Der Frosch trinkt den Teich nicht aus in dem er sitzt.

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Der Frosch trinkt den Teich nicht aus in dem er sitzt.
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HP Detlef Wiechers
Ortlerweg 40
12207 Berlin
www.integrale-therapie-berlin.de
mail:[email protected]
Dies ist „Teil 4“ des E-books: „Geist und Gaia - spirituelles Leben und Handeln in
einer Welt globaler Krisen“ (2007)
Ursprünglich sollte es ein gebundenes Buch werden. Leider habe ich keinen
Verlag gefunden. Natürlich hätte dieser Text einen Lektor benötigt. Von daher
bitte ich um Nachsicht. Auf der anderen Seite haben Sie so den ganzen Text, das
hat ja auch Vorteile.
In diesem Teil geht es um es um die ökonomischen und ökologischen
Katastrophen dieser Tage. Interessant dürfte vielleicht sein, dass dieser
Textabschnitt in den Jahren 2004 – 2007 entstanden ist. Vieles von dem ist
bereits „eingetroffen“, z. B. Kathrina/New Orleans, ebenso die Unruhen wie jetzt in
London, Griechenland oder Italien aufgrund der Finanzkrise 2008 – 2011.
Viel Spaß!
Sie können über diesen Text frei verfügen.
Zwei Dinge wünsche ich mir von Ihnen: erwähnen Sie woher er kommt, wenn Sie
ihn benutzen.
Und: geben Sie mir ein kurzes feedback, das wäre schön …
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Teil 4
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Der Frosch
trinkt den Teich
nicht aus
in dem er sitzt.
Indische Weisheit
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"… wenn wir die jetzigen Zeiten Friedenszeiten nennen,
irren wir uns. Dies sind keine Friedenszeiten …
Die Welt hat von Anbeginn noch keinen friedlichen Tag erlebt."
Osho, aus: "Hara"
"Denken Sie darüber nach:
Im Umkreis eines Kilometers von dort, wo Sie im Augenblick dieses Buch lesen,
ereignet sich mit großer Sicherheit gerade ein Akt der Gewalt.
Vielleicht wird jemand geistig gefoltert oder emotional ausgebeutet.
Vielleicht prügeln sich gerade einige Menschen
oder schreien sich wütend an.
Vielleicht liegt ein Mensch betrunken oder hungrig auf der Strasse
und ein Passant beschimpft ihn
oder misshandelt ihn beim Vorübergehen.
Das ist Krieg. Das ist die Natur des Leidens. (…).
Es gibt keinen Unterschied
zwischen unseren Gefühlen von Aggression und Krieg.
Krieg ist nicht etwas, das draußen existiert,
außerhalb unserer selbst, in Gebieten, die Bosnien, Kosovo oder Irak heißen."
Claude AnShin Thomas (aus: "Krieg beenden. Frieden leben")
9 Innerer Friede - Äußerer Friede
Es herrscht Krieg auf Gaia. Wohin auch immer Sie schauen, diesem Krieg können Sie nicht entkommen. Der Krieg ist überall, denn es ist es
ein Krieg, der Ihnen selber tobt, in ihrem Geist. Um diesen inneren Krieg in unseren Köpfen müssen wir uns kümmern, wenn wir die anderen
Kriege unserer strauchelnden Welt beenden wollen. Das Annehmen können dieser ganz und gar nicht einfachen Tatsache gleicht einer
Kehrtwendung. Zu verstehen, dass alle grundlegenden Konflikte dieser Welt - Armut, Hunger, Krankheit, Krieg, Vertreibung, Unterdrückung,
Umweltzerstörung usw. - ihre Ursachen im menschlichen Geist haben, ist die Voraussetzung, um wirkliche Veränderungen einleiten zu
können. Individuell und kollektiv.
Es ist schon eine Krux: Im Grunde unseres Herzens wünschen wir uns nur geliebt zu werden, angenommen zu werden, so wir sind, ohne
Abstriche, da geht es uns um Sicherheit, Geborgenheit und aufgehoben sein, suchen wir liebevolle Beziehungen und in die Tiefe gehende
Freundschaften, die auch mal schwere Zeiten überstehen, was wir aber dagegen im großen Stil erzeugen ist das Gegenteil davon: Hass,
Chaos, Angst, Gier, Zerstörung, Verwirrung, Unruhe, Isolation, Einsamkeit. Wenn wir wirklich wissen wollen, wie es um uns und unser
Leben bestellt ist, brauchen wir uns bloß umzuschauen, unsere Umwelt zeigt uns, wie es um uns bestellt ist, sie ein exaktes Spiegelbild für
den Zustand unseres Geistes. Und danach steht es nicht sonderlich gut um uns. Ein ehrlicher Blick genügt. Die Menschheit ist verwirrt. Und
in ihrer Verwirrung hat sie begonnen, ihren Lebensfaden zu durchtrennen.
Doch das muss nicht so sein. "Nach den Lehren des Buddha können wir alle Symptome unserer geistigen Krankheit beseitigen, (indem) wir
uns und andere eingehend betrachten, (und) die wahre Natur der Gleichheit erkennen. (…). Wahre geistige Gesundheit und Glück können
wir nur erreichen, wenn wir unsere Beziehungen mit anderen im Lichte des Interseins (der gegenseitigen Verbundenheit) sehen. In dieser
Hinsicht … haben wir alle noch viel Forschungsarbeit zu leisten." (Thich Nhat Tanh, aus: "Die Kunst des glücklichen Lebens").
Einer meiner Lehrer, Dr. Stanislav Grof, drückte es folgendermaßen aus: „In letzter Analyse ist die gegenwärtige globale Krise seelischgeistiger Natur. (...) Wir stehen vor der ungeheuren Herausforderung, der Menschheit tiefe ethische Werte, Sensibilität für die Bedürfnisse
anderer, freiwillige Einfachheit und eine klare Einsicht in die ökologischen Imperative einflößen zu müssen." Stanislav Grof ist, wie viele
andere Lehrer auf der Welt, der Ansicht, dass nur eine radikale Veränderung des menschlichen Bewusstseins die globale Krise beenden
kann, mit der wir uns heute konfrontiert sehen. Was wir brauchen ist eine kritische Masse von leidenschaftlichen und engagierten
Menschen, Menschen, die ihr Bewusstsein erweitert haben, und die entsprechend ihren Einsichten leben und handeln. Darin liegt unsere
Zukunft.
Der Biologe Rupert Shaldrake hat die These von den morphogenetischen Feldern begründet. Sie besagt, dass, ist erst einmal ein
bestimmter Vorgang, z. B. das Wachstum eines neuartigen Kristalls gelungen, egal, wo auch immer, egal, ob Forscher auf der ganzen Welt
davon wissen oder auch nicht, es plötzlich für andere viel leichter wird, selbst diesen neuartigen Kristall zu züchten, so als wäre mit dem
ersten Kristall ein Damm gebrochen, eine Grenze überschritten, die erst einmal überschritten werden musste. Neues ist immer schwierig,
Neues ist immer unbekannt, sein inneres Muster, seine innere Ordnung muss erst offenbart werden. Nach Rupert Shaldrake besitzt jede
äußere Form ein morphogenetisches Feld, ein nur ihr entsprechendes inneres Muster aus Informationen, die die Ordnung der Form
aufrechterhält. Je öfter dieses Feld sich bildet, desto stabiler wird es, und desto leichter fällt es anderen Menschen, in dieses Feld
einzutreten. Das ist in der Meditation so, in der Biologie und auch in der Politik. Beim ersten Mal ist alles schwer, später wird es leichter. Je
mehr Menschen am Fortschritt der Menschheit arbeiten und sei es unerkannt und verborgen, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein
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morphogenetisches Feld der Veränderung erzeugt wird. Die Dinge können sich schneller (und unerwarteter) in eine gute Richtung
entwickeln, ganz so wie die Berliner Mauer, die völlig überraschend zusammenbrach.
Gaia, dieser wunderbare und empfindsame blaue Planet namens Erde, leidet an uns Menschen und wir an uns selbst. Doch das Leiden ist
nicht alles ist. Wir dürfen das Leiden nicht zu sehr betonen, denn überall und zu jeder Zeit ist es möglich, in diesem Moment Schönheit,
Erhabenheit und Liebe zu erfahren. Das Wunder des Lebens treffen wir an jeder Ecke. Wir müssen nur tief genug schauen. Es liegt an uns,
denn wie ich schon sagte, das Universum ist ein Spiegelbild unserer selbst. Es kommt nicht so sehr darauf an, die Welt retten zu wollen,
sondern darauf an, dass Sie ihr tiefstes Wesen, ihre tiefste Natur, ihr höchstes Potenzial zum Ausdruck bringen. Wenn Sie die Wunder des
Lebens berühren, werden Sie berührt werden und geschieht dies, dann ist diese Welt bereits verändert.
Abbildung 46: Innerer Friede – Äußerer Friede (Sam Keen: Gesichter des Bösen)
Es ist eines der großen Geheimnisse des Lebens, dass, wenn Sie sich verändern, sich mit Ihnen auch die Welt verändert. Und oft wird
Ihnen dabei auf wunderbarere Weise Unterstützung zuteil. Dies kann ein Buch sein, ein Freund, ein Kollege, ein Nachbar, ein Film, oder
Menschen, die in den großen spirituellen Traditionen zu Hause sind. Allerdings müssen Sie sich dazu auf den Weg machen. Nur Sie allein
können Sinn in ihr Leben bringen. Sie selbst müssen es mit Bedeutung füllen, ihr innerstes Potenzial verwirklichen. Daher kann Ihnen auch
niemand sagen, was Sie tun sollen. Doch eins ist sicher: Wenn sie erwachen, wenn Sie Verantwortung für sich und die Welt übernehmen,
dann werden Sie zwangsläufig anders mit sich und der Welt umgehen. Da das Universum sich in Ihnen spiegelt, ist es nicht gleichgültig, wie
Sie ihr Leben leben. Wenn Sie andere Fragen an das Leben stellen, bekommen Sie andere Antworten. Selbst vermeintliche Kleinigkeiten
sind sehr wichtig, denn Gott liebt die kleinen Dinge. Viele leine Dinge verändern die Welt. Ab einem bestimmten Punkt erkennen wir, dass es
gar nichts Unwichtiges gibt, wird uns klar, dass es die unzähligen Kleinigkeiten im Verlauf eines Tages sind, die zählen. In jedem Augenblick
haben wir die Wahl uns aufs Neue zu entscheiden. Darin liegt unsere Freiheit oder unsere Knechtschaft. Erwachen heißt, neue
Gewohnheiten anzunehmen, nicht mehr die üblichen Spielchen zu spielen. Erwachen heißt sich immer öfter zu fragen: Was würde mein
höchstes Selbst jetzt dazu sagen? Was würde es mir raten? Wie würde es sich entscheiden?
Thich Nhat Hanh, der ehrwürdige buddhistische Meister, erzählt uns am folgenden Beispiel, was dies bedeuten kann. "Es heißt, in den
letzten Jahren seien zwei Millionen Quadratmeilen Waldgebiet durch sauren Regen zerstört worden, teilweise auch durch unsere Autos.
"Bevor ich das Auto anlasse, weiß ich, wohin ich fahre" enthält eine sehr tiefe Frage: "Wohin fahre ich? Zu meiner eigenen Vernichtung?"
Wenn die Bäume sterben, müssen die Menschen ebenfalls sterben. Wenn Bäume und Tiere nicht leben, wie können wir da leben? "Das
Auto und ich sind eins." Wir haben den Eindruck, als hätten wir das Sagen, und das Auto sei nur ein Instrument. Aber das ist nicht wahr. Mit
dem Auto werden wir sehr gefährlich - mit einer Flöte hingegen angenehm. Mit 50.000 Atombomben in ihrem Besitz ist die Menschheit die
gefährlichste Spezies auf Erden. Wir waren nie so gefährlich wie heutzutage. Wir sollten daher aufpassen. Die grundlegende
Verhaltensregel heißt, darauf zu achten, was wir tun und was wir sind - in jeder Minute. Jede andere Regel wird dieser einen folgen" (aus:
Innerer Frieden - äußerer Frieden).
Sehen Sie, Kleinigkeiten sind nicht unwichtig. Um ein Kilo Eiweiß in Form von Fleisch zu produzieren, sind ungefähr sieben Kilo Getreide
notwendig. Dazu brauche ich 193 qm Land und 104.500 Liter Wasser. Um 1 kg Eiweiß in Form von Sojabohnen zu produzieren, verbrauche
ich dagegen nur 8.892 Liter Wasser und 16 qm Land. Umgerechnet bedeutet dies: Pro ha Land kann ich 2 Tonnen Sojabohneneiweiß
produzieren oder 0,16 Tonnen Rindereiweiß. Das ist längst bekannt und nichts Neues. Extensiver Fleischverzehr und der Raubbau an den
Regenwäldern Amazoniens sind eins. In Brasilien werden Bäume gefällt, weil die internationalen Nahrungsmittelkonzerne dort Weiden für
die Fleischproduktion unterhalten. Ich denke, Sie wissen das, wir alle haben das schon einmal gehört oder gelesen, nicht wahr? Aber warum
fällt der Regenwald weiter? Warum reduzieren Sie nicht Ihren Fleischverzehr ein wenig? Warum gehen Sie immer noch zu Burger King,
McDonalds, Kentucky Fried Chicken und wie Sie alle heißen? Burger King, Sie und der Urwald sind nicht wirklich voneinander getrennt. Es
gibt mehr Rinder, Schafe und Schweine auf der Erde als Menschen. Sie alle belasten nicht nur die Umwelt, sie produzieren auch Unmengen
an Methan. Methan ist ein potentes Treibhausgas.
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Auch die Auslandsschuld trägt zum Sterben des Urwaldes in Brasilien bei. Die USA spielen dabei, wie leider so oft, eine unrühmliche Rolle.
Sie betrachten Südamerika als ihren Hinterhof. Ihre Bewohner als ihre Untergebenen. Die natürlichen Reichtümer als ihren Schatz. 1963
stürzten die Militärs in Brasilien mit der Erlaubnis der USA den frei gewählten Präsidenten Goulart . Es folgten über 20 Jahre Diktatur. 1964
betrug Brasiliens Schuld bei ihren Gläubigerbanken 2,5 Milliarden Dollar. 1985 war diese Summe bereits auf 100 Millionen Dollar
angewachsen. Heute liegt sie bei 240 Millionen Dollar. Diese Schuld ist nicht zurückzuzahlen. Zwischen 1979 und 1986 musste Brasilien 21
Milliarden Dollar an Schuldzins überweisen, mehr als es an neuen Krediten von den Banken erhielt. Was haben die Generäle mit dem vielen
Geld gemacht? Viel floss in ihre "Sicherheitsprojekte", Unterdrückung muss organisiert und auch finanziert werden. Ein anderer Teil wurde
für Projekte verwendet, an denen alle Beteiligten gut verdienten: die ausländischen Konzerne, die Militärs, die korrupte einheimische Elite
und natürlich die Großgrundbesitzer. Der Anteil der Großgrundbesitzer an der brasilianischen Bevölkerung beträgt 2%. Diese 2% besitzen
aber 43% des Ackerlandes, während zehntausende landlose Familien auf der Straße leben und hungern. Zu den von diesem Geld
finanzierten Großprojekten gehörte auch die Transamazonica, Straßen, die den Dschungel Amazoniens zerteilten und maßgeblich zu seiner
Zerstörung betragen. Rinder können mit Wald nicht viel anfangen, mit Weideflächen schon. Das brasilianische Volk wurde nicht nur von den
Militärs und seinen ausländischen Auftraggebern entrechtet, unterdrückt, gefoltert und ermordet, es muss bis heute auch jene Kredite
zurückzahlen, mit denen das alles erst möglich wurde. Hunger, Entrechtung, Verlust an staatlicher Souveränität: Das brasilianische Volk
bezahlt bis heute dafür. (s.h. dazu auch Jean Ziegler, "Das Imperium der Schande").
Wie leicht wäre es zu sagen: "Schatz, lass uns den Krieg beenden, wir essen heute kein Fleisch. Ich liebe den Urwald, ich liebe die Bäume,
ich liebe die Tiere. Komm, lass uns heute etwas anderes essen. Man schätzt, dass niemand mehr auf der Welt hungern müsste, wenn wir
50% weniger Fleisch und Alkohol verzehren würden. So einfach sind manchmal die Dinge. Soviel können Sie tun. Sie bestimmen, wo es
langgeht.
Wenn Sie sich gegen Gewalt entscheiden, kann viel passieren. Vielleicht erkennen Sie zunächst einmal, wie viel Gewalt, wie viel Wut und
Zorn in ihnen selber stecken. Mag sein, dass Sie dann regelrecht schockiert über sich. Aber das macht nichts, das ist gut. Vielleicht
begegnet Ihnen die Gewalt auch von Außen, als externalisiertes Schicksal. Ihr Verlangen Fleisch zu verzehren kann übermächtig werden.
Oder ein Kind wird ermordet und in ihnen schreit alles nach der Todesstrafe. Wie gesagt, alles Mögliche kann passieren. Ihr Entschluss, ihre
Entscheidung wird angefochten werden, das ist ganz natürlich, doch bleiben Sie dabei. Ihnen wird dann vielleicht klar, dass auch in Ihnen
ein Skinhead steckt, dass, wenn Sie in einer anderen Umgebung geboren wären, mit einem anderen Umfeld, anderen Eltern, anderen
Freunden, anderen Problemen, dass Sie tatsächlich selbst ein prügelnder, dumpfer Skinhead hätten werden können. Je tiefer wir verstehen,
desto weniger Grenzen bleiben. In jedem von uns steckt ein Skinhead. Wir alle haben einen kleinen Hitler in uns. Das zu erkennen ist echte
Friedensarbeit.
Im tibetischen Widerstand gegen die chinesische Besetzung gab es Bestrebungen, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Der Dalai Lama
hat sich dagegen ausgesprochen. Gibt es einen gerechten Krieg? Eine schwierige Frage, die unser ganzes Wesen herausfordert und
unsere spirituelle Praxis zutiefst berührt. Ab einem bestimmten Verstehen erkennen wir, dass die menschliche Geschichte schon immer eine
Geschichte von geradezu bösartiger Gewalt und unglaublicher Zerstörung war. Als Hülägü, der Bruder Kublai Khans mit seinem
Mongolenhorden im Jahr 1258 vor den Toren Bagdads stand und das Kalifat der Abbasiden in seinen Grundfesten bedrohte, Bagdad war
damals das kulturelle und politische Zentrum der gesamten islamischen Welt, stellte er den Bewohnern ein Ultimatum zur bedingungslosen
Kapitulation, was diese ablehnten. Als Bagdad fiel, wurden in den darauf folgenden Tagen eine Million Menschen abgeschlachtet. Es gab so
gut wie keine Überlebenden. Können Sie sich das vorstellen? Ein Massaker an einer Million Menschen! Heute, nach etwa 750 Jahren steht
Bagdad wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit. Krieg bringt immer neuen Krieg hervor. Gewalt führt zu immer neuer Gewalt. Diese
Erkenntnis führt zu Ya Basta. Nicht mehr mit mir! Es reicht. Die Aufforderung Jesus an uns, nicht zurückzuschlagen, sondern auch noch die
andere Backe hinzuhalten, beruht auf dieser Erkenntnis. Nicht zurückzuschlagen erfordert außerordentlich viel Kraft, viel mehr Kraft als zu
zuschlagen. Nicht zurückzuschlagen ist der erste Schritt, er durchbricht den Krieg, die Gewalt, den Hass, er führt zu einem mehr an Frieden
in der Welt. Irgendjemand muss diesen ersten Schritt tun. Und erstaunlicherweise geschieht das auch. Darunter sind oft Menschen, die
selber viel Leid erfahren haben, Menschen, die Kinder, Ehepartner oder Freunde in gewalttätigen Konflikten verloren haben. Wir finden
diese Menschen in Nordirland oder auch im Nahen Osten, in Israel, in Palästina. Diese Menschen leisten Großes, sie haben sich von ihrem
Schmerz nicht in die Irre führen lassen, sie haben genug, sie haben erkannt, dass der Wahnsinn endlich ein Ende haben muss. Trotz ihrer
Schmerzen schreien sie nicht nach Rache. Sie sind sie bereit aufzuhören. Das ist echte Friedensarbeit. Es ist gibt nichts Edleres und
Wichtigeres. Wenn wir genug gelitten haben, dann beginnt ganz langsam in uns die Erkenntnis zu reifen, dass irgendjemand von uns
beginnen muss, mit dem Wahnsinn aufzuhören. Alle Kriege der Welt, wurden sie gerecht genannt oder ungerecht, haben nicht zu Frieden
geführt. Nur das Beenden von Gewalt führt zu Frieden. So einfach sind die Dinge. „Liebt eure Feinde, wie euch selbst“ - „Wer von Euch frei
von Sünde ist, der werfe den ersten Stein“.
Diese Welt braucht Ihre Empathie. Diese Welt braucht Ihr Mitgefühl und Ihr entschlossenes Engagement. Ya Basta –Es ist genug! Doch wir
müssen beide Seiten des Lebens betrachten. Gerade, wenn wir uns den dunklen und schwierigen Aspekten des Lebens zuwenden, wenn
wir die Dunkelheit berühren und sie damit uns, müssen wir darauf achten, uns gut nähren: körperlich, emotional, geistig, seelisch.
Besonders ganz am Anfang, wenn wir zu erwachen beginnen, unsere Weisheit noch einem kleinen Sämling gleicht, brauchen wir
Unterstützung. Eine spirituelle Praxis, gute Freunde, ein liebevolles Umfeld wird helfen. Zu leicht kann uns der raue Wind des Lebens in
diesem frühen Stadium des Erwachens umwehen. Achten Sie nicht nur auf das Leid der Welt, achten Sie auch auf das Lachen ihres Kindes,
auf den Duft der Rose, auf das Rauschen des Windes im Wald. Nehmen Sie sich Raum und Zeit für sich selbst. Ruhen Sie immer wieder,
entspannen Sie sich, meditieren Sie, täglich. Machen Sie aus Ihrem Herzen einen Ort des Friedens. Auch das ist echte Friedensarbeit, die
Wichtigste überhaupt.
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Noch etwas. Bitte kämpfen Sie nicht, wir haben schon genug Kriege auf der Welt, aber engagieren Sie sich, mischen Sie sich ein, schauen
Sie nicht weg. Verändern Sie die Welt durch sich selbst, durch ihr vorgelebtes Leben, auf das Andere durch Sie inspiriert werden. Handeln
Sie, mit göttlicher Leidenschaft, mit tiefem Engagement, dann wird das Licht, das Sie ausstrahlen andere Menschen unwiderstehlich
anziehen. Werden Sie eine Kerzenflamme, die andere Kerzen entzündet. Da ist kein Kampf, kein Bemühen, nur müheloses weitergeben.
Noch etwas sehr Wichtiges: "Unser Feind ist nie ein anderer Mensch; unser Feind sind seine falsche Sicht der Dinge und das Leiden in
seinem Innern." (Thich Naht Hanh). Und: In diesem Kampf gegen die falsche Sicht der Dinge müssen wir uns zuerst um unsere eigene
falsche Sicht kümmern, um unser eigenes Leiden, um unseren eigenen Krieg. Wir können der Welt nur helfen, wenn wir unser eigenes Leid
verringern, wenn wir unser inneres Gleichgewicht finden und bewahren. Dort draußen weht ein eisiger Wind. Das Leid der Welt ist
unermesslich. Ohne eine entsprechende innere Festigkeit, ohne eine entsprechende innere Ausrichtung, ohne wird uns schnell kalt werden.
Friedensarbeit ist überwiegend innere Arbeit. Zorn und Leidenschaft allein reichen nicht. Aus Zorn muss heiliger Zorn werden - aus
Leidenschaft göttliche Leidenschaft. Unsere Motivation handeln zu wollen muss aus einer Quelle des Verstehens, der Weisheit, der Liebe
gespeist werden, einer, die die tiefere Natur des Menschen durchschaut.
