aus: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 121 (1998) 153–164

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aus: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 121 (1998) 153–164
JURIJ G. VINOGRADOV – ANNA S. RUSJAEVA
P HANT ASM OM AGI CA O L BI OPOL I T ANA
aus: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 121 (1998) 153–164
© Dr. Rudolf Habelt GmbH, Bonn
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P HANT ASM OM AGI CA O L BI OPOL I T ANA *
In der letzten Zeit hat man sich viel mit griechischen magischen Texten befaßt, und das ist gut so. Sehr
willkommen ist die neue Sammlung der magischen Amulette von Roy Kotansky.1 Nötig ist erstens die
minuziöse Bearbeitung der epigraphischen Materialien im Felde und zweitens die Ausarbeitung ihres
Inhalts unter Berücksichtigung der konkreten, realen Situation.
In diesem Sinne eröffnen Denkmäler aus Olbia Pontica ein weites Wirkungsfeld für verschiedenartige Interpretationen, wie es beispielsweise einige Aufsätze B. Bravos2 oder die neulich publizierten
Schriften A. Lebedevs 3 zeigen.
Im Nachstehenden bemühen wir uns, den Mangel an Autopsie und an Bekanntschaft mit dem archäologisch-topographischen sowie epigraphischen Befund auszugleichen und möglichst klarzustellen, auf
welche Weise die betreffenden epigraphischen Zeugnisse der Kategorie der magischen Texte zugezählt
werden sollen, sowie welche historischen Ergebnisse daraus zu gewinnen sind.
1. Das Pharnabazos-Ostrakon
Als wichtig erweist sich in diesem Sinne ein Beleg auf einem aus dem schwarzgefirnißten Schalenboden
angefertigten Ostrakon, das der Gefäßform 4 sowie der Paläographie nach genau an das Ende des 5. Jh.s
v. Chr. zu setzen ist (Taf. IX,1)5 . Im Zentrum des Bodenfeldes, von einem Schwarzlackring umrahmt,
ist mit einfachen Strichlinien der Kopf eines jungen Mannes abgebildet, dessen Protome sich weiter
* Folgende Abkürzungen werden verwendet:
Anc. Civ. = Ancient Civilisations from Scythia to Siberia.
Ath. Ag. XII = B. Sparkes, L. Talcott, Black and Plain Pottery, Athenian Agora XII (1970).
CIRB = Korpus bosporskich nadpisej – Corpus inscriptionum Regni Bosporani, Moskau–Leningrad 1965.
Dubois, IGDOP = L. Dubois, Inscriptions grecques dialectales d’Olbia du Pont, Genf 1996.
Rusjaeva, Religion und Kulte = A. S. Rusjaeva, Religija i kul'ty ani cnoj Ol'vii (Religion und Kulte des antiken Olbia), Kiew
1992.
Rusjaeva, Agrare Kulte = A. S. Rusjaeva, Zemledel'ceskie kul'ty Ol'vii (Agrare Kulte Olbias), Kiew 1979.
SNG = Sylloge nummorum Graecorum.
Vestnik = Vestnik drevnej istorii.
Vinogradov, Olbia = J. G. Vinogradov, Policeskaja istorija Olvijskogo polisa VII–I vv. do n.e. (Politische Geschichte der
Polis Olbia vom 7. bis 1. Jh. v. Chr.), Moskau 1989.
Vinogradov, Pont. Stud. = J. G. Vinogradov, Pontische Studien. Kleine Schriften zur Geschichte und Epigraphik des
Schwarzmeerraumes, Mainz 1997.
1 R. Kotansky, Greek Magical Amulets. The Inscribed Gold, Silver, Copper and Bronze Lamellae, Part I, Opladen 1994.
2 B. Bravo, Une tablette magique d’Olbia: les morts, les héros et les démons, in: Poikilia. Festschrift J.-P. Vernant
(1987) 185–217.
3 A. Lebedev, Pharnabazos, the Diviner of Hermes: Two Ostraka with Curse Letters from Olbia, ZPE 112 (1996) 268–
278; ders., The Devotio of Xanthippos: Magic and Mystery Cults in Olbia, ibid. 279–283.
4 Ath. Ag. XII, Taf. 24, Nr. 550, 551: 420–400 B.C.
5 Lebedev (275f.) stimmt schon dieser Datierung zu, obwohl er einige Buchstabenformen nicht korrekt bezeichnet (My
erscheint keinesfalls ‚with parallel outer strokes‘, auch Pi erscheint ‚with equal verticals‘ nur einmal; Theta ‚with a stroke‘
findet man auf den Orphiker-Täfelchen aus dem 5. Jh.: PS, Taf. 4, 1–2; vgl. unten Abb. 4b) sowie methodisch irreführend die
Paläographie der Graffiti und die der Steininschriften zusammenstellt (dazu vgl. Vinogradov, Vestnik 1971 (4) 77; ders.,
Anc. Civ. 1 (1994) 104). Im weiteren jedoch, ohne zusätzliche Beweise heranzuziehen, setzt er den Graffito zugunsten der
eigenen präsumptiven Auswertung ans Ende der 370er Jahre, d.h. mindestens 30 Jahre später. Das Ostrakon wurde in einer
Aschenschicht aus dem 5.–4. Jh., und keinesfalls ‚in a small pit‘ (so Lebedev 275, der darauf besonderen Wert legt)
gefunden, vgl. A. A. Beleckij, A. S. Rusjaeva, Graffiti magischen Inhalts aus Olbia, in: Severnoje Pricernomor'je (1984) 52–
55 (= SEG 34, 771; Vinogradov, Bull. ép. 1990, 547, von Lebedev übersehen). Vgl. J. G. Vinogradov, S. D. Kryzickij, Olbia,
Leiden 1995, Tafel 108, 3, wo ein besseres Photo abgebildet ist; Dubois, IGDOP 98.
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J. G. Vinogradov – A. S. Rusjaeva
nach unten erstreckt und dessen mit Haar bedecktes Haupt mit zwei hinabfallenden, unten sich überkreuzenden Tänien geschmückt ist.6 Für die eingespeicherte magische Bedeutung des Bildes sind folgende Objekte von besonderer Bedeutung: Von unten beginnend kriecht eine Schlange und beißt mit
dem Kopf ins Auge, gleichfalls von unten sticht unter dem Kinn eine Machaira in den Hals, vier andere
parallel verlaufende Schwerter durchbohren dessen Brust so, daß die Griffe unten außerhalb des Porträtrahmens und die Klingen oben erscheinen7. Der Zeichner hat das Bildnis nochmals mit der primitiv
verflechtenden Doppellinie und einer sorgfältig ringsum eingeritzten Inschrift umgeben, deren Buchstaben zunächst mit dreifachen Strichen verziert und anschließend mit einer und teilweise zwei Linien
durchstrichen wurden. In allen diesen magischen Zeichen ist also offensichtlich der Wunsch des Verfluchenden zu erkennen, Leib und Seele seines Gegners zu fesseln und dem Tod auszuliefern.
Die von der Brust zum Hinterhals verlaufende, tadellos zu lesende Inschrift wurde von uns folgendermaßen gelesen:
Farnãbazow filÒkalow: prÒoida t°ynhkaw, ±rem°v yeoprÒpow ÑErmoË.
„Pharnabazos8 , Liebhaber von Schönheit! Ich, der Prophet des Hermes, weiß im voraus, daß du tot bist,
(deshalb) bin ich ruhig.“
Daraus haben wir geschlossen, daß der Fluch eines anomymen Hermes-Wahrsagers gegen den
feindseligen Pharnabazos gerichtet worden war, um ihm nächstens den Tod zu wünschen.
Dieser Lesung und Deutung trat Lebedev (S. 269f.) mit folgenden Argumenten entgegen: 1) „cursors in early Greek spells usually do not disclose their names or identity“, 2) „it is hard to see why the
cursor should ±reme›n and why the cursed should be praised by the cursor als filÒkalow“, 3) deswegen
sucht er statt des klar erkennbaren Kappa in dem Wort filÒkalow ein höchst seltenes, spät belegtes Adjektiv filÒlalow = ‚babbler, Schwätzer‘. Daraus ergibt sich folgende Lesung bzw. Deutung (S. 270 f.):
Farnãba_s´zow filÒlalow: prÒoida t°ynhkaw, ±r°me<i>, Œ yeoprÒpow ÑErmoË.
