 Karlsruhe, DE Lacon GmbH Hanns-Martin-Schleyer-Straße 10, 77656 Offenburg, DE h) Etikettierung: Tomaten von der Insel Reichenau g.U. i) Einzelstaatliche Rechtsvorschriften: Richtlinien für den integrierten und kontrollierten Anbau von Frischgemüse in Baden-Württemberg zur Verwendung des Herkunftsund Qualitätszeichens; EGVermarktungsnorm für Tomaten 127 1.Weltkrieg: rhein-ebene); Straßenbahn-Anbindung kleine an Konstanz scheitert Landwirte 1914 Tabelle 2: 1948 ab jetzt zunehmend europäische Gemüseanbaugebiete Spezialisierung ca. 130 ha Gemüseland (davon ca. 30 ha bewässerbar) ab 1938 erstmals auch Zunahme Gemüseland auf Kosten von Ackerland 1932: 82 ha Gemüseland Konzentration auf Frühgemüse 1918: 25 ha Gemüseland ab 1890: Zunahme Gemüseland auf Kosten von Rebland bis 1890: Zunahme der Zwischenkultur vom Weinbau zum Gemüsebau (1863-1948) weiterhin gering Versuchsfelder, einheitliches Sortiment, erste Ausbildung und Beratung; weiterhin Ackerbau/Viehzucht erste Bauern mit Gärtnerlehre Wissen aus Gemüsehandbuch, Kontakte zu andern Anbaugebieten Spezialisierung auf arbeitsintensives Frischgemüse; weiterhin Ackerbau/Vieh Weinbau mit Boh- gering; Ackerbau nen zwischen den und Viehhaltung zur Selbstversorgung Reben als Zusatzkultur Anbaustruktur 302 Betriebe (1943) 320 Betriebe (1932) 333 Betriebe (1925) kaum betriebliche Konzentrationsprozesse AntiKonzentration (Realteilung, „nicht alles Land unter einem Wolken haben“) Konzentration der Betriebe Anhang 1896 Winzerverein 1897 Ein- und Verkaufsgenossenschaft gemeinschaftliche Institutionen systematische Förderung des Tourismus (KdfReisen) Auflösung der Gemüsegenossenschaft, Einführung der Abteilung Gemüsebau (1938) Höhepunkt des Tourismus durch Klosterjubiläum erste Gemüsegenossenschaft in Oberzell Malerkolonie, Villen Dominanz der Landwirtschaft; Tourismus in Ansätzen vorhanden Verhältnis zu anderen Sektoren Modernisierung der Reichenauer Landwirtschaft zwischen 1863 und 1948 (eigener Entwurf nach den Herausarbeitungen des historisch-genetischen Teils, Angaben insbesondere aus BLENCK 1971 und GLÖNKLER 1991) quantitativ immer noch gering weitere Unterglasflächen und Motorfräsen beschränkt auf die Weimarer Republik, (v.a. Ober- Fortsetzung des Protektionismus und Umfunktidann auf das onierung in KriegsernähDeutsche rungswirtschaft Reich Bau einer Wasserversorgung 1933 1929 ab 1925: erste Gewächshäuser, erste LKWs der Händler erste Motorfräsen quantitativ gering protektionistische Maßnahmen 1925 1919 Güterstation (1885) 1885 biete Weinbauge- andere beschränkt auf Bodensee und dessen Hinterland Eisenbahnbau (1863), Erweiterung des Marktgebiets gering (Bodensee als Verkehrsgunstfaktor) gering vor 1863 Konkurrenz 1863 Marktintegration, Außenabhängigkeit Technisierung Zeit Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau 128 zunehmende ökonomische Zweckrationalität bereits Ansätze ökonomischer Zweckrationalität durch den Weinbau individuelle Ebene heute 2000 1990 1980 1970 1958 Währungsreform Bau der Beregnungsanlage (bis 1971) 1948 Tabelle 3: starke Konzentrationsprozesse auf der Händlerseite Markterweiterungen sierung’ durch ‚zweite Moderni- zunehmende Kritik tion Marktintegra- nehmende weiter zu- durch immer Verstärkung ropa) und Südeu- (v.a. Holland gebiete Gemüsebau- andere Konkurrenz Spezialisierung neuer Flurbereinigungsbedarf (Betriebe wieder zu klein) Unterglasflächen Zunahme der Freilandflächen, Abnahme der Flurbereinigung Gewicht größeres Tätigen immer Gemüsebau der im mit Abnahme Verhältnis zu anderen Sektoren größere Betriebe anderer brauchen zusätzliche Arbeitskräf- Funktionen te (meist polniv.a. Tourismus sche Saisonarbeiter) und Wohnen zunehmende Konzentration beginnende Konzentration (290 Betriebe, 225 im Haupterwerb) Konzentration der Betriebe sich fortsetzende Konzentration: immer weniger, dafür immer Intensivierungs- und größere Betriebe Ökologisierungs2007: 140 BeStrategien triebe (90 im Haupterwerb) Nischenmärkte erste Ökologisierungen („Integrierte Produktion“) Beratung (bis heute) professionellen Fortführung der Zunahme des Gemüselands auf Kosten des AckerAbschaffung der lands Viehzucht von Frühgemüse zu ausgeglichene- Intensivierungen der rer GanzjahresBerufsausbildung produktion (bis heute) Anbaustruktur Anhang Modernisierung der Reichenauer Landwirtschaft von 1948 bis heute (eigener Entwurf nach den Herausarbeitungen des historisch-genetischen Teils, Angaben insbesondere aus BLENCK 1971, GLÖNKLER 1991 und aus der eigenen Feldforschung) Substratkulturen Gewächshäuser mit Betriebs-PC und Klimasteuerung Säh- und Spritzgeräte Sortier- und EWG-Vertrag Putzmaschinen (in zunehmender Zahl) Ausbreitung der Grundmotorisierung auf alle Betriebe Marktintegration, Außenabhängigkeit Technisierung Zeit Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau weniger rer’ und ‚Verlie- ‚Gewinner’ immer mehr rung Marktorientie- vollständige nalität durch Zweckratio- ökonomische weiter zunehmende individuelle Ebene Marketing mit Öko- und Regional- Komponenten 129 Diskussionen öffentliche und durch den Markt Druck durch immer mehr ‚Face-toZentralisierung der Vermarktung Face’die Marke ReiKontakte chenau Gemüse Flurbereinigung Bau der Beregnungsanlage (gemeinsam Graben!) gemeinschaftliche Institutionen Übernahme der Abteilung Gemüsebau durch Gemüsegenossenschaft Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Anhang Photogalerie (alles eigene Photos, aufgenommen am 29.03.2008 auf der Insel Reichenau, außer auf S. 135 und 136) Blick von der Hochwart Richtung Schweiz: Erstes Bild: Blick auf ein großes Gewächshaus. Zweites Bild: Blick auf Freiland. Drittes Bild: Blick auf die Schnittstelle 130 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Anhang Oben links: Folien-bedecktes Freiland vor der Oberzeller Kirche. Oben rechts: eines der alten, kleinen Gewächshäuser. Links: Ein seltener gewordenes Bild: Gärtner bei der Arbeit im Freiland. Unten links: Freilandsalat, im Hintergrund eines der alten, ehemaligen Rebbauernhäuser. 131 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Anhang Oben links: Äußere Klimamessstation eines modernen Glashauskomplexes. Mitte links: "Klimacomputer" eines modernen Gewächshauses. Unten links: junge Tomaten im Gewächshaus in der Erde. Unten rechts: junge Gurken in der Topfkultur (Substratanbau). 132 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Anhang Oben links: Eines der Seepumpwerke für die Beregnungsanlage. Oben rechts: Ehemalige Annahmestelle eines ehemaligen Großhändlers. Mitte links: Verwaltungsgebäude der neuen zentralisierten Genossenschaft mit davor stehendem DirektverkaufPavillon. Unten links: Die LKW-Flotte vor der modernen Vermarktungshalle. 133 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Anhang Oben links: ehemaliges Rebbauernhaus mit schönem Fachwerk, vermietet heute Ferienwohnungen. Oben rechts: ein Bus mit Tagestouristen drückt sich die Hochwart hinunter. Mitte links: modernes Wohnhaus hinter Freilandbeet. Unten links: links das alte Ammanhaus (heute Museum), rechts die alte Gerichtslinde und in der Mitte eines der drei wegen ihres Äußeren vielgescholtenen neuen Welterbemuseen. Unten rechts: Panorama durch Metallrahmen. 134 Anhang 135 Inselplan der Insel Reichenau: verändert nach: Online im Internet: URL: <http://www.welterbestaetten.de/grafik/karte-reichenau.jpg> und <http://www.reichenau.de/index.php?id=8> [Stand: 27.03.2008] Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Anhang Luftbild: entnommen BRD (2000:39) 136 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Anhang Zusätzliche Karte Karte 7: Existing zones of protection on and around the Monastic Island of Reichenau; taken from BRD 2000:59 137 Der Gemüsebau auf der Insel Reichenau Erklärung Erklärung Ich erkläre, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig und nur unter Verwendung der angegebenen Literatur und Hilfsmittel angefertigt habe. Die aus fremden Quellen direkt oder indirekt übernommenen Inhalte sind als solche kenntlich gemacht. Berlin, den Stefan Dietrich 138