Ich sage das alles, weil die nächsten drei Kapitel eine anstrengende Lektüre sind. Zarten Gemütern rate ich, diese Kapitel vorsichtig zu
genießen. Lassen Sie sich Zeit, achten Sie auf sich, sehen Sie ganz bewusst die schönen Seiten des Lebens. Ich selber habe mich bei der
Aufbereitung all dieser deprimierenden und auch empörenden Fakten, oft alles andere als gut gefühlt. Ich hatte regelrechte depressive
Phasen beim recherchieren. Manchmal wurde mir während des Schreibens die Welt zuwider. Doch was kann ich tun, die Dinge sind nun
einmal, wie sie sind. Auch das ist Friedensarbeit.
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"Die Zerstörung von Millionen Menschen durch Hunger vollzieht sich
täglich in einer Art von eisiger Normalität und auf einem Planeten, der von Reichtümern überquillt. (…)
Die Gleichung ist einfach: Wer Geld hat, isst und lebt.
Wer keines hat, leidet und wird invalide oder stirbt.
Ständiger Hunger und chronische Unterernährung sind von Menschen gemacht.
Verantwortlich für sie ist die mörderische Ordnung der Welt.
Wer auch immer an Hunger stirbt - er ist Opfer eines Mordes."
Jean Ziegler, aus: Die neuen Herrscher der Welt"
"Immer häufiger sind … Staaten, die wir als Demokratien bezeichnen,
in Wirklichkeit Demokratien im Niedergang.
Und es ist keineswegs ein bloßer Alptraum, wenn man fürchtet,
Westen und Osten, erste Welt und zweite Welt würden unmerklich auf ein
neues "Entwicklungsmodell" zu steuern: auf einen Kapitalismus ohne Demokratie."
Paolo Flores d`Arcais, Philosoph, Italien, aus: Die "Zeit" vom 20.1.2005
"Wir brauchen zwei Dinge, eine zweigleisige Strategie.
Wir müssen auf der ganzen Welt das Bedürfnis nach Veränderung wecken,
und wir müssen uns darauf einigen, wofür wir sind.
Wenn ich Veränderung sage, meine ich, wirkliche Veränderung.
Wir sind keine Bewegung für kosmetische Reformen.
Dieses System, der Neoliberalismus, ist ein tödliches Geschwür. Es ist Krebs."
Lori Wallach, amerikanische Industrieanwältin, aus: "Global Attack", von Paul Kingsnorth
10 Allzu Menschliches Teil 1: Das ökonomische Desaster
10.1 Schlaglichter
- "Spiegel" (48/2004): "Wohin mit dem ganzen Geld? Die Konzerne koppeln sich von der Konjunktur ab: Während die Volkswirtschaft auf
der Stelle tritt, fahren die Dax-Werte Rekordgewinne ein. Sie schütten Milliarden an die Anleger aus. Nirgendwo sonst in Europa verdienen
Großunternehmen derart gut, nicht einmal in den Vereinigten Staaten fahren derzeit Wal-Mart, General Motors und Co. so unverschämt
hohe Profite ein."
- Frankfurter Rundschau (02. 11. 2005): Lage in Osteuropa besorgt Weltbank. Hohe Arbeitslosigkeit alarmierend. Finanzinstitution warnt
vor Rückschlag bei der Armutsbekämpfung. Trotz beeindruckender Wachstumsraten bleibt die Armut ein großes Problem in den mittel- und
osteuropäischen Staaten. Die Weltbank rät den betroffenen Staaten vor allem, die Lohnnebenkosten durch die Reformen der Renten- und
Sozialkassen zu senken. In Mittel- und Osteuropa müssten zudem die Kosten von Unternehmensgründungen gesenkt werden, … darüber
hinaus (ist es) wichtig, dass Unternehmer ihre Arbeiter und Angestellten schneller entlassen können …
- Die "Zeit" (01. 12. 2005): "Wahnsinnige Gewinne. Manager ohne Moral? Eine neue Generation von Unternehmen spielt mit dem sozialen
Frieden. Ist Anstand eine ökonomische Tugend? Nein, sagt der Ökonom. Und da nun diese Gesellschaft sich der Logik des ökonomischen
Denkens unterworfen hat, herrscht, vom Aufschrei der Betroffenen abgesehen, eine erstaunliche Ruhe …"
- Berliner Morgenpost (20. 6. 2006): Deutsche Konzerne streichen Tausende Stellen - und verlagern weiter. Die Hälfte der Jobs ist schon
im Ausland. Der Abbau bei den großen Unternehmen im Inland geht weiter, obwohl die Gewinne deutlich zulegen. Von den 3,7 Millionen
Mitarbeitern bei den 30 im Deutschen Aktienindex vertretenen Firmen sind demnach nur noch 47 Prozent im Inland beschäftigt. Vor vier
Jahren waren es noch 3,5 Prozent mehr."
- Tagesspiegel (14. 7. 2006): Ölpreis nähert sich der 80 Dollar-Marke. Der Sprung über die 80-Dollar-Marke scheint unausweichlich. … Der
Ölpreis ist zurzeit das größte Konjunkturrisiko. Wenn der Ölpreis weiter steigt, wird das der deutschen Wirtschaft richtig weh tun."
- Die "Welt" (20. 7. 2006): Strategen raten zum Einstieg ins kühle Nass. Wasserkonzerne bieten verlässliches Wachstum und eignen sich
daher auch für die Altersvorsorge. (Der Wassermarkt) wird in den kommenden Jahrzehnten noch enorm zulegen: Nicht nur, dass die
Weltbevölkerung und damit die Zahl der Wasserverbraucher kontinuierlich wächst, auch die Industrie benötigt immer mehr H20 als Rohstoff.
… Den Wasseraktien kommt zugute, dass der Trend zur Privatisierung staatlicher Versorgungsnetze ungebrochen ist. Durch die damit
einhergehende Konsolidierung lassen sich große profitable Einheiten schaffen und für Anleger Werte heben."
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- Berliner Morgenpost (06. 12. 2006): „Zehn Millionen Deutsche verarmt. Jeder Achte in Deutschland ist arm oder lebt an der
Armutsgrenze. Betroffen waren im Jahr 2004 rund 10,6 Millionen, darunter 1,7 Millionen Kinder unter 16 Jahren. Dies ergab eine gestern
veröffentlichte Erhebung des Statistischen Bundesamtes. (…). Der Paritätische Wohlfahrtsverband nannte die Zahlen alarmierend. Die
Verbandsvorsitzende Barbara Stolterfoht merkte aber an, dass die Zahlen nicht berücksichtigen, dass mit Hartz IV die Zahl armer Menschen
noch gestiegen sei.“
10.2 Das Krebsgeschwür: eine tödliche Bedrohung
Werfen wir die Krämer aus dem Haus des Herrn. Misten wir den Tempel aus, ziehen wir das scharfe Schwert des Wortes aus der Scheide
des Verstandes, nicht um zu töten, sondern um dem entgegenzutreten, was da tötet. Gott liebt die Schärfe, wie er die Würze liebt. Das
Kapitel ist deutlich länger geworden, als geplant. Doch da sich unsere Lebenswirklichkeit vor allem im Sozioökonomischen abspielt, mag es
gut sein.
Das Thema Ökonomie ist komplexer Natur, von Politik, Gesellschaft und Kultur nur schwer trennen. Doch wollen wir, wie zuvor, den Ball
flach halten, die ganze Angelegenheit einfach gestalten, einfach, nicht oberflächlich. Wie das kleine Mädchen im Märchen von "Des Königs
neuen Kleidern" wollen wir auf bestimmte, unbestreitbare Fakten hinweisen, auf des "Pudels Kern" sozusagen, auf skandalöse Tatsachen,
die für sich selber sprechen. Ich habe sie durch die Schärfe des Wortes aufbereitet und, wie ich hoffe, dadurch ein wenig schmackhafter
gemacht. Frech, wie ich bin, behaupte ich: Das (be)rauschende Fest der westlichen Konsumwelt und seiner raffgierigen Eliten ist auf seinem
mitternächtlichen Höhepunkt angelangt. Alle sind begeistert, sehr angetan und sicherlich reichlich beschwipst. Das brillante Feuerwerk am
dunklen Nachthimmel der ökologischen Unvernunft verzaubert in seiner glitzernden Pracht, zumindest dann, wenn man zum Fest
eingeladen worden ist, und das sind, auch im reichen Westen, immer weniger. Ich gebe zu: Noch jammern wir auf hohem Niveau, noch
erscheinen unsere Probleme etwas elitär, leicht abgehoben, ulkig, verglichen mit dem Elend, das in weiten Teilen der Welt üblicher Standard
ist. Ja, es stimmt: Noch verhungert niemand bei uns, doch die Zeiten, ändern sich, auch davon soll im Folgenden die Rede sein.
(Mittlerweile stimmt auch das nicht mehr. April 2007. Speyer. Ein ehemaliger Hartz IV-Empfänger verhungert.)
Lori Wallach, die amerikanische Industrieanwältin, spricht im obigen Zitat ganz bewusst vom Neoliberalismus als "einem tödlichen
Geschwür" und vergleicht ihn mit "Krebs". Krebs hat keinen guten Leumund, für die meisten von uns er ist der Schrecken schlechthin. Krebs
ist grausam, unbezwingbar, tödlich, von der Aura des vorzeitigen Todes umgeben. Warum ist Krebs bösartig? Ganz einfach:
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Krebszellen sind unreife, undifferenzierte und hemmungslos wuchernde Zellen - sie sind aggressiv und unersättlich
Krebszellen brechen aus dem gesunden Zellverband ihres Umfeldes aus - sie sind unkooperativ
Krebszellen breiten sich ungebremst aus - sie sind invasiv
Krebszellen befallen andere Organsysteme - sie sind infiltrierend
Krebszellen zerstören diese Organsysteme - sie sind destruktiv
Krebszellen entziehen dem Körper durch ihren hohen Umsatz Energie - sie sind auslaugend
Krebszellen verbrauchen alle Speichervorräte des Körpers - sie sind Ressourcen vernichtend
Krebszellen führen zum Abbau der Ordnung - sie sind katabol
Krebszellen führen zum Tod des gesamten Organismus - sie sind letal
Damit ist das innerste Wesen des Neoliberalismus im Grunde genommen auch schon recht gut beschrieben. Wir werden den Begriff
"Neoliberalismus" selbstverständlich noch genau analysieren. Für diejenigen unter uns aber, die mit Wirtschaft und Politik bisher wenig am
Hut hatten, sei hier vereinfachend folgendes vorausgeschickt: Neoliberalismus ist Kapitalismus pur, nackt, ungeschminkt. Neoliberalismus
ist Kapitalismus minus sozialer Schminke. Neoliberalismus ist der Großangriff des internationalen Finanzkapitals und der multinationalen
Megakonzerne auf die Lebensgrundlagen der gesamten Menschheit. Außer natürlich: Sie profitieren selbst davon, was aber recht
unwahrscheinlich ist, da die Gewinner dieses Spiels ausnahmslos zu einer verschwindend kleinen, elitären, anmaßenden Minderheit
gehören. Ich nenne diese Minderheit die „Shogune des Kapitals“. Shogune waren die sich bis aufs Blut bekämpfenden Feldherren des
mittelalterlichen Japans, die anstatt des machtlosen Kaisers regierten. Ganz wie heute, denn die Macht der Shogune ist mittlerweile so
allumfassend, dass sie selbst mächtige Staaten erpressen können. (2007. Gerade hat der Multi Monsanto, einer der größten
Pestizidproduzent der Welt und aggressiver Vertreiber von genmanipuliertem Saatgut, den Staat Argentinien verklagt, weil die argentinische
Regierung es ablehnt, auf Patente Schutzgebühren zu bezahlen).
Neoliberalismus gleicht einer ätzenden, säureartigen Substanz, die gegenwärtig schier unaufhaltsam bis in die kleinsten Poren des Staates
eindringt, in die innersten Bereiche seines Selbstverständnisses. Die Lebenswirklichkeit eines jeden Einzelnen von uns wird davon
unmittelbar berührt. Wenn der Neoliberalismus nicht gestoppt wird, wird er unsere Gesellschaften unweigerlich enthumanisieren. Trotz aller
mantraartigen Heilsbotschaften: Neoliberalismus hat ganz und gar nichts mit Demokratie zu tun, auch nicht mit Frieden oder Wohlstand oder
gar mit Menschlichkeit, i. G., er ist bar jeder sozialen Verantwortungsbereitschaft und bar jeder gemeinschaftlichen Verpflichtung. Er tritt all
das mit Füssen, wofür Generationen vor uns unermüdlich gestritten und gekämpft haben: Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit, Gerechtigkeit,
Solidarität. Davon einmal abgesehen, dass er die Intelligenz im Menschen beleidigt.
Neoliberalismus ist der "Dolchstoß ins Herz (jeder) demokratische(n) Selbstbestimmung" (Charles Derber). Er führt zur unkontrollierbaren
und damit unbegrenzten Herrschaft kapitalstarker, diktatorischer Großkonzerne samt der dazugehörigen Großbanken. Aufgrund ihrer schier
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unvorstellbaren Machtfülle sind die Shogune des Kapitals ohne weiteres dazu in der Lage, die gesamte Welt, einschließlich ihrer
Herkunftsländer, zu erpressen. Neoliberalismus ist die globalisierte Form der frühkapitalistischen Industriegesellschaften a` la Gerhard
Hauptmanns „Weber“. Er ist eine sozialdarwinistische, ungemein raue Variante der freien Marktwirtschaft, ausgesprochen antidemokratisch,
antipartizipatorisch und antievolutionär. Kurzum: Neoliberalismus bedeutet die absolute Herrschaft einer skrupellosen, raffgierigen
Minderheit, die die überwältigende Mehrheit der Menschheit unter das unbarmherzige Diktat der Ökonomie zwingt. Die vier apokalyptischen
Reiter der Shogune heißen: Autokratie, Illoyalität, Despotie und Tyrannei. Die Shogune verstoßen all diejenigen unnachsichtig aus ihrer
wohligen Mitte, die ihrer Ansicht nach unnütz sind, d. h. unprofitabel. Derzeit verkauft sich der Neoliberalismus unter der scheinheiligen
Bezeichnung „Globalisierung“. Globalisierung klingt nett, ist aber überhaupt nicht nett gemeint. Globalisierung unter dem Diktat des
Neoliberalismus ist metastasierender Krebs, eine bösartige, tödlich verlaufende Krankheit, die bis auf die letzten Zellen herausoperiert
gehört.
Aus der Sicht der spirituellen Traditionen sieht der Vorgang so aus: Neoliberalismus, Globalisierung, das sind nichts weiter als neuzeitliche
Varianten von Maya, ihrem immerwährenden illusionären Spiel, das sie schon seit Ewigkeiten mit sich spielt. Doch das heißt nicht, dass wir
uns gelangweilt davon abwenden dürfen, denn unsere Keulen sind ziemlich groß geworden. Mit ihnen produzieren heute, in sehr viel
kürzerer Zeit, sehr viel mehr unnötiges Leid, als jemals zuvor in der menschlichen Geschichte. Im Grunde genommen sagt uns Maya: "Ihr
könnt wirklich nicht meinen, immer so weiter machen zu können. Jetzt ist Schluss, meine Geduld ist am Ende. Ihr lernt wirklich schwer. Nun,
es geht offensichtlich nicht ohne einen gewissen Druck von außen. Wollen doch mal sehen, was Ihr macht, wenn ich die Daumenschrauben
ein wenig anziehe. Bin gespannt, was Ihr dazu sagt. In all dem, was jetzt kommt, das müsst Ihr sehen, liegt für Euch auch eine unglaublich
Chance zu Wachstum, kollektiv, wie auch individuell. Schaut, was Ihr aus all dem macht, es liegt an Euch."
Ich denke, es ist nicht schwer, viele derjenigen Eigenschaften, die Krebs ausmachen, in unserer Lebens- und Wirtschaftsweise wieder
zuerkennen. Krebs einfach aussitzen zu wollen wäre fahrlässig, ja geradezu dumm. Damit wir wieder gesund zu werden, muss etwas
Grundsätzliches geschehen, keine oberflächliche Kosmetik, darauf will Lori Wallach uns hinweisen. Lori Wallach will die "notwendige
Illusion" zerstören, die uns einlullende Konsenstrance, die uns in hypnotischer Gefangenschaft hält. Vielleicht erinnern Sie sich: Bei der
notwendigen Illusion geht es "… um die Macht, bestimmte Themen auf die Tagesordnung zu setzen" (Noam Chomsky), und damit andere,
viel Wichtigere, dem Blick der Öffentlichkeit zu entziehen. Die notwendige Illusion suggeriert Freiheit, wo keine Freiheit ist. Sie lässt unser
Denken in einem vorgegebenen Rahmen kreisen, der soweit gesteckt ist, dass wir unsere Ketten nicht mehr spüren. Innerhalb des
vorgegebenen Rahmens können wir sehr kritisch sein, radikal, ja geradezu revolutionär. Das ist geradezu erwünscht, dieses „kritisch sein“
gehört mit zur notwendigen Illusion, es ist sozusagen ihr Herzstück, denn auf diese Weise bekommen wir das trügerische Gefühl frei zu
sein, etwas bewegen zu können, obwohl wir rein gar nichts bewegen. Das ist ja eines der Probleme unserer Kinder, sie können alles tun und
denken, alles sagen und meinen, wenn selbst ein AIDS-Kranker zum Werbeobjekt wird, wenn ein Gangsterrapper zum Millionär wird, ein
zum Tode verurteilter den Umsatz steigert, ja gegen was kann man denn da noch protestieren?
Die notwendige Illusion ist beileibe kein Zufall, nein, ganz und gar nicht, dahinter steckt ein wohldurchdachtes Kalkül, eine kluge,
machtpolitische Strategie, eine, die von der Überzeugung genährt wird, dass nichts so dumm sein kann wie die naive Vorstellung, der
breiten Masse wirkliche Entscheidungsbefugnisse einräumen zu wollen, ihr die "universellen Wahrheiten" mitzuteilen, denn diese dummen
Schafe da unten, wissen ja gar nicht, was gut für sie ist. Die breite Masse ist dumm, ungebildet, unkultiviert, sie wird die tieferen
Zusammenhänge unserer komplizierten Welt niemals verstehen können, selbst, wenn sie wollten. Darin sind sich die Oligarchen der
Globalisierung mit dem Großinquisitor Dostojewskis völlig eins. Weil das so ist, und weil das in Zukunft auch so bleiben soll, müssen wir
ihnen das trügerische Gefühl geben, an den Weltgeschehnissen partizipieren zu können. Nur so wird die Herde ruhig bleiben und die ihr
zugedachte Rolle ausfüllen. Insbesondere die neokonservativen Kräfte vertreten die Ansicht, dass es verschiedene Arten von Wahrheiten
für verschiedene Arten von Menschen gibt: "Wahrheiten für Kinder und für Erwachsene, Wahrheiten für Gebildete und Hochgebildete." (Tim
Robbins, "Die "Zeit" vom 09. September 2004).
Eliten sind nach den Mächtigen dieser Welt eine absolute Notwendigkeit, denn diese müssen die wichtigen, zukunftsträchtigen
Entscheidungen dieses Planeten treffen, etwas, wofür die unwissende Mehrheit zu dumm ist. All die Täuschungen, all die Lügen und
Halbwahrheiten, die wir z. B. im Zusammenhang mit dem 11. September und dem Irak-Krieg erlebt haben, all die peinlichen Unwahrheitren
und Halbwahrheiten des amerikanischen Verteidigungsministers Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat, so ergeben sie einen Sinn. Die
"notwendige Illusion" stützt und nährt unser gegenwärtiges gesellschaftliches Paradigma, in welchem wir uns relativ frei bewegen können.
Sie soll uns zu braven, unwissenden Konsumenten machen, uns in einen Zustand der Unwissenheit halten, sodass wir uns mit den
Surrogaten des Lebens zufriedengeben, anstatt nach einem richtigen, authentischen, voll ausgeschöpften Leben zu greifen. Darüber hinaus
soll die notwendige Illusion die deprimierenden Zustände dieser Welt verschleiern helfen, soll sie als Rechtfertigung dafür dienen, dass eine
Handvoll von Menschen, die ganze Süße des materiellen Luxus auskosten kann, währenddessen die Mehrheit der Menschheit die Bitterkeit
der Armut, der Ausgrenzung, des sozialen Elends und des vorzeitigen Todes erfahren muss. Und entgegen aller Wahrscheinlichkeit: Die
notwendige Illusion schafft diesen Spagat.
Nun ist Lori Wallach eine Sozialaktivistin, d. h., sie dürfte eher dem linken Spektrum der Globalisierungskritiker angehören. Lassen wir
deshalb auch eine konservative Stimme zu Wort kommen, eine, die weniger ideologisch vorbelastet ist, eine, die ein erhebliches mehr an
Gewicht hat im Chor der Mächtigen und allseits Anerkennung genießt. Helmut Schmidt, Bundeskanzler a. D. sagte in einem Interview mit
der „Zeit" (4. Dezember 2003) etwas sehr Erstaunliches: "Wenn sich das Prinzip des Überlebens allein der Rücksichtslosen und der
Stärksten, wenn sich dieser Sozialdarwinismus weiter ausbreiten sollte, dann können der innere Zusammenhang und die Solidarität unserer
Gesellschaft zerbröseln."
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
154
Diese Aussage ist natürlich zu begrüßen, doch möchte ich Sie ausdrücklich darauf hinweisen, dass auch sie sich innerhalb der notwendigen
Illusion bewegt. Das ist ja das Entscheidende: Sie suggeriert uns, dass, wären bestimmte Umstände und Bedingungen anders, unsere
Probleme innerhalb des derzeitigen politisch-ökonomischen Paradigmas gelöst werden könnten. Und das genau ist falsch. Es geht hier nicht
oberflächliche Veränderungen, kosmetische Korrekturen, die keinem wehtun, die nicht schmerzen. Unsere ganze Wirtschaftsweise ist
Krebs. Und die erste schulmedizinische Maßnahme bei Krebs ist seine radikale Entfernung. Krebs muss man weit bis ins gesunde Gewebe
entfernen, sofern man seine Chancen ihn zu überleben erhöhen will. Fünf Mythen sind in diesem Zusammenhang für unser Thema von
besonderer Bedeutung:
1.
2.
3.
4.
5.
Der Mythos der Globalisierung
Der Mythos der Weltwirtschaftskrise
Der Mythos vom freien Markt
Der Mythos des Konsumismus
Der Mythos vom unbegrenzten Wachstum
Zur Erinnerung. Ein Mythos ist weitaus mehr als ein Ammenmärchen, eine irrationale Vorstellung oder eine geistige Projektion, denn dem
Mythos wohnen autoprojektive Seelenkräfte inne. Er hat die Macht, geistige Bilder in physische Realitäten zu verwandeln, ganz so, als
würden unsere Traumbilder beim Erwachen Wirklichkeit sein. Einem Mythos liegt stets die Glorifizierung der eigenen Vorstellungswelt
zugrunde, deshalb ist er so schwer zu widerlegen. Er besteht aus einem Gewirr von Glaubenssätzen und inneren Überzeugungen, aus
einem Konglomerat von Wahrheiten, Unwahrheiten und Teilwahrheiten, angereichert mit irrationalen Vorstellungen unbewusster und
halbbewusster Art, die solange Überzeugungscharakter besitzen, bis derjenige, der an daran glaubt, sich aus dem Gespinst der eigenen
Gedankenwelt befreit. In diesem Sinne sind unsere kollektiven Mythen sich selbstverwirklichende Glaubenssätze, die unser Geist an die
mentale Leinwand des Universums projiziert. Diese Tatsache erklärt, warum sich im desolaten Zustand unserer Welt unserer kollektives
Bewusstseinsniveau spiegelt.