„Pharnabazos the babbler, I foreknow you are dead: don’t move, you, diviner of Hermes!“
Eine solche eigenartige Auslegung glaubt der Exeget dadurch zu bekräftigen, daß er sich bemüht, in
drei außerhalb des magischen Ringes stehenden isolierten Zeichen zunächst (in der Mitte) den Vokativ
mË(e) und dann – im Monogramm am Anfang und im E am Ende – die Namen der chthonischen Gottheiten zu erkennen (DÆmhtrow (oder DionÊsou) + ÜAidou bzw. ÑErmoË).
Die angebotene phantasiereiche Interpretation erweist sich prima facie als hinfällig. Das erste von
den angegebenen Argumenten erscheint keinesfalls gültig, da bei der vermutlich jährlichen Iterierung
des Priesteramtes9 der Prophet des Hermes doch anonym bleiben sollte; selbst wenn dies für den Hermeskult in Olbia nicht der Fall sein sollte, hat immerhin der Verfasser dieser Beschwörung seinen Namen verborgen (vgl. unten zur Distanz zwischen den beiden Personen). Der zweite Beweis scheint uns
unverständlich, ja anstößig. Der verfluchende Wahrsager bleibt deswegen ruhig (±rem°v), weil er im
voraus überzeugt ist, Pharnabazos würde sicher bald tot sein. Jede ‚Verbesserung‘ eines klar zu lesenden
epigraphischen Textes entkräftet bekanntlich die daraus folgende Auswertung. In diesem Fall hat
Lebedev einerseits nicht in Betracht gezogen, daß auf der Scherbe in dem Wort filÒkalow klar Kappa
6 Man bemerkt jedoch bei diesem eigenartigen Porträt keinen Hinweis auf eine kurbas¤a oder eine für Lebedevs Deutung (S. 271) des Mannes als ‚Bacchic priest‘ oder ‚Orpheotelestes‘ erwünschte Mitra.
7 Die meisten dieser Details sind von Lebedev nicht erkannt.
8 In Gegners Personennamen hat der Urheber das ursprüngliche Sigma nachher durch das korrektere Zeta ersetzt, was
nicht nur seine Neigung zur Sorgfältigkeit, sondern auch seine Bekanntschaft mit dem Sujet der Verfluchung bezeugt
(dagegen fälschlich Dubois, IGDOP 160).
9 Zumindest für den Apollonkult wird das Verfahren in Olbia von mehreren Quellen bezeugt: P. O. Karyskovskij,
Olbische Eponymen, Vestnik 1978 (2) 82–88; Vinogradov, Olbia 112f., 220f. Auf die Iteration des Amtes von HermesPriestern weist eindeutig ein weiter zu behandelnder Graffito hin.
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und nicht Lambda zu erkennen ist und daß andererseits eine Konsultation jedes gängigen Lexikons
(Passow, Pape oder LSJ) für das Adj. filÒkalow auch eine sarkastisch-höhnende Nuance ergibt, d.h.
Freund vom äußerlich Schönen, der Ehr- oder Ruhmsüchtige (verb. mit filÒtimow), fond of effect and
elegance, fond of honour, seeking honour, mit Verw. auf Xen., Kyr. I 3, 3; II 1, 22; Isokr. I 26; X. 57;
Arist., EN 4, 10; Plut. mor. 30 D; 806 C; 1107 E. Sicher nicht zufällig verwendet denn Arist., HA 488 b
24, dieses Adjektiv als negative Bezeichnung („Pfauhahn“) für eines der tå fyonerå ka‹ filÒkala
Lebewesen und Alexis hat es für den Titel seiner Komödie ‚filÒkalow µ NÊmfai‘ (fr. 253 K.-A.)
gewählt. Also wollte der Verfasser des Fluches den feindseligen Pharnabazos gar nicht preisen, sondern
im Gegenteil als einen hochmütigen oder ehrgeizigen Mann verspotten. Schließlich forderte die infolge
der Konjektur (±rem°v zu ±r°me<i>) entstandene Partikel (Œ), daß die Benennung des Propheten eher
im Vokativ (yeÒprope) stehen sollte.
2. Das Aristoteles-Ostrakon
Zum historischen Wert dieser Inschrift erst später zurückkehrend wenden wir uns jetzt dem zweiten
Graffito zu, der in Lebedevs Konstruktion eine bedeutende Stelle einnimmt. Bei den Restaurierungsarbeiten in einem Wohnbezirk Olbias weit nördlich von den beiden Temene wurde ein aus einer
schwarzgefirnißten Scherbe10 angefertigtes Ostrakon entdeckt, das auf beiden Seiten beschriftet und mit
einer Zeichnung versehen war (Taf. X,2b–c). Die ed. princ. von Tergo lautete11:
ÉAristot°lhw fl°r(evw) ÑErm°v ßvw ka‹ ÉAy(h)na¤hw jÁn Ãn ÑHrog°nhw, ÑHrofãnhw.
A. A. Beleckij hat in Z. 5 einen Personennamen Jun≈n vermutet12, was von einem der Verf. zu jun≈n
(„Gefährte“) korrigiert wurde13. Neulich hat L. Dubois EVS am Ende von Z. 3 auf IER Z. 2 bezogen,
um die Lesung fl°r|evw zu bekommen und den Text folgenderweise zu erklären: „A. S. Roussiaiéva
considère cette inscription comme un document de nature magique, ce qui ne s’impose pas. Me paraît en
revanche plus remarquable le lien cultuel entre Hermès et Athéna . . . L’objet pourrait en définitive être
une tessère mentionnant les responsables du clergé du culte d’Hermès et d’Athéna.“14 Diesem Umstand
widerspricht die Tatsache, daß einerseits am Ende von Z. 2 ein für E in regelmäßiger – wie sonst im
Text – Silbentrennung (fl°re|vw) ausreichender Platz bleibt, und daß andererseits Hermes und Athena in
verschiedenen Kultbezirken Olbias verehrt wurden: die erste Gottheit im Westlichen, die zweite doch
im Zentralen Temenos. Die gleichzeitige Ausübung des Priesteramtes der beiden Götter ist deshalb ausgeschlossen. Uns bleibt also die Inschrift folgenderweise zu lesen:
ÉAristo|t°lhw : fl°r(evw) ÑErm°v : ßvw | ka‹ ÉAy<h>na¤hw | jun∆n ÑHrog°|nhw : ÑHrofã|nhw.
Nur der Name und Titel von Aristoteles sind von einer Startlinie und vier Unterstrichen markiert, und
die Personennamen von Herogenes und Herophanes sind als Kompagnons (jun≈n) des Unternehmens
zugefügt.
10 Die Scherbe (D. 3 cm) stammt vom Boden einer niedriggesetzten attischen Schale, die den Analogien nach (Ath. Ag.
XII, Taf. 21, 453) um 480 v. Chr. zu datieren ist.
11 Rusjaeva, Agrare Kulte 119f.
12 Beleckij/Rusjaeva (wie Anm. 5) 55.
13 Vinogradov, Bull. ép. 1990, 547 = SEG 34, 770 (von Lebedev übersehen); abgebildet bei Vinogradov/Kryzickij,
Olbia (1995), Taf. 108, 2.
14 Dubois, IGDOP 158f., nr. 97; bei der korrekteren Lesart jun≈n wird dieselbe von Vinogradov nicht erwähnt. Die
gleiche Lesart (fl°r|evw) hat unabhängig S. R. Tochtasjev, Ein magischer Graffito aus Olbia, Hyperboreus 2,2 (1996) 183–
188, vorgeschlagen.
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J. G. Vinogradov – A. S. Rusjaeva
Wesentlich weiter ist Lebedev gegangen (S. 271–273), der am Ende von Z. 3 in einem ganz klaren
Omega (sogar auf dem von ihm reproduzierten Photo) ein Omikron erkannte und nach einer Menge von
Korrekturen und Konjekturen zur folgenden Lesung bzw. Deutung kam:
ÉAristot°lhw, fler(Úw) ÑErm°v ¶o(i)w ka‹ _a´<te>yna¤hw jun∆n ~hrogenhw hrofanhw~
„Aristotle, may you be sacred to Hermes and die, being in the company with (the deceased?)“ [?!].
