Affektorientierte Tongestaltung in dem Film „Brassed Off“
Transcrição
Affektorientierte Tongestaltung in dem Film „Brassed Off“
Affektorientierte Tongestaltung in dem Film „Brassed Off“ Schriftliche Hausarbeit im Seminar Tondramaturgie HFF-Konrad-Wolf Peter Rabenalt Vorgelegt von: Heiko A. Beyer Matr.-Nr.: 3568 am 3.12.2003 2 1 Einleitung GAZ: „Ten years we worked in here, and now look.“ (...) DAVE:„Hey, listen! Music!“ NATHAN (Gaz‘ Sohn): „Yeah.“ (EINE BLASKAPELLE MARSCHIERT VORBEI) GAZ: „What are they doing?“ NATHAN:„It’s the works-band. It’s still going.“ DAVE:„Well, it’s the only thing round here that is.“ aus The Full Monty, Bild 21.1 Die vorliegende Arbeit untersucht die Möglichkeiten der affektorientierten Tondramaturgie am Beispiel des Filmes Brassed Off. Ausgehend von der allgemeinen Tondramaturgie werden zwei Sequenzen untersucht, in denen Musik in ihrer natürlichen Rolle affektorientiert verwendet wird. Dabei werden die Möglichkeiten und Wirkungsweisen solcher Verwendung aufgezeigt. Ein Schwerpunkt liegt dabei auch auf der Wechselwirkung mit der Bild-Montage. Alle verwendeten Bild-Nummerierungen entstammen der im Reclam-Verlag veröffentlichten Drehbuchfassung. Die Tatsächliche Reihenfolge der Bilder im Film weicht von der Drehbuchfassung ab, da Herman einige Bilder nachträglich umgestellt hat. Die Diskussion des Filmes bezieht sich auf die DVD, es wurde nur die Tongestaltung der englischen Originalfassung berücksichtigt, welche in Dolby-Stereo vorliegt. 2 Brassed Off Der Film Brassed Off spielt 19922 und erzählt die letzte Episode in der Geschichte der Grimley Colliery Brass Band, einer traditionellen Bergarbeiter-Blechblaskapelle. Alle Musiker der Kapelle sind Bergarbeiter in der Zeche von Grimley, welche nun, nachdem sie den Arbeitskampf von 1984 überstanden hat, vor der Schließung steht. In Grimley finden Verhandlungen zwischen Vertretern der Regierung und den Arbeitervertretern statt. Es steht eine Abstimmung bevor, in welcher sich die Arbeiter sich für eine Abfindung bei Schließung der Zeche oder für eine Rentabilitätsprüfung des Betriebes entscheiden können. Im letzteren Fall soll zwar ebenfalls eine Abfindung gezahlt werden, diese beträgt dann aber lediglich etwa die Hälfte des Angebots ohne Prüfung. In dieses aufgewühlte Umfeld, das geprägt ist durch lautstarke Auseinandersetzungen, Transparente und demonstrierende Bergarbeiter-Frauen, kommt Gloria (Tara Fitzgerald) um für die Regierungsdelegation die Rentabilitätsstudie zu erstellen. Gloria ist selbst in Grimley geboren und die Enkelin eines der ehemals hervorragensten Flügelhornspieler der Grimley Colliery Band, der bereits vor langer Zeit an Anthrakose3 verstorben ist. Dabei trifft sie in Andy, der ebenfalls in der Band mitspielt (Ewan McGregor) eine Jugendliebe wieder. Die Bergarbeiter können sich ein Fortbestehen der Band nach Schließung der Zeche nicht vorstellen, und einige Musiker, z.B. Jim (Philip Jackson) und Ernie (Peter Martin) wollen 1 Vgl.: Cattaneo 1997, Bild 2. Vgl.: Gutberlet 2001, S124. 3 Kohlenstaublunge 2 3 bereits jetzt die Band verlassen. Einzig Danny (Pete Postletwaite), der Dirigent und Musikalische Leiter, kämpft gegen diese Entscheidung an: DANNY:„Now listen up, all of you. These are worrying times, I know that. (...) This is music. And it`s music that matters.“4 Während dieser Auseinandersetzung erscheint Gloria mit dem Flügelhorn ihres Großvaters in dem Probensaal und zieht alle Musiker der Band nach anfänglichen Ressentiments durch ihre Attraktivität, Ausstrahlung und nicht zuletzt durch ihr virtuoses Vorspiel in ihren Bann; der Konflikt scheint vergessen. Gleich am nächsten Tag bestreitet die Band inklusive Gloria einen Brass-BandWettbewerb, versagt aber kläglich und kann keinen der begehrten Geldpreise gewinnen. Von ihrem Leader Danny am nächsten Tag zur Rede gestellt spricht Harry (Jim Carter) für die Band: HARRY:“Danny...Reckon I speak for everyone...We`ll play on while pit’s open. The minute they close it, we pack it in. You can`t ask for more than that.“5 Mit dieser Hypothek fährt die Band zum Halbfinale der Brass-BandLandesmeisterschaften nach Halifax und gewinnt. Damit ist der Weg zum Finale des Wettbewerbs in der Royal Albert Hall London frei. Während jedoch die Band ihren Wettstreit gewinnt, ist in Grimley der Kampf zu Ende: die Zeche wird geschlossen, die Mehrheit der Bergarbeiter hat sich für die höhere Abfindung ohne Rentabilitätsüberprüfung entschlossen. Zuhause in Grimley angekommen finden die Musiker die Straßen menschenleer, die Frauen haben ihre Mahnwache aufgegeben. Auf einem Schild ist zu lesen: „We fought and we lost“6 Nicht genug damit bricht auch noch Danny auf offener Straße zusammen, er kann seine Lungenkrankheit, die sich bereits seit langem durch Husten mit Auswurf angekündigt hat, nun nicht länger verheimlichen und wird in ein Krankenhaus eingeliefert. Die Kumpel finden sich daraufhin mit ihren Instrumenten zu einem nächtlichen Ständchen unter Dannys