Die mit den obigen fünf Mythen zusammenhängenden Aussagen sind so offensichtlich falsch, dass es schon körperlich weh tut, mit ansehen
zu müssen, wie wir alle immer wieder darauf hereinfallen. Doch lassen Sie uns, bevor wir uns in das Kampfgetümmel der
sozialdarwinistischen Unvernunft stürzen, zuerst die "Mutter aller Fragen" klären, die Frage nach der Macht. Sie wird in der gegenwärtigen
Klimahysterie der Massenmedien nicht problematisiert, aus guten Gründen, denn daran hängt alles. In den Schönwetterdiskussionen der
Massenmedien wird diese Frage nicht gestellt. Es wird so getan, als wären die Shogune des Kapitals da oben alles Gutmenschen, denen
man nur erklären muss, was falsch läuft, dann werden sie schon beiseite treten. Das scheint reichlich naiv. Die Geschichte lehrt uns das
Gegenteil. Macht und Machtlosigkeit gehen Hand in Hand, das sei allen Philanthropen ins Stammbuch geschrieben. Wer das nicht glaubt,
dem empfehle ich in die Freihandelszonen der Dritten Welt zu schauen, dort, wo fleißige Kinderhände Teppiche für uns knüpfen, dort, wo
junge Frauen unter extrem menschenfeindlichen Bedingungen Markenartikel für uns herstellen, für einen Dollar und weniger pro Tag, ohne
Urlaub, ohne Pause, sieben Tage die Woche, bis es nicht mehr geht, bis sie krank werden, tot umfallen oder erschlagen werden, von
zusammen geschusterten Wanderfabriken, die die Subunternehmer der Großkonzerne überall auf der Welt errichten. Was gehobelt wird,
fallen halt Späne. Es muss ja nicht gleich wie in Bhopal (Indien/Madhya Pradesh) enden, wo am 3. Dezember 1984 durch den
amerikanischen Konzern United Carbide 40 Tonnen MIC (Methlyisocyanid) frei gesetzt wurden, mit dem Ergebnis von 15.000 bis 30.000
Toten und 100.000 Schwerstgeschädigten. Doch glauben Sie mir: Die Tränen der Mütter schmecken überall salzig.
Abbildung 47: zusammengefallene Fabrik (Pakistan)
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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10.3 Von der Macht und der Machtlosigkeit. Oder: Vom Schwinden staatlicher Souveränität
Wenn wir über kapitalistischen Welthandel sprechen, sprechen wir immer, auch wenn es niemand explizit sagt, über Macht und das
Gegenteil davon, die Ohnmacht. Macht ist das Axiom der kapitalistischen Ökonomie schlechthin. Macht aber kann ohne Ohnmacht nicht
sein. Ohne die Ohnmächtigen gäbe es keine Mächtigen. Und der Mächtige, das ist naheliegend, sagt, wo es langgeht. Das Entscheidende
ist: Nur wenn ich Macht habe, gehöre ich zu den Siegern im harten Wettbewerb des freien Marktes. Daher muss es das Hauptziel aller
Unternehmen sein, Macht aufzubauen, Macht zu behaupten und Macht auszubauen. Innerhalb der kapitalistischen Weltordnung sind alle
anderen Aktivitäten eines Unternehmens absolut sekundär, insbesondere seine sozialen Verpflichtungen. Wie groß diese akkumulierte
Macht der Shogune mittlerweile ist, zeigt sich heute im Zuge der Globalisierung überdeutlich. Selbst Nationalstaaten mit starken
Wirtschaften können die international operierenden Konzerne nicht mehr vollständig kontrollieren, dass Druckmittel der
Arbeitsplatzverlagerung, die Drohung in Billiglohnländer abzuwandern, lässt selbst die Regierungen großer Ökonomien einknicken. Es ist
wie beim Schach: Der Gegner muss vernichtet werden. Es geht demnach um Krieg. Kapitalismus ist mehr oder weniger verdeckter Krieg.
Und jeder Krieg erfordert seine Opfer.
Thomas Friedmann, der unter der Regierung Clinton Sonderbeauftragter von Außenministerin Madeleine Albright war, nimmt in dieser
Angelegenheit kein Blatt vor dem Mund: „Wenn die Globalisierung funktionieren soll, darf sich Amerika nicht davor fürchten, als die
unüberwindliche Supermacht zu handeln, die es in Wirklichkeit ist (…). Die unsichtbare Hand des Markts wird ohne sichtbare Faust nicht
funktionieren. McDonald`s kann nicht expandieren ohne McDonnel Douglas, den Hersteller der F-15. Und die sichtbare Faust, die die
globale Sicherheit der Technologie des Silicon Valley verbürgt, heißt US-Armee, US-Luftwaffe, US-Kriegsmarine und US-Marinekorps."
Endlich mal jemand der Klartext spricht, der nicht um den heißen Brei herumredet, der sagt, wo es langgeht. Danke, Herr Friedmann!
Abbildung 48: Krieg um Öl (Irak 2006)
Logisch, es geht um Einflussphären, um Umsätze, Profite, Gewinne, um Zugriff auf Rohstoffe, willfährige Bürokratien, fleißige Lobbyisten,
einknickende Politiker, um korrupte einheimische „Dritte-Welt-Eliten“, um kriegen, Krieg, Haben wollen, da ist kein Platz für Altruismus,
moralische Leutseligkeit oder soziale Wohltaten. Nach dem uns Herr Friedmann über das Einmaleins der Wirtschaft aufgeklärt hat, kann es
uns eigentlich auch nicht mehr groß verwundern, wenn Herr Rogowski, der ehemalige Verbandschef des Bundesverbandes der Deutschen
Industrie (BDI) unlängst den Ausstieg der deutschen Unternehmen aus der Finanzierung der Sozialversicherungssysteme forderte, nach ihm
liegt "Die primäre Verantwortung der Unternehmen … nun einmal nicht in der Sozialfürsorge." (FR vom 16. 09. 2004). Fürsorge, so der
Duden, ist die "tätige Bemühung um jemanden, der ihrer Bedarf.“ Mit anderen Worten: Nach Herrn Rogowski sind wir kleine, unmündige
Kinder, auf die man aufpassen muss, für die man Sorge zu tragen hat, weil wir das selbst noch nicht können, weil wir zu dumm dafür sind.
Wenn die Ohnmächtigen sich weigern nach der Pfeife der Mächtigen zu tanzen, dann zeigt die unsichtbare Hand des Marktes schnell ihre
hässliche Fratze. Beispiel eins. In Vietnam gibt es 150.000 verkrüppelte "Agent-Orange-Kinder". Agent Orange ist ein erbgutschädigendes
Pestizid. 79 Millionen Liter wurden davon im Vietnamkrieg über die Felder, Wissen und Wälder versprüht. Agent Orange ist dioxinhaltig, also
sehr toxisch, Stichwort Soweso/Italien. Auch 10.000 amerikanische GIs sind damals vergiftet worden, beim Beladen der Flugzeuge, die das
Gift ausbrachten. Noch heute sind die Böden in Vietnam vielerorts verseucht. 800.000 Vietnamesen leiden an chronischen Krankheiten, die
vom Agent Orange herrühren. Der amerikanische Lebensmittelmulti Mansanto hat gut an Agent Orange verdient. Die Klage der
Vietnamesen auf Entschädigung wurde in den USA abgewiesen. Selbst den amerikanischen Veteranen gelang es nur auf dem Klageweg,
die ihnen zustehende Entschädigung zu bekommen. Beispiel zwei. Täglich sterben weltweit 9.000 Kinder unter zehn Jahre, weil sie
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
156
verschmutztes Wasser trinken müssen. Die WHO gibt an, dass 80% aller Krankheiten durch minderwertiges und verschmutztes Wasser
ausgelöst werden. Von den 4 Milliarden Durchfallerkrankungen pro Jahr enden 2,2 Millionen tödlich. Ein Drittel der Weltbevölkerung hat
keinen Zugang zu unbedenklichem Wasser. Sie können sich leicht ausrechnen, was wohl passiert, wenn ein Nahrungsmittelkonzern,
nehmen wir Nestle, dafür wirbt, Milchpulver statt Muttermilch für die Ernährung von Säuglingen zu benutzen. Schmutziges Trinkwasser,
teures Milchpulver, arme, ungebildete Menschen, da ist die Katastrophe nicht fern. Mal vom schmutzigen Trinkwasser und den Vorteilen der
Muttermilch abgesehen, eine Prise Milchpulver mag das Wasser weiß färben, dem Säugling wird das aber wohl nicht genügen. Nestle
verdient gut am Milchpulver und diejenigen, die ihre Praxis kritisieren, überzieht sie gerne und schnell mit Klagen.
Nach Charles Derber ist "Macht“ etwas, das in diesem Kontext von „absolut zentraler Bedeutung (ist), und in den SchokoladenkuchenDiskussionen um den Welthandel immer wieder (wissentlich) ignoriert wird. Dabei lehrt die Geschichte, dass es nie und nimmer Handel
ohne Macht geben kann. Ob man mit Organen, Erdöl, Schuhen oder Mikrochips handelt - es funktioniert nicht ohne die Macht der Firmen
und Regierungen, die kaufen und verkaufen." (aus: "One World"). Und was ist eine der großen Quellen von Macht? Es ist "die Freiheit zu
gehen“, wann ich will und wohin ich will, „wie jeder verheiratete Mensch weiß" (Charles Derber). Ich denke, wir können das bestätigen, sind
wir gegenwärtig doch alle Zeugen, wie Regionen, Länder, ja ganze Staaten, die Opfer von groß angelegten Erpressungsmanövern werden,
denn "Geld hat keine emotionalen Wurzeln oder familiären Bindungen".
Es wäre schön, wenn wir uns daran erinnern würden, dass unsere sozialen Sicherungssysteme mit dem Blut und Schweiß unserer
Vorfahren erkämpft wurden, dass der 1. Mai einmal etwas anderes war, als ein zusätzlich freier Tag und dass die Industrialisierung Europas
zwangsläufig die Strukturen der Großfamilien zerstören musste, denn eine mobile und flexible Arbeiterschaft kann sich nicht mehr um die
Alten kümmern oder um den eigenen Nachwuchs, wie das bis dato der Fall war. Die Einführung der sozialen Sicherungssysteme waren eine
wirtschaftliche Notwendigkeit, keine barmherzigen Almosen von Bismarcks Gnaden. Sie waren das Ergebnis langer, harter, entbehrungsund blutreicher Kämpfe, an deren Ende selbst die Kapitalisten von der Notwendigkeit der sozialen Sicherungssysteme überzeugt waren.
Darin kam auch die Einsicht zutage, dass der Staat kein Selbstbedienungsladen sein darf, aus dem man sich nach eigenem Gutdünken frei
bedient, denn „ein Staat, der seinen Bürgerinnen und Bürger nicht das Gefühl von Sicherheit gibt, ihnen nicht ein Mindestmaß an sozialer
Stabilität und Einkommen, eine berechenbare Zukunft sichert und ihnen keine öffentliche Ordnung im Einklang mit ihren moralischen
Überzeugungen garantiert, ist ein zum Untergang verurteilter Staat." (Jean Ziegler, aus: "Die neuen Herrscher der Welt"). Solch ein Staat
gräbt sich selbst sein Wasser ab, er verliert die Legitimation, für seine Bürger sprechen zu dürfen.
Auf dem Weg zur Macht haben es die Shogune weit gebracht:
-
weltweit existieren ca. 45.000 Aktiengesellschaften mit etwa 300.000 Tochtergesellschaften
allerdings spielen nur etwa 200 von ihnen im Konzert der ganz Großen mit
zu diesen "Supertankern" gehören General Motors, Shell, Citigroup, Sony, AOL, Time Warner, Exxon Mobil, Siemens, Mitsubishi,
Microsoft u. a.
von diesen Unternehmen haben 82 ihren Sitz in den USA, gefolgt von Japan (41) und Deutschland (20)
Schauen wir uns 200 dieser internatonal aufgestellten Megakonzerne etwas näher an. "Ihre Profite explodierten zwischen 1983 und 1997
um 224 Prozent, was weit mehr ist als 144%ige Wachstum der gesamten Weltwirtschaft im selben Zeitraum.
Abbildung 49: Shogune unter sich, Weltwirtschaftsforum 2008 Türkei
Ihre Umsätze übertreffen zusammengerechnet das Bruttosozialprodukt von 180 der 190 Nationen der Welt. Die Verkaufserlöse dieser Top
200 betragen 25 Prozent des gesamten globalen Bruttosozialprodukts." (Charles Derber). Die Citigroup ist die größte Bank der Welt. Ihre
300.000 Mitarbeiter sind in mehr als 100 Ländern aktiv. Die Bilanzsumme der Citigroup betrug im Jahr 2004 1,5 Billionen Dollar
(Bundesrepublik Deutschland, die größte Volkswirtschaft Europas, 2,4 Billionen Dollar), der Reingewinn 17 Milliarden Dollar, genug um
damit die HypoVereinsbank und die Commerzbank zu kaufen. Im gleichen Jahr wurde bekannt, dass die Citigroup illegalerweise versucht
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
157
hatte, europäische Staatsanleihen zu manipulieren. Ihr Gewinn bei diesem gesetzeswidrigen Vorgehen: 17 Millionen Euro. Europäische
Staaten direkt angreifen zu können, das ist Macht. (alle Zahlen aus "Die Zeit" vom 10. Februar 2005).
Der Jahresumsatz jedes einzelnen dieser Supertanker übertrifft das Bruttosozialprodukt der meisten Staaten dieser Erde. Selbst mittelgroße
Volkswirtschaften werden mittlerweile von ihnen locker in die Tasche gesteckt. Der Jahresumsatz von General Motors z. B. ist größer als
das Bruttosozialprodukt Dänemarks. Ford übertrifft Südafrika, Wal-Mart Polen, Daimler Chrysler Griechenland. Allein der Jahresumsatz von
Phillips Morris ist höher als das gesamte Bruttosozialprodukt von 148 Staaten dieser Erde. Hinter den Shogunen, das wird nichts Neues für
Sie sein, stehen die mächtigen Großbanken und ihre grauen Herren. Ganz wie Vampire, scheuen sie das Tageslicht. Obwohl sie es sind,
die die eigentliche Macht besitzen, arbeiten sie bevorzugt im Verborgenen, ziehen sie lieber dunklen Hintergrund die Fäden der Macht. Das
internationale Finanzsystem mit seiner zerstörerischen Aktienkultur, die Fondsgesellschaften, die Hedgefonds, der Hochrisikobereich des
Shareholdervalue, sie alle arbeiten ihren gutsituierten Herren zu. An den Börsen holen sie sich das Kapital, das sie für ihre kriegerischen
Raubzüge brauchen. Während man die feinen Herren selbst nur selten sieht, können wir ihre Krieger an der Front tagtäglich an den Börsen
von New York, London, Japan oder auch Frankfurt bewundern. Es ist schon sehenswert, wie hypernervös sie dort herumgestikulieren, wie
sie mit ihren hektischen, veitstanzähnlichen Bewegungen dem Mammon huldigen, aber es geht um viel Geld in wenig Zeit, und ihre feinen
Herren dulden keine Nachlässigkeiten im Spiel um die Macht. Milliarden von Dollars werden jeden Tag an den Börsen gehandelt und in
Bruchteilen von Sekunden von einem Ort zu anderem transferiert, dorthin wo der meiste Gewinn lockt, der schnelle Profit. Globalisierung
heißt vor allem Internationalisierung und Deregulierung der weltweiten Finanzsysteme und Finanzströme. Das Geld soll unbehindert dahin
fließen können, wo hin es will, unbeeinflusst, unkontrolliert, unbeaufsichtigt, zum größtmöglichen Reibach. An nachhaltiger, ökologischer
oder gar sozialer Entwicklung sind unsere gewitzten Finanzjongleure und gewieften Spekulanten soviel interessiert, wie der Herbststurm an
den Blättern eines Baumes.
Als Spekulanten skrupellos über Nacht ihr gesamtes Kapital aus Thailand abziehen, packt dieser Sturm am 2. Juni 1997 die Volkswirtschaft
Thailands. Der Wechselkurs des thailändischen Baths bricht ein, es kommt innerhalb von nur drei Wochen zur Zahlungsunfähigkeit, und
das, obwohl die Zentralbank in Bangkok Hunderte von Millionen von Dollar bereitstellt, um die einheimische Währung zu stützen. Der
liberalisierte Finanzmarkt Thailands macht es möglich. Dass ausländische Kapital schmilzt dahin, wie Butter in der Sonne. Hysterie macht
sich breit. Die Volkswirtschaften Indonesiens, Südkoreas und Taiwans werden mit in den Strudel gezogen. In Thailand verdreifacht binnen
Kurzem die Arbeitslosenrate, in Indonesien verzehnfacht sie sich. Millionen Menschen wissen von einem Tag auf den anderen nicht mehr,
wie sie den Reis für ihre Kinder bezahlen sollen. Menschen, die sich schon auf der Sonnenseite des Lebens wähnten, werden mit in den
Abgrund gerissen. "Die Schuldenkrise in Lateinamerika 1982, Mexiko 1994, Ostasien 1977/98, Russland 1998, Brasilien 1999, Argentinien
2001/2002: Nie waren so viele Länder der Welt in das globale Finanzsystem eingebunden - und nie taumelten so viele Länder, ja Erdteile in
Wirtschaftskrisen. Stets war dem langfristig investierten und produktiven Kapital das (spekulative) Finanzkapital gefolgt, angelockt von eben
dem Wohlstand, den es nun zu ruinieren sich anschickte. Denn Finanzkapital ist kurzfristig orientiert und seine Herren, die Fondsmanager
und Spekulanten, neigen zu Herdenverhalten: Rennt einer los, so fliehen alle." („Die Zeit“ vom 5. Januar 2005).
Laut Noam Chomsky bezogen sich 1971 noch 90 Prozent der internationalen Finanzgeschäfte auf reales Kapital, auf Handel oder
langfristige Investitionen, d. h., nur 10 Prozent galten der Spekulation. 1990, also nur 19 Jahre später, hatte sich das Verhältnis bereits ins
Gegenteil verkehrt. Nun trugen 90 Prozent aller Finanzgeschäfte spekulativen Charakter. Fünf Jahre danach, 1995, waren es schon 95
Prozent. Die Summen, die dabei an jedem Tag des Jahres um die Welt jagten, waren inzwischen auf astronomische Höhen geklettert, sie
überstiegen die gesamten Fremdwährungsreserven der sieben führenden Industriemächte, die damals eine Billion Dollar betrugen. Doch
das war noch nicht das Ende. Im Jahr 1997 hatten nur noch 2 Prozent der täglich 1,5 Millionen Devisen-Transaktionen mit Handel oder
direkten Investitionen im Ausland zu tun. 98 Prozent der Transaktionen galten ausschließlich der kurzfristigen Gewinnmaximierung. Mit
anderen Worten: Der reale Wert eines Unternehmens hat schon lange nichts mehr mit seinem Aktienwert zu tun.
Kurzum: Mit der neoliberalen Aktienkultur haben sich die Shogune eine Lizenz zum Gelddrucken verschafft. Sie macht die Reichen reicher
und die Armen ärmer, wie wir gleich sehen werden. Mithilfe des dort akkumulierten Kapitals plündern die Shogune die Erde schonungslos
aus, vernichten sie ihre Ressourcen und zerstören sie die Kulturen der Völker. Daher gehört sie, mit samt allem, was sie sonst noch an Gift
speienden Ausgeburten produziert, restlos ausgemerzt. Sie ist nicht nur eine gefährliche Metastase im Körper der Volkswirtschaften, von ihr
wird sehr wahrscheinlich auch der Zusammenbruch unserer Zivilisationen ausgehen, sofern sie nicht entfernt wird.
Macht zu besitzen, bedeutet Verantwortung zu übernehmen. Daher müssen wir an unsere Führer, an unsere Eliten, unsere Politiker, soweit
wir denn auf diese Weise geführt werden wollen, eine besonders hohe moralische Messlatte ansetzen. Es ist naiv und grundlegend falsch
zu sagen, unsere Führer seien auch nur Menschen. Natürlich sind sie Menschen, aber diese Menschen besitzen sehr viel Macht, und mit
dieser Macht können sie die Welt in den Abgrund reißen. Daher müssen sie es sich gefallen lassen, dass wir sie sehr kritisch beobachten.
Wir müssen in ihrer geistigen und moralischen Entwicklung bestimmte Mindeststandards entdecken können. Gegenwärtig sind die großen
Unternehmen wie maßlose Raubtiere und es ist kaum vorstellbar, dass sich dies unter den Bedingungen des Neoliberalismus verändern
wird. Beenden wir die Frage der Macht mit Jerry Mander, Präsident des "International Forum on Globalization (IFG)", der zum Wesen der
Unternehmen klipp und klar erklärt: "Es gehört zum grundlegenden Wesen von Unternehmen, dass sie anmaßend, aggressiv und auf
Wettbewerb bedacht sind. Auch wenn sie in einer Gesellschaft existieren, die für sich in Anspruch nimmt, nach moralischen Prinzipien zu
handeln, sind sie prinzipiell amoralisch. Insofern ist es unausweichlich, dass sie auch die Gesellschaft um sich herum enthumanisieren. Sie
verhalten sich ihren Beschäftigten, auch den Managern, gegenüber illoyal. (…). Es ist fester Bestandteil des Handelns von Unternehmen,
dass sie alles Bewusstsein in eindimensionale Kanäle zu lenken versuchen. Sie müssen bestrebt sein, andere Kulturen zu beherrschen und
die Weltbevölkerung zu "klonen", dass etwas herauskommt, was ihren Vorstellungen mehr entspricht als das Bisherige. Die Unternehmen
kümmern sich nicht um Staaten, sie leben jenseits nationaler Grenzen. Sie wollen die Natur zerstören. Und sie haben ein unerbittliches,
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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unstillbares, gieriges Bedürfnis, zu wachsen und zu expandieren. Indem sie andere Kulturen beherrschen und die Erde aufwühlen, folgen
sie blind den Regeln, die in ihnen angelegt sind." (aus: "Schwarzbuch der Globalisierung", Kapitel 6).
Nochmals: „Sie folgen blind den Regeln, die in ihnen angelegt sind!“ Wenn aber Unternehmen zwangsläufig zu allen in Gegnerschaft
stehen, die sie zu behindern versuchen, und dazu gehören neben den direkten Konkurrenten natürlich Umweltgesetze und bestimmte
Sozialstandards, dann können sie sich, sofern sie weiter bestehen wollen, einfach kein soziales Gewissen leisten. Der Fehler kann nicht
behoben werden, er ist systembedingt. Darauf kommt es an! Deshalb spreche ich soviel von Krebs. Unternehmen sind amoralisch, weil
Amoralität einer der Eckpfeiler ihres intrinsischen Wesens ist, sein muss, da gibt es nicht viel zu reformieren. Amoralität und Macht sind wie
Bruder und Schwester. Macht ohne Gewissen aber muss zwangsläufig in die Katastrophe führen. Sie meinen ich übertreibe? Mitnichten.
Schauen wir in die Freihandelszonen, in die Elendsquartiere dieser Welt, dorthin, wo wir Dantes Höllenvisionen ein wenig näher zu kommen
scheinen.
10.4 Freihandelszonen: von Sklavenhaltern und Raubrittertum.
"Hoch die internationale Solidarität!" Seit dem Ende des Vietnamkrieges war es recht still um diesen alten, ehrwürdigen politischen
Schlachtruf geworden. Lange Zeit lag er verstaubt und ziemlich mitgenommen in der Asservatenkammer der Klassenkampfideologien
herum, kaum jemand von uns traute sich ja, besonders nach den Killing Fields Pol Pots in Kambodscha oder nach dem Desaster mit dem
Leuchtenden Pfad in Peru, diese Parole nochmals in den Mund zu nehmen. Nun aber ist es gut möglich, dass dieser Schlachtruf im Zeitalter
der Globalisierung seine wahre Bedeutung erst erfährt. Ja, wir brauchen sie wieder, die internationale Solidarität, nicht nur weil wir langsam
erkennen, was die Multis alles so anrichten, sondern auch weil unsere Arbeitsplätze hier im Westen an dramatischer Schwindsucht leiden.
Die internationale Solidarität hat ihre Jungfräulichkeit mit Recht verloren, alles Romantische wurde ihr ausgetrieben, doch es scheint, als
würde ihre große Stunde noch kommen.