In voller Überzeugung, daß Aristoteles kein Hermes-Priester, sondern ‚a victim cursed to death by
an anonymous magician‘ war, ist der Autor geneigt, in den zwei letzten Personennamen zu erkennen
‚chthonische Gottheiten‘ (nach dem Typ von Eukles und Eubuleus der Orphiker-Blättchen) oder Gen.
Fem. ‚i.e. with Persephone‘ oder ‚adjectives meaning „becoming dead“‘ oder schlechten Endes den
Sinn: ‚may you be in company with the deceased‘, ‚with those who are born from and appear from the
grave, i.e. with the ghosts of the dead‘[!].
Man braucht nicht lange zu reden, um eine solche phantasmomagische Exegese nicht anders als
‚eine Art fremdsprachlicher Aufsatzübung‘ zu bezeichnen15. Zu einem besseren Verständnis dieses
eigenartigen beschrifteten Objektes kann das Bildnis auf dem Recto verhelfen, in dem die ed. princ. eine
weibliche Darstellung, Lebedev jedoch ein Porträt desselben verfluchten Aristoteles erkannten. Auf den
ersten Blick scheint es so zu sein, als ob ein Gegenstand von hinten in den Kopf der Gestalt stoße, den
die ed. princ. für einen Fisch16, aber Lebedev für ‚a lethal weapon or a magical nod (ëmma), paralizing
the dynamis of Aristoteles ‘ (S. 273) hielten. In Wirklichkeit tritt uns in diesem Objekt nichts anderes
als ein Delphin entgegen, der nach allen Vorstellungen der Griechen als vernünftiges17 , ja
soteriologisches Wesen auftritt, das deshalb keinesfalls als tödliche Waffe dienen könnte18 . Die
eingeritzten Linien unten gehören zur Tracht oder Bewaffnung der Dame, in deren Gestalt die AthenaProtome sich mühelos erkennen läßt. Ein Blick in die Numismatik Olbias bringt vor Augen eine
eigenartige Kopie des zu dieser Zeit im Geldumlauf befindlichen, aus Erz gegossenen Obolos (Taf.
X,2a), dessen zwei Sorten vom Typ ‚Athena-Kopf mit Delphin – Rad‘ etwa von 490 bis 470 v. Chr.
gegossen wurden19 und sich in mehrere Gruppen unterteilen: die mit Athena-Kopf des älteren (ca. 490–
480) und die des jüngeren Stils (ca. 480–470)20 . Auf dem den kleineren Obolen gleich großen
Aristoteles-Ostrakon sieht die Göttin stilistisch jünger aus, was uns ermöglicht, den Graffito auf die
Zeitspanne ca. 480–470, d.h. auf die letzten Regierungsjahre des olbischen Tyrannen Pausanias, oder
kurz nachher zu setzen. Das Datum wird archäologisch (vgl. oben, Anm. 10) sowie paläographisch
untermauert: Die Formen von Epsilon, Ny, Xi und Omega sowie die systematisch verwendete
Interpunktion (:)21 erscheinen besonders charakteristisch und befinden sich in vollem Einklang mit dem
ionischen Dialekt der Inschrift (ÉAy<h>na¤hw). Bei der Nachahmung der gleichzeitigen Münzembleme
15 Nach den treffenden Worten L. Roberts, Die Epigraphik der klassischen Welt (1970) 40 (Übers. von H. Engelmann).
Eine vollberechtigte Kritik von Lebedevs Deutung findet man bei Tochtasjev, a.a.O., S. 187f.
16 Rusjaeva, Agrare Kulte 119; Beleckij/Rusjaeva (wie Anm. 5) 52; da wurden eigentlich zwei die Protome beißenden
Fische erkannt – einer oben und der andere unten.
17 Vgl. das Charakteristikum delf‹w frÒnimow auf dem Orakel-Plättchen von Berezan, SEG 36, 694 = Dubois, IGDOP
93a, 5.
18 Vgl. O. Keller, Die antike Tierwelt (1909) 212 ff.; Oppian, Halieutika I 647 delf¤nvn oÎpv ti ye≈teron êllo
t°tuktai.
19 Vgl. Vinogradov/Kryzickij, Olbia (1995) 166, nr. 5, Taf. 85 (die ursprüngliche Datierung von P. O. Karyskovskij).
Vgl. SNG, Br. Mus. 1, Nr. 377–378.
20 Zum modernen Stand der Zeitsetzung vgl. P. O. Kary skovskij, Monety Ol'vii (1988) 41–49; Vinogradov, Olbia 92,
120.
21 Als Beweis für den usus dieser Interpunktion im 4. Jh. zitiert Lebedev (S. 276, Anm. 59) unsere Publikation des
Kalender-Graffitos (jetzt auch bei Dubois, IGDOP 100; vgl. Rez. von Vinogradov, Gnomon, im Druck) unter der Mißachtung der Tatsache, daß es um eine spätere Kopie eines Gesetzes geht und daß deren Datierung um 450 v. Chr. (dubitanter)
nicht auf L. H. Jeffery, sondern auf A. Johnston zurückgeht.
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hat Aristoteles das Delphinbild nach hinten umgestellt, die Relief-Umrahmung des Athena-Kopfes auf
den Obolen mit Strichsegmenten gestaltet und vorne ein Epsilon, wohl das Inizial des Hermes-Namens,
zugefügt.
Auf welche Weise könnte man nach all dem oben Gesagten das Ostrakon im ganzen erklären?
Diente es tatsächlich irgendwelchen magischen Handlungen, und wenn ja, welchen? In vollem Gegensatz zum Pharnabazos-Ostrakon schimmert in der Scherbe des Hermes-Priesters nicht einmal ein leiser
Wink auf infernale oder destruktive Magie. Die Symbolik der Athena, des Apollon Delphinios und des
Hermes weist dagegen eindeutig darauf hin, daß wir ein Votivostrakon vor uns haben mit dem wohl
mantischen Wunsch eines boni eventus Ergehens, d.h. des Erfolges in einem Geschäft oder
Unternehmen, das Aristoteles, der gegenwärtige Priester von Hermes und der ehemalige von Athena22,
zusammen mit seinen Kameraden Herogenes und Herophanes sich vorgenommen hat23 . Solche
Auffassung wird durch eine Reihe weiterer olbischer Ostraka aus der klassischen und
frühhellenistischen Zeit mit magisch-votiven guten bzw. bösen Wünschen untermauert. Auf einer
schwarzgefirnißten Scherbe aus dem 3. Viertel des 4. Jh.s v. Chr. (Taf. IX,3a) steht eingeritzt:
ÉErgas¤vn|ow | ßteron xa›re, | ßteron Prvt°aw mØ` | mØ xa›re24.
Es ist kennzeichnend, daß die Namen der beiden Gegner voll angeführt sind, was nach Lebedevs
Meinung dem magischen Charakter der defixio widersprechen würde (s. oben). Auf der Serie der
kleineren schwarzlackierten Ostraka aus dem 5. Jh. v. Chr., die bei den Ausgrabungen Olbias 1959 an
einer Stelle zusammen freigelegt wurden, stehen boni et mali eventus apprecationes (Taf. X,3b–d):
b) Recto: efim‹ | E`Èãr|eow,
Tergo: EÈar|¤naw | eÔ,
c) ka(kå) Taur¤||vnow,
d) kakå | Taur¤||vnow 25.
3. Der historische Kontext des Pharnabazos-Ostrakons
Kommen wir jetzt zum Pharnabazos-Ostrakon zurück, in dessen Inhalt Dubois keinen Hinweis auf
Magie oder ein Orakel erkannt hat, sondern „une formule et un dessin d’exécration . . . une plaisanterie
d’un goût douteux rédigée dans un cercle d’Hermaïstes olbiens“26. Die vergleichende Zusammenstellung der beiden Inschriften – der des Pharnabazos und der des Aristoteles – hat Lebedev noch weiter
gefördert. Kurz zusammengefaßt sieht sein Gedankengang und die daraus erzielte Konstruktion so aus
(S. 273–278): Aristoteles und Pharnabazos, nach des Interpreten Auffassung, haben als Hermes-Seher in
Olbia fungiert und deswegen miteinander konkurriert, was auf den beiden Scherben reflektiert wurde:
‚in graffito (1) Aristoteles curses Pharnabazos, in graffito (2) Pharnabazos curses Aristoteles‘, der
22 Das tatsächlich in solchem Kontext ungewöhnliche Adv. ßvw soll wohl im Sinne von ßvw (nËn) vorgestellt und mit
dem Ausdruck der späteren bosporanischen Inschrift e.g. pr‹n •llhnãrxhw verglichen werden (CIRB, Index VI).