Krankenhausfenster ein. Unter diesen starken emotionalen Eindrücken dreht Dannys Sohn Phil (Stephen Tompkinson), dem noch dazu Kredithaie Nacken sitzen, während eines Auftritts als Clown durch. Zwei Nachtwächter finden ihn am Förderturm mit einem Strick um den Hals aufgehängt um sein Leben kämpfend - immer noch im Clownkostüm. Er wird ins Krankenhaus eingeliefert, wo er sich mit seinem Vater Danny ausspricht und diesem gesteht, dass die Band nicht zum Finale fahren wird. Nachdem Gloria Mr. Mackensie, den Chef der Regierungsdelegation, zur Rede gestellt hat und erfahren musste, dass unabhängig von ihrem Gutachten, in dem sich Grimley als durchaus rentabel erweist, die Schließung der Zeche bereits zwei Jahre zuvor beschlossen worden ist, spendet sie ihr Honorar für das Gutachten der Band. Nach einer Auseinandersetzung nimmt Jim das Angebot im Namen der Band an und es geht los nach London. 4 Herman 2003, S.26. Herman 2003, S.66. 6 Vgl.: Herman 1999. 5 4 Phil hat zuvor Danny die Nachricht hinterlassen, die Band fahre nun doch zum Finale. Die Band gewinnt das Finale und Danny, der der Band gefolgt ist entscheidet sich, den Preis abzulehnen und hält eine ergreifende Rede in der er die Wirtschaftspolitik der Regierung kritisiert. Zeitgeschichtliche Einordnung Der erzählte Zeitraum des Films fällt in die Regierungszeit des Premierministers John Major, der 1990 Margaret Thatcher nach elf Jahren Regierungszeit ablöste. Major führt die Politik des „Thatcherismus“ weiter, die geprägt ist von am Monetarismus orientierter Wirtschaftspolitik zur Bekämpfung der Inflation und Konjunkturbelebung, gleichzeitig jedoch die Einschränkung des öffentlichen zugunsten des privaten Sektors fördert. Weiterhin wird Sozial- und Subventionsabbau, und die Privatisierung von staatlichen Unternehmen betrieben. Als negative Auswirkungen können unter anderem die zunehmende Armut und der verminderte Arbeitnehmerschutz gesehen werden.7 Aus heutiger Sicht erscheint die Umgestaltung der Wirtschaft Großbritanniens von der Schwerindustrie zur Dienstleistungsgesellschaft unter Thatcher und Major volkswirtschaftlich sinnvoll und erfolgreich, liegen beispielsweise die Arbeitslosenzahlen in Großbritannien z.B. 1997 mit 6,1% gegenüber 11,1% in Deutschland nahezu um die Hälfte niedriger. Die sozialen Folgen dieses Umbaus, insbesondere für die Arbeiterschicht in monokulturellen Industriestandorten, sind tiefgreifend. Filmgeschichtliche Einordnung Der Film Brassed Off (deutscher Titel: „Mit Pauken und Trompeten“) kam 1996 in die Kinos. Er steht zwischen Shopping (1993), Trainspotting (1995, deutscher Titel: „Trainspotting – neue Helden“), Stella Does Tricks (1996), The Full Monty (1997, deutscher Titel: „Ganz oder gar nicht“) und Lock, Stock and two smoking barrels (1998, deutscher Titel: „Bube, Dame, König, Gras“) in der Tradition des britischen sozialen Realismus8 der für die Jahre 1958 bis1963 auch als British New Wave bezeichnet wird.9 Die Filme dieser Epoche, beispielsweise Look back in Anger (1958), A Taste of Honey (1961) oder The loneliness of the long distance runner (1962), zeichnen sich durch einen neutralen visuellen Stil aus. Die Figuren dieser Filme verkörpern Vitalität und Rauheit, wobei sich die Erzählstruktur mehr zum sozialen Umfeld der Figuren verlagert.10 Oft sind dabei die Konflikte in dem starken Klassenbewusstsein, dem „Them and us“11 der britischen Gesellschaft verwurzelt. Brassed Off orientiert sich an dieser Tradition beispielsweise was die Wahl der Drehorte betrifft „Factories, empty railway stations, seaside towns in winter...“12 und verwendet dabei genrespezifische Einstellungen wie z.B. „the Shot from our town from that hill“13, die fast identisch in The Full Monty zu finden ist.14 7 Vgl.: Harenberg 1995, S.151f. Vgl.: Helbig 1999, S.303. 9 Vgl.: Helbig 1999, S.235. 10 Vgl.: Helbig 1999, S.205f. 11 Vgl.: Silitoe 1988, S.7. 12 Lay 2002, S.63. 13 Vgl.: Lay 2002, S.63f. 14 Vgl. Cattenao 1997. 8 5 Figuren und Konflikte Die Handlung umfasst mit Danny, Andy, Gloria, Phil, Ernie, Jim und Harry sieben Hauptfiguren. Die Ehefrauen Sandra, Vera, Ida und Rita ergänzen diese als starke Nebenfiguren. Durch diese für Hollywood-Filme beinahe undenkbare Zahl an Figuren sind die in Brassed Off angelegten Konflikte vielschichtig. So ergibt sich ein Einblick in das soziale Gefüge von Grimley: Die Vater-Sohn-Beziehung von Danny und Phil ist geprägt durch Dannys Ignoranz gegenüber Phils existenziellen Geld-Problemen und von Phils Willen, den Ansprüchen seines Vaters, dessen Krankheit er bereits ahnt, zu genügen. Gleichzeitig fordert Phils Frau Sandra von ihm, mehr Verantwortung für Kinder, Haushalt und Finanzen zu übernehmen. Phil versucht, beides zu bewältigen und muss z.B. seine drei Kinder zu dem Bandwettbewerb mitnehmen, was Danny sehr missbilligt. Von seinem Vater gedrängt versucht Phil sich trotz seiner finanziellen Lage eine bessere Posaune zu besorgen. Er steht bereits vor dem vergitterten Fenster des Musikgeschäftes und ist bereit einen Einbruch zu begehen, als Ernie und Jim auftauchen und ihn davon abhalten. Erst nach Phils Selbstmordversuch und der folgenden Aussprache zeigt Danny Verständnis für seinen Sohn. Mit der Figur von Danny wird die althergebrachte Frage thematisiert, ob Kunst (hier stellvertretend: Musik) losgelöst oder in Abhängigkeit von sozialen Bedingungen Bedeutung hat. Für Danny gilt zunächst, dass nur die Musik zählt. Gegen Ende des Films muss er sich diesbezüglich korrigieren: DANNY:“... Truth is, I thought it mattered. I thought music mattered. But does it bollocks – not compared to how people matter.“15 Zwischen Gloria und Andy liegt zunächst die Spannung, wie sie mit ihrer Fummelei als Jugendliche („Top half only...“16) umgehen. Gloria gibt zunächst vor, sich an Andy nicht erinnern zu können. Später gesteht sie ein, dass sich sehr wohl erinnert. Andy und Gloria nehmen ihre intime Beziehung wieder auf. Andy plagen später Gewissensbisse, da er Gloria als „zur anderen Seite“ gehörig ansieht. Auch wird Andy von seinen Arbeitskollegen in diese Richtung beeinflusst. In einer Aussprache zwischen Andy und Gloria äußert Andy seine Meinung bezüglich Glorias Gutachten. Er nennt es einen PR-Gag und gegenstandslos, die Entscheidung, die Zeche zu schließen, sei bereits lange im Vorfeld gefallen. Ernie und Jim treten stets als Paar auf ebenso wie ihre Frauen Ida und Vera, die mit launigen Sprüchen und einem Schuß Humor versuchen ihre Männer unter Kontrolle zu bringen. Als der geplante Austritt von Ernie und Jim scheitert, gründen Ida und Vera spontan einen Grimley-Colliery-Band-Fan-Club und beginnen die Band zu den Auftritten zu begleiten. Diese zwei etwas älteren Paare gehen mit ihren Differenzen wesentlich humorvoller um, als beispielsweise Phil & Sandra sowie Harry & Rita. Harry und Rita sehen sich eigentlich nur noch im Vorgarten ihres Hauses, wenn Harry von der Arbeit kommt und Rita demonstrieren geht. Ihre Gespräche reduzieren sich zunächst auf „Morning love.“ - „See you.“. Im Verlauf des Films kommt es jedoch zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden, in denen Rita Harry vorwirft, seinen Kampfgeist verloren zu haben. 15 16 Herman 2003, S.142. Herman 2003, S.52 sowie S.72. 6 3 Tongestaltung Die Tongestaltung von Brassed Off ist auf den ersten Blick unspektakulär. Auf Spezialeffekte wird fast vollständig verzichtet, die Handlung wird durch Originalton bestimmt. Dieser wird ergänzt durch am Realismus ausgerichtete Atmosphären und Inzidenzmusiken, sowie verhältnismäßig wenig Score-Musik. Atmosphären Die verwendeten Atmosphären dienen beinahe ausschließlich zur Charakterisierung der Orte, beispielsweise die Collage aus Bergwerkgeräuschen zu Beginn des Films. Die Gruppe der demonstrierenden Frauen vor dem Zechentor wird visuell aber auch auditiv in Erinnerung gerufen, insbesondere bei den Autofahrten der Kumpels von oder zur Arbeit. Dies dient zum einen dazu, die Frauen als aktive, in der Öffentlichkeit präsente Gruppe zu zeigen. Zum anderen wird das Fehlen der Frauen bei der Rückkehr der Band aus Halifax stärker wahrgenommen. Auf den Straßen der Stadt sind im gesamten Film sehr wenig (fahrende) Autos zu sehen und zu hören (Jim besitzt zwar einen alten Opel, teilt ihn sich jedoch für die Wege zur Arbeit mit Ernie, Andy, Phil und Harry). Anders als in typischen Hollywoodproduktionen bestimmen Fußgänger und Radfahrer das Straßenbild. Die Auswirkung auf die Tonebene ist, dass auf die für Großstädte übliche Dauer-Verkehrsatmo verzichtet werden kann. Dadurch wirken die Straßen offener und werden zum Ort der Begegnung, des Dialogs und Dannys Zusammenbruchs. Die Band, sofern sie nicht gerade spielt, hat als Atmosphäre eine Mischung aus Stimmengemurmel und präludierenden Musikern, beispielsweise vor und während der Busfahrt nach Saddleworth. Der Schichtwechsel wird stets durch den langen Ton einer Dampfpfeife signalisiert ,übrigens der erste Ton des ganzen Films. Dieses Signal, welches durch einen großen Teil des Films periodisch zu hören ist, schafft einen zeitlichen Bezug und kündigt stets einen Wechsel, eine Veränderung oder einen neuen Tag an. Punktuelle atmosphärische Elemente sind sparsam aber pointiert eingesetzt. Beispielsweise in Bild 54, wo Phil sich eine neue Posaune aus einem Schaufenster stehlen will. Er rüttelt an dem Vorhängeschloss, mit dem das Gitter vor dem Fenster gesichert ist. Zeitgleich, vielleicht als Reaktion auf das so verursachte Geräusch, schlägt in der Nähe ein Hund an. So entsteht ein kurzer Spannungsmoment der möglichen Entdeckung des beabsichtigten Einbruchs. Leitmotivik Obwohl Brassed Off sicherlich durch die Inzidenzmusiken beherrscht wird, gibt es ergänzend dazu originalkomponierte Off-Musik von Trevor Jones. Diese insgesamt sechs Musikstücke mit Längen zwischen 30 Sekunden und 3½ Minuten sind für eine Orchesterbesetzung komponiert. Die Streicher sind dabei quasi als Flächen gesetzt über denen eine Solo-Trompete den stets