Wir brauchen die Empörung, wir brauchen die Skandale, wir brauchen Geschichten von Menschen über Menschen, damit uns bewusst wird,
mit welch menschenverachtenden Methoden die internationalen Unternehmen arbeiten. Ohne die entsprechenden Geschichten, ohne die
dazu gehörigen Gesichter, muss unser Protest dünn bleiben. Jemand der viel für die internationale Solidarität tut ist Charles Kernaghan.
Charles Kernaghan ist New Yorker, Priester, Journalist und mittlerweile auch Direktor des NLC (National Labor Commitee), einer
Menschenrechtsorganisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat der Ausbeutung in der Dritten Welt ein Gesicht zu geben. Berühmt wurde
er durch die Enthüllungen der skandalösen Zustände in jenen Sweatshops, in denen Wal-Mart seine Kathy Lee Gifford Kollektion herstellen
ließ. Er brachte Wendy Diaz aus Honduras mit, die von ihrem Leben dort erzählte, von ihren tristen Arbeitsbedingungen, und auch den
entwürdigenden Umständen, mit denen sie dort tagtäglich konfrontiert war. Als sie geendet hatte, waren ihre Zuhörer geschockt. Und
beschämt zugleich. Die Kleidung, die sie trugen, das wussten sie nun, wurden überall auf der Welt von jungen Frauen wie Wendy Diaz
zusammengenäht, jungen Frauen, die brutal versklavt, zugrunde gerichtet und schnell ausgewechselt werden, wenn sie nach wenigen
Jahren harter und gesundheitsschädigender Arbeit nicht mehr können. (Greenpeace Magazin).
Selina, 13 Jahre alt, auch sie ist eine Wendy Diaz. Sie lebt in Chittagong, einer Hafenstadt in Bangladesh. Sie arbeitet 7 Tage in der Woche,
19 Stunden am Tag in einer Textilfabrik. Sie beginnt morgens um 2, 3 Uhr. Ihr Stundenlohn beträgt 2 Cent. In den letzten vier Monaten, so
berichtete sie, hatte sie ganze 2 Tage frei. Ihre Aufgabe ist es jene Stellen der Stoffe mit Kreide zu markieren, an denen diese
zurechtgeschnitten werden, um später als Markenware die Fabrik zu verlassen. Charles Kernaghan traf sie im "Bangladesh Center of
Solidarity", einer Frauenrechtsorganisation. Mit ihrer Arbeit bringt sie ihre Eltern und zwei Geschwister durch. Sie hasst ihre Arbeit, und
gleichzeitig hat sie große Angst diese zu verlieren. Ihre Situation beschreibt sie so: "Ich fühle mich, als müsse ich sterben." Überall auf der
Welt finden wir Menschen wie Selina. In Laos, Vietnam, Indonesien, Philippinen, Sri Lanka, Birma und vor allem in China. Sie werden in
kleinen Unterkünften, in Schlafsälen gehalten, eingepfercht wie Hühner, rechtlos wie Sklaven, ausgebeutet, misshandelt und sexuell
missbraucht, gedemütigt, ihrer Würde und ihrer Zukunft beraubt. Sie altern schnell, die Selinas dieser Welt. Wenn Sie sich das nächste Mal
über das Schnäppchen freuen, das Sie gemacht haben, blicken Sie doch spaßeshalber mal auf die Innenseite ihrer schönen, neuen Jacke,
schauen Sie, woher ihr Schnäppchen eigentlich kommt, welch` fleißige Hände sie zusammengenäht hat. Ich bin sicher, Sie werden eines
dieser Länder entdecken, und wer weiß, vielleicht werden Sie sich dann an Carmelita Alonzo erinnern, einer jungen Philippinin, die
inzwischen gestorben ist, einfach weil sie sich zu Tode gearbeitet hat. Sie starb an den schlechten Arbeitsbedingungen, denen sie
ausgesetzt war, am 8. März 1997, dem Internationalen Frauentag.
Naomi Klein, auch jemand, der diesen Menschen Gesichter gibt, hat ihre Geschichte öffentlich gemacht: "Carmelita Alonzo starb nach einer
langen Serie an Nachtschichten während einer besonders arbeitsreichen Hauptsaison. (…). Carmelita musste nicht nur in diesen Schichten
arbeiten, sie hatte auch einen zweistündigen Nachhauseweg zu ihrer Familie. Sie litt an einer Lungenentzündung - eine Krankheit, die in den
tagsüber stickig heißen, nachts jedoch durch Kondenswasser feuchtkalten Fabriken häufig auftritt - und bat ihren Vorgesetzten um einen
Genesungsurlaub. Er lehnte ab. Schließlich musste sie ins Krankenhaus." Sie kam zu spät, sie starb. Ihre Kollegen/Innen meinten:
"Carmelita starb an den Überstunden. Das kann jedem von uns passieren … Wir alle sind Carmelita." (aus: "No Logo!") "Sklavenarbeit",
nennt die einzige prominente Modeschöpferin von Weltrang, Katharine Hamnett, diese gängige Methode der Textilproduktion. 85% aller
Textilien werden in Freihandelszonen hergestellt. Für sie selber kommt dies nicht in Frage, denn sie "…. will kein Blut an (ihren) Händen"
haben. (Greenpeace Magazin 3/04).
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Abbildung 50: Kleiderfabrik in Pakistan
Um was geht es hier? Es geht um die sogenannten Freihandelszonen (FHZ), auch Exportproduktionszonen (EPZ) genannt. Man bezeichnet
sie auch als Sonderwirtschaftszonen, aber im Grunde genommen sind es extraterritoriale Staatsgebiete, Orte, in denen der jeweilige Staat
seine exekutive und judikative Macht mehr oder weniger freiwillig an die internationalen Konzerne abgegeben hat, d. h. seine ganzen
Einfluss- und Mitwirkungsmöglichkeiten. Es sind Orte, in denen die Menschen bis aufs Hemd ausgebeutet werden, wo sozialdarwinistische
Gesetze gelten, die in dieser rohen Form sonst nirgendwo auf der Welt mehr Gültigkeit haben, und das aus guten Gründen: Sie wurden in
den letzten 200 Jahren in blutigen Auseinandersetzungen von der arbeitenden Klasse zurückgeschlagen. Diese Kämpfe waren Kämpfe für
ein wenig mehr an Respekt und Würde, für ein wenig mehr an Zivilisation. Dass das Pendel nun wieder in die andere Richtung schlägt, sagt
viel darüber aus, wie es wirklich hinter unserer zivilisatorischen Maske ausschaut.
FHZs ist Neoliberalismus ohne scheinheilige Etikette, Raubtierkapitalismus pur, die wahre Fratze eines nur fiktiven freien Marktes, ist
Ausbeutung ohne Sicherheitsnetz, ohne soziale Absicherung oder euphemistischer Plattitüden. Wir kennen diese Zustände aus dem 18.
und 19. Jahrhundert, aus den Beschreibungen lang zurückliegender Zeiten, aus England zu Beginn der Industrialisierung. Alexander
Goldsmith nennt sie „Brutstätten der Ausbeutung", und "soziale und ökologische schwarze Löcher, (die) die strengere(n) Normen in
benachbarten Regionen aufsaugen und verschlingen." Nach ihm gleichen sie "Steueroasen, die als Schlupflöcher für Kapital dienen, das
sich dem staatlichen Zugriff entzieht." (aus: "Brutstätten der Ausbeutung: Freihandelszonen in der globalisierten Wirtschaft", Schwarzbuch
der Globalisierung). Er warnt uns, denn nach ihm ist das Phänomen der FHZs nicht nur mehr auf Entwicklungsländer beschränkt, sondern
"in dem Bemühen, sich an das Wettbewerbsklima anzupassen, das durch die FHZs geschaffen wurde, wird auch in den Industrieländern an
unterschiedlichen Umfang mit neuen Anreizen gespielt." Das Endziel des Neoliberalismus ist klar: Eine Welt des Kapitals ohne gesetzliche
Beschränkungen, ohne jede Einmischung von außen, ohne Schutzorganisationen der Arbeiter, die Welt, eine einzige Freihandelszone, in
denen die Mächtigen schalten und walten können, wie sie wollen. Zu unserer aller Glück.
Niemand weiß genau, wie viel FHZs weltweit existieren, es müssen so um die 800 sein in etwa 40 Ländern der Erde, hauptsächlich in Asien,
Lateinamerika und der Karibik. Ihre Größen schwanken, sie reichen von 100 Beschäftigten bis 30.000 und mehr, wie etwa in Cavite/Rosario,
150 Kilometer südlich von Manila auf den Phillippinen, wo etwa 50.000 Menschen auf 276 Hektar in 207 Fabriken ausschließlich für den
Export schuften.
In diesen EPZs lassen Markenfirmen ihre Markenwaren herstellen, und damit sind wir bei einem der wesentlichen Merkmale der "neuen"
Unternehmenskultur angelangt. Sie stellen nicht mehr selbst her - sie lassen herstellen. Und zwar von Subunternehmern, hautsächlich aus
Hongkong, Korea und Taiwan, wie etwa vom Konsortium Nien Hsing, das allein in Nikaragua 4 Firmen besitzt, die 70% der gesamten
Textilexporte produzieren. Diese Arbeitsteilung - in den Zentren der Macht werden die Produkte entworfen und entwickelt, in den Peripherien
werden sie von Subunternehmen produziert - ist der entscheidende Hebel mit denen die internationalen Konzerne ihre Profite immens
steigern. Sehr zu Freude ihrer zeitweiligen Besitzer: den Aktionären und den Hedgefonds- und Fondsmanagern. Und gleichzeitig können
sie, wie Pontius Pilatus, ihre Hände rein waschen, denn was haben sie schon mit den skandalösen Zuständen in diesen FHZs zu tun? Sie
sind doch unschuldig, diese Fabriken gehören ihnen doch gar nicht! In dem sie Produktion und Fertigung von ihrem Unternehmen
abkoppeln und in die FHZs der Billiglohnländer verlagern, befreien sich diese Unternehmen quasi "von den Ketten der Produktion" und es
entsteht der "Prototyp der produktfreien Marke" (Noami Klein). Lästige Fragen, z. B. wie die Einhaltung von gesetzlichen Mindeststandards
in Sachen Bezahlung, Gesundheit und Umwelt, all das wird quasi ausgelagert, „geoutsourced“ sozusagen, darum müssen sie sich nun nicht
mehr kümmern, all diese lästigen Dinge gehen sie nichts mehr an. Nike war das erste Unternehmen, dass diese Strategie einschlug. Alle
anderen folgten: Reebok, Puma, Adidas, Asics, Fila, Wal-Mart, Penny, Aldi, Siemens, Nokia, IBM, Sony, Esprit, Benetton, Ralph Lauren,
Levi Strauss, Wrangler, Salewa, Jack Wolfskin, usw. usf.
Verstehen Sie? Wir haben es hier mit einem ganz neuen Phänomen zu tun, mit einem ganz neuen Typus von Unternehmensstrategie, quasi
mit "ausrangierten Fabriken", mit "Wanderfabriken", Fabriken, die durch die ganze Welt ziehen, von einem Land in das Andere, von einer
FHZ in die Nächste, immer dorthin, wo die günstigsten Bedingungen herrschen, in denen skrupellose und gerissene Subunternehmer Waren
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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auf die billigste Weise herstellen lassen, um sie anschließend, von den TOP-Unternehmen, inzwischen mit ihren Logos veredelt, als
strahlenden Markenartikel in unseren Geschäften anzubieten. Unsere Arbeitsplätze werden nicht abgebaut, sie lösen sich quasi in Luft auf,
sie verflüchtigen sich. „Unsere Firmen" produzieren gar keine Waren mehr, sondern nur noch Marken, d. h. Gefühle, Träume, Vorstellungen,
Einstellungen. Wir kaufen keine Gebrauchsgegenstände mehr, sondern Lebensgefühle: Just do it! Mit dem Kauf einer bestimmte Marke
erwerben wir unseren Traum vom Leben. So ändern sich die Zeiten: "Wurden früher Massenentlassungen als tragische Notwendigkeit
dargestellt, die durch eine schlechte Leistungsbilanz des Unternehmens entstanden war, gelten sie heute als clevere Änderungen der
Unternehmensstrategie, als "strategische Neuorientierung“ (Naomi Klein, "No Logo!").
Ende der neunziger Jahre schloss Levi Strauss seine 14 Fabriken in den USA mit genau dieser Begründung. Insgesamt 16.310 Arbeiter
verloren ihren Job. In Deutschland sind auf diese Weise mittlerweile 2,6 Millionen Arbeitsplätze verschwunden, in der kalten Sprache der
Wirtschaft als "Offshoring" bezeichnet. Täglich gehen im produzierenden Gewerbe ca. 1.000 Arbeitsplätze verloren. Zwischen 1993 und
2003 lösten sich 20% aller traditionellen Industriearbeitsplätze in Luft auf. Ihr Anteil hat sich seit 1980 von 12,8% auf 10,3% verringert. Nach
einer Studie des Center Automotive Research (CAR) vom Frühjahr 2004 wird der Automobilstandort Deutschland infolge der EUErweiterung erheblich an Bedeutung verlieren. 2003/2004 unterhielten schon 40% der Zulieferer deutscher Unternehmen Filialen im
Ausland. Der Gigant Siemens, Urgestein deutschen Unternehmertums, beschäftigt insgesamt 430.000 Mitarbeiter in 190 Ländern. Sein
Gesamtumsatz lag im Jahr 2004 bei 75,3 Milliarden Euro. Der Gewinn betrug 3,405 Milliarden Euro. Seit 1980 hat Siemens im Inland 65.000
Stellen abgebaut, um gleichzeitig 138.000 im Ausland aufzubauen. Auch die USA wurden von diesen Entwicklungen betroffen. Dort
vernichtete Siemens in den Jahren 2001 bis 2003 10.000 Arbeitsplätze. Siemens beschäftigt heute mehr Mitarbeiter im Ausland als in
Deutschland. Überall verfolgen die Shogune diese Strategie. Der Pharmariese BASF, nach Umsatz der größte Chemiekonzern der Welt, hat
die Zahl seiner Mitarbeiter im Inland fast halbiert, im Ausland dagegen aber um 20% aufgestockt, Und die Deutsche Telekom, ehemalig im
Besitz des Bundes, hat im Zuge der Privatisierung 33% ihrer Mitarbeiter ins Ausland verlagert. Die Angst um den Arbeitsplatz ist endemisch
geworden. Man sieht dies am Krankenstand. Er liegt bei 3,61% der Sollarbeitszeit, was den niedrigsten Stand seit 1970 bedeutet. Der
Spiegel meint dazu (48/2004): "Ganz offensichtlich haben sich Weltunternehmen wie Siemens, BASF oder Adidas-Salomon von der
Konjunktur im Lande fast völlig abgekoppelt. Zwar prägen sie nach wie vor das Bild der deutschen Wirtschaft, tatsächlich aber haben sie
nicht mehr viel mit ihr gemeinsam."
Bleiben wir bei den FHZs. Wie müssen wir uns eine FHZ vorstellen? Etwa so. Es ist ein besonderer Ort, denn auch wenn die Fabrik in der
sie arbeiten in ihrem Land steht, gelten dort die Gesetze ihres Landes nicht. Einfuhrzölle, Ausfuhrzölle werden nicht erhoben, ja die
produzierenden Unternehmen sind ziemlich privilegiert, sie zahlen keine, oder kaum Steuern. Wenn Sie zufällig in Sri Lanka leben sollten,
ganze 10 Jahre lang nicht. Diese Orte der Freiheit sind gut gesichert, durch Tore, an denen uniformiertes Wachpersonal steht. Wenn Sie
nicht in einem engen, teuren Schlafquartier, mit 6 bis 12 anderen Arbeiterinnen wohnen, für das sie selbst verständlich bezahlen müssen,
auch wenn es dreckig, laut und kalt ist, dann kommen sie vielleicht von draußen herein, nach einer Fahrt mit dem Sammeltaxi, wenn sie es
sich leisten können, oder, was wahrscheinlicher ist, nach einem langen Fußmarsch. Im Gegensatz zu ihrem Zuhause sieht es in der FHZ,
wenn Sie Glück haben, sehr sauber aus. Es gibt Straßen, Fußwege, vielleicht sogar Gras und Bäume. Das muss aber nicht so sein. An den
vielen Gebäuden stehen keine Namen, die produzierenden Unternehmen halten sich bedeckt. Es ist nicht gut, wenn zu viel nach außen
dringt. Es ist gut möglich, aber das wissen Sie wohl nicht, dass das Unternehmen für das Sie arbeiten, sein Grundstück für sehr wenig Geld
bekommen hat, u. U. sogar umsonst. Sie wissen aber sehr genau, dass ihr Arbeitstag 12 bis 16 Stunden dauert, und ihre Arbeitswoche 6
Tage umfasst; sie arbeiten 10 bis 12 Stunden täglich, ohne Überstunden, unbezahlte natürlich. Dafür bekommen Sie pro Tag einen bis zwei
Dollar. Urlaub wird nicht gewährt, auch kein Krankengeld. Gewerkschaftliche Betätigung ist verboten und führt zur Entlassung, ebenso wenn
sie schwanger werden sollten.
Ihre Arbeit ist anstrengend und eintönig. Und gesundheitsschädigend. Sie wissen zwar nicht genau warum, aber ihr Husten, ihre
Ausschläge, ihre Kopfschmerzen, all das kannten sie vorher nicht, und ihre Kolleginnen klagen auch darüber. Wenn Sie auch nicht wissen
warum, sehen Sie doch, wie stickig, schmutzig und heiß es da drinnen ist. Während der Arbeit dürfen Sie nicht sprechen, und wenn Sie zu
langsam arbeiten, werden Sie angebrüllt, manchmal sogar geschlagen. Der eine oder andere Aufseher hat schon mehrfach anzügliche
Angebote gemacht. Nun haben Sie Angst auf die Toilette zu gehen, auf die Sie nur dürfen, wenn Sie vorher gefragt und die Erlaubnis dazu
erhalten haben. Natürlich mit dem entsprechenden Lohnabzug. Sie wissen, dass eine ihrer Kollegen dort vor nicht langer Zeit vergewaltigt
worden ist, daher vermeiden Sie es, wenn möglich dorthin zu gehen. Wenn Sie könnten, würden Sie eine andere Arbeit suchen, doch es
gibt keine. Und so bleibt Ihnen keine andere Wahl. Sie und ihre Kinder brauchen das Geld, wenn es auch nicht viel ist. Überleben hat
Priorität.
Diese Darstellung ist nicht übertrieben. 80% aller Beschäftigten in den FHZs sind Frauen. Die Frauenbewegung "Maria Elena Cuadra" in
Nikaragua konnte Interviews mit 2.562 Frauen machen. In Nikaragua heißen die FHZs "Maquilas". In den Maquilas Nikaraguas stieg das
Exportvolumen von 3 Millionen Dollar (1992) auf 182 Millionen (1998). Der Verdienst der Arbeiterinnen liegt zwischen 55 und 80 US-Dollar.
85% der Frauen dort sind unter 26 Jahre alt, 70% allein erziehende Mütter mit bis zu 4 Kindern. 63% sagten, dass sie im Falle eines
Arztbesuches ihr Gehalt gekürzt wird, 57%, dass sie keine Atemschutzmasken bekämen, die sie vor dem Fliesenstaub schützen würde, der
Grund für ihre Atem- und Lungenbeschwerden, sowie ihrer Allergien. 35% mussten um Erlaubnis für den Toilettengang fragen, 50 der
interviewten Frauen gaben an, verbal oder physisch misshandelt worden zu sein, während 31 angaben, dass sie sexuell belästigt, bzw.
missbraucht wurden. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Alle (!) Interviewten beklagten, dass sie sich am Ende des Dienstes vor
ihren Vorgesetzten ausziehen mussten, um sicher zu stellen, dass sie nichts entwendet hätten. ("Atabal de Nicaragua" - Informationsblatt
zur Solidaritätsarbeit in Nikaragua Nr. 42/2000).
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Abbildung 51: Arbeitspause (Schuhfabrik/China)
Nike z. B. hat jeden Arbeitsschritt der Produktion genauestens berechnet. 22 Handgriffe sind danach nötig, um ein Sweatshirt herzustellen,
wofür insgesamt 6,6 Minuten Zeit zu Verfügung stehen. Ein Sweatshirt von Nike kostet in den USA 22,99 Dollar. Dem stehen 8 Cent
Produktionskostengegenüber. Die Arbeitskosten für ein Sweatshirt von Nike betragen danach nur 0,3%. Für die Werbung ihrer
Markenprodukte gibt Nike deutlich mehr aus als für ihre Herstellung, 2,30 Dollar pro Hemd, fast 30-mal so viel wie für den Arbeitslohn. 95%
der Firmen aus der Spiel-, Textil- und Sportwelt beteiligen sich an dem, was Charles Kernaghan das "Rattenrennen" nennt. Die Menschen in
den armen Ländern haben keine Chance. Wenn sie protestieren, dann ziehen die Konzerne weiter. Allein Wal-Mart setzt 259,3 Milliarden
Dollar um und ist damit wirtschaftlich stärker als 161 Nationen. Für Wal-Mart ist die Welt ein Schachbrett, mit 200 Millionen arbeitslosen
Chinesen, 120 Millionen von ihnen sind Wanderarbeiter und warten darauf, dass Wal-Mart den nächsten Zug setzt, in China so hoffen sie.
(alle Zahlen Greenpeace Magazin (GPM) 3/04).
In den EPZs werden aber nicht nur Menschen zerstört, sondern auch die Umwelt. Die mexikanischen FHZs, die „Maquiladoras“, gehören zu
denjenigen, die am besten dokumentiert worden sind. Die meisten der dort produzierenden Fabriken sind in amerikanischen Besitz. Die
Grenze nach Mexiko ist lang, die Arbeitslosigkeit hoch, die Menschen hungern geradezu nach Arbeit. 1992 gab es 2100 solcher Betriebe,
mit 500.000 Arbeitern, die 20% der Fertigungsproduktion Mexikos ausmachten. Die mexikanische Umweltbehörde schätzt, dass etwa die
Hälfte der 2.100 in den FHZ`s ansässigen Fabriken Giftmüll produzieren. Nur 307 von ihnen hatten dafür allerdings eine offizielle
Genehmigung. Mitte der neunziger Jahre stellte eine amerikanische Nichtregierungsorganisation (NGO), die "National Toxics Campaign", in
der Umgebung einiger Fabriken extrem hohe Schadstoffmengen fest, auch in ihren Abwässern. Die Fabriken lagen sämtlich auf
mexikanischer Seite im Grenzgebiet von Texas. Die NGO fand vor allem das Lösungsmittel Xylol, hinsichtlich Xylol wurde der Grenzwert für
Trinkwasser in den Proben um das 6.000 fache überschritten. Spätere Tests ergaben eine 50.000-mal höhere Xylol-Konzentration, wie sie in
den USA erlaubt ist, und für ein anderes Gift, Methylenchlorid, dass dort ebenfalls entdeckt wurde, gar das 215.000 fache des in den USA
tolerierten Grenzwertes. Die Folge waren auf beiden Seiten der Grenze eine deutliche Zunahme von Anencephalie (= fehlende Ausbildung
des Gehirns) und Spina bifida (= offene Wirbelsäule). Zwischen 1990 bis 1992 traten insgesamt 83 Fälle auf. In den USA 30, in Mexiko 53.
27 amerikanische Familien aus Brownsville (USA) verklagten darauf 1993 88 Betriebe, die in Matamorors (Mexiko), produzierten, darunter
Partner von internationalen Markenfirmen wie General Motors, Union Carbide (berühmt berüchtigt geworden durch die Chemiekatastrophe
im indischen Bhopal 1984), Fischer Price und Zentih Electronics. Sie machten diese Firmen für ihr Leiden verantwortlich, für die Freisetzung
der Giftcocktails, die mit den vorherrschenden Winden jenseits der amerikanischen Grenze ständig zu ihnen hereinwehten. 110 Kinder aus
Matamoros wiesen Missbildungen wie z. B. das Down-Syndrom auf, und eine Reihe andere. 76 dieser Mütter hatten als Schwangere bei
"Mallory Capacitors" gearbeitet, einem FHZ-Betrieb, der elektronische Bauteile herstellte. Während ihrer Arbeit kamen sie ständig mit dem
hochgiftigen PCB in Kontakt. (Alexander Goldsmtih: Freihandelszonen in der globalisierten Wirtschaft", Schwarzbuch der Globalisierung,
Kapitel 9).
Umweltverschmutzung, und die daraus resultierenden Gesundheitsprobleme, sind neben der schlechten Bezahlung und den
menschenunwürdigen, sklavenartigen Arbeitsbedingungen, die gewichtigsten Probleme für die in den EPZs arbeitenden Menschen. Die
jungen Menschen dort stellen Dinge her, die sie sich niemals werden leisten können, Waren, die außerhalb ihrer monetären Reichweite
bleiben, und das, obwohl sie ständig mit ihnen zu tun haben. "Die globale Ökonomie ist außer Kontrolle", meint Charles Kernaghan. Wir im
Westen sehen nur die Tiefstpreise, aber nicht das, was diese Tiefpreise erst möglich macht. (GPM 03/04). Charles Kernaghan wurde im
September des Jahres 2000 in Salvador von Regierungsvertretern zwangsweise aus dem Flugzeug geholt, auf Drängen Nikaraguas. Er war
auf dem Weg nach Managua, wo er den Streik der dortigen Arbeiterinnen gegen "Chentex Garmet S. A." unterstützen wollte. Chentex
Garmet S. A. gehört den Taiwannesen Nien Hsing. Er produziert dort täglich 20.000 Jeans im Auftrag von Wal-Mart in der FHZ von "Las
Mercedes". Für den amerikanischen Markt.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Wenn Sie das nächste Mal neue Turnschuhe von Puma kaufen, oder von Adidas, wenn Sie ein neues Sweatshirt von Benetton in den
Händen halten, blicken Sie doch kurz mal auf die Innenseite, schauen Sie, wo das Produkt hergestellt wurde, wer weiß, vielleicht erinnern
Sie sich dann wieder an diese Menschen wie Wendy Diaz oder Selina, an die harten Lebensumstände in den FHZ`s mit denen die
Menschen dort täglich zu kämpfen haben.
10.5 Der Mythos der Globalisierung: Wohlstand, Freiheit und Frieden für alle
Das die Globalisierung Wohlstand, Freiheit und Wohlstand bringt ist eine nur mühsam kaschierte, propagandistische Lüge der Shogune.
Globalisierung hat auch wenig mit Internationalisierung des Handels zu tun, den gibt es schließlich schon seit langem, oder mit der
Internationalisierung von Unternehmen, auch das ist nichts Neues, nein, Globalisierung heißt in erster Linie Deregulierung des
internationalen Finanzkapitals, d.h. sein freier Fluss rund um den Globus, dorthin wo der schnelle Gewinn lockt. Ohne Computertechnologie
wäre das nicht möglich. Das Resultat ist eine gänzlich neue Weltwirtschaftsordnung: Global aufgestellte, ungemein mächtige Banken und
ihre Großkonzerne, die sich einen Dreck um die Interessen von Staaten scheren, ihrer Herkunftsländer eingeschlossen, schlachten die Erde
regelrecht aus, und zwar in dem sie sich schamlos aller zur Verfügung stehenden nationalstaatlichen Strukturen bedienen, d. h. seines
Wissens, seines Potenzials, seiner Infrastrukturen, seiner gesamten technisch-wissenschaftlichen Ressourcen und auch seiner Menschen,
dem so genannten "Humankapital". Verpflichtet fühlen sie sich niemanden und nichts mehr, nur ihrem Profit und ihren zeitwilligen Besitzern,
den Aktionären und Fondsmanagern, der ebenfalls global aufgestellten Finanzinstitute. Für die Shogune der Macht ist der Staat wenig mehr
als ein profitabler Selbstbedienungsladen. Percy Barnevik, der "Herr über ein interkontinentales Imperium der Metall- und Elektroindustrie",
drückt es so aus: "Unter Globalisierung würde ich verstehen, dass meine Gruppe die Freiheit hat zu investieren, wo und wann sie will, zu
produzieren, was sie will, zu kaufen und zu verkaufen, wo sie will, und dabei möglichst wenigen arbeits- und sozialrechtlichen
Beschränkungen zu unterliegen." (aus: "Die neuen Herrscher der Welt", Jean Ziegler).
Globalisierung, dieses wohlklingende Wort ist für uns, die wir eine wirklich "globalisierte" Welt wollen, unbrauchbar geworden, für uns, die
wir eine humanere, solidarischere, weisere Welt anstreben, mit anderen Werten, anderen Zielen, anderen Projekten, ist das „Zauberwort
entzaubert“, "… Globalisierung (ist) zum Stichwort für den totalen Weltmarkt eines schrankenlosen Kapitalismus geworden." (Hermann
Scheer Le Monde diplomatique, "Atlas der Globalisierung"). Der Pfad, den wir eingeschlagen haben ist gefährlich, denn "Der Tanz ums
Goldene Kalb ist schon einmal schief gegangen." (Heiner Geissler, „Die Zeit“, 11.11.2004),
Geschichtliches zur Globalisierung. Ein Blick in die Geschichte hilft uns, die gegenwärtigen politischen und ökonomischen
Entwicklungen besser zu verstehen. Zwei Dinge müssen wir vorher aber noch klarstellen.
- Erstens: Unseren Reichtum haben wir gestohlen. Die Raubzüge früherer Tage heissen Kolonialismus und Imperialismus. Sie sind
untrennbar mit der "Niederländisch-Ostindischen Kompanie" (Indonesien) und der "Britisch-Ostindischen Kompanie" (Indien) verbunden,
ebenso wie mit den spanischen Eroberern der Neuen Welt, den Conquistatoren Hernando Cortez (Mexiko) und Franzisko Pizarro (Peru).
Von den Altären unserer Kirchen strahlt uns das eingeschmolzene Gold der Inkas und Azteken entgegen. Ebenso aus den Prunksälen
unserer Königshäuser. Die weltweiten Kriege und Raubzüge unserer europäischen Vorfahren brachten den entscheidenden Anfangsvorteil,
den das rückständige, arme Europa zu seiner Industrialisierung brauchte. Sicherlich, dies ging einher mit einer ungeahnten Explosion
naturwissenschaftlicher Entdeckungen und technologischen Erfindungen, mit einer enormen Zunahme menschlicher Erkenntnis, aber ohne
die geraubten Reichtümer der damaligen Welt wäre die ungeheure Entwicklung Europas in solch kurzer Zeit niemals zu finanzieren
gewesen. Dies ist hinlänglich belegt. Wer daran verzweifelt, dem empfehle ich das Buch "Die offenen Adern Lateinamerikas". Eine Vielzahl
der heutigen Konflikte hat ihre Wurzeln in dem kolonialen Erbe Europas, die vielen, völlig willkürlich gezogenen Grenzlinien wie etwa in
Kaschmir, Palästina, Irak oder in den Staaten Afrikas, gehören dazu, ohne den Kolonialismus Europas uns wären sie obsolet. Aus all dem
erwächst den reichen Ländern des Westens eine besondere Verantwortung und Verpflichtung.
Zweitens: Nun etwas für unser Verständnis sehr Wichtiges. Dass, was wir heute als Globalisierung bezeichnen, haben die USA innerhalb
ihres Staatenbundes schon deutlich früher durchmachen müssen, in einer Epoche, die als "Gilded Age" bekannt ist. Charles Derber
berichtet in seinem Buch "One World" ausführlich darüber, ihm wollen wir hier folgen. Für die USA war das eine immens wichtige Epoche
mit entscheidenden Weichenstellungen, an deren Ende US-Präsident Rutherford Hayes 1876 fast schon resignierend ausrief: "Dies ist nicht
länger eine Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk. Es ist eine Regierung der Unternehmen durch Unternehmen und für
Unternehmen" (Charles Derber). Was war geschehen? Das "Gilded Age" umfasst einen geschichtlichen Zeitraum im 19. Jahrhundert der
USA, als es den aufstrebenden Unternehmen dort gelang, die bestehenden Gewerkschaften zu zerschlagen und die demokratischen
Institutionen für ihre Interessen einzuspannen, gestützt auf Korruption und Bestechung, Wahlmanipulation und auf den Urteilen einer Justiz,
die mit sympathisierenden Richtern durchsetzt war. Amerikanische Bundesstaaten begannen gegeneinander zu konkurrieren, um
Unternehmen zu bewegen, sich in ihren Staaten anzusiedeln. Sie begannen sich zu unterbieten, was die Steuersätze anging, und zu
überbieten, was unternehmerfreundliche Gesetze betraf. Unternehmen entließen ihre Arbeiter, schlossen ihre Tore, da sie in diejenigen
Bundesstaaten abwanderten, die weniger Steuern von ihnen verlangten, dorthin, wo die Sozial- und Umweltstandards weniger
anspruchsvoll waren, die Arbeiter weniger Rechte besaßen, da die Gewerkschaften entweder zerschlagen waren oder sich erst gar nicht
bilden konnten. Damals passierte im "Kleinen", was wir heute im "Großen" beobachten. Gesetze wurden geändert, Verfassungen
"korrigiert", die Schutzorganisationen der Arbeiterbewegungen kriminalisiert, verboten, deren Mitglieder inhaftiert und nicht selten auch
ermordet.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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1896, nach einer langen Periode des Abwehrkampfes, wurde mit dem Wahlsieg McKinelys zum amerikanischen Präsidenten, dieser
Prozess beendet, einem Prozess vor dem US-Präsident Thomas Jefferson schon im Jahre 1816 ausdrücklich gewarnt hatte: "Ich hoffe,
dass wir die Aristokratie im Keim ersticken können, die unsere reichen Kapitalgesellschaften im Sinn haben, die es bereits wagen, die
Regierung zum Machtkampf herauszufordern und sich den Gesetzen unseres Landes widersetzen." (Charles Derber, "One World"). J. D.
Rockefellers Aussage, er habe sein Geld von Gott, war also nicht ganz korrekt, in erster Linie hatte er sein Reichtum wohl den
arbeiterfeindlichen Gesetzen zu verdanken, die von 1890 bis 1910 vor den Gerichten der USA durchgeboxt wurden. Schon 36 Jahre zuvor,
der verheerende amerikanische Sezessionskrieg (1861 - 1865) war noch im vollen Gange, ahnte Abraham Lincoln, der erste Präsident der
USA, was kommen sollte: "Als Folge des Krieges sind Unternehmen inthronisiert worden; eine Ära der Korruption auf hoher Ebene wird
folgen, indem sie sich die Vorurteile des Volkes zunutze macht, bis der gesamte Reichtum in wenigen Händen konzentriert ist und die
Republik zerstört wird. Ich habe in diesem Augenblick mehr Angst um die Sicherheit meines Landes als jemals zuvor, sogar mitten im Krieg.
Gott gebe, dass meine Befürchtungen sich als unbegründet erweisen." (Charles Derber, "One World").
Leider hat Gott ihn nicht erhört, all seine Befürchtungen sind eingetreten und noch viel mehr. Selbst Karl Marx und W. I. Lenin in ihrer
Weitsicht konnten nicht vorausgesehen, welch` unglaubliche Macht, welch` unglaublicher Reichtum sich in den Händen weniger
multinationaler Konzerne und ihrer Banken knapp 150 Jahre später akkumuliert haben sollte. Die Ära der Räuberbarone am Ende des 19.
Jahrhunderts in den USA war im Grunde genommen die Antizipation der Globalisierung auf amerikanischem Boden. Charles Derber erkennt
darin „die Seele der Globalisierung“. (One World).
Wie erfrischend radikal waren dagegen noch jene frühen Streiter in Sachen Demokratie und Unternehmensaufsicht. Man muss sich das
einmal heute vorstellen: In den Anfangszeiten der Vereinigten Staaten waren die Banken und Unternehmen in den USA äußerst strengen, ja
geradezu rigorosen Gesetzen unterworfen. Sie mussten z. B. nachweisen dem Gemeinwohl zu dienen, ja sogar, dieses zu fördern,
andernfalls wurden sie dicht gemacht. Manche Bundesstaaten waren den Banken gegenüber derart misstrauisch, dass sie ihnen
grundsätzlich nur eine befristete zehnjährige Existenzberechtigung einräumten. Der Kampf radikaler Demokraten war beispiellos, und doch,
am Ende wurde er verloren. Dass neoliberale Amerika von heute wäre nicht denkbar, ohne diese Epoche aus denen Giganten wie Standard
Oil, U. S. Steel , General Motors, General Elektrik, die Morgan Bank u.v.a m. hervorgingen. Wir können viel von dieser Epoche lernen, wir
können daran erkennen, dass die Welt von morgen, dem Amerika von heute entsprechen wird. Und das bedeutet de facto: die Abschaffung
der Nationalstaaten, ein System, in dem staatenloses Kapital durch globale Finanzmärkte, supranationale Institutionen und subnationale
Behörden regiert wird und nationale Regierungen, die machtlos den Interessen der Shogune ausgeliefert sind. (Charles Derber, „One
World“).
- Die Lüge eins: Globalisierung bringt Freiheit. Unsere Shogune tun zwar demokratisch, aber an Demokratie sie nicht wirklich
interessiert, denn Welthandel, Globalisierung, Profitmaximierung, all das funktioniert auch ohne Demokratie blendend. Das, was unsere
feinen Herren nervös macht, ist dagegen Chaos und Unordnung. Unordnung bedeutet Instabilität, Instabilität aber schmälert den Gewinn.
Unter Diktaturen ist Instabilität sehr unwahrscheinlich, unter Diktaturen herrscht Ruhe im Land. Handel funktioniert unter autoritären
Regimen ausgezeichnet. Das müssen wir wissen, wenn wir über Menschenrechte schwadronieren, über Folter, Krankheit, Elend, Hunger.
Wenn Angela Merkel in China in Sachen Demokratie auf den „Tisch haut“ ist das scheinheilig, denn wenn die Kameras erst einmal
ausgeschaltet sind, interessiert das niemanden mehr, dann zuckt der Tross der Manager im Gefolge Angelas seine Scheckhefte, dann
werden die lukrativen Verträge unterzeichnet, etwas, was die unterdrückten und ausgebeuteten Völker drastisch am nackten Leibe erfahren.
Dass unsere Shogune Antidemokraten sind, diese Tatsache müssen wir sehr ernst nehmen. Mögen unsere eloquenten, distinguierten
Herren auch hoch kultiviert erscheinen, mögen sie Goethe, Schiller, Hegel, Kant in ihrer Laudatio huldigen, mögen sie ihre Kinder und Enkel
auf humanistische Schulen und Universitäten schicken, ihre Taten sprechen eine völlig andere Sprache. In ihren Unternehmen zeigen sie,
welch Göttern sie wirklich huldigen: Wenn es darauf ankommt, wenn es Ernst wird, dann entscheiden sich unsere Shogune für das Unrecht,
die Amoral, die Unfreiheit, die Ausbeutung, die Sklaverei, ganz so wie sie es in ihrem „Berufsalltag“ gewohnt sind und wie es die Gesetze
der Globalisierung von ihnen erfordern. Sachzwänge nennt man das wohl. Fest steht: Unentwegt beugen unsere Shogune die Rechte der
Völker und Menschen, ohne Skrupel, verraten sie die Werte und Ideale der Aufklärung, ohne mit der Wimper zu zucken, zerstören sie das
Leben und die Ressourcen dieser Erde, Moral können sie sich nicht leisten, die Gesetze des Marktes sind unerbittlich, auch ihnen
gegenüber. In der Schlacht des Kapitals bleiben die Mäntel der Freiheit unbeachtet an den Kleiderhaken der Profitmaximierung abgehängt.
Ja, so ist es: Wenn grundlegende, eigentlich nicht verhandelbare Menschenrechte massiv verletzt werden, wenn diktatorische Staaten
freiheitliche Grundrechte einschränken und mit den Füßen treten, Grundrechte, die niemals zur Verhandlungsmasse gehören, niemals zur
Disposition stehen dürften, dann schauen sie einfach weg unsere Eliten, dann sind unsere Shogune auf mindestens einem ihrer Augen
blind, und zwar deshalb, weil die Unternehmensziele, die politischen Umstände, die Staatsräson, die wirtschaftlichen Sachzwänge oder die
künftigen Profitaussichten dies opportun erscheinen lassen. Denken wir nur an den grausamen militärischen Konflikt in Tschetschenien, und
an die uns alle so ans Herz gehende "Männerfreundschaft" zwischen Gerhard Schröder und Wladimir Putin, oder auch an die boomenden
Geschäfte des Westens mit der VR China, immerhin das Land des Tia-an-em Massakers von April 1989, mit 3.000 bis 5.000 Toten, einem
Land, in dem bis heute der überwältigenden Mehrheit die grundlegendsten demokratischen Menschenrechte vorenthalten werden. Offiziell
hat die EU gegenüber der VR China ein Waffenembargo verhängt, inoffiziell stellte die EU allein im Jahr 2003 159 Exportgenehmigungen für
Waffenverkäufe aus, mit einem Gesamtvolumen von 415,8 Millionen Euro. Das Waffenembargo Chinas wird von den Europäern immer
wieder zur Disposition gestellt, ein Vorgang, den ein demokratischer Kongressabgeordneter in den USA mit folgenden Worten geißelte: "Es
zeigt sich, dass die Europäer ihren moralischen Kompass verloren haben. Der Grad an Zynismus und Habgier, den einige europäische
Führer zur Schau stellen, dreht einem den Magen um." (SZ, 8. Februar 2005). Da mag er wohl Recht haben, obwohl wir den USA in dieser
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Hinsicht wohl auch nicht all zu viel zutrauen dürfen. Die unsichtbare Hand des Marktes, soviel ist klar, bringt keine Menschenrechte hervor:
Geld kennt kein Gewissen, Geld ist an Demokratie nicht interessiert.
Aber nicht nur in "fernen" Ländern, auch bei uns können wir gegenwärtig einen erosionsartigen Verlust von freiheitlichen Rechten erkennen.
Es ist wirklich erstaunlich wie wenig Protest sich angesichts von Überwachungskameras auf öffentlichen Plätzen, Augenscannern in Pässen,
gesundheitsrelevanten Daten auf Chipkarten, Aushebelung des Bankgeheimnisses für die Finanzämter, Offenlegung der finanziellen
Situation bei HARTZ IV usw., usf.. erhebt, Vorgänge, die erheblich in die Persönlichkeit des "kleinen" Menschen eingreifen, und die fast
ohne Widerstand hingenommen werden, als handele es sich dabei um Peanuts. Die Unternehmen dagegen haben Narrenfreiheit, sie lassen
sich von niemanden in die Karten schauen, sie können tun und lassen wie es ihnen beliebt.
Was wir aus der Wiederwahl George W. Bush lernen können ist, so der italienische Philosoph Paolo Flores d`Arcais in der „Zeit" vom
20.1.2005, dass die Herzen der Menschen vor allem durch das leidenschaftliche Eintreten für eine lohnenswert erscheinende Sache
gewonnen werden. George Bush hat in erster Linie die Wahl gewonnen, weil er die Moral zu seiner Sache erklärt hat, die "moral values",
gewürzt mit einer gehörigen Portion christlichem Fundamentalismus. Was haben wir dem entgegenzusetzen, wir, die wir uns den
ehrwürdigen Idealen der Aufklärung verpflichtet fühlen? Nicht viel, wenn wir unsere Ideale gewissenlos an jeden Meistbietenden verhökern,
wie seelenlose Krämer, die alles und jedes verkaufen, die jede Art von Ware an den Mann bringen, Hautsache sie bringt genug Geld. Wenn
wir mit Mördern, Dieben und Betrügern Geschäfte machen? Wenn wir Antidemokraten gewähren lassen, nur weil sie ihren Boden Erdgas
liegt oder ihre Grenze Afghanistan berührt? Wenn wir selbst die Menschenrechte missachten, und damit zu dem werden, was wir
bekämpfen? Die Freiheit ist ein zartes Pflänzchen, sie muss beschützt werden, von uns Demokraten. Niemals darf sie zur Disposition
stehen. Käuflichkeit und Bestechlichkeit ist ihre Sache nicht. Die Shogune des Kapitals jedenfalls haben Angst vor diesem Pflänzchen, denn
"je mehr die reale Demokratie ausgeweitet wird," so nochmals Paolo Flores d`Arcais, "desto mehr fühlt sich … (das) Establishment …
bedroht - und bedroht seinerseits die Fundamente der Demokratie; von der Autonomie der Richter bis zum kritischen Journalismus. Es stellt
den laizistischen Charakter des Staates ebenso in Frage wie die Chancengleichheit bei Wahlen. Am Ende gilt die Logik des Gehorsams", da
wird der "Dissens, der das demokratische Zusammenleben begründet“ kriminalisiert und „Konformismus zur Bürgertugend.“
Hinsichtlich der Freiheit argumentieren die Shogune gerne wie folgt: „Je mehr internationaler Handel, desto mehr gegenseitiger Nutzen,
desto mehr Öffnung und daher mehr Freiheit. Am Ende werden die Diktaturen dieser Welt dem Sturm des freien Welthandels nicht
standhalten, sie werden dahin schmelzen, wie der Schneemann in der Sonne. World peace through worldtrade - Weltfrieden durch
Welthandel.“
Berechtigte Zweifel sind angebracht, denn wie ich oben schon sagte, der Neoliberalismus funktioniert auch ohne Freiheit nicht schlecht. Die
Kapitalokratie braucht Stabilität, keine Freiheit. Dementsprechend lang ist die Liste der Militärinterventionen und der inszenierten Putsche:
Iran (1953), Guatemala (1954), Indonesien (1966), Chile (1973), Honduras (1975), Argentinien (1976), Salvador (1979), Nikaragua (1982),
Grenada (1983), Panama (1989) - um nur einige zu nennen. Als Kriege wären zu nennen: Korea (1950), Vietnam (1954/1964), Angola
(1976), Mozambique (1984), Kuba (1952), Irak (1963), Iran (1951), Kongo (1965), Afghanistan (1996). Kuwait (1991), Irak (2003) – noch
mehr Beispiele? Widerspenstige Staaten werden militärisch angegriffen, wirtschaftliche Einflusssphären werden geschaffen, Ökonomien
zurecht gestutzt, nationalistische Politiker gestürzt, korrupte Politiker implementiert - all das im Namen der Freiheit.
Dumm gelaufen, Pech gehabt, wenn dann Verbrecher wie Saddam Hussein, mittelalterliche Gotteskrieger wie die Taliban, oder verzogenen
Millionäre wie Osama bin Ladin unerlaubt aus der Reihe tanzen und nicht mehr "richtig" mitspielen. Auch bei nationalistisch gesinnten
Diktatoren, oftmals ausgebildet und eingesetzt von der CIA, kann schon mal was schief laufen, ich denke da z. B. an General Noriega in
Panama, der meinte sich den vitalen Interessen der USA widersetzen zu können, allerdings die politisch und ökonomisch relevante
Tatsache unterschätzte, dass der Panamakanal durch sein Land verläuft. Diktatur Mobuto aus Zaire dagegen schien absolute Narrenfreiheit
zu besitzen. Vielleicht lag das an seinem syphilitisch zerfressenem Gehirn, wie manch einer vermutet, vielleicht aber auch an den vielen
Rohstoffen wie Kupfer, Kobalt oder am Molybdän in seinem Land oder auch an den vielen Diamanten, wer weiß, jedenfalls konnte er die
Menschen im rohstoffreichsten Land Afrikas, dem heutigen Kongo, ganz nach Belieben 32 Jahre lang tyrannisieren. Nicht das die UDSSR
anders "arbeitete", aber wir sprechen hier vom Neoliberalismus und seinen Apologeten, und in diesem Zusammenhang müssen wir einfach
vor unserer eigenen Haustür kehren… Jean Ziegler kommt angesichts dieser Fakten zu folgendem Schluss: "Überlang ist die Liste von
mörderischen Regimes, die auf unseren Planeten wüten, obwohl sie durch Privatisierung und den freien Strom von Kapital angeblich geeint
und reformiert sind. Den Despoten geht es glänzend - von Usbekistan bis Irak, von Honduras bis Tadschikistan, von Georgien bis Burma,
von Burkina-Faso bis Liberia, von China bis Nordkorea."