23 Ein Vergleich mit dem Sprachgebrauch der Gerichts-Defixiones (z.B. SEG 30, 930 = Dubois, IGDOP 101: ka‹ t·w
aÙt«i suniÒntaw pãntaw) verdeutlicht, daß in unserem Fall auch ein magischer Akt gemeint wurde; vgl. A. Chaniotis,
GRBS 33 (1992) 69–73 = SEG 42, 728: ˜soi sunhgoroËsi ka‹ parathroËsi. Daraus folgt, daß Herogenes und Herophanes
lediglich Teilnehmer am Unternehmen von Aristoteles und keinesfalls Kollegen in seinem Hermes-Priestertum waren.
24 Ineditum von den Ausgrabungen Farmakovskijs 1901 in Olbia; aufbewahrt im Staatlichen Historischen Museum,
Moskau, Inv.-Nr. 42706/7.
25 Inedita, aufbewahrt im IIMK, St. Petersburg, Inv.-Nr. O-59/1267, 1268, 1269.
26 Dubois, IGDOP, S. 159f.; in Wirklichkeit enthält diese Inschrift bzw. dieses Bild keine einzige Andeutung auf die
Aktivität einer Hermaisten-Gesellschaft in Olbia.
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J. G. Vinogradov – A. S. Rusjaeva
letztere wanderte nach Olbia wohl aus Athen ein (S. 273)27. Sich auf die Ausführungen eines von uns
stützend (S. 270, Anm. 18)28 hat Lebedev den Ursprungsort auch des zweiten Pseudo-Propheten von
Olbia festgestellt: Der Name Farnãbazow gehörte nicht bloß dem iranischen, sondern speziell dem
persischen Namensgut an und genauer einer noblen Familie der persischen Satrapen, die im 5. und 4. Jh.
ihren Sitz in Daskyleion im Propontisraum hatten29.
Der berühmteste von drei homonymen Satrapen war Pharnabazos II. (um 450/445–373), dessen Lebenslauf mit der Herstellungszeit des olbischen Graffitos zusammenfällt. Auf diese offensichtliche
Koinzidenz gestützt entfaltet Lebedev folgende romantische Geschichte aus der Vita des Pharnabazos
(S. 276–278). Nach dem Zusammenbruch des zweiten Feldzuges nach Ägypten 373, als der berühmte
persische Satrap und Schwiegersohn des Großkönigs aus unseren Quellen endgültig verschwindet, war
er nicht – wie es einmütige Meinung aller Forscher ist (vgl. RE, Der Kleine Pauly u.a.) – in hohem Alter
gestorben, sondern begab sich ins Exil und erreichte endlich Olbia, wo er, wegen seiner ehemaligen
Verdienste gegenüber den 405 [!] verbannten Milesiern mit dem Asyl- und Bürgerrecht beschenkt, als
wandernder Magos vor den Olbiopoliten seine zoroastrisch-orphisch-pythagoreische Doktrin zu predigen begann30. In der Stadt trat ihm jedoch ein konkurrierender Rivale entgegen, Aristoteles; deren
‚Duell‘ (S. 274) führte letzten Endes zum gegenseitigen Austausch der Fluch-Ostraka sowie zur Verteilung des Einflußbereiches ihrer magisch-mantischen Aktivität: Pharnabazos gründete sein ‚mantic
shop‘ am Auffindungsort von Graffito (1), d.h. neben dem Hermes-Aphrodite-Heiligtum im Westlichen
Temenos und Aristoteles das seine nördlich der Agora – oder auch vice versa (S. 274f.).
Man braucht nicht viel darüber zu reden, daß dieser großartig angelegte phantasmomagische Roman
weit von den in konkreten epigraphischen Denkmälern enthaltenen Realien entfernt ist, auf denen es
aufgebaut werden sollte. Eine rivalisierende Aktivität zweier Pseudo-Magoi, Aristoteles und Pharnabazos, in Olbia ist zumindest aus dem einen Grund ausgeschlossen, daß die zwei Pseudo-Magier durch
eine beträchtliche Zeitspanne von mindestens 70 Jahren und im Maximum (nach Lebedevs Fassung)
von einem ganzen Jahrhundert geschieden sind! Wie oben festgestellt, gehört das Aristotels-Ostrakon
den 70er Jahren des 5. Jh.s an. Darüber hinaus dient es keinesfalls einer infernalen, sondern der
Haushaltsmagik guten Ergehens, was mit dem ursprünglichen Aufbewahrungsort in einer Wohnanlage
übereinstimmt. In dem Porträt auf dem Pharnabazos-Ostrakon ist ein junger bartloser Mann und keineswegs der 80jährige, zum bacchantischen Metragyrtes bekehrte Ex-Satrap abgebildet, dessen Bildnis wie
die gegen ihn gerichtete Fluchaufschrift auf Grund der archäologischen, paläographischen und
sprachlichen Evidenzen31 den letzten zwei Jahrzehnten des 5. Jh.s angehören dürfte.
Wie könnte man das änigmatische Ostrakon mit der an den berühmten Satrapen gerichteten Beschwörung vom historischen Gesichtspunkt interpretieren? Zu Hilfe kommen wieder die im Schriftbild
außerhalb des Innenringes untergebrachten Buchstabensymbole, die im Uhrzeigersinn so zu lesen sind
(Taf. IX,1): zunächst kommt ein Monogramm aus zwei Buchstaben D + A, dann die klar lesbaren M und
U, zuletzt kommt nicht ein Epsilon, dessen Mittelstrich sich in einem solchen Falle zu lang erstreckte,
27 Den einzigen Anlaß zu dieser Annahme bot dem Interpreten ein angeblicher Attizismus im Graffito (1) – ÑErmoË
(d.h. eine ausgesprochene Koine-Form!) – sowie anscheinend die Namensidentität des olbischen Pseudo-Magos mit dem des
berühmten Stagiriten, der bekanntlich frühestens ein Jahrhundert später in Athen wirken sollte.
28 Vinogradov, Pont. Stud. 157 (vom Jahrgang 1979). Dem Verf. schien und scheint weiter eine Benennung mit dem
Namen Farnãbazow im hellenischen Kulturkreis ausgeschlossen, aber, im Gegensatz zur ehemals ausgesprochenen
Meinung, die Präsenz dieses noblen Persers in Olbia höchst bedenklich zu sein.
29 F. Justi, Iranisches Namenbuch 92. Zur Lokalisierung von Daskyleion am Manyas-See auf Hisartepe beim Dorf
Ergili vgl. K. Bittel, AA (1953) 1–15; E. Akurgal, Anatolia 1 (1956) 20–24; ders., Princeton Encyclopedia of Classical Sites,
s.v.; vgl. E. Schwertheim (IK 26) Karte; zu den Funden: K. Balkan, Anatolia 4 (1959) 123–131; M. Nollé, Denkmäler vom
Satrapensitz Daskyleion, Berlin 1992.
30 Weder archäologisch noch epigraphisch wurde es begründet; ein Sonderbeitrag zu diesem Sujet ist jedoch von
Lebedev angekündigt: ‚Orphica, Pythagorica, Magica in the cleromantic bone plates from Olbia‘ (S. 271, Anm. 22 u. S.
275).
31 Bemerkenswert ist die unkontrahierte Form von ±rem°v, daneben die Koine-Form ÑErmoË.
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und kein Sampi, das bekanntlich kein Wort begann32, sondern wieder ein Monogramm, in dem folgende
Elemente zu erkennen sind: E, P, I, T. Nach all dem Gesagten kostet es keine besondere Mühe, das
gesamte Kryptogramm als Titel desselben Satrapen Daskyleions zu entziffern:
Da(skule¤ou) (t∞w) Mu(s¤hw) §p¤t(ropow).
Das geographische Determinativ ‚aus Mysien‘ wurde von dem olbischen Theopropos nicht zufällig
zugefügt: Einerseits, obwohl Pharnabazos als Satrap des hellespontischen Phrygien gilt, lag jedoch sein
Sitz Daskyleion tatsächlich im Mygdonenland Mysiens an der Grenze zu Bithynien33. Andererseits,
wenn Steph. Byz., s.v. DaskÊleion, fünf homonyme Ortsnamen anführt, mußte auch der Verfasser des
Graffitos unter ihnen unterscheiden, umso mehr als ein anderes Daskyleion, das am Marmarameer in
Bithynien lag, unter den Alliierten des Attischen Seebundes aufgezählt wurde 34, zu denen auch Olbia
damals gehörte35.