wiederkehrenden Melodiebogen spielt. Die Holzbläser antworten dieser Solotrompete als Chor oder in Einzelstimmen und Harfenapeggios schließen teilweise die Phrasen ab. Durch diese Instrumentierung setzen sich diese Musikelemente von den Inzidenzmusiken und den als Off-Musik verwendeten Blasmusikstücken deutlich ab. Anders als diese werden die Originalkompositionen leitmotivisch verwendet: Die ersten 4 Stücke „A sad old day“ (Bild 7), „Aforementioned essential items“ (Bild 15), „Years of Coal“ (Bild 33), und „There’s more important 7 things in life“ (Bild 51) stellen einen direkten Bildbezug zu Danny her, sie erklingen stets wenn Danny allein ist und sich erste Anzeichen seiner Krankheit zeigen. Die Aufnahme bzw. Mischung der Stücke bildet die Solo-Trompete in der Tiefenstaffelung weit hinten und sehr räumlich ab, so klingt sie entfernt, wie eine leise Vorwarnung oder eine schwache Erinnerung. Dabei assoziiert die Melodie der Solo-Trompete in d-Moll eine tiefe Traurigkeit, doch gleichzeitig Kraft und Hoffnung. Das Tempo der Stücke nimmt von Stück zu Stück ab. Von dem sarabande-haften unaufhaltsamen Vorwärtsgehen von „A sad old Day“ bis zu „We’ll find a way“ ist das Tempo etwa auf die Hälfte reduziert. Bei diesem letzten Originalmusikstück17 im Film löst sich das Leitmotiv von einem direkten Bildbezug zu Danny. „We’ll find a way“ wird im Bild 118 verwendet, in welchem Sandra und ihr Sohn Shane auf einem Spielplatz über Phil und Danny sprechen. Hier steht Dannys Leitmotiv für dessen Konflikt mit seinem Sohn Phil. Die Solo-Trompete ist in diesem Stück nicht besetzt, was die Abwesenheit Dannys versinnbildlicht. Das Stück steigert sich zu dessen Schluss bedrohlich, denn nun (Bild 119-120) wird Phil bei seinem Selbstmordversuch entdeckt. Brass-Band Musik Der größere Teil der Filmmusik von Brassed-Off wird von einer Brass-Band vorgetragen.18 Brass-Bands sind zunächst für den britischen, später auch für den nordamerikanischen Kulturraum sehr typische Klangkörper. Die ersten Brass-Bands wurden im frühen 19. Jahrhundert gegründet, wobei sie als Werkskapellen teilweise oder vollständig durch den jeweiligen Arbeitgeber finanziert wurden, auch die Instrumente wurden oft unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Die Motivation der Arbeitgeber war dabei zumeist nicht uneigennützig, hofften sie doch, durch das Anbieten von ‚unschädlichen‘ Freizeitgestaltungen wie Musik oder Sport die politischen Aktivitäten ihrer Arbeiter zu vermindern. Gleichzeitig sollten soziale Kontakte gefördert werden und ein Ausgleich zum oftmals trüben Arbeitsalltag geboten werden.19 Die Grimley Colliery Band im Film verkörpert eine solche Brass-Band mit langer Tradition: DANNY: (Points to his tie.) „1881 – over a hundred years this band has been going. Two world-wars, three desasters, seven strikes, one bloody big depression, and the band played on every time.“20 Die Tradition der Band-Wettbewerbe ist beinahe so alt wie die Brass-Band selbst. Bereits seit 1856 findet in Großbritannien ein „National Championship“ statt, an welchem die Grimley-Band im Film teilnimmt. Eine typische Brass-Band besteht in ihrer heutigen Form aus Flügelhorn (engl. Flugel), Tenor-Horn, Baryton (engl. Euphonium), Tenor- und Bassposaune sowie Tuba. Bisweilen sind auch Kornette und Althörner vertreten. Flügelhorn, Althorn, Tenorhorn, und Baryton sind Instrumente der Gruppe der Bügelhörner. Durch Mensur und Beschaffenheit des Mundstückes sollen die Bügelhörner leicht spielbar sein im Gegensatz zu den Orchesterinstrumenten Trompete oder Horn.21 Bügelhörner werden ausschließlich in 17 Das sechste Stück „Honest Decent Human Beings“ steht ganz am Ende des Abspanns und ist somit für die Tondramaturgie des Films nahezu unwichtig. 18 Hier steht mit Bedacht der englische Ausdruck für diese Form eines Musikensembles, da eine Übersetzung ins Deutsche mit „Blaskapelle“ weder den Charakter noch die Besetzung exakt wiedergeben würde. Deutsche Blaskapellen sind in der Regel anders besetzt als die Brass-Bands im Angloamerikanischen Raum. Auch Spielmannszüge unterscheiden sich wesentlich. 19 Vgl.: www.mbbonline.org/history_of_brass_bands (30.11.2003, 15:22 Uhr) 20 Vgl.: Herman 1999. 21 Vgl.: Briner 1998, S83ff. 8 Militär- und Brass-Bands verwendet, damit ist eine eindeutige Zuordnung der Instrumente zur Arbeiterklasse auf der einen und zur Maskulinität auf der anderen Seite gegeben. Mit dieser Zuordnung, spielt Herman, wenn er als Running-Gag Harry stets darauf bestehen lässt, sein Instrument sei keine Trompete sondern ein Euphonium (Bild 67 und Bild 108).22 Oberflächlich betrachtet erscheint Harry als Haarspalter. Die feinere Bedeutung seiner beharrlichen Korrektur gegenüber der Bezeichnung seines Instruments als „Trompete“ liegt darin, dass die Trompete das Blasinstrument der Middle- und UpperClass ist. Harry spielt Euphonium und ordnet sich damit eindeutig der Working-Class zu. Die Filmmusik für Brassed-Off wurde von einer real existierenden Bergarbeiter-BrassBand eingespielt, der Grimethorpe Colliery Band. Diese wurde lediglich für Glorias Flügelhorn-Solo („En Aranjuez con tu amor“) und für das Kornett-Solo in „Wilhelm Tell Ouverture“ durch einen Studiomusiker ergänzt (Paul Hughes / Shaun Randall). Die Grimethorpe Colliery Band sollte 1992 genau das Schicksal erleiden, das Herman im Film der Grimley-Band beschert. Die Existenz der Grimethorpe Colliery Band konnte nach zähem Ringen jedoch durch Gründung einer Stiftung gesichert werden.23 Die für Brassed-Off auswählten Stücke beruhen größtenteils auf sehr bekannten und eingänglichen Melodien. Im deutschsprachigen Raum sind sie eher durch Verwendung als Werbe-Melodien bekannt („Floral dance“: Wurstreklame „Pommersche aus dem Buchenrauch“ oder „Colonel Bogey“: Magenbitter „Komm doch mit auf den Underberg“). Für den englischsprachigen Raum darf angenommen werden, dass die Melodien und ihre Titel weitgehend bekannt sind. Denn die tiefere Bedeutung der Titel erschließt sich von Fall zu Fall erst durch assoziieren von Titel („Death or Glory“) oder Text („Danny Boy“) zu den instrumentalen Titeln. Die Brass-Band Musik wird in Brassed-Off überwiegend als Musik in ihrer natürlichen Rolle also als unmittelbar aus dem Bild begründet verwendet.24 Das Stück „Death or Glory“, das als eine Art musikalisches Damoklesschwert den Film auditiv eröffnet, bildet eine der wenigen Ausnahmen: Visuell beginnt der Film mit den Helmlampen der Bergarbeiter, die zunächst jedoch lediglich als tanzende Lichtpunkte wahrgenommen werden. Nach einigen Takten/Sekunden wird dieses „Lichtballet“ konkreter, es werden von hinten beleuchtete Konturen von Schultern erkennbar. Dann mit einem lauten Punktgeräusch kommt ein Umschnitt im Bild auf arbeitende Kumpel in halbnahen Einstellungen. Gleichzeitig beginnt eine sehr lebendige atmosphärische Geräuschcollage. Die Musik, nach der verhalteneren Einleitung spielt nun volles Blech, scheint den Bewegungen der Arbeiter Schwung zu verleihen, die Bewegungen werden durch die Musik illustriert. Um den Unterschied zwischen „Unter-Tage“ und „oben“ hörbar zu machen, ist den Arbeitsszenen unter Tage ein tieffrequentes Donnern im Terzband um 50 Hz zugemischt, gleichzeitig das Geräusch des Auffahrenden Förderkorbes. Nach einer kurzen Sequenz des Hochfahrens der Belegschaft kommt die Schicht an der Sonnenüberfluteten Oberfläche an. Die Arbeit ist getan, die Schicht zuende aber die Musik spielt weiter. Die Kumpel marschieren in einem breiten Pulk, ähnlich wie später als Band bei dem Wettbewerb in Saddleworth. Nun ist deutlich, die Menschen die dort lachend und Scherzend dem Feierabend entgegenmarschieren, sind die Band, sind die Musik. Dass Herman als Titel hier „Death or Glory“ gewählt hat ist mit Sicherheit kein Zufall. In diesem Titel steckt schon der Grundkonflikt des Films: Death (Schließung und Untergang der Zeche) oder Glory (Ruhm und Sieg über die Regierungsdelegation). Letztendlich erfüllten sich beide Möglichkeiten für die Band. Die Zeche wird geschlossen und Danny ist mit seiner Lungenerkrankung dem Tod (Death) geweiht. Gleichzeitig ernten die Musiker Ruhm (Glory) beim Landeswettbewerb der Bass-Bands und sie gewinnen 22 Vgl.: Herman 2003, S.86f sowie S.114. Vgl.: RCA Victor (Hrsg.) 1996. 24 Vgl.: Lissa 1965, S.163ff. 23 9 Gloria, deren Name sicherlich ebenfalls nicht zufällig gewählt wurde, als Mitspielerin in der Band und als Mitglied der Gemeinschaft. Inzidenzmusik Der übrige Teil der Brass-Band-Musik wird in Brassed-Off als Inzidenzmusik verwendet. Die Grimley-Band probt oder bestreitet Auftritte für die Landesmeisterschaft. Der direkte Bildbezug stellt sich teilweise erst im Verlauf der Musik her, wenn Herman sie als zeitlichen Vorausgriff über längere Strecken vor den Bildern der Proben bzw. der Auftritte einsetzen lässt. Der „Floral Dance“ z.B. beginnt bereits in Bild 19 mit dem Rufen Dannys, der Phil mit seinem Fahrrad zur Probe abholen will. Danny brummt und summt auf der Fahrt die Melodie des „Floral Dance“ mit (Bild 20A), die erst in Bild 21 gezeigt wird. As they (Danny & Phil) wind their way, al real, full brass band version of the tune takes over: THE FLORAL DANCE 25 Der musikalische Vorausgriff kann zum einen als Darstellung von Danny Innenleben gesehen werden. Danny ist bereits voll auf die Musik konzentriert, so nimmt er die heftige Auseinandersetzung seines Sohnes Phil mit dessen Frau Sandra nicht richtig wahr und tut diese mit einem Scherz ab. She (Sandra) hurls a plate at him (Phil). He ducks and it smashes on the road near the waiting Danny. (...) DANNY: Bit clumsy wi‘ `crockery, that Sandra. Mit „The floral Dance“ zeigt sich die Band zum ersten Mal. Die Kamera fährt durch die sitzenden Musiker deren Köpfe in einem Wald von goldlackierten Blechstürzen fast verschwinden. Man sieht, dass Phil Schwierigkeiten mit seiner Posaune hat und einen Einsatz verpasst, ansonsten ist das Stück eigentlich tadellos gespielt. Umso überraschender Dannys Kritik: DANNY: „Crap.“26 Somit sind die Rollen verteilt. Danny agiert wie ein Fußballtrainer der nach einem 5:0 seiner Mannschaft Vorwürfe macht, in der zweiten Halbzeit hätte sich das Mittelfeld etwas hängen lassen. Die Musik dient hier zur Charakterisierung der Figuren und des Ortes. Hier ist der Übungssaal der Band und hier geht es um Musik, der Ansicht ist zumindest Danny. Dass die Bandmitglieder mit ihren Gedanken bei der bevorstehenden Auseinandersetzung um die Zechenschließung sind, bügelt er mit den Worten ab: DANNY:„(...)This is music. And it`s music that matters.“27 Concerto d’Orange Juice Nach der folgenden Auseinandersetzung und eben in dem Moment, als Jim und Ernie ihren Austritt bekanntgeben wollen, öffnet sich die Tür und Gloria erscheint. Sofort hat sie die ungeteilte Aufmerksamkeit der Männer einschließlich Danny. Gloria ist ein bisschen 25 Herman 2003, S.23. Herman 2003, S.24. 27 Herman 2003, S.26. 26 10 unsicher und Harrys scherzhafte Antwort auf ihre Frage, ob hier die Colliery-Band-Probe stattfinde Harry:“No, love, Band’s on Tuesdays. Tonight’s origami class.“ macht es ihr nicht leichter. Sie lässt sich jedoch nicht so leicht abweisen und nachdem sie sich als in Grimley gebürtig und noch dazu als Enkelin eines der ehemals hervorragensten Bandmitglieder erwiesen hat, darf sie mitspielen. Zunächst hat es den Anschein, dass sie nun einfach in der Masse der Musiker untertauchen kann, aber es kommt ausgelöst durch Dannys Wiedererkennen ihres Instrumentes zu einem Vorspiel Glorias. Als Danny fragt, was sie spielen möchte, antwortet sie „Concerto d'Aranjuez“. Damit auch Harry weiß welches Stück gespielt wird, fügt Danny hinzu: „Orange Juice - to you.“ Wieder eine feinsinnige Pointe von Herman: Das für eine Brass-Band eher exotische Stück des spanischen Komponisten erhält von den rauhen Kerlen der Band einen respektlos profanen Namen – „Orangensaft“. Dieses „Orangensaftkonzert“ ist nun für die weitere Einbindung der Musik in ihrer natürlichen Rolle wegweisend. Zunächst einmal ist die Auswahl des Stückes wiederum sehr hintergründig. Gloria erscheint in dem Probensaal wie ein Wesen vom anderen Stern, zumindest wird sie von Jim, Harry, Ernie und Andy so angestarrt. Tatsächlich ist sie ja auch fremdartig, denn sie gehört durch ihr Studium und ihre im „Süden“ verbrachte Zeit wenigstens zur MiddleClass. Außerdem wagt sie es als Frau, in den typischen Männerort Probensaal einzudringen. Glorias Fremdartigkeit zeigt sich schon in ihrer Wahl des Stückes. Das Concerto d’Aranjuez, von Rodrigo 1940 komponiert, ist zwar zweifellos sehr eingängig und gefällig. Der stark gefühlvolle, ja sentimentale Einschlag des Hauptmotivs wäre jedoch von einem der Bergleute gespielt schlecht denkbar. Und Rodrigos Stück muss an sich eher der Musik der Upper-Class, der ‚ernsten Musik‘ zugeordnet werden. Geschickt ist es auch, ein Konzert, also ein Wechselspiel zwischen Tutti- und SoloPassagen für das Vorspiel auszuwählen, da hier die Bildmontage einfach der Musik folgen oder sich ihr sogar unterordnen kann. Das Konzert beginnt mit düsteren Tutti-Akkorden. So wie sie hier gesetzt und gespielt sind, assoziieren sie das langsame Vorwärtsschreiten hinter einem vorausgetragen Sarg bei einem Begräbnis. Tutti – das sind die Männer, die Bergarbeiter, die unaufhaltsam auf die Schließung der Zeche (gleichzusetzen mit Tod) zusteuern. Aus diesen Akkorden entwickelt sich das Thema, immer noch dunkel und melancholisch. Kurz vor Glorias erstem Einsatz setzt das Schlagzeug zaghaft aber stetig ein. Die Band setzt jetzt leise rhythmische Akkorde, auf denen sich Glorias Solo entfaltet. Schon während des ersten Durchlaufs des Themas wird klar, dass Gloria exzellent spielt. Zwischen die Nahaufnahmen von Gloria sind jeweils die überraschten Reaktionen von Jim, Ernie, Harry, Danny, Andy und Phil geschnitten. Etwas ungläubig schauen sie dieses kleine Wunder an, diese Stimme der Hoffnung in ihrem Chor der Hoffnungslosigkeit. Und so fällt die nächste Tutti-Passage nicht nur aufgrund des Einsatzes der Kornette und Flügelhörner deutlich kraftvoller und optimistischer aus. Spätestens hier ist der Zuschauer emotional gefangen. Aber Herman lässt es mit der Darstellung dieses emotionalen Augenblicks zwischen den Mitspielern der Band, Danny und Gloria nicht bewenden. In die nächste Solo-Passage montiert er eine kurze monochrom blaue Totale des nächtlichen gegenlichtig angestrahlten Förderturms der Grimley-Zeche. Das Licht scheint dabei aus einer einzigen Lichtquelle zu kommen. Dann ein Umschnitt auf eine Heranfahrt an ein Fenster, immer noch außen mit blau dominiertem Licht. MacKenzie ist zu sehen. Umschnitt nach innen. Mr. MacKenzie ist offenbar mit jemand in Diskussion der noch nicht im Bild zu sehen ist. Er spricht und beugt sich nach unten zum Konferenztisch. Dann eine Fahrt den langen Konferenztisch entlang. Im folgenden werden MacKenzie als Chef der Regierungsdelegation, Ray 11 Greasley, der Regionale Gewerkschaftsführer und Bernie Chapman, der Arbeiterführer der Grimley-Zeche in wachsend erregter Diskussion gezeigt. Am Ende dieser Sequenz steht das Hinwerfen des Kugelschreibers und das weitausholende Auf-Den-Tisch-Schlagen der Gewerkschaftsvertreter. Es ist keine Einigung zustande gekommen. In dieser Sequenz sieht man die Figuren sprechen, aber die erste auditive Schicht mit OTon, Atmo und Geräuschen existiert nicht, die Figuren bleiben stumm und geräuschlos. Herman gebraucht hier ein sehr starkes audiovisuelles Mittel, dessen Funktion mehrfach deutbar ist. Durch das kontinuierliche Durchlaufen der Musik wird eine Gleichzeitigkeit impliziert. Während also die Band probt und durch Glorias erscheinen neue Hoffnung schöpft, geht das Schicksal der Zeche Grimley davon unbeeinflusst seinen Lauf. Das Fehlen der direkt bildbezogenen Tonelemente schafft zu den Bildern eine Distanz und verwehrt den Zugang zu den Informationen des Dialogs. So stellt sich für den Zuschauer ein Gefühl der NichtBeeinflussbarkeit der ablaufenden Handlung, ein Gefühl der Ohnmacht dar. Gleichzeitig wird aber auch durch den direkten Bild-Anschluss von Glorias Solo zu MacKenzie in Beziehung gebracht. Es wird eine Ahnung genährt die sich später erfüllt: Gloria arbeitet für die „andere Seite“. Die Tutti-Stellen in dieser Sequenz sind vom Bildschnitt fast durchgängig auf die Arbeitnehmervertreter geschnitten, sodass auch hier eine Zuordnung stattfindet. Es folgt ein Rückschnitt in eine Naheinstellungen der Gloria konzentriert weiter spielt und die Kamera langsam von ihr zurückfährt. Dann erneut ein Umschnitt, diesmal in eine Vogelperspektive auf ein Pulk von Journalisten und Fotografen, die MacKenzie beim verlassen des Gebäudes bis zu seiner Limousine verfolgen. MacKenzie scheint nicht zu antworten und steigt in sein Fahrzeug. Anschließend sieht man die Arbeitnehmervertreter, die ebenfalls umringt von den Presseleuten mit ernsten Gesichtern Interviews geben. Nun setzt die Band wieder zum letzten Tutti ein. Ein Umschnitt in den Probensaal. Das Schlagzeug wird von hinten oben gezeigt, wie es das abschließende Ritardando einleitet. Zurück auf Danny und Gloria geht das Concerto d’Aranjuez mit einem leisen Ausklang zuende. Es folgen sieben Sekunden Stille, bevor Danny das ergriffene Schweigen bricht. Mit dem Concerto d’Aranjuez auf diese Weise eingesetzt gelingt es Herman, den Film auf vielen Ebenen gleichzeitig zu bereichern. Zum einen gelingt es Herman die wichtige, aber eigentlich sekundäre Verhandlung zwischen der Regierungsdelegation und den Gewerkschaftsvertretern zu erzählen, ohne die Nähe zu seinen Figuren zu verlieren. Zum zweiten lässt sich die schnelle und vollständige Integration Glorias in die Band und damit in die Gemeinschaft auf diese Weise schlüssig erklären. Am wichtigsten jedoch erscheint der Punkt, dass die emotionale Welt Glorias, Dannys und der Bandmitglieder hier zum ersten mal im Film wirklich zugänglich gemacht wird. Ergänzend ist anzumerken, dass Herman diese Ton/Bild-Montagetechnik in Brassed-Off ein zweites Mal verwendet. Beim Halbfinale in Halifax (Bild 76-93) spielt die Band den „Florentiner Marsch“ während in Grimley zwei Entscheidungen fallen: Die Auszählung der Abstimmung und die Vollstreckung der Pfändung in deren Rahmen der Gerichtsvollzieher Phils und Sandras Wohnung leerräumt. In den Bildern 76 bis 93 bleibt allerdings die erste auditive Schicht erhalten. Danny Boy HARRY: „Phil, are you set for one final performance?“28 Nachdem die Grimley Colliery Band das Halbfinale der Landesmeisterschaften in Halifax für sich entschieden hat, ist der Weg zum Finale nach London eigentlich frei. Doch Danny 28 Vgl.: Herman 2003, S.110. 12 ist nach der Rückkehr in Grimley auf offener Straße zusammengebrochen und liegt nun im Krankenhaus. Außerdem ist ja die Zeche mittlerweile geschlossen und gemäß des von Harry formulierten Ultimatums (siehe S.11) sind die Männer entschlossen, nun nicht mehr weiter zu spielen. Nun ist es ausgerechnet Harry, der die Initiative ergreift und die Kumpel zu einem nächtlichen Ständchen für Danny im Hof des Krankenhauses zusammenruft. Sie spielen das Stück „Danny Boy“ eines der vielen Lieder nach der Melodie von „Londonderry Air“.29 DANNY BOY (erste Strophe) Oh Danny boy, the pipes, the pipes are calling From glen to glen, and down the mountain side The summer's gone, and all the flowers are dying 'tis you, 'tis you must go and I must bide.30 Dieses Stück zu wählen ist wiederum hintergründig. Es steht zu vermuten, dass die Figur „Danny“ von Herman entsprechend des Liedes benannt wurde und nicht das Lied nach dem Namen ausgewählt wurde. Vorausgesetzt der Text wird zu dem Instrumentaltitel assoziiert, ist eindeutig, dass es hier um einen Abschied, um den Tod geht. In das Piepsen der Apparaturen an Dannys Krankenbett mischt sich urplötzlich von draußen die choralmäßig gesetzte Blasmusik. Es entwickelt sich ein Gespräch zwischen Danny und seiner Krankenschwester, die zunächst den „Lärm“ unterbinden lassen will, von Danny aber unmissverständlich eines Besseren belehrt wird. Nach dem geräuschvollen hochziehen des Metall-Lamellen-Rollos kann man draußen unten im Hof die Kapelle in Uniform sehen. Die Musiker tragen zu der Uniform ihre Grubenhelme und jeder hat seine brennende Helmlampe daran befestigt. Harry dirigiert mit versteinertem Gesicht, alle übrigen Musiker sehen sehr ernst, ja verzweifelt aus. Phils Gesicht ist mit der Risswunde verunstaltet, die er sich im Kampf gegen die Gerichtsvollzieher zugezogen hat, Andy hat sein Instrument beim Billard verspielt und versucht mehr schlecht als recht seine Stimme zu pfeifen. Eine Besonderheit im Film ist, dass an dieser Stelle zum ersten Mal Nahaufnahmen von den übrigen Bandmitgliedern zu sehen sind, wenn die Kamera die Reihe der Kumpel langsam abfährt. Die folgenden Umschnitte zwischen innen und außen verlaufen in einem ruhigen Rhythmus. Für den Fortgang der Handlung ist diese lange Sequenz eigentlich unnötig. Aber für die Charakterisierung der Beziehung der Band zu Danny ist sie unabdingbar, denn hier zeigt die Band zum ersten Mal offen ihre Zuneigung für Danny. Dies macht „Danny Boy“ zu einem der emotional ergreifensten Momente von Brassed Off. 29 30 Vgl.: http://www.standingstones.com/dannyboy.html (2.12.2003, 15:02 Uhr) http://ameba.lpt.fi/~zaphod/lyrics/danny_boy.txt (30.11.2003, 16:04 Uhr) 13 4 Literaturverzeichnis Ashby, Highson (Hrsg.) 2000 ASHBY, Justine; HIGSON, Andrew (Hrsg.): British Cinema, past and present London, New York (Routledge) 2000. Blume (Hrsg.) 2001 BLUME, Friedrich: Musik in Geschichte und Gegenwart Berlin (Directmedia) 2001. Briner 1998 BRINER, Ermanno: Reclams Musikinstrumentenführer Die Instrumente und ihre Akustik. Dritte, durchgesehene und verbbesserte Auflage. Stuttgart (Phillipp Reclam jun.) 1998. Cattaneo 1997 CATTANEO, Peter: The Full Monty o.O. (Twentieth Cewntury Fox) 1997. DVD. Friedmann (Hrsg.) 1993 FRIEDMANN, Lester (Hrsg.): British Cinema and Thatcherism Fires were started London (UCL Press) 1993. Gutberlet 2001 GUTBERLET, Kerstin: The State Of The Nation Das britische Kino der neunziger Jahre St.Augustin (Gardez!) 2001. (= Filmstudien Bd.18) Harenberg 1995 HARENBERG, Bodo (Hrsg.): Harenberg Länderlexikon '95/96 Dortmund (Harenberg Lexikon Verlag) 1995. Helbig 1999 HELBIG, Jörg: Geschichte des britischen Films Stuttgart, Weimar (Verlag J.B.Metzler) 1999. Herman 1999 HERMAN, Mark: Brassed Off mit Pauken und Trompeten o.O. (Kinowelt Home Entertainment GmbH) 1999. DVD ca.107min.. Herman 2003 HERMAN, Mark: Brassed Off a film skript Stuttgart (Philipp Reclam jun.) 2003. Hewing (Hrsg.) 2003 HEWING, Wendy (Hrsg.): British Cinema of the 1960s an educational resource o.O. (British Film Institute 2003) 2003. CD-Rom. Hill, McLoone, Hainsworth (Hrsg.) 1994 HILL, John; MCLOONE, MARTIN, HAINSWORTH, PAUL (Hrsg.): Border Crossing Film in Ireland, Britain and Europe o.O. 1994. Hodge 1996 HODGE, John: Trainspotting & Shallow grave London, Boston (faber and faber) 1996. Keller 1996 KELLER, Matthias: Stas and Sounds Fimmusik - die dritte Kinodimension Kassel (Bärenreiter/Gustav Bosse) 1996. 14 Kracauer 1993 KRACAUER, Siegfried: Theorie des Films: die Errettung der inneren Wirklichkeit. 2.Aufl. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1993. (= Suhrkamp-Taschembuch Wissenschaft) Lay 2002 LAY, Samantha: British social realism from documentary to brit grit London, New York (Wallflower) 2002. Lissa 1965 LISSA, Zofia: Ästetik der Filmmusik Berlin (^Henschelverlag) 1965. Moritz (Hrsg.) 1982 MORITZ, Reiner E.: Knaurs Musiklexikon Stuttgart, Hamburg, München (Droemer/Knaur) 1982. Murphy (Hrsg.) 2000 MURPHY, Robert (Hrsg.): British Cinema of zhe 90s London (bfi) 2000. Rabenalt 1982 RABENALT, Peter: Die auditiven gestaltungsmittel in der Film- und Fernsehkunst Lehrbrief 44 Als Manuskript gedruckt. Rabenalt 1999 RABENALT, Peter: Filmdramaturgie Berlin (Vistas) 1999. RCA Victor (Hrsg.) 1996 RCA VICTOR (Hrsg.): Brassed Off - Original Soundtrack from the motion picture. Original Music by Trevor Jones o.O. (1997, BMG Music) 1996. CD-Audio ca.50min.. RCA Victor (Hrsg.) 1997 RCA VICTOR (Hrsg.): Music to the motion picture the Full Monty o.O. 1997. CD. Reitz (Hrsg.) o.J. REITZ, Edgar (Hrsg.): Typisch britisch o.O. (absolut Medien) o.J. VHS. Richardson 1998 RICHARDSON, Tony: A taste of Honey London (MGM) 1998. DVD. Schmidt, Westerbarkley, Zurstiege (Hrsg.) 2001 SCHMIDT, Siegfried J.; WESTERBARKEY, JOACHIM UND ZURSTIEGE, GUIDO (Hrsg.): affektive Kommunikation: Unterhaltung und Werbung Münster (LIT) 2001. (= Beiträge zur Kommunikationstheorie Band 19) Silitoe 1988 SILITOE, Alan: The Loneliness of the Long-distance Runner London, Glasgow, Toronto u.a. (Grafton Books) 1988. Turner 1996 TURNER, Graeme: British Cultural Studies an Introduction London, New York (Routledge) 1996. Zoltai 1970 ZOLTAI, Dénes: Ethos und Affekt Geschichte der philosophischen Musikästhetik von den Anfängen bis zu Hegel Berlin, Budapest (Akademie) 1970.