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Manieren und Manierismen (2)
D
as Thema „richtige Umgangsformen“ bleibt ein familiärer
Dauerbrenner, globale Topnews können dagegen nicht anstinken,
Michael hin, Jackson her. Der berühmteste Mensch der Welt wird
beerdigt und alles, was meine Kinder daran interessiert, sind
Mutmaßungen zu seinen Tischmanieren. Der Michael Jackson habe
sich als reicher Popstar zuhause bei Tisch bestimmt aufführen dürfen
wie ein Erdferkel, behauptet Nick. Das mag sein, zumal an Jacksons
Seite jahrelang ein Affe dinierte. Das habe ich übrigens mit Michael
Jackson gemein, denn mein Sohn verhält sich während der Mahlzeiten wie einst Jacksons
Schimpanse Bubbles, wenn auch unzivilisierter.
Wir haben zum Zwecke der Normierung unseres Nachwuchses und weil man das eben so
macht und weil ich in Ruhe essen möchte bereits vor einiger Zeit Tischregeln aufgestellt. Man
darf bei uns während der Mahlzeiten nicht Nintendo spielen und auch nicht laut singen, ganz
besonders nicht „Finger im Po, Mexiko.“ Es ist zudem verboten, das Essen liederlich zu
kommentieren. „Das schmeckt mir leider nicht so gut“ ist in Ordnung, „Buäh, Pfui Spinne, ich
will sofort was anderes“ geht nicht. Und man darf die Füße nicht auf dem Tisch ablegen; dies
übrigens auch nicht nach oder vor den Mahlzeiten, also eigentlich nie. Sara behauptete, das
sei eine ganz schlimme Unart und sie und ich würden so etwas schließlich auch nicht
machen. Dabei stimmt das nicht. Ich liebe es nämlich, die Füße auf den Esstisch zu legen.
Manchmal kippele ich dabei auch noch mit dem Stuhl und lese so die Zeitung. Das mache ich
allerdings nur, wenn ich alleine bin. Sara weiß bisher nichts davon und unsere Kinder dürfen
diesen Text nicht lesen, damit sie nicht Glauben und Vertrauen in unsere
Erziehungsmaßstäbe verlieren.
Diese richten sich streng nach den konventionellen Regeln der Höflichkeit und werden
ständig mit neuen Do’s und Don’ts angereichert, welche ich aus Saras Frauenzeitschriften
beziehe, die ich auf dem Klo studiere. Ich verfolge die Entwicklung der Etikette mit größter
Aufmerksamkeit, zumal ich dort Umgangs-Feinheiten kennen lerne, deren Originalität mich
vor Begeisterung an den Rand der Bewusstlosigkeit peitschen. Gerade erst zum Beispiel las
ich die neuen Benimmregeln für Gäste und Gastgeber. Da antwortete doch eine adlige
Autorin auf die Frage, ob man als Gast Blumen mitbringen solle, dass man diese ein bis zwei
Tage vorher zu schicken habe, denn „wer will schon den halben Abend nach passenden
Vasen suchen?“ Diesen Satz fand ich ganz unglaublich glamourös. Ich stellte mir sofort vor,
wie Angehörige der Zielgruppe dieser Zeitschrift halbe Abende lang in ihrer
Zweizimmerwohnung nach einer Vase suchen. Und zwar nicht nach überhaupt einer Vase,
sondern nach einer passenden Vase.
Wir besitzen im Ganzen sechs Vasen unterschiedlicher Größe und dazu noch acht
ausgetrunkene Sanbitterfläschchen, in die man Gänseblümchen stecken kann, was einen
völlig unprätentiösen und dennoch lässig-stylishen Tischlook abgibt, wie ein
Frauenzeitschriftendekoredakteur jetzt schreiben würde. Noch nie habe ich nach einer
passenden Vase suchen müssen, weil die bei uns alle an derselben Stelle stehen und
irgendeine passt auf jeden Fall. Meine Frau freut sich immer sehr, wenn man ihr Blumen
mitbringt und rubbeldikatz werden sie auf den Tisch gestellt. Und das soll jetzt nicht mehr
richtig sein? Gut. Bitteschön.
Ich bringe sowieso lieber Wein mit. Ist aber – Stand heute – auch verkehrt. Wer nämlich
dem Hausherr eine Flasche Chianti Classico in die Hand drückt, beleidigt ihn im Subtext:
„Hier bitteschön. Am besten, wir machen sie gleich auf, dann gibt’s wenigstens was
Ordentliches zu saufen.“ Meistens stimmt das zwar, aber es diskreditiert den Gastgeber
natürlich auf das schlimmste. Dieser hat schließlich schon vor Stunden den Wein geöffnet –
und dann den halben Nachmittag nach einem passenden Dekantierer gesucht.
Michael Jackson hatte bestimmt ein eigenes Zimmer für seine vielen, vielen Dekantierer. •
9. JULI 2009

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