Der Potestas-Begriff §p¤tropow für einen griechischen oder einheimischen Statthalter ist schon bei
Herodot mehrmals belegt (3, 27, 2: M°mfiow; 5, 30, 2; 5, 106, 5: MilÆtou; 7, 170, 4: ÑRhg¤ou). Unter
den zahlreichen antiken Quellen nennt den Pharnabazos mit dem genauen Titel Diodor XIII 37, 4; 63, 2;
104, 6; XIV 39, 4; 81, 6: tÚn Dare¤ou/t«n Pers«n oder einfach satrãphn; andermals XIII 36, 5 führt
er seinen Posten an: ı t«n §p‹ yalãtthw tÒpvn ¶xvn tØn strathg¤an; XIII 40, 6: tÚn Dare¤ou
strathgÒn, XV 29, 3: ÍpÚ toË basil°vw énadedeigm°now strathgÚw §p‹ t∞w Persik∞w dunãmevw.
Man kann doch annehmen, daß der unbekannte olbische Wahrsager den persischen Satrapen nach dem
Modell der skythischen Sachwalter in seiner Heimatstadt titulierte, deren einer, Tymnes, als Gewährsmann von Herodot (IV 76, 6: …w dÉ §g∆ ≥kousa TÊmnev toË ÉAriape¤yeow §pitrÒpou) dem berühmten
Besucher von Olbia kurz nach der Mitte des 5. Jh.s den Stammbaum der Skythenkönige erklärt hatte36.
Bei der Komposition der Zeichnungen und Inschriften auf dem Ostrakon dienten dem Urheber
(gleich wie seinem Landsmann Aristoteles) einige Münztypen, die die Satrapen des Großkönigs im
späten 5. und im 4. Jh. prägen ließen37. Keine Ausnahme bildete auch Pharnabazos, dessen Tetradrachmen und kleinere Einheiten kyzikenischer Prägung (Thunfisch) mit dem Satrapen-Porträt n. r. in Kyrbasia durch eine Tänie knotengebunden und der herumlaufenden Legende FARNABA im Av. wegen des
Prora-Bildes im Rs. zunächst auf den Anschluß von Kyzikos an die Satrapie 410 und nachher auf den
Sieg Konons und Pharnabazos’ in der Seeschlacht bei Knidos 394 bezogen wurden 38. W. Weiser hat
freilich mit gutem Grund vermutet, daß diese Prägung in die 80er Jahre des 4. Jh.s zu setzen sei39. Die
anonyme Satrapenprägung existierte jedenfalls schon am Ende des vorigen Jahrhunderts, als stilisierte
Herrscher-Porträts n. l. sowohl n. r. mit den an Stirn und Nacken von Tänien zugeknoteten Kyrbasiai
32 Alle Sampi-Belege aus dem Nord-Pontos sind aufgezählt bei J. G. Vinogradov, The Greek Colonisation of the Black
Sea Region in the Gleam of the Private Lead Letters, in: G. R. Tsetskhladze (ed.), The Greek Colonisation of the Black Sea,
Historia Einzelschriften 121 (1998) 155, Anm. 6.
33 Alle widersprüchlichen antiken Quellen sind grundsätzlich behandelt bei J. A. R. Monro, Dascylium, JHS 32 (1912)
57–67.
34 ATL I 258f., 479f.; III 22, 37f., 56, 207, 241, 270.
35 Darüber ausführlich Vinogradov, Olbia 126–134; ders., Pont. Stud. 193f., 227 (mit Erwiderung auf die Kritik).
36 Ausführlicher zum skythischen Protektorat über Olbia vgl. Vinogradov, Olbia 94–109, bes. 103f.; ders., Pont. Stud.
151f., 203–210; ders., Zur Klassifizierung der griechisch-barbarischen Abhängigkeitsverhältnisse der vorrömischen Zeit im
pontischen Raum, in: B. Funck (Hrsg.), Hellenismus. Beiträge zur Erforschung von Akkulturation und politischer Ordnung
in den Staaten des hellenistischen Zeitalters, Tübingen (1996) 429f.
37 Wir verweisen nur auf die neuesten Beiträge, wo die umfangreichere Literatur zu finden ist: H. A. Cahn, Le
monnayage des satrapes: iconographie et signification, REA (1989) 97–105; W. Weiser, Die Eulen von Kyros dem Jüngeren,
ZPE 76 (1989) 267–297, sowie auf den im Westen fast unbekannt gebliebenen Beitrag von A. N. Zograf, Einige griechische
Münzen aus dem 5. und 4. Jh. mit den Porträtbildnissen, in: Anti cnyi portret, Leningrad (1929) 20, Taf. II 5, wo eine der
Pharnabazos-Münzen publiziert und behandelt wurde.
38 Cahn, a.a.O., S. 101, Abb. I 11.
39 Weiser, a.a.O., S. 286f.; 291f., 296, Taf. 20, Abb. 30–31.
160
J. G. Vinogradov – A. S. Rusjaeva
vorkamen40. Die Karikatur aus der Hand des Hermes-Propheten auf der olbischen Scherbe könnte
freilich diese Münzbildnisse imitieren, worauf auch die wellenartige Umrahmung des ganzen Schrift-,
Bild- und ‚Münz‘feldes hindeutet. In diesem Falle dienten alle drei Erkennungszeichen als Differente41
ähnlich den gleichzeitigen und späteren Prägeort- sowie Münzmeistermonogrammen.
Aber aus welchem Grund sollte denn der unbekannt gebliebene Hermes-Wahrsager Olbias im ausgehenden 5. Jh. den persischen Satrapen verfluchen? Es gab in dem von Intrigenspielen vollen Lebenslauf des Herrschers des Propontisraumes Pharnabazos nur eine einzige kurze Zeit, in der er der weit
abgelegenen milesischen Kolonie Schaden zufügen konnte. Nach der sizilischen Katastrophe 413
wackelte die Herrschaft der Athener im ganzen Seebund, insbesondere in den Meerengen und der Propontis42. Diesen Augenblick suchte Pharnabazos zu nutzen, um die mit den Athenern verbündeten
Poleis seines Machtraumes wegen des Tributes von Athen abfallen zu lassen (Thuk. VIII 6, 1: tãw te §n
•autoË érxª pÒleiw épostÆseie t«n ÉAyhna¤vn diå toÁw fÒrouw)43, zu welchem Zweck er im Winter
413/12 die Spartaner um ein Bündnis und die Entsendung einer Flotte bat. Erst im Sommer 411 erschien
ein peloponnesisches Geschwader im Hellespont und brachte Byzantion zum Abfall von Athen (Thuk.
VIII 80); noch früher waren Abydos und Lampsakos vom Seebund abgefallen (VIII 61–62, 1).
Der Ablauf des folgenden Krieges ist in Xenophons ‚Hellenika‘ sowie bei Diodor ausführlich
geschildert. Pharnabazos hat den peloponnesischen Streitkräften gegen die attische Flotte und Landtruppen unter dem Kommando des Alkibiades im Sommer 410 zunächst bei Abydos (Xen., Hell. I 1, 6;
Diod. XIII 45, 6) und nachher bei Kyzikos (Xen., Hell. I 1, 14–18; Diod. XIII 50, 6; 51, 1–4; Plut., Alk.
28) mit seinem Fußvolk und der Reiterei geholfen, wo schließlich die Peloponnesier zerschlagen
wurden und zu Pharnabazos flohen, der das besiegte Heer ermunterte (Xen., Hell. I 1, 24). Nach der
zweiten Niederlage bei Abydos im Winter 410/409 (Xen., Hell. I 2, 16) hat Pharnabazos an der
Verteidigung Kalchedons gegen Athen teilgenommen (I 3, 6), aber in Kürze im Jahre 409 mit den athenischen Strategen einen Waffenstillstandsvertrag geschlossen (StV II 206): seither stand er schon fest
auf der Seite Athens.
In der ganzen wechselvollen Geschichte des Hellespontos-Krieges lenkt ein bemerkenswertes
Moment unsere Aufmerksamkeit auf sich: Alkibiades, als er nach dem überwältigenden Sieg bei Kyzikos zwanzig Tage lang von den Kyzikenern Tribut kassierte, beschloß nachher, über Prokonnesos nach
Perinthos und Selymbria zu fahren, wo er auch Geld einnahm, und schließlich in den Bosporos, wo er in
der Umgebung von Kalchedon in dem von ihm befestigten Chrysopolis eine bewachte Zollstation einrichtete, um von den aus dem Pontos kommenden Schiffen den Zehnten zu erheben44. Dies dürfte
bedeuten, daß die Athener vorher die Kontrolle über die Meerengen verloren hatten; nicht umsonst faßt
Plutarch, Alk. 28, 6, zusammen: oÈ mÒnon tÚn ÑEllÆsponton e‰xon beba¤vw, éllå ka‹ t∞w êllhw
yalãtthw §jÆlasan katå krãtow toÁw Lakedaimon¤ouw45. Man darf andererseits nicht vergessen, daß
zu diesem Augenblick die Spartaner mit Pharnabazos’ Unterstützung drüben in Byzantion sowie auf der
asiatischen Seite in Kalchedon festen Fuß gefaßt haben.
Nach all dem Gesagten schiene es uns nicht so unwahrscheinlich, wenn der unbekannte Olbiopolit
genau im Jahre 410 v. Chr. prophezeihen sollte: „Pharnabazos, ruhmsüchtiger! Ich sehe es voraus, du
bist tot, ich bin ruhig, der Seher des Hermes!“ Einerseits passen die Porträtzüge zu dem damaligen Alter
40 Ebda, Taf. 19, Abb. 23, 26, 27, vgl. Taf. 20, Abb. 30–32, 34–40.
41 Einzelne Buchstaben, Abbreviaturen und Monogramme, die zur Bezeichnung der Nominalwerte, Prägeorte und
Münzmeister dienten.
42 Eine moderne Behandlung der Ereignisse findet man bei D. Kagan, The Fall of the Athenian Empire (1987) 211–286.
43 Zu Pharnabazos’ Beweggründen vgl. D. M. Lewis, Sparta and Persia (1977) 87.
44 Xen., Hell. I 1, 20–22: §nteËyen dÉ éfikÒmenoi t∞w Kalxhdon¤aw efiw XrusÒpolin §te¤xisan aÈtÆn, ka‹ dekateutÆrion kateskeÊasan §n aÈtª, ka‹ tØn dekãthn §j°legon t«n §k toË PÒntou plo¤vn; vgl. Polyb. IV 44, 4 und R.
Merkelbach, Inschr. Kalchedon (IK 20), S. 92f.
45 Vgl. Kagan, op. cit., S. 244f.
Phantasmomagica Olbiopolitana
161
des Satrapen, der damals etwa 35 Jahre alt war46, andererseits deuten die vier plus ein Schwerter, die die
Brust des Pharnabazos durchstechen, einen militärischen Kontext an. Als treue Verbündete der attischen
Liga durften die Olbiopoliten anläßlich des Sieges über die peloponnesischen und persischen Streitkräfte jubeln, aber zugleich auch befürchten, daß die Aufsicht über den Bosporos wieder in die Hände
des Gegners gelangen könnte und dann ihre Ausfuhr des Getreides nach Athen verhindert werden
würde47.
Quae si ita sint, bekommen wir eine vollwertige historische Quelle über die Verhältnisse Olbias zu
Athen sowie zur ganzen mediterranen Welt kurz vor dem Abschluß des Peloponnesischen Krieges.
II. Querelen zwischen magischen Mysterien und sakralen Realien
Sein Vertiefen in die olbische Mystik setzt Lebedev mit zwei weiteren Graffiti fort48, die von der ed.
princ. als ausgesprochene Votive erklärt wurden49 . Der eine steht auf dem schrägen Rand eines
schwarzgefirnißten Schalenbodens (A) sowie auf dessen Innenseite (B) und wird archäologisch wie
paläographisch in das frühe 5. Jh. v. Chr. datiert 50. Auf dem Photo (Taf. XI,4) ist klar zu erkennen, daß
an der Ausführung des Textes (A) zwei Hände teilgenommen haben: Die erste hat den Iakchos-Namen
zu IAKX abgekürzt, die zweite hat das X (wie MH im Demeter-Namen) hervorgehoben und dahin noch
vier Buchstaben zugefügt, so daß die endgültige Fassung folgendermaßen lautet:
A. Jãnyippvw (sic) DÆmhtri PersefÒnhi ÉIãkxvi §w DhmÆtrion (es folgen einige Fruchtbarkeitssymbole).
B. JANDANYIEYD (für den Text s. unten).
Somit bekommen wir eine eindeutige Weihgabe an die eleusinische Trias, die von einem gewissen
Xanthippos ins Demeter-Heiligtum51 vorbestimmt wurde. Lebedev erkennt in §w die Silbe DI, die er zu
Di<¤> oder Di<onÊsvi> ergänzt, korrigiert weiter die Endung von DhmÆtrion zu Dhmhtr¤o<iw> (sc.
yeo›w pçsi), was mit to›w parå DÆmhtri korrespondieren soll, und verfaßt auf solche Weise eine Liste
der chthonischen Gottheiten, die diese angebliche gegen Xanthippos gerichtete defixio aufnehmen
sollten: sc. yeo›w pçsi énãkeitai vel flerÚw ¶stv (S. 279f.). Die ursprüngliche Datierung erwähnt er gar
nicht, schreitet doch weiter voran und stellt diesen für Olbia seltenen Namen mit dem des von IOlb. 5
erwähnten Jãnyippow ÉAristof«ntow ÉErxieÁw ÉAyhna›ow zusammen, mit der anschließenden Identifikation der beiden Personen auf der Grundlage von ‚the exceptional rarity of the name in this area and
the proximity of dates‘ (S. 280).
Im Vergleich zum oben beschriebenen Vorfall mit zwei Pseudo-Magoi sind die beiden Xanthippoi
durch eine Zeitspanne von sogar eineinhalb Jahrhunderten geschieden, da der Beschluß Olbias für zwei
Athener IOlb. 5 dank der vereinten Bemühungen mehrerer Epigraphiker genau in 340–330 gesetzt
wurde (Vinogradov, Pont. Stud. 487f. = Dubois, IGDOP 21). Die für ex-voto ganz übliche DativFormel52 verdeutlicht, daß uns auch in diesem Fall eine Weihinschrift vorliegt. Um seinen Namen als
46 Über Pharnabazos’ Geburtsdatum s. Lenschau, RE XIX, 2 (1938) 1842f.
47 In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß am Ende des 5. Jh. Olbia – eine der Großexporteure des
skythischen Korns nach Griechenland – auch seine eigene Chora wiederaufzubauen begann, vgl. Vinogradov, Olbia, S. 118,
Anm. 153; Vinogradov/Kryzickij, Olbia, S. 68.
48 The Devotio of Xanthippos. Magic and Mystery Cults in Olbia, ZPE 112 (1996) 279–283.
49 Vollkommene Zustimmung bei: Dubois, IGDOP 79 und 85; E. Dettori, Testi ‚orfici‘ dalla Magna Grecia al Mar
Nero, Par. Pass. 289 (1996) 302, 307.
50 Vgl. Ath. Ag. XII, Taf. 19, Nr. 409: 500–480 B.C.
51 Dubois, IGDOP, S. 128, bezweifelt die Präsenz der Präp. §w, die jedoch (mit S sinistrum) auf der Scherbe vorhanden
ist; zu der Formel vgl. Rusjaeva, Religion und Kulte 109: fle]rå §w flerån x≈ran DÆ[mht]ri ka‹ Posi[d«ni].
52 Vgl. M. L. Lazzarini, Le formule delle dediche votive nella Grecia archaica (1976) 59, 118, § 3, bes. Nr. 386, 387
(Nord-Pontos).
162
J. G. Vinogradov – A. S. Rusjaeva
den des Stifters beim Aufhängen der Kylix53 im Heiligtum ein weiteres mal anzubringen, hat
Xanthippos noch eine Aufschrift (B) im Innern des Fußboden eingeritzt, die mit einem Stück Phantasie
zum folgenden Text aufzulösen wäre:
Jãn(yippow) D(Æmhtri) én(°)y(hken) (§w) fle(rÚn) (t∞w) y(eçw) D(Æmhtrow).
Solche Abbreviaturen bereiten bekanntlich ein besonders fruchtbares Feld für manche kühne Interpreten, deswegen hat Lebedev in dieser ‚the magical monogramm D- ‘ erkannt und die gesamte Buchstabenkombination zu ‚the name of the cursed with initials of chthonic deities‘ ausgewertet (S. 279). Es ist
jedoch andererseits gar nicht ausgeschlossen, daß Graffito (B) zu irgendeiner vorläufigen Markierung
im Haushalt des Xanthippos gehören sollte.
Dies veranschaulicht ein gleichzeitiges ineditum aus einer Erdhütte (zemljanka) Olbias (Taf. XII,5),
das in denselben Positionen eine ursprünglich von zwei Händen angefertigte Markierung (a) und eine
spätere an Demeter adressierte (DÆmhtri) Weihinschrift (b) trägt54. Die Entzifferung der Inschrift (a)
überlassen wir lieber künftigen Exegeten, wollten doch nur an dieser Stelle hervorheben, daß nicht alle
Votive unbedingt zu einem Heiligtum gehören müssen, was auch der folgende Graffito beweisen kann.
Die Inschrift ist auf die untere Kante und im Innern eines Schalenfußes (nicht auf ‚recto und verso‘
wie Lebedev, S. 280) ziemlich nachlässig eingeritzt (Taf. XII,6). In der ed. princ. wurde die richtige Datierung des Fragmentes in die erste Hälfte des 5. Jh.s wegen eines Druckfehlers um ein Jahrhundert
später versetzt55; archäologische56 sowie sprachliche Indizien (ion. KÒrh) lassen den Graffito genauer
in das zweite Viertel des Jahrhunderts rücken. Diese schwarzgefirnißte Scherbe wurde weit vom Westlichen Temenos (und nicht ‚at the same location‘, wie Lebedev S. 280) im Keller einer Wohnanlage
freigelegt57 und trägt folgende Aufschriften:
DH DH _PERS´KORH E DIOI KABIROI HRHXT . . . U
Zunächst hat der Schreiber in abgekürzter Form die Götternamen Dh(mÆthr) und Pers`(efÒnh)
eingeritzt, dann das zweite Theonym getilgt und das erste gleich unten mit der Doppelung Dh(mÆthr)
hervorgehoben. Anstatt der Persephone hat er weiter KÒrh erwähnt, nach deren Name mit einem Abstand ein schwer erklärbares E gestellt, nach dem wieder ein vacat, dann DIOI KABIROI, noch ein vacat
und zuletzt HRH`XT [2–3 beschädigte Bst.] und U folgen.
Am ehesten sind alle Götternamen im Nom. erwähnt, was bei den Votivinschriften öfters der Fall
ist58. Die Feststellung ließ uns nach D›oi Kãbiroi den Götternamen ÜHrh erkennen, die wohl nicht
zufällig an die Götterliste angeknüpft wurde, weil der Personenname des Besitzers der Schale, der im
Zentrum rückläufig steht, mit HRV (d.h. ÑHr≈ oder ÑHr«naj, ÑHr≈idhw u.ä.) beginnt. Wir lesen also
den ungeschickt verfaßten Text so:
Dh. Dh(mÆthr), _Pers(efÒnh)´, KÒrh, {E} D›oi Kãbiroi, ÜHrh (?) XT ... U.
Im Zentrum rechtsläufig HRV.
53 Zu solcher Aufbewahrungspraxis bei den Schalen vgl. die berühmte rotfigurige Kylix von Duris: ARV2 431, Nr. 48;
E. Pfuhl, Meisterwerke griechischer Zeichnung und Malerei (1924), Abb. 65.
54 Grabungsabschnitt AGD; Datum: um 500 v. Chr. (vgl. Ath. Ag. XII, Taf. 19, Nr. 405); aufbewahrt im Archäologischen Institut, Kiew, Inv.-Nr. O-74/407.
55 A. S. Rusjaeva, Archeologija (1971, 4) 38; nr. IX; die irrtümliche Angabe wurde von Lebedev, S. 280, und Dubois,
IGDOP 133 nr. 85 wiederholt.
56 Vgl. Ath. Ag. XII, Taf. 20, Nr. 437–438: ca. 460 B.C.
57 Grabungsabschnitt E , aufbewahrt im Archäologischen Institut, Kiew, Inv.-Nr. O-59/849 (fälschliche Angabe bei
6
Lebedev, S. 280, Abb. 2: die Signatur O-72/252 gehört dem Aristoteles-Ostrakon).
58 Lazzarini (wie Anm. 52) 59, 121, § 7: 18 Belege seit dem 8. Jh. v. Chr.
Phantasmomagica Olbiopolitana
163
Im Geiste seiner magisch-mystischen Studien liest Lebedev diese Inschrift folgenderweise (S. 281): (ı
de›na) DÆ<mhtri> Per<sefÒnh>, KÒrh, Dio{i}<nÊsói>, Kab¤rói, [D]hmhtr(¤oiw) (scil. yeo›w pçsi
énãkeitai vel flerÚw ¶stv).
Statt dieser Lesart hätte der Verfasser besser die ‚ars nesciendi‘ geübt. Als einziger Grund für solche
Auffassung dient folgende Feststellung: „It was a common practice of the ancient magic to bury magical
spells near chthonic sanctuaries, particulary near temples of Demeter and Kore. This text suggests that
the Xanthippos graffito was found near the chthonic sanctuary of Demeter and Kore-Persephone, the
Demetreion of Olbia. Hence Iakchos and Kabiroi of our texts were worshipped in the same sanctuary at
the time of Xanthippos. Although much has been written on the cult of Dionysos in Olbia, the question
of the localization of his sanctuary has not been sufficiently clarified. If our restoration of the name of
Dionysos in the two graffiti is correct, the answer lies at hand: at least from the late fifth century B.C.
Dionysos was worshipped in the Demetreion at the Western temenos.“59 Diese Feststellung provozierte
noch weitere kühne Hypothesen (S. 282f.): „It seems therefore very likely that the reorganization of the
Olbian Demetreion was a direct result of the Aparche decree (416/415 B.C. [IG I3 78]). And it is in the
last decade of the fifth century B.C. that Bacchic symbols appear on Olbian coins. It is natural to
conclude that this unprecedented political promotion of the Dionysos cult in Olbia at ca. 410 B.C. was
also inspired from Athens and accompanied by the introduction of the Eleusian cult.“
Lebedev hat anscheinend keine klare Vorstellung, was bei den Ausgrabungen von Olbia seit der
Freilegung des Altar-Komplexes 1975 passierte. Zuerst ist hervorzuheben, daß Xanthippos’ Weihgabe
im Demetrion der ersten Hälfte und keinesfalls dem Ende des 5. Jh.s angehört und weit nördlicher von
dem Altar in einer Grube von B. M. Rabickin 1947–48 freigelegt wurde. Der zweite oben behandelte
Graffito, ebenfalls aus dem frühen 5. Jh., wurde sehr viel weiter südlich in einem Keller des Wohnbezirkes E6 gefunden und hat deswegen mit dem sakralen Komplex überhaupt nichts zu tun. Als Resultat
der zwanzig Grabungssaisons können wir im Augenblick feststellen, daß ein recht umfangreiches
Gelände im Nordwesten des Westlichen Kultbezirkes, das von Anfang an ÉIhtrÒon hieß 60 und aus dem
6. bis 1. Jh. v. Chr. stammt, mit Heiligtümern von Hermes und Aphrodite angeschnitten wurde, die,
beide im Laufe der Zeit durch einem Zaun getrennt wurden, so daß deren 1975 freigelegter gemeinsamer Altar61 wohl im heiligen Hain von Hermes gestanden hat62. Eine neulich freigelegte gepflasterte
Straße trennt im Norden das gesamte Ietroon von dem Wohnbezirk, wo Xanthippos’ Graffito sich
ursprünglich befand. Einstweilen bleibt die Frage unentschieden, wo genau man das Demeter-Heiligtum
anzusetzen hat. Eines steht doch jetzt schon fest: Auf dem ganzen Terrain des Westlichen heiligen
Bezirkes wurde unter Hunderten von Weihgraffiti bis jetzt keine einzige Weihgabe an Demeter, KorePersephone oder Iakchos gefunden 63.
Viel interessanter steht es mit der Dionysos-Verehrung im Westlichen Temenos, auf dessen ganzem
Territorium zahlreiche und verschiedenartige Votive dieser Gottheit zerstreut sind: Terrakotten ihres
Thiasos, die dem Gott gewidmeten und an Ort und Stelle hergestellten Bukranien und Doppeläxte aus
Blei, schließlich eine Marmorplastik, die Dionysos mit Ariadne abbildet 64. Wegen der Zerstreutheit
solcher Weihgaben über das ganze sakrale Gelände ist der genaue Ort des Dionysos-Heiligtums zur Zeit
nicht festzustellen. Eine auf den Hals einer grautönigen Oinochoe eingeritzte Weihinschrift, die in ei59 Vgl. die Präzisierung auf S. 282: „at the location of or near the 1975 altar complex“.
60 Vgl. A. S. Rusjaeva, Vestnik 1986 (2) 45, Abb. 3, 6; 4, 7; dies., Religion und Kulte 33; Vinogradov/Kryzickij, Olbia,
Taf. 105, 3; Dubois, IGDOP 59.
61 Der im ausgehenden 5. Jh. keinesfalls ‚demolished‘ Altar wurde nicht Apollon (so Lebedev, S. 282), sondern Hermes
und Aphrodite geweiht: Der neben ihm gefundene Kalender-Graffito (SEG 30, 977) gibt dafür kein Indiz, da die Weihgaben
an Apollon Ietros über das ganze Territorium des Westlichen Temenos zerstreut sind.
62 Vgl. A. S. Rusyaeva, Investigations of the Western Temenos of Olbia, Anc. Civ. I 1 (1994) 90f.
63 Ebda, S. 93; zwei da erwähnte Weihegraffiti mit dem Demeter-Namen erweisen sich bei der Zusammenstellung mit
anderen beschrifteten Votiven als Weihgaben an Mh|[tr¤/-Òw].
64 Ebda.
164
J. G. Vinogradov – A. S. Rusjaeva
nem Bothros des Göttermutter-Heiligtums im Westlichen Temenos freigelegt wurde, ermöglicht freilich
zu sagen, daß seit der Mitte des 6. Jh.s v. Chr. in diesem heiligen Bezirk Dionysos gleich dem Hermes
und der Göttermutter65 zusammen mit Aphrodite verehrt worden war (Taf. XII,7)66:
[DionÊ]svi én°yh`[kan tÉ ÉAfr]od¤`[thi – – ]
[ – – d]vrow k[a‹ ... 5–6 ... v]n ju[n – – – – ]
[ – – – – – – – – – – – – – – – ] t°k[nh ?].
Alle Spekulationen über die Einführung sowie Reorganisation der Kulte Demeters und Dionysos’ in
Bezug auf die Politik des Attischen Seebundes erweisen sich als hinfällig, da die beiden oben behandelten Belege der ausgehenden archaischen und frühklassischen Epoche zugehören, d.h. noch vor der
Gründung des Bundes bzw. vor dem Anschluß Olbias.
Zum Schluß des Beitrages bringen wir zum Abdruck ein klareres Photo der auf eine Statuenbasis
eingemeißelten Ehreninschrift in Versen für einen Tyrannenbekämpfer von Olbia (Taf. X,8), damit der
Leser selbst beurteilen könne, wie weit solche ikonoklastische Forschung67 von der antiken Realität
wegführen kann: Am Anfang von Z. 1 sind nach einem Epsilon die Reste eines Ny, aber keines Iota zu
erkennen; in Z. 2 steht auf dem Stein vor dem ersten Ny ein deutliches Ypsilon und wiederum kein Iota;
dann in Z. 3 kommen zunächst die Buchstaben O`U, nicht aber OI und dann vor dem Wort êndra der
obere Sigma-Strich, der die Präsenz eines Ny unwahrscheinlich macht: Der Text wurde also von Lebedev zugunsten seiner Lesung bzw. Deutung an vier Stellen ‚verbessert‘. Dies alles läßt uns die von dem
kühnen Exegeten ausgesprochenen Ideen verabschieden (vgl. S. 266 unten), nach denen uns in dieser
Inschrift eine vollkommene Kopie des einst berühmten und nachher verkannten Epigramms auf die
athenischen Tyrannenmörder, Harmodios und Aristogeiton, erhalten sei 68.
Moskau
Kiew
Jurij G. Vinogradov
Anna S. Rusjaeva
65 Dubois, IGDOP 78, S. 127, hat zutreffend in einem ex-voto ihren Namen erkannt: [MhtrÚw Ye]«n ÑErm°v ÉAfrod¤th`[w].
66 Inv.-Nr. O-75/507, aufbewahrt im Archäologischen Institut, Kiew. Aufgrund des archäologischen Befundes und
einiger paläographischer Indizien (Epsilon-, Theta- und Omega-Form) ist diese wohl metrische Inschrift auf das 3. Viertel
des 6. Jh. v. Chr. zu setzen.
67 A. Lebedev, A New Epigramm for Harmodios and Aristogeiton, ZPE 112 (1996) 263–268.
68 Nach Lebedevs Auffassung (S. 266) gehörte der beschriftete Marmorstein aus Olbia einst der dem Zeus Eleutherios
gestifteten Stoa, die angeblich als Siegessymbol des olbischen Demos über die einheimische Tyrannis am Anfang des 5. Jh.
v. Chr. errichtet wurde. Warten wir zwei vom Interpreten angekündigte Aufsätze ab [S. 266, Anm. 15: ‚The oracle of Apollo
Didymeus and the democratic revolution in Borysthenes-Olbia after 494 B.C.‘, und Anm. 19: ‚The Achilles epigram from
Berezan and the Olbian cult of Achilles Pontarches‘ (alle ‚in preparation‘)]. Vom Gesichtspunkt der epigraphischen wie der
Mauerbautechnik scheint es näherliegend zu sein, wenn der Steinmetz seine Inschrift auf die ausschließlich aus Kalkstein (!)
im frühen Hellenismus (!) aufgebaute Stoa Olbias (E. I. Levi, Ol'vija (1985) 90–92; Vinogradov, Olbia 173) üblicherweise
oben ohne vacat eingemeißelt hätte, sowie dabei zur sicheren Befestigung des Marmorquaders im Mauerwerk die Oberfläche
unpoliert gelassen hätte!
TAFEL IX
1)
3a)
1) Pharnabazos-Graffito auf einem Schalenboden, AO: Archäologisches Institut, Kiew, Inv.-Nr. O-74/398 (AGD);
3a) Fluchgraffito auf einer Scherbe, AO: Historisches Museum, Moskau, Inv.-Nr. 42706/7
J. G. Vinogradov – A. S. Rusjaeva, pp. 153–164
TAFEL X
2a)
2b)
2c)
2a) Av. eines bronzenen Obolos von Olbia, AO: Historisches Museum, Moskau
2b–c) Av. und Rv. des Aristoteles-Ostrakons, AO: Archäologisches Institut, Kiew, Inv.-Nr. O-72/252
3b)
3c)
3d)
3b–d) Drei Ostraka mit Fluchinschriften, AO: Institut der Geschichte der Materiellen Kultur, St. Petersburg,
Inv.-Nr. O-59/1267, 1268, 1269.
8) Marmorbasis einer Statue des olbischen Tyrannenbekämpfers, AO: Freilichtmuseum ‚Olbia‘, Parutino
J. G. Vinogradov – A. S. Rusjaeva, pp. 153–164
TAFEL XI
A
B
4. Xanthippos’ Weihgabe an die eleusinische Trias, AO: Archäologisches Institut, Kiew, Inv.-Nr. O-48/383 (AGD); J. G. Vinogradov – A. S. Rusjaeva, pp. 153–164
TAFEL XII
6)
5)
7)
5) Graffito auf einem Schalenboden und Widmung an Demeter, AO: Archäologisches Institut, Kiew, Inv.-Nr. O-74/407 (AGD);
6) Weihgraffito an Demeter, Kore-Persephone, Kabiren und Hera (?), AO: Archäologisches Institut, Kiew, Inv. Nr. O-59/849 (E6);
7) Zwei Fragmente einer Weihgabe an Dionysos samt Aphrodite, AO: Archäologisches Institut, Kiew, Inv.-Nr. O-75/507 (AGD).
J. G. Vinogradov – A. S. Rusjaeva, pp. 153–164

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