World peace through worldtrade, das könnte sogar funktionieren, doch dazu müssten wir den ökologischen und ökonomischen Weltkrieg auf
der Ede beenden, dazu müssten wir diejenigen Werte leben, die wir als unser jüdisch-christlich-griechisches-aufklärerisches Erbe
bezeichnen. Bis dahin wird der Welthandel der Weltbevölkerung keine Freiheit bringen, denn zu den Grundvoraussetzungen von Freiheit
gehört, dass ich mein persönliches Schicksal selbst in die Hand nehmen kann, dass mir eine Wahl bleibt, dass meine grundlegenden
menschlichen Bedürfnisse zumindest im Ansatz befriedigt werden, Essen, Trinken, Kleidung, ein Dach über den Kopf. Zur Freiheit gehören
befriedigende menschliche Beziehungen, eine adäquate Gesundheitsversorgung, Bildung und Wissen, Gleichberechtigung, ein Staat, der
seinen Bürgern zumindest ein bestimmtes Minimum an sozialer Absicherung zur Verfügung stellt, der die freiheitlichen und sozialen
Grundrechte eines Menschen schützt und aktiv gegen Übergriffe verteidigt. All das muss irgendwie Ausdruck in dem Selbstverständnis
eines Staates finden. Unter der Knute des Neoliberalismus ist das undenkbar.
- Die Lüge zwei: Globalisierung bringt Frieden. Zu Frieden gehört weitaus mehr, als die Abwesenheit militärischer
Auseinandersetzungen, ebenso wie zur Gesundheit weitaus mehr gehört, als die Abwesenheit von Krankheit. Militärische Konflikte sind die
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bewaffnete Fortsetzung der ökonomischen Konflikte, und diese wiederum haben ihre Ursache im menschlichen Geist. Es steht außer Frage,
dass das letzte Jahrhundert das "Jahrhundert der Kriege" war, und wer dafür die Hauptverantwortung trägt. Die meisten kriegerischen
Konflikte, mit den meisten Opfern, den meisten Grausamkeiten, wurden ausgerechnet von denjenigen Staaten ausgetragen, die von sich
behaupten, am weitesten entwickelt zu sein, die ihr Selbstverständnis und ihre Traditionen aus der Aufklärung und dem Christentum
ableiten. Es sind diejenigen Staaten, die die meiste Macht hatten und noch heute haben.
Von 1945 bis zum Jahre 2002 waren allein Großbritannien, die USA und Frankreich in 60 militärischen Konflikten verwickelt. Zählen wir die
"Stellvertreterkriege" des Kalten Krieges (Angola, Mozambique, Salvador, Nikaragua usw.) hinzu, wird diese Bilanz noch weitaus schlechter.
Ebenso, wenn wir die inszenierten Staatsstreiche (Iran, Chile, Argentinien, Brasilien) hinzuaddieren. Allein im Jahr 2002 fanden weltweit 44
kriegerische Konflikte statt. Darin kamen nach vorsichtigen Schätzungen "… mehr als 7 Millionen Menschen zu Tode … , die meisten von
ihnen Zivilisten. Dabei ist die Zahl der Todesopfer lediglich ein, wenn auch der bedrückendste Indikator für die zerstörerische Gewalt dieser
Kriege: Die Zahlen der Verwundeten, Vertriebenen und Flüchtlinge, die oftmals um ihr gesamtes Hab und Gut gebracht wurden, liegen sehr
viel höher." ("Stiftung Entwicklung und Frieden" für das Jahr 2004/2005). Die Aussichten für die Zukunft sind nicht gerade rosig, "da sich
besonders hartnäckige, auch ökonomisch verankerte Kriegsformen herausgebildet haben, gelegentlich auch als "neue Kriege" bezeichnet.
(…). Durch den rasanten Anstieg der Weltbevölkerung und ihrem verständlichen Wunsch, den westlichen Lebensstandard zu erreichen, wird
der Druck auf die Ressourcen der Erde in nächster Zeit noch stärker anwachsen, insbesondere auch was die Nahrungsmittel- und die
Wasserversorgung angeht. Es ist anzunehmen, dass die nächsten großen Kriege sich darum drehen werden."
Abbildung 52: Häuserkampf (Irak 2007)
Das Jahr 2003 zählte mit insgesamt 19 größeren militärischen Konflikten in 18 Regionen der Erde zu einem der "friedlichsten" Jahre nach
dem Beendigung des kalten Krieges, dem niedrigsten Stand seit 1964, trotz Irak. Die Hauptmassenvernichtungswaffen sind übrigens
konventionelle Waffen, sprich Handfeuerwaffen. Jede Sekunde stirbt ein Mensch durch eine Handfeuerwaffe. Es fällt auf, dass die "gefühlte"
Gefahr der Bedrohung der "realen" Gefahr in keiner Weise stand hält. Dem Terrorismus muss entschieden entgegengetreten werden, aber
er ist eher ein Nebenkriegsschauplatz. 2003 fielen 625 Menschen terroristischen Akten zum Opfer, demgegenüber starben 11 Millionen
Menschen an behandelbaren Infektionskrankheiten. Nur damit die Relationen klar sind. Die reichen Länder des Westens geben zehnmal
mehr für die Rüstung aus, wie für die Entwicklungshilfe.
Schließen wir uns der Auffassung Jean Zieglers an, dem Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission für das Recht auf
Nahrung, dass die militärischen Konflikte lediglich die Fortsetzung der wirtschaftliche Konflikte sind, dann befinden wir uns mitten im Dritten
Weltkrieg: "Die Zahl der in den 122 Ländern der Dritten Welt durch wirtschaftliche Unterentwicklung und extreme Armut verursachten
Todesfälle belief im Jahr 2001 auf etwas über 58 Millionen. Von schwerer und dauerhafter Invalidität aus Mangel an Einkünften, Nahrung
und Trinkwasser sowie durch fehlenden Zugang zu Medikamenten sind mehr als eine Milliarde Menschen betroffen. Anders gesagt: Hunger,
Seuchen, Durst und armutsbedingte Lokalkonflikte zerstören jedes Jahr fast genauso viele Männer, Frauen und Kinder wie der Zweite
Weltkrieg in sechs Jahren. Der Dritte Weltkrieg ist unzweifelhaft in Gang." Opfer eines Krieges sind immer zuerst die Schwachen, z. B. die
100.000 Kinder, die Tag für Tag sterben, weil sie keinen Zugang zu den grundlegenden Ressourcen dieses Planeten haben, oder die
geschätzten 300.000 Kindersoldaten in den 17 Ländern unserer Erde, die töten und dabei selbst physisch und psychisch zerstört werden,
mit Waffen, die wir, die Bewohner aus den reichen Ländern des Westens, gewinnbringend an korrupte Regierungen und Warlords
verkaufen. Opfer dieses Krieges sind aber auch die Kinderprostituierten an der deutsch-tschechischen Grenze, die gehandelt werden wie
fleischliche Ware und sich in ihrer Not auch noch mit dem AIDS-Virus, Hepatitis B und Syphilis infizieren. Der Dritte Weltkrieg hat viele
Gesichter.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Etwa 35 Milliarden US Dollar wurden im Jahr 2003 durch Waffenhandel umgesetzt. Die Dunkelziffer liegt sehr viel höher. Die größten
Rüstungskonzerne der Welt sind Lockheed Martin (USA/23,3 Milliarden Dollar Umsatz), Boeing (USA/22,0), Raytheon (USA/15,3), BAE
Systems (Großbritannien/15,0), Northtrop Grumman (USA/ 12,3). Was die Rüstungsexporte angeht liegt Russland (7 Milliarden US Dollar) in
Führung gefolgt von USA (4,4), Frankreich 1,8) und Deutschland (1,5). Im Zuge der Terrorismusgefahrdebatte schnellten die
Rüstungsausgaben weltweit um 11% nach oben, auf 956 Milliarden US Dollar, fast die Hälfte (417) entfällt davon auf die USA. Ihr folgen
Japan (47), Frankreich (35), VR China (33), Großbritannien (31) und Deutschland (27). Deutsche Präzisionswaffen Schusswaffen (Heckler
und Koch) sind sehr begehrt bei den Militärs, wie auch bei Terroristen, deutsche Pistolen und MP`s sind weltweit erfolgreich im Einsatz. Am
1. März 1999 trat das Übereinkommen über das Verbot von Einsatz, Lagerung, Herstellung und Weitergabe von Antipersonenminen (APM)
und über deren Vernichtung in Kraft. 142 Ländern haben dieses Übereinkommen ratifiziert. Die Großproduzenten USA, VR China,
Russland, Indien und Pakistan verweigern bis heute die Ratifizierung (Stand Mai 2004). Offiziell wurden im Jahr 2005 7328 Menschen von
Minen, Streubomben und anderen Munitionsrückständen getötet. Die Dunkelziffer liegt zwischen 15.000 und 20.000 pro Jahr. Vier von fünf
Getöteten sind Zivilisten. 500.000 Verstümmelte haben den Kontakt mit APM überlebt. (Stephan Goose, Human Rights Watch).
Auch wenn es sehr viel leiser um die Atomwaffen geworden ist: Die Verbreitung von Atomwaffen nimmt zu, nicht ab, und damit die Gefahr
ihres Einsatzes. Die internationale Atomenergiebehörde (IAEA) ist sehr besorgt über diese gefährliche Entwicklung. Und selbstverständlich
lagern in den Arsenalen der Militärs lagern immer noch mehr als genug Atomwaffen, um die Welt in eine nukleare Katastrophe zu stürzen.
Russland besitzt 5.606 strategische Atomsprengköpfe, die USA 5974, die VR China 260, Frankreich 338, Großbritannien 185. Hinzu
kommen abertausende substrategische Atomsprengköpfe, d.h. Atomwaffen mit kurzer Reichweite. Insbesondere hier liegt ein gewaltiges
Konfliktpozential, denn hier finden sich Staaten wie Indien (30 - 40 Atomsprengköpfe), Pakistan (30 - 50), Israel (mehr als 200) und
Nordkorea (1 - ?), und andere, die danach streben, nehmen wir den Iran. (Alle Zahlen: Jahrbuch 2005, dtv, Der Spiegel 7/2005; "Harenberg
Aktuell 2005").
Ich denke, Sie werden mir zustimmen können, wenn ich hinsichtlich der westlichen Zivilisation sage, dass unsere moralischen Zielvorgaben
den traurigen Realitäten in der Welt nicht standhalten. Die Maßstäbe, die wir für unser Zusammenleben anlegen, außerhalb unserer
Staatengemeinschaften sprechen wir ihnen ihre Gültigkeit ab. Wenn die Geschäfte bedroht sind, wenn die Profite wegschmelzen, die
Absatzmärkte wegbrechen oder wenn es schlicht um Rohstoffe geht, um Einflusssphären, um Macht, dann unterstreichen wir unsere
Argumente gerne schnell mit Gewalt, sei es monetäre oder militärische, dann verteidigen wir unsere Freiheit auch schon mal am
Hindukusch oder im Irak, in weit von uns entfernte Gebiete der Welt, in denen wir eigentlich nichts zu suchen haben, jedenfalls nicht
ungebeten.
- Die Lüge drei: Globalisierung bringt Wohlstand. Wohlstand leitet sich von "wohl-stehen" ab, davon "wie gut ich im Leben da stehe".
"Wohldazustehen" hat aber nicht nur mit Geld und Besitz zu tun, „Wohldazustehen“ bedeutet auch, dass ich eine Wahl haben muss, dass
mir eine Wahl bleibt, dass ich zwischen verschiedenen Alternativen auswählen kann. Ohne die Möglichkeit zu wählen, kann es kein "wohlda-stehen" geben. Darüber hinaus beinhaltet Wohlstand auch so etwas wie Entfaltung, Entwicklung, Verwirklichung, Erkenntnis, Wachstum,
Bewegungsfreiheit, Gleichberechtigung. In diesem Sinne müssen wir "Wohl-dazu-stehen" als ein grundlegendes Menschenrecht ansehen,
das weitaus mehr umfasst als nur unser Überleben. Mehr als die Hälfte der Menschheit wird dieses Recht heute verweigert.
-
Abbildung 53: Slum in Jakarta
Doch auch hinsichtlich des "monetären Wohlstands" hält die Realität der Propaganda in keiner Weise stand. Der Mythos in Sachen
Wohlstand lautet wie folgt: „Wenn ich reich werde, dann wirst auch Du von meinem Reichtum profitieren, denn auf einem reichgedeckten
Tisch bleibt immer genug übrig, auch für Dich.“ (= trickle-down-effect). Anders ausgedrückt: "So bald die Vermehrung von Reichtum ein
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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bestimmtes Niveau erreicht, erfolgt seine Verteilung an die Armen fast von selbst. (…). Der Milliardär erhöht den Lohn seines Chauffeurs,
(einfach) weil er im wahrsten Sinne des Wortes nicht weiss, wohin mit dem Geld." (Jean Ziegler, "Die neuen Herrscher der Welt"). In diesem
Zusammenhang wird gerne der Begriff „Popeye-Ökonomie“ oder „Popeye-Effekt“ gebraucht, ein zentraler Begriff aus dem Waffenlager der
Shogune. „Popeye-Ökonomie“ ist sozusagen „Kolonialismus rückwärts“ (Charles Derber), d.h. die großen Konzerne pumpen ihr Geld in die
armen Länder, ganz so wie Popeye den Spinat in seinen Mund, und heraus kommen starke, prosperierende Staaten wie Singapur,
Hongkong oder Taiwan. Nach Charles Derber gehört „der Popeye-Effekt zu den zentralen Illusionen der Globalisierung, die allein zur
„Beruhigung des moralischen und intellektuellen Gewissens“ des Westens dient.
Das die armen Länder vom Reichtum des Westens profitieren, ist grausamer Zynismus, der einer Untersuchung nicht standhält. Richtig
dagegen ist: Der Reichtum der Welt ist heute noch ungerechter verteilt, als er es vor 25 Jahren schon war. Wir sehen eine Welt voll von
Armut, aus der wenige "Inseln von Reichtum" (Jean Ziegler) herausragen. Ich brauche Ihnen sicherlich nicht zu sagen, wo diese Inseln zu
finden sind. In Zahlen ausgedrückt: Die Einkommen der reichen Nationen und der armen Nationen entwickeln sich ständig weiter
auseinander. 1960 war das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf in den zwanzig reichsten Ländern 16x mal so hoch wie in den armen
Ländern. 1995 betrug es schon das 37 fache. 1975 lag das zu Verfügung stehende Einkommen in den reichen Nationen bei 10.000 Dollar
pro Kopf, 1995 bei 20.000 Dollar, während es in den ärmsten Ländern nahezu gleich blieb, bei Null.
Wir wollen nun die Auswirkungen der Globalisierung darstellen. Dazu wenden wir uns zuerst der Dritten Welt zu; anschließend daran,
werden wir die Lage bei uns analysieren, denn auch in der Spaßgesellschaft geht es mittlerweile nicht mehr ganz so spaßig zu. Etwa 100
Millionen Menschen in Europa und USA sind gegenwärtig von Arbeitslosigkeit bedroht, beileibe keine Kleinigkeit. In Washington DC z. B.
lebt jedes dritte Kind unter der Armutsgrenze. Und es sieht so aus, als müssten wir uns auch in Europa langsam wärmer anziehen. Was wir
zurzeit im Westen an sozialer Demontage erleben ist beispiellos. Die Entwicklungen haben einen ungeheuren Drive bekommen.
- Inseln des Reichtums auf einem Ozean von Elend. Jeden Tag sterben auf der Welt etwa 250.000 Menschen. Durch die hohe
Geburtenrate werden sie mehr als ersetzt. Doch 100.000 von ihnen müssten eigentlich nicht sterben. Dennoch sterben sie. Sie sterben, weil
sie arm sind, unterernährt, ausgezehrt, weil sie zu wenig zu essen haben, weil ihre Kräfte langsam nachlassen, weil sie nicht mehr können.
Pro Jahr macht das summa summarum 36 Millionen Tote, alle eine Beute von struktureller Gewalt. Durchfallerkrankungen, ausgelöst durch
verschmutztes Wasser, durch unhygienische Lebensverhältnisse, das ist in der Dritten Welt nicht selten ein Todesurteil, insbesondere für
Kinder unter 10 Jahren. 1,2 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu sauberen Trinkwasser.
Jedes Jahr sterben in der Dritten Welt 5 Millionen Menschen durch Krankheitserreger, die sie durch verseuchtes Trinkwasser in ihre Körper
aufnehmen. Von diesen 5 Millionen, sind 2 Millionen (= 40 %) Opfer von Durchfallerkrankungen. Bei Kindern sind es sogar 60% (World
Vision). In den reichen Ländern leiden etwa 5% der Kinder unter 5 Jahren an Unterernährung, in den armen Ländern sind es mindestens
50%. Nach dem Welternährungsprogramm (WFP) sterben jedes Jahr mehr Menschen an Hunger als an den großen Geißeln der
Menschheit TBC, AIDS und Malaria zusammengenommen, Krankheiten, deren Opferzahlen weit jenseits der 4 Millionen Grenze liegen. Das
spiegelt sich in der Lebenserwartung der Menschen wieder. Während in den meisten afrikanischen Ländern die Lebenserwartung
dramatisch eingebrochen ist (Angola 45 Jahre, Burkina Faso 42, Namibia 42, Ruanda 47), liegt sie in Frankreich bei 76 Jahre, Tendenz
weiter steigend. Die Wahrscheinlichkeit, "… dass ein Kind vor dem fünften Lebensjahr stirbt, liegt in Frankreich oder in Kuba bei 5 Promille,
in Ländern wie Sambia, Niger oder Mali bei 20 Prozent." (Le Monde Diplomatique). Hinsichtlich des Hungers auf der Welt musste der
Direktor des WFP James Morris fast schon resignierend feststellen: "Die internationale Gemeinschaft tut (heute) sogar weniger als (noch)
vor fünf Jahren, um chronisch hungernden Familien beim Überleben zu helfen. "(FR 240/2004).
Nach Angaben der Weltbank leben 55,6% aller Menschen in Armut, d. h. mit einem Einkommen unter 2 US Dollar pro Tag. Etwa die Hälfte
von ihnen (= 23,2%) muss mit noch weniger auskommen, mit täglich 1 Dollar. Die Zahl der extremen Armut ging zwar absolut zurück, von
1990 1,292 Milliarden auf 1,169 Milliarden im Jahr 2003, doch dies lag nach der Weltbank insbesondere an den positiven Entwicklungen in
China und einigen anderen ostasiatischen Staaten wie etwa Südkorea, Taiwan, Thailand. Sie kam zu dem Fazit: "In vielen Teilen der Welt
hat sich die Situation nicht verbessert, sondern verschlechtert. (…) Die Schere, die sich in den vergangenen Jahrzehnten ohnehin weit
geöffnet hat, klafft immer weiter auseinander." ( Stiftung Frieden und Entwicklung, "Globale Trends" 2004/2005, Fischer).
Das die Globalisierung die Welt insgesamt reicher gemacht hat, ist demnach falsch. Im Gegenteil: Die globale Ungleichheit hat sich
verstärkt. Die Armut konzentriert auch nicht in ein paar vergessenen Winkeln der Erde, sie ist ein globales Problem. "Noch nie lagen Arm
und Reich so weit auseinander wie heute: 50 Millionen Menschen (= 1% der Weltbevölkerung) entsprechen dem gemeinsamen Einkommen
der ärmsten 2,7 Milliarden Menschen. "…. die Schere (geht), tendenziell immer weiter auseinander." (Le monde diplomatique).
In Zahlen: Die reichsten 20 Prozent der Weltbevölkerung verbrauchen 80 Prozent aller Ressourcen. Sie verfügen über 83 Prozent des
weltweiten Einkommens. Ihr Einkommen ist 150 mal so hoch wie das Einkommen der ärmsten 20 Prozent. 20 Prozent der Weltbevölkerung
besitzen mehr als 80 Prozent aller Kraftfahrzeuge. Sie verbrauchen rund 60 Prozent der erzeugten Energie. Die 458 Milliardäre der Erde
verfügen über mehr Reichtum, als die Hälfte der Erdbevölkerung im Verlauf eines Jahres an Einkommen erzielt. Das Privatvermögen der
225 Superreichen beläuft sich auf etwa 1.000 Milliarden Dollar, was mehr ist als die Summe des gesamten Vermögens der ärmsten 2,5
Milliarden. Das Vermögen der 15 reichsten Menschen auf der Welt übertrifft das Bruttosozialprodukt sämtlicher Staaten südlich der Sahara.
Und last, but not least: Die drei größten Aktionäre von Mikrosoft besaßen im Jahr 2000 mehr an Besitz, als alle 600 Millionen Menschen in
Afrika zusammen genommen.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Abbildung 54: Verteilung des Welteinkommens
Von 100 Menschen auf der Erde sind 57 Asiaten, 21 Europäer, 14 Nord- und Südamerikaner, 8 Afrikaner. Das macht 30 Weiße und 70
Farbige. 6 von diesen 100 Menschen besitzen 59% des gesamten Vermögens, sie kommen alle kommen aus den USA. 80 von 100
Menschen leben in ärmlichen Behausungen, 70 können nicht lesen, 50 leiden an Unterernährung, nur einer hat eine akademische Bildung,
er ist weiß und besitzt den einzigen Computer. (nach Dr. Phillip Harter Stanford Universität, aus: "Ganzheitlich handeln", Ken Wilber).
Fazit: Während die Weltwirtschaft boomt, profitiert die übergroße Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten nicht davon. Im Gegenteil:
Zwischen 1992 und 2002 ist das Pro-Kopf-Einkommen in 81 Ländern nicht gestiegen, sondern gesunken. Insbesondere in den Jahren
zwischen 1980 und 1998, also den Kernjahren der Globalisierung, kam es zu massiven Einbrüchen im Lebensstandard der Menschen, etwa
in Brasilien, Mexiko, Argentinien und natürlich in Russland. Ganz katastrophal sieht es im südlichen Afrika aus, wo es gar zu einem Minus
von 15% kam. "Der Eroberer bringt der (armen) Welt kein Wachstum“ („Center for Economic und Policy Research", Charles Derber, "One
World"), „das Wachstum in den Entwicklungsländern (war) enttäuschend, für die meisten Nationen sogar unbedeutend." (Jean Ziegler, "Die
neuen Herrscher").
10.6 Der Mythos Wirtschaftskrise
Ständig wird uns eingeredet, dass wir uns in so etwas wie einer Wirtschaftskrise befinden würden. Auch das ist nichts als eine freche Lüge
der Shogune. Unsere Welt ist voller Reichtum. Noch niemals in der menschlichen Geschichte gab es soviel Fülle, soviel Überfluss, soviel
Vermögen auf unserem Planeten wie heute. Niemand müsste arm sein, niemand müsste hungern, niemand müsste auf medizinische
Versorgung verzichten, wenn wir denn wollten. Nein, hinsichtlich des Reichtums auf Erden gibt es keine Krise. Was es gibt, ist eine
Verteilungskrise. Der überbordende Reichtum der Erde ist völlig ungleichmäßig verteilt. Es ist auch nicht richtig von einer Wirtschaftskrise zu
sprechen, denn das impliziert, dass so etwas wie eine "Nicht-Krise" geben muss. Doch ob „Krise“ oder „Nicht-Krise“: Auch ein Krebs in
Remission bleibt Krebs. Ob wir von freier Marktwirtschaft reden, sozialer Marktwirtschaft, Raubtierkapitalismus, Sozialdarwinismus,
Globalisierung oder der unsichtbaren Hand des Marktes, es läuft immer auf das gleiche hinaus: Die Armen und Ärmsten erfahren diese Welt
als täglichen Überlebenskampf.
Natürlich gibt es zyklische Schwankungen, gibt es ein Auf und Ab in der Prosperität der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, mal läuft es
besser, mal läuft es schlechter, das gehört dazu. Doch was die Weltwirtschaft an sich angeht, was die international aufgestellten
Megakonzerne, die Megabanken betrifft, die Globalisierungsgewinner, kann von Krise überhaupt nicht die Rede sein, auch wenn wir
gegenwärtig in den hoch entwickelten Ländern im Zuge der Globalisierung ziemlich durchgerüttelt werden.
Hinsichtlich diesem Krisengerede müssen wir lernen, zwischen „zyklischer Krise“ und „struktureller Krise“ zu unterscheiden. Die zyklische
Krise betrifft die „Oberflächenstruktur“ der kapitalistischen Ordnung, die strukturelle Krise ihre „Tiefenstruktur“. Die Oberflächenstruktur ist
leicht durchschaubar, die Tiefenstruktur bleibt dem unbedarften Auge dagegen meist verborgen. Die Tiefenstruktur führt uns zum
Wesentlichen, zu dem, was die "notwendige Illusion" verbergen will.
Wenden wir uns zuerst der Oberflächenstruktur zu. Zu Beginn steht eine schlichte Lüge, sie wird in einer Art Lammerlitanei ständig vor uns
hingemurmelt. "Es gibt eine Krise, oh je, es geht uns immer schlechter, wir alle müssen den Gürtel enger schnallen, wir alle müssen
verzichten, uns einschränken, denn so geht es einfach nicht weiter. Wir können uns unsere sozialen Wohltaten nicht mehr länger leisten." In
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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gewisser Weise stimmt dies sogar, allerdings in einem ganz anderen Kontext. An dieser Stelle der Geschichte ist diese Aussage eine glatte,
ganz bewusste Lüge. Doch weil dieses Gejammere mit so großer Intensität erfolgt, weil die Lüge mit solchem Nachdruck betrieben und
ständig wiederholt wird, fallen wir alle nach und nach alle darauf herein. Irgendwann im Verlauf dieser Gehirnwäsche resignieren wir,
stimmen wir innerlich zu, nicken wir mit dem Kopf und sagen: "O.K., es stimmt, ihr habt Recht, es muss wohl sein. Es geht nicht anders. Ich
verzichte auf einen Teil meines Lohns, ja, ich arbeite täglich ein wenig länger, und auch mein Weihnachtsgeld und mein Urlaubsgeld könnt
ihr behalten. Euch geht es wirklich nicht gut, viel schlechter als mir. Ich kann nicht weiter mit ansehen, wie ihr leiden müsst, bitte nehmt Euch
von mir, was ihr braucht."
Damit ist das Ziel erreicht. Nicht unser Ziel, sondern das Ziel unserer Eliten. Die notwendige Illusion hat gesiegt, die kollektive Trance ist
wieder hergestellt, mit Hilfe massiver medialer Propaganda. Die vielen Milliarden Dollar Investitionen in die Medien, sie haben sich wieder
einmal ausgezahlt. Wenn wir allerdings etwas misstrauischerer Natur sind, und ich möchte Sie dazu wirklich ermuntern, wenn wir also
dagegen protestieren, schließlich geht es um unsere Arbeitsplätze, unseren Lohn, unsere Familien, die wir ernähren müssen, und
schließlich verdienen die Ackermanns der Welt nicht gerade schlecht, dann wird die Strategie geändert, dann wird an unsere höhere
menschliche Natur appelliert, so als wären die Mächtigen "da oben" alle weiße Schäfchen und von nichts weiter als altruistischen Motiven
beflügelt. Wenn wir also auf bestimmte Tatsachen hinweisen, z. B. darauf, dass die Steigerung von Arbeitsproduktivität zwangsläufig zu
höherer Arbeitslosigkeit führen muss, darauf, dass es einfach nicht in Ordnung ist, dass die Manager sich so unverschämt bedienen, dann
wird die Strategie geändert, dann heißt es: "Sie sind aber ein Neidhammel", und beschämt darüber, denn wer will schon ein neidischer
Kleinkrämer sein, ducken wir uns leicht errötend weg, wie Verlierer, die es irgendwie nicht bringen, die zu dumm sind, um es selbst auf den
Platz von Herrn Ackermann zu schaffen.
Legal? Illegal? Scheißegal! Die Shogune nehmen es da nicht so genau. Sie erinnern sich doch noch an die Geschichte von Mannesmann,
Vodafone und Klaus Esser, oder? Vielleicht auch noch an die Pleite des Parmalat Imperiums in Italien oder an die Bilanzskandale der
amerikanischen Konzerne Worldcom und Enron, die die Zukunft vieler zehntausender Rentner zerstört haben? November 2001. Enron war
der größte Energieriese in den USA bis heraus kam, dass er Verbindlichkeiten in Milliardenhöhe in einer Reihe von Briefkastenfirmen
versteckt hatte. Als "alles" entdeckt wurde gingen Nullkommanichts 30 Milliarden US Dollar Börsenkapital den Bach runter. Der zweitgrößte
Konkurs der US-Geschichte war perfekt, übertroffen nur von der Pleite der US-Telefongesellschaft Worldcom, dem größten
Zusammenbruch aller Zeiten. Die Manager von Worldcom mussten im Jahr 2002 eingestehen, dass sie ihren Gewinn um insgesamt 7,2
Milliarden Dollar zu hoch angegeben hatten, wohl weißlich, denn ohne diesen Betrug hätte ihre Bilanz ein Minus von 11 Milliarden Dollar
aufgewiesen. Wieder verloren viele Anleger ihr Geld, insgesamt 150 Milliarden Dollar, Geld von dem später einmal amerikanische Rentner
leben wollten. Der italienische Molkereikonzern Parmalat brach zusammen, nachdem bekannt wurde, dass er seine Bilanzen um 5
Milliarden Dollar geschönt hatte. An allen Skandalen war übrigens die schon weiter oben erwähnte Citigroup, direkt beteiligt. ("Die Zeit" vom
10. Februar 2005).
Wir bewegen uns hier im Offensichtlichen. Mit dieser Art von Gehirnwäsche haben wir es ständig zu tun, sie lässt sich relativ leicht
durchschauen. Denn: Egal, auf wie viel Lohn Sie auch verzichten wollen, egal, wie viel Urlaub Sie bereit sind abzutreten, egal, wie viel
unbezahlte Mehrarbeit Sie zu leisten bereit sind, mit einer indonesischen, oder einer vietnamesischen Arbeiterin werden Sie es niemals
aufnehmen, es sei denn, Sie wollen für einen bis zwei Dollar pro Tag arbeiten, 12 bis 16 Stunden am Tag und an 6 bis 7 Tage die Woche,
ohne Urlaub, ohne Krankengeld und auch ohne Krankenversicherung.
Nochmals, weil es so wichtig ist: Noch nie war die Welt so reich wie heute. Der Reichtum auf diesem Planeten hat sich nach dem zweiten
Weltkrieg rasant vermehrt, allein um das sechsfache zwischen den Jahren 1960 und 2000. Nach einem Bericht des World Watch Instituts
aus dem Jahre 2001 betrug das Weltbruttosozialprodukt 1960 19 Billionen Dollar. Zum Zeitpunkt der Untersuchung im Jahr 2000 war es auf
42 Billionen Dollar angewachsen, dem Vierfachen. Der Wert des Welthandelsvolumens erhöhte sich in den Jahren zwischen 1980 und 1995
um 400 Prozent, die Werte der Weltbörsen um 970 Prozent und die des Devisenhandels um 2100 Prozent. Im Jahr 2000 hatte der
Gesamtwert aller Warenexporte die astronomisch hohe Summe von 6.200 Milliarden Dollar erreicht, was eine nochmalige Steigerung von
12,4% gegenüber dem Jahr 1999 entsprach. (Jean Ziegler). Dies hat sich auch nach den Anschlägen des 11. Septembers nicht verändert,
auch wenn das durchschnittliche Wirtschaftswachstum der westlichen Industrieländer aufgrund der Terroranschläge kurzfristig von etwa 3,7
% (2000) auf 1,6 % (2002) abnahm. Im Jahr 2004 prognostizierte der IWF (Internationale Währungsfond) allerdings schon wieder ein
Weltwirtschaftswachstum um satte 5 Prozent, und das trotz Ölpreise, die deutlich über 40 US-Dollar pro Barrel lagen. Die Zahlen für 2005
lagen mit einem prognostizierten Wachstum von 4,7 Prozent nur knapp darunter.
Diese gute Aussichten stimmten unseren Finanzminister entsprechend optimistisch: "Die Lage ist so gut wie seit 25 Jahren nicht mehr"
(Frankfurter Rundschau vom 4. Okt. 2004). Und "Die Zeit" (7.10.2004) stieß ins gleiche Horn, als sie feststellte: "Und sie schwimmen in
Milliarden. (…). Weltweit steigen die Gewinne … (…). Die Unternehmen verdienen zur Zeit unverschämt gut." Kein Wunder, "denn die
Lohnstückkosten, gemessen an der Produktion der Volkswirtschaft, hinken der Preisentwicklung immer weiter hinterher - in Deutschland, in
Amerika und auch in Japan." Ein wichtiger Hinweis für uns, denn wenn die Lohnstückkosten in Deutschland heute auf dem Niveau von 1997
liegen, und die Preise inzwischen um 7 Prozent angestiegen sind, bedeutet das, dass wir ärmer, die Shogune aber reicher geworden sind.
Die Weltwirtschaft wächst also, doch "der Preis dafür sind", so konstatiert die "Le Monde Diplomatique", "gravierende ökonomische, soziale
und ökologische Ungleichgewichte," Was nichts anderes bedeutet als: Die soziale Schieflage der Welt, in der die Reichtümer bereits heute
mehr als ungerecht verteilt sind, nimmt weiter zu, nicht ab. Die Stiftung Entwicklung und Frieden sieht dies ähnlich: "… es lässt sich jedoch
ablesen, dass Wohlstand und Lebenschancen im reichen Fünftel der Weltbevölkerung deutlich schneller ansteigen, als in den ärmeren
Schichten: Die Schere, die sich ohnehin weit geöffnet hat, klafft immer weiter auseinander." ("Globale Trends 2004/2005).
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
170
Obwohl wir die Auswirkungen dieses Mythos so stark am eigenen Leib verspüren, interessiert er uns hier weniger, denn er stellt nicht das
Hauptproblem dar. Dazu müssen wir uns der der Tiefenstruktur und seinem Mythos zuwenden.
Der "Mythos der Tiefenstruktur" suggeriert uns folgendes: "Es ist alles in Ordnung, bleib` ruhig, keine Aufregung - es gibt einige Probleme,
sicherlich, aber wir haben die Lage im Griff. Unsere Art und Weise zu leben, zu wirtschaften ist gut. Sie ist nicht perfekt, aber trotz aller
Krisen, trotz aller Mängel, trotz allem Auf und Ab, sie führt zu mehr Prosperität, zu unbegrenztem Wachstum, zu einem planetaren
Aufblühen, zu einer Periode allgemeinem wirtschaftlichen Aufschwungs. Sie wird die Menschen zu mehr Demokratie, zu mehr Freiheit, zu
mehr Wohlstand, zu mehr Glück und zu mehr Zufriedenheit führen. Und gibt es doch Schwierigkeiten, unsere Wissenschaftler werden alle
Schwierigkeiten lösen. Mit Hilfe unserer Technologien werden wir alles meistern. Umweltprobleme? Kein Problem, unsere Techniker, unsere
Ingenieure werden sich etwas einfallen lassen, sie werden das beheben, das hat bisher immer geklappt. Ja, es wird uns weiter gut gehen,
mach` Dir nicht unnötig Sorgen. Aber vor allem musst Du eines wissen: Unsere Art zu leben kommt Deinem Wesen am nächsten, denn das
Leben ist Kampf, ist Herausforderung, und Deine Natur ist dementsprechend. Nur der Stärkere überlebt, seit Darwin müsste das eigentlich
jedem klar sein. Noch `mal: nur wer kämpft, der überlebt. Also nimm` Dir das, was Du haben willst. Hol` es Dir, sonst holt es sich ein
anderer. Du hast ein Recht darauf. Und lass` Dir noch etwas sagen: All dieser religiöse Hokuspokus, all dieses Gerede von Gott oder von
einem Leben nach dem Tode, von Bewusstsein, von Geist, alles Fantasien unaufgeklärter, unreifer Menschen, die der harten Realität, dass
jeder von uns einmal sterben muss, nicht ins Auge zu blicken vermögen. Sie sind Warmduscher. Höre nicht auf sie. Die Welt besteht aus
Materie. Punktum. Wenn Dein Körper stirbt, dann stirbst auch Du. Aus und Vorbei. So ist das nun einmal. Also genieße deine Zeit, mach`
was daraus, solange es geht. Greif zu, nimm was Dir zusteht. Und: genieße es."
Dieser Mythos ist ein männlicher Mythos. Unsere Art zu leben wird von ihm maßgeblich beeinflusst. Im Kern dieses Mythos befindet sich
das newtownsche-descartsche Weltbild, dass die Welt auf nichts weiter als auf korpuskulare Teilchen reduziert, die zufällig, ohne Sinn und
Zweck, ohne Richtung, ohne höheres Ziel, durch ein einsames, dunkles Weltall treiben, einem Universum, das am Ende, abgekühlt auf den
absoluten Nullpunkt, tot und vereist, damit dem dritten thermodynamischen Gesetz gehorchend, nichts lebendiges mehr enthält. Nach
Vorstellung der Hohepriester der Moderne gibt es so etwas wie Geist, Bewusstsein, Sinnhaftigkeit gar nicht. Der freie Wille, nichts als eine
Illusion der Neuronen, ausgelöst durch biochemische Vorgänge in den Synapsen, die uns so etwas wie die Freiheit der Wahl nur
vorgaukeln. Entwicklung entsteht durch natürliche Auslese, durch Kampf, durch Anpassung an die Umwelt, die den Cleveren bevorzugt, und
den Schwächeren bestraft. Nur der Stärkere darf seine Gene weitergeben, sich fortpflanzen, bekommt die Belohnung, der andere muss
sehen, wo er bleibt. Selbst soziale Verhaltensweisen werden in diesem Weltbild unter das Gebot der Nützlichkeitsabwägung gestellt, unter
den Totalitarismus der Ökonomie. Selbst Altruismus hat danach hat keinen Wert per se, außer, er sichert das eigene Überleben oder dass
der Gruppe. Bezogen auf unsere Wirtschaftsweise suggeriert uns der Mythos, dass wir periodisch zwar in so etwas wie Krisen eintreten, und
wieder heraus, sozusagen in einen Zustand jenseits der Krise, dass aber insgesamt gesehen, alles in Ordnung sei. Dieses System ist das
Beste und vor allem das einzig Vorstellbare, so wird uns gesagt, auch wenn es nicht das Goldene vom Ei ist. Aber es kommt der Natur des
Menschen nun mal am nächsten und das ist das Entscheidende.
Aus der Sicht des Erwachens können wir sagen, dass die "notwendige Illusion" das derzeitige Meisterstück Mayas ist, denn sie vollbringt
tatsächlich das Kunststück, dass selbst diejenigen, die meinen, es "geschafft zu haben", von ihr an der Nase herumgeführt werden. Was die
Haltung der Shogune angeht (immerhin werden sie als Elite angesehen!), haben wir es mit einer Illusion in der Illusion zu tun, einem Traum
im Traum, eine Seifenblase in einer Seifenblase, die am Ende auch für die Shogune zerplatzen wird, soviel ist sicher. Könnten wir einen
Schritt beiseite treten, könnten wir uns vom Spiel ein wenig dissoziieren, es aus einer anderen, etwas höheren Perspektive anschauen, dann
würden wir erkennen, dass letztendlich wir alle zu den Verlierern zählen, wenn wir so weiter machen, denn all unsere Sorgen, all die
gegenwärtigen "kleinen Krisen", all die Wellen auf dem See, sie sind grausam genug, aber sie verdecken das Entscheidende, nämlich, dass
nichts oder kaum etwas "passiert", dass "trotz der ständigen UN-Berichte über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und trotz des
viel diskutierten Verschwindens der Mittelschicht im Westen … der Angriff auf die Arbeitsplätze wahrscheinlich nicht die schlimmste
Offensive der Großindustrie (ist), der sich die Weltbevölkerung ausgesetzt sieht, denn diese Dinge sind, wenigstens theoretisch, wieder
rückgängig zu machen. Langfristig viel schlimmer sind die Verbrechen, die die Konzerne an der Umwelt, der Nahrungsmittelversorgung und
der einheimischen Bevölkerung und deren Kultur begehen" (Naomi Klein, aus: "No Logo").
Gehen wir noch einen Schritt weiter. Und was ist mit unserer Kultur? Was ist unseren westlichen Werten, unseren Idealen, unseren
Visionen? Hinsichtlich all dessen sollten wir unsere Scheinheiligkeit erkennen und uns eingestehen, dass die Aufklärung gescheitert ist. Ihre
Ideale sind nicht verwirklicht, nichts ist mit Freiheit - Gleichheit – Brüderlichkeit, i. G., dass große Abschlachten der Völker, die Zerstörung
von Kultur und Natur, von der Aufklärung bis heute zieht sich eine blutige Spur. Die Rationalität, einst als großer Hoffnungsträger gefeiert, ist
krankhaft entartet, es gelang ihr nicht ihre süßen Versprechungen einzulösen, die edlen Ziele, die sie mit sich führte, sind versandet, gleich
einem Wadi in der Wüste nach einem Gewitterregen. All das, was damals in der Aufklärung begann, ist verdorrt, vertrocknet, in Ignoranz
und Selbsttäuschung entartet, in hedonistischer Selbstbespiegelung und in narzisstischen Kinderspielereien. Die Befreiung des rationalen
Geistes aus dem Mythos des Glaubens führte nicht zur Freiheit, sondern zu moralischer Verwahrlosung, denn der moderne Mensch,
entkleidet jeder moralischen Bevormundung durch die Kirche, meinte, nun alle Beschränkungen, alle Hemmungen ablegen zu können, die
gut waren und richtig. An die Stelle der Kirche und die Priester traten die modernen Naturwissenschaften und die Naturwissenschaftler,
letztere sind die Hohepriester der Moderne, die ihre Wahrheiten auf eine Art und Weise unter das Volk bringen, als wären sie absolut und
unantastbar, dabei sind sie doch noch nur Zauberlehrlinge, die unter dem Deckmantel der freien Forschung den Shogunen willfährig zu
arbeiten.
Heraus kam ein kränkelndes, angstbessenes, narzisstisches Wesen, das die Gaben seines Geistes bis heute nicht wirklich zu nutzen weiß,
das seinen Verstand nur zu kurzsichtigen Bedürfnisbefriedigungen einsetzt, und in einer Art und Weise wirtschaftet, die zu seinem eigenen
Untergang führen wird, sofern es nicht damit aufhört. Es zeugt nicht von besonders hoher Intelligenz, den Platz zu besudeln auf dem man
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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sitzt. Die eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören, ist nicht rational, sondern irrational. Daher ist es richtig zu sagen: dieses System ist
Krebs, bösartig, unheilbar. Es muss abgeschafft, nicht reformiert werden. Doch dies kann es nur von einem Geist, der sich weiterentwickelt,
der sich selbst transzendiert, zu einer höheren Art von Intelligenz, als den Kulminationspunkt der Rationalität. Die Krise des Kapitalismus
liegt nicht in seinen periodischen Oszillisationen, seinen zyklischen Aufs und Abs, das wäre ja zu beheben, da lässt sich ja was machen,
nein, sie ist intrinsisch bedingt, struktureller Natur, von daher nicht reformierbar. Sie liegt im Geist des Menschen selbst, von daher kann sie
nur behoben werden, wenn der Geist des Menschen sich daraus herausschält. Ohne einen Quantensprung im Bewusstsein der Menschheit,
ist das nicht zu machen.
Auch wenn die gegenwärtigen prekären Zuspitzungen im Zuge der Globalisierung für uns Menschen sehr schmerzhaft sind, schließlich
hängt Dein und mein, unser aller Leben und Überleben davon ab, für Gaia selbst hat dies alles recht wenig Bedeutung. Für Gaia ist es
unerheblich, ob wir ihre Physiosphäre und Biosphäre im Namen des Kommunismus, des Sozialismus, des Kapitalismus, des Imperialismus
oder des Neoliberalismus ausbeuten, verwüsten oder vergiften. Die verschiedenen Wirtschaftssysteme, aus ihrer Sicht sind sie sich
erstaunlich ähnlich. Aus diesem Grund lässt es sie gleichgültig, welchen Namen wir dem immer gleichen Vorgang der Zerstörung geben. Am
Ende wird sie bleiben, wir aber vielleicht nicht. Der Verlierer dieses "Spiels" steht schon fest: Es ist der Mensch, vor allem der arme Mensch
in den unterentwickelten Regionen der Erde. Die innerste evolutionäre Substanz von Gaia können wir Menschen nicht angreifen, nicht
einmal antasten, denn sie wird von einem GEIST gespeist, der jenseits von Zeit und Raum liegt. Ihre kreativen Schöpfungen jedoch, dessen
evolutionärer Höhepunkt ohne Zweifel wir Menschen sind, diese können vernichtet werden. Vielleicht beruht unsere Faszination für die
Dinosaurier darauf, dass wir dies instinktiv wissen. Ökosysteme, so unsere Wissenschaftler, kompensieren über lange Zeiträume, wenn sie
dann aber "kippen", dann kippen sie meist schnell. Es ist wie mit Krebs, im Verborgenen, im Unsichtbaren bereitet sich der GAU vor.
10.7 Globalisierung und Neoliberalismus
Die Wurzeln des Neoliberalismus liegen im Liberalismus. Seine Ideologie und seine Prinzipien gehen auf Adam Smith (1723 - 1790) zurück,
dem Guru der Marktstrategen, obwohl er, und das vergessen seine heutigen Jünger gerne, weitaus weniger radikal war, als sie es selbst
heute sind. Der schottische Nationalökonom Adam Smith vertrat die Ansicht, dass eigennütziges Handeln zwangsläufig Wohlstand für alle
hervorbringt und damit soziale Harmonie. Voraussetzung dafür: Der Staat muss sich aus allen Fragen der Wirtschaft heraushalten (Laissezfaire). Er soll nur die Rahmenbedingungen bereitstellen, alles andere würden der freie Wettbewerb quasi selbst erledigen, geführt durch die
"unsichtbare Hand des Marktes“. Das theoretische Gebäude des Neoliberalismus ist unter den Namen "Konsens von Washington" bekannt,
was uns schon einiges von der Ideologie dieses Konsens verrät. Es geht, wie sollte es bei dieser Bezeichnung auch anders sein, um die
Weltordnung des Kapitals.
Folgende Prinzipien stecken dahinter:
- Liberalisierung, d. h. Unternehmen sollen von jeder staatlichen "Bevormundung" oder "Gängelung" befreit werden; sie sollen die
Möglichkeit bekommen überall und jederzeit Investitionen tätigen zu können, ohne durch staatliche Gesetze behindert oder benachteiligt zu
werden; im Grunde genommen geht es darum, alle dem widersprechenden Handels- und Finanzhemmnisse abzubauen, und dazu gehören
vor allem Gesetze und Vereinbarungen in Sachen Umweltschutz, Sozialstandards, sowie Regelungen, die die Schutzorganisationen der
Arbeitnehmer betreffen
- Privatisierung, d. h. der Staat soll sich als Dienstleister aus allen öffentlichen Bereichen der Gesellschaft zurückziehen, Strom, Wasser,
Energie, Gesundheit, Bildung, Telekommunikation, Nahverkehr etc., all das sollen private Anbieter übernehmen; Ziel ist es, Staat als
Bereitsteller dieser Kernaufgaben abzulösen und privatwirtschaftliche Verhältnisse einzuführen
- Deregulierung, d. h. die Preise aller Waren und Dienstleistungen, auch die Art und Weise wie sie zustande kommen, soll vom freien Markt
bestimmt werden; Regierungen sollen sich aus allen Aufgaben, die die Wirtschaft betreffen, zurückziehen und es den Kräften des Marktes
überlassen, diese damit zusammenhängenden Angelegenheiten zu lösen
Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung, wenn es um Neoliberalismus und Globalisierung geht, kommen wir um diese wichtigen
Begriffe nicht herum. Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung, diese Wörter klingen harmlos, doch ihre Auswirkungen auf unser
persönliches Leben und unser Sicherheitsbedürfnis, das ja eng mit dem Weh und Wohl des Staates verbunden ist, sind alles andere als
harmlos, ja, sie sind geradezu katastrophal. Hinter Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung tarnt sich "ein neues globales
Kontrollsystem“, eine "Erpresserwirtschaft", die es Unternehmen erlaubt, … Nationen mit Absiedlung zu drohen, wenn sie sich weigern, die
„Standards und Rechte ihrer Bevölkerung einzuschränken." (Charles Derber). Die Shogune sind in bestens organisiert, um ihre Interessen
durchzusetzen haben sie sich eine gut geölte Kriegsmaschinerie geschaffen - Weltbank, Internationaler Währungsfond (IWF) und
Welthandelsorganisation (WTO) – mit deren Hilfe sie ins Herz der Weltwirtschaft stoßen. Inzwischen brauchen die multinationalen Konzerne
brauchen schon lange niemanden mehr fragen, ob sie das, was sie da tun, überhaupt tun dürfen.
Erinnern wir uns noch einmal des ersten Axioms, des Axioms der Macht. Unternehmen wollen Macht, sie fordern Macht und brauchen
Macht, und sie setzen diese rücksichtslos ein. Unternehmen im Zeitalter des globalisierten Neoliberalismus sind "prinzipiell amoralisch", sie
"enthumanisieren" zwangsläufig um sich herum die Gesellschaften, denn sie sind allen gegenüber "illoyal", auch ihren eigenen Mitarbeitern
gegenüber, selbst ihren Managern, nicht weil sie böse sind, sondern weil sie den in ihnen angelegten Regeln blind folgen müssen, und diese
sind nun einmal "anmaßend, aggressiv und auf Wettbewerb bedacht". Das der Neoliberalismus die Gesellschaften zwangsläufig
enthumanisiert, das ist die entscheidende Einsicht, das zu erkennen, darauf kommt es an. Der Neoliberalismus ist von Natur aus
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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amoralisch, ein sich selbstverschlingender Leviathan, der selbst seine Anhänger und Nutznießer gnadenlos verstößt, sollten sie nicht mehr
nach seinen Regeln spielen. Nachsichtigkeit oder gar Einsicht dürfen wir von ihm nicht verlangen, er spielt Schach mit sich selbst, nach dem
Motto: The Winner takes it all.
- Welthandel. Welthandel an sich ist nichts neues. Welthandel existiert schon seit mehreren tausend Jahren. Globalisierung mit Welthandel
gleichzusetzen wird daher der Sache nicht ganz gerecht, denn hinter der Bezeichnung Globalisierung versteckt sich in erster Linie der
rasante Aufbau und Ausbau des international operierenden Finanzsystems, welches erst durch die Revolution der Computertechnik in
diesem Ausmaß ermöglicht wurde. Mit einem Tastendruck lassen sich heute in Sekundenschnelle Milliarden von Dollars um die Welt jagen,
und das geschieht auch, täglich, 24 Stunden am Tag.
Russland kann als ein trauriges, aber hervorragendes Beispiel dafür gelten, für das was der Neoliberalismus an Verwüstungen in der Welt
und in den menschlichen Gemeinschaften anrichtet. Eine Untersuchung der UNICEF kam zu den Ergebnis, dass die "neoliberalen
Reformen" in Russland allein im Jahr 1993 zu 500.000 zusätzlichen Todesfällen geführt haben (Noam Chomsky, "Profit over People"). Die
durchschnittliche Lebenserwartung in Russland ist mittlerweile auf 58 Jahre herabgesunken. Nach Meinung des russischen Sozialministers
leben 25% der Bevölkerung Russlands zurzeit unter dem Existenzminimum, während die Oligarchen in ihren Datschen in Champagner
baden und kritische Journalisten töten lassen, wenn diese ihren geraubten Reichtum etwas genauer unter die Lupe nehmen wollen.
Verelendung und Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, Unsicherheit, Gewalt, Zerstörung, Siechtum, Hoffnungslosigkeit und vorzeitiger
Tod, weil große Teile der Bevölkerung nicht einmal mehr mit den grundlegendsten Dingen des Lebens versorgt werden, das ist in vielen
Teilen der Welt die hässliche Fratze des Neoliberalismus, daneben eine kleine Gruppe von Superreichen, die allen Wohlstand und allen
Luxus unserer materiellen Welt genießen. Sozialdarwinismus.
Die Wohltaten des Neoliberalismus heißen: Arbeitsplatzvernichtung, Lohndumping, Sozialabbau, Entsolidarisierung, Angst. All das als
Reformen verkauft. Die angloamerikanischen Länder USA, Kanada und Großbritannien stehen seit langem unter der Fuchtel des
Neoliberalismus, daher können sie uns als Kompass dienen. Sie zeigen uns, wohin die Reise geht und was uns am Ende erwarteten wird.
Unter Magaret Thatchers neoliberalistischer Ägide wurden in Großbritannien die Gewerkschaften demontiert, ihre Macht zerschlagen und
der öffentliche Sektor radikal beschnitten, sowie weitgehend privatisiert. Unter Thatcher stieg der Anteil der Bevölkerung unter der
Armutsgrenze von 10 auf 25 Prozent an. Ein unerhörter Zustand, der in den USA mittlerweile endemisch ist. Dort, so David Morris, Direktor
und Vizepräsident des "Institute for Local Self-Reliance in Minneapolis, ist ... "der Lebensstandard etlicher Menschen seit 1980 gesunken.
Mehreren Erhebungen zufolge mussten die amerikanischen Arbeitnehmer 1988 fast einen halben Tag länger arbeiten, um auf den gleichen
Reallohn wie 1970 zu kommen. Der durchschnittliche Arbeitnehmer hat heute weniger Freizeit als vor 200 Jahren." (David Morris,
Schwarzbuch der Globalisierung, Kapitel 8, Freihandel: Der große Zerstörer).
Der Neoliberalismus ist untrennbar mit zwei Namen verbunden: Margrit Thatcher und Ronald Reagan. Ihre Regierungspolitik zeichnete sich
durch eine besonders sozialunverträgliche Haltung gegenüber den unterprivilegierten Bevölkerungsschichten aus, und einem besonders
weiten Entgegenkommen für die Unternehmen und Reichen, etwas, dass wir als ein weiteres Axiom des Neoliberalismus erkennen können.
Ronald Reagan machte dies gleich bei seiner Amtseinführung 1980 ganz deutlich: "Während der gegenwärtigen Krise stellt nicht die
Regierung die Lösung unserer Probleme dar, sondern die Regierung ist selbst das Problem." (UPI/The Bettman Archive, Mikrosoft Encarta).
Doch Vorsicht! Der Neoliberalismus ist nicht nur der Terror einer reichen elitären Minderheit über eine arme oder verarmende Mehrheit, es
geht um mehr, um noch etwas ganz anderes, denn der Neoliberalismus will den Staat nicht nur zurückdrängen, er will ihn für sich ganz
alleine, um ihn für seine ureigensten Ziele und Interessen auszubeuten.
Was das heißt? Ganz einfach: Wenn die Gewinne privatisiert werden, die Kosten aber sozialisiert, dann ist das Staatssozialismus getarnt
unter dem Mantel Liberalismus. Wenn der gesamte Staat auf die bloße Rolle des Handlangers hinsichtlich der Shogune auf die eines
Erfüllungsgehilfen zurecht gestutzt wird, wenn er dessen verlängerte Legislative, Judikative und auch Exekutive wird, dann nähern wir uns
dem Staatssozialismus sowjetischer Prägung. Das ist wichtig zu verstehen, denn der Neoliberalismus spricht von zwar ständig von Freiheit,
meint aber im Grunde genommen damit Sozialismus für die Reichen, d.h. die Ausrichtung des Staates auf die Interessen einer parasitären
Minderheit, die ihn für ihre strategischen Ziele ausschlachtet. So kann man die Gewinne unendlich steigern, während die Kosten die
Gemeinschaft zu tragen hat. Es geht dem Neoliberalismus gar nicht so sehr um so etwas fiktives wie freie Märkte oder freien Welthandel,
die Shogune wissen, dass das alles so gar nicht existiert, nein, ihr Ziel ist die innere Ausrichtung des gesamten Staatswesens auf ihre
Interessen, das ist der eigentliche Skandal. Am Ende verändert der Neoliberalismus die demokratische Kultur als Ganzes.
Damit es dazu kommt, muss die gesamte Bevölkerung kontrolliert werden, und zwar ohne dass sie dies weiß, ohne dass dies zu
offensichtlich ist, ohne dass sie den Unternehmen auf die Schliche kommt, etwas, was Noam Chomsky als "Konsens ohne Zustimmung"
bezeichnet. Anders ausgedrückt: Die breite Masse der Bevölkerung muss dem allem "freiwillig" zustimmen, sie muss davon überzeugt
werden, dass dies alles nur zu ihrem Besten geschieht, obwohl eigentlich das Gegenteil der Fall ist. Für die Organisation dieses Konsens
ohne Zustimmung ist die "notwendige Illusion" daher unabdingbar. Die Apologeten des Liberalismus nehmen zwar ständig das Wort Freiheit
und Demokratie in den Mund, doch das unausgesprochene Ziel der Shogune ist es, den demokratischen Staat und seine Organe zu
unterwandern. Und er verkauft diesen unerhöhten Vorgang auch noch so geschickt, dass er wie ein Naturgesetz daherkommt, alternativlos.
Freiheit und Demokratie, diese sind nicht die Sache unserer Shogune, i.G. gegenwärtig werden unter ihrem Deckmantel unsere
freiheitlichen Rechte massiv eingeschränkt.
Seit etwa 20 Jahren ist der Neoliberalismus weltweit auf dem Vormarsch. Seine negativen Konsequenzen sind für die breite Masse der
Bevölkerung meist unmittelbar zu spüren. Arbeitsplätze werden vernichtet, der allgemeine Lebensstandard beginnt abzusinken und
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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gleichzeitig beginnen die sozialen Sicherungssysteme wegzubrechen. Unsicherheit macht sich in der Folge breit, Armut und Angst Zukunftsangst. In den angloamerikanischen Gesellschaften ist dies längst Wirklichkeit. "Für den grössten Teil der Nordamerikaner sind die
Einkommen seit 15 Jahren ständig gefallen, die Arbeitsbedingungen schlechter, gesicherte Arbeitsplätze seltener geworden. … Die
Ungleichheit ist so stark wie seit 70 Jahren nicht mehr und einschneidender als in anderen Industrienationen. Keine Industrienation hat so
viele in Armut lebende Kinder wie die USA, gefolgt von der übrigen Englisch sprechenden Welt" (Noam Chomsky, Profit over People). Der
Durchschnittsamerikaner braucht mittlerweile zwei bis drei Jobs, um über die Runden zu kommen. Warum dies so ist, erklärt uns Stanley J.
Mihelick, der für die Produktion zuständige Vizepräsident von Goodyear: "Solange wir nicht ein reales Lohnniveau erreichen, das sehr viel
näher bei Ländern wie Brasilien und Korea liegt, können wir nicht die Produktivitätsgewinne mit den Löhnen weitergeben und dabei
konkurrenzfähig bleiben." (aus: David Morris, Schwarzbuch Globalisierung). Halten wir bis hierein fest: der Neoliberalismus, er bedeutet für
die breite Masse in den reichen Ländern des Westens nichts weiter als die oft dramatische Absenkung ihres bisherigen Lebensstandards,
währenddessen die Konzerne ihre Gewinne immer weiter steigern, dabei aber immer lauter jammern. "Nach Fortune haben die 500 größten
Unternehmen der Welt von 1980 bis 1993 etwa 4,4 Millionen Arbeitsplätze abgebaut. Im selben Zeitraum haben sich ihre Umsatzzahlen
allerdings um das 1,4 fache erhöht, ihre Vermögenswerte um das 2,3 fache und die Gehälter ihrer CEO`s (Manager) um das 6,1 fache."
(David Korten, Schwarzbuch Globalisierung).
Hand in Hand mit der Ideologie des Neoliberalismus kommt es zur Ökonomisierung aller Bereiche des öffentlichen Lebens, was nichts
anderes bedeut, dass jedes Ding zu einer Ware reduziert wird, zu etwas, dass man handeln und kaufen kann, einzig und allein, damit es
seinem Besitzer Profit bringt. Produkte, Waren, Ideen, Gedanken, Erfindungen, Entdeckungen, natürliche Reichtümer, öffentliche Güter, was
auch immer, alles wird auf seinen ökonomischen Nutzen und Zweck hin ausgerichtet. Dazu gehören vor allem der soziale Wohnungsbau,
Wasser, Elektrizität, Telekommunikation, Bildung, Nahverkehr, Gesundheit, also genau diejenigen Bereiche, die fast täglich in den
Schlagzeilen stehen. Kein Wunder, hier geht es um die vitalen Interessen und das Selbstverständnis des Staates und um unseren
Geldbeutel. Wenn der Staat seine Filetstücke unter die Räuberbarone verteilt, haben wir den Schaden.
Lassen Sie mich das an drei Beispielen kurz erläutern, drei Bereiche, die zur Zeit von der Privatisierungswelle voll erfasst werden: Bildung,
Gesundheit und Trinkwasser.
- Bildung. Das Primat der Ökonomie in der Bildung wird zwangsläufig dazu führen, dass sich unsere Kultur tiefgreifend verändern wird,
denn wenn Bildung und Wissen keinen Wert an sich mehr darstellen, wenn ich meine Ausbildung nur noch auf dessen ökonomischen
Nutzen hin ausrichte, wird dies unsere Kultur dementsprechend prägen. Bildung, Kunst, Kultur aber sind keine Nebensache, kein Luxus,
denn in den geistigen und künstlerischen Lebensäußerungen einer Gesellschaft zeigt sich das Bewusstseinsniveau auf dem sie gegenwärtig
spielt, zeigt sie, weit sie entwickelt ist, was ihr wertvoll ist, sinnvoll. Werte sind Sinnoasen. Kultur ist geoffenbarter Sinn. Kultur muss
geschaffen, muss erobert, geschmiedet werden, immer wieder, von jeder Generation aufs Neue.
Wie wird unsere Kultur aussehen, was wird geschehen, wenn nur noch der Profit zählt, nur noch der Konsum? Was wird uns wertvoll sein?
Was wird der Sinn von allem sein? Die Schönheit und Eleganz der Mathematik zu verstehen wird unwichtig werden, wenn nur noch mein
Notendurchschnitt, mein Abschluss zählt, denn der interessiert alleine, wenn ich mich als Ware Arbeitskraft auf dem Markt des Wettbewerbs
behaupten will. Philosophie? Nachdenken über den Sinn des Lebens? Über meine Stellung in dem ganzen Drama? Was bringt mir dies ein?
Wie viel verdient man als Philosoph? Was kann ich damit anfangen? Unser Denken, und das Denken unserer Kinder, es soll in Zukunft noch
stärker von ökonomischen Überlegungen und Nutzenabwägungen instrumentalisiert werden. Wie kann ich mich am besten vermarkten? Wie
kann ich mich am besten anpreisen? Wie kann ich mein Wissen am nutzbringendsten einsetzen? Kindergärten, früh müssen wir beginnen,
dass wusste schon George Orwell, die Ware Mensch, sie muss schon in den Kindergärten und Schulen ideologisch zurecht geknetet
werden, ja, der Kampf um die Köpfe und Herzen beginnt früh. Die Werbung weiß dies schon lange. Das Fernsehen auch. Bildung leitet sich
von "bildunga" ab, was soviel wie „Schöpfung“, „Verfertigung" meint. Und das ist etwas ganz anderes als formales Wissen. Richtig
verstandene Bildung lässt in uns Bilder, Gestalten entstehen, Abbilder, Geschichten, aus denen wir unsere Landkarten der Wirklichkeit
"basteln", die auch immer Landkarten zukünftiger Möglichkeiten sind. Wer aber die Köpfe und Herzen unserer Kinder gewinnt, hat das Spiel
um den Konsens ohne Zustimmung schon fast gewonnen. Coca Cola jedenfalls hat kein Interesse an Freigeistern, eine demokratische
Kultur aber kann auf sie nicht verzichten, denn im Dissens, im Streit der Meinungen, liegt die Stärke einer jeden Demokratie, nicht im
Konsens, der kommt erst, wenn wir „fertig gestritten haben“. Und das muss man lernen, das kommt nicht einfach von alleine …
- Gesundheit. Zwei Dinge mögen die Nutznießer des medizinisch-technisch-pharmazeutischen Kartells überhaupt nicht: Gesundheit und
Tod. Dass müssen wir wissen, wenn wir über unser Gesundheitssystem und dessen Ausrichtung auf privatwirtschaftliche Parameter
sprechen. An Gesundheit und Tod lässt sich nur schwer verdienen. Am meisten bringt ein Zustand ein, der irgendwo dazwischen liegt,
zwischen nicht ganz gesund und nicht ganz krank. Chronifizierende Krankheiten erfüllen dieses Kriterium in idealer Weise. Chronische
Krankheiten lassen die Kassen klingeln. Vergessen wir nicht: Wie in den übrigen Bereichen der Wirtschaft auch, muss es einfach im
Selbstverständnis von privaten Unternehmen liegen möglichst viel Geld zu verdienen, denn schließlich hängt ihr Überleben von dieser
Tatsache ab. Das gilt natürlich insbesondere für Aktienunternehmen, die ihren Anlegern verpflichtet sind. Gesundheit zu verbreiten kann
daher niemals das Hauptinteresse von profitorientierten Unternehmen sein. Das sollten wir berücksichtigen, wenn wir von der Privatisierung
des öffentlichen Gesundheitssystems sprechen. 20 bis 30 Prozent aller Krankenhäuser sollen im Jahr 2020 verschwunden sein, ein großer
Teil vom Rest wird dann in den Händen privater Konzerne liegen, die Geld verdienen wollen.
In Sachen Gesundheit geht es allein in Deutschland um nicht weniger als 300 Milliarden Euro pro Jahr, das ist viel Geld, Geld, das auch
verteilt werden will. Das sind keine Peanuts. 1950 lagen die Ausgaben für die Gesundheit noch bei einer Milliarde Euro ("Heilen verboten töten erlaubt", Kurt G. Bündel). Sie sehen, um was für eine unglaubliche Summen es sich hier handelt, und um was für exorbitante
Steigerungsraten. Wir haben es mit einem riesigen, lukrativen Gesundheitsmarkt zu tun, um den sich die Kassenärztliche Vereinigung, die
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Krankenkassen, die Krankenhäuser, die Kurkliniken, die medizinisch-technische und vor allem die pharmazeutische Industrie regelrecht
schlagen. Es geht um einen florierenden, äußerst lukrativen Markt, den es für sich zu nutzen und auszuweiden gilt. Dementsprechend
gezielt wird zu Werke gegangen. Schätzungsweise 4.500 Lobbyisten sind in Berlin zum Wohle ihrer Unternehmen tätig, darunter sind auch
einige Bundestagsabgeordnete, wie wir mittlerweile wissen. Die Lobbyisten der Pharmafirmen gehören zu den fleißigsten und gewieftesten.
Doch wo ist die Grenze zwischen Lobbyismus und Korruption? Das Mekka der Lobbyisten ist übrigens Brüssel, was nicht groß verwundert,
denn die dort beschlossenen Gesetze greifen zu etwa 70% in die nationalen Gesetzgebungen ein. In Brüssel sind 15.000 Lobbyisten fleißig
am überzeugen, 5.000 von ihnen sind auf das europäische Parlament angesetzt. Auf einen Abgeordneten kommen danach etwa fünf
Lobbyisten.
Neue Produkte müssen erklärt, alte in Erinnerung gebracht werden. Das ist die Aufgabe der 15.000 Pharmareferenten in Deutschland. Sie
drücken sich in den Krankenhäusern und Arztpraxen die Klinken in die Hand. Der glorreiche medizinische Fortschritt darf nicht still stehen.
Allein im Jahr 2001 haben die deutschen Pharmakonzerne über 5 Milliarden Dollar für Werbung ausgegeben. Es ist schwer für Mediziner bei
dieser "Informationsflut" die Übersicht zu behalten, selbst wenn man das wollte, zumal die medizinischen Kongresse oft von den
Pharmaunternehmen gesponsert werden, ebenso wie die meisten der klinischen Studien. Selbstverständlich alles streng nach
wissenschaftlichen Kriterien. Nach Meinung des unabhängigen "arznei-telegramm" sind 94% aller Aussagen in den Werbeprospekten der
pharmazeutischen Industrie nicht wissenschaftlich belegt" (FAZ vom 21.11.2004). Um welche Summen es hierbei geht, zeigt das
mittlerweile wegen tödlicher Nebenwirkungen vom Markt genommene Scherzmittel "Vioxx". 100 Millionen Dollar wurden für Vioxx in das
Marketing gesteckt (Spiegel).
Eins ist klar. Ein Gesundheitswesen, dass hauptsächlich auf Profit ausgerichtet ist, sieht den Kranken in erster Linie als Ware, die Geld
bringt, und es wird demzufolge automatisch jene Bereiche vernachlässigen, die nicht profitabel erscheinen. Profitabel ist ganz sicherlich die
Onkologie, die Krebstherapie, obwohl sie, was den wesentlichen Bereich der soliden Tumoren angeht, völlig versagt hat, trotz Abermilliarden
von staatlichen Forschungsgeldern. Diese Milliarden wurden nicht nur in den Sand gesetzt, sie fehlen auch anderen Stellen, um neue,
ungefährlichere und wirklich wirksamere Wege gegen die "Volksseuche Krebs" entwickeln zu können. Warum das so ist, lässt sich leicht
einsehen, wenn wir wissen, um wie viel Geld es dabei geht. Ein einzelner Zyklus Chemotherapie kostet 15.000 bis 30.000 Euro, das bringt
Geld, viel Geld. Jede zehnte Frau erkrankt im Verlauf ihres Lebens an Brustkrebs, in Deutschland sind das etwa 40.000 Frauen pro Jahr.
Die Krebsmedikamente "Zoladex" oder "Arimidex", eingesetzt bei hormonempfindlichen Brustkrebs, das bringt Geld, da kommen schnell
einige tausend Euro pro Patientin zusammen, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Wohlgemerkt, zusätzlich zur Chemotherapie.
Sterbebegleitung? Kein so lukratives Geschäft. Gesundheitsvorsorge, Tempo 130 auf den Autobahnen? Auch das bringt nicht viel. Freie
Fahrt für freie Bürger dagegen schon, Schwerverletzte, da klingeln die Kassen, Tote sind wertlos. Tote bringen kein Geld, Schwerverletzte
schon, über Monate und über Jahre müssen sie gepflegt werden, von der Zeit auf der Intensivstation ganz zu schweigen. Herzoperationen?
Super, da mischen wir mit. Das bringt nicht nur Geld, sondern auch Renommee. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, jede Frau soll das an
Therapie bekommen, was nur irgendwie geht, wenn es denn sinnvoll ist. Aber hier geht es nicht nur das Leiden von Krebskranken, sondern
auch um viel Geld, sehr viel Geld, und um die Geschäfte der Pharmariesen, die ein Interesse daran haben, dass dies weiter so bleibt.
Krebs und Herzkreislauferkrankungen, dass wissen wir längst, "… sind in der Regel die Folge jahrzehntenlangen Missbrauchs des Körpers.
Jahreslanges Trinken und Rauchen, Essen mit hohem Fettgehalt, Fettsucht und Mangel an Bewegung spielen dabei erwiesenermaßen eine
bedeutsame Rolle." ("Heilen verboten - töten erlaubt", Kurt G. Bündel). Hinzu kommt die zunehmende massive chemische Verseuchung
unserer Umwelt, unserer Nahrung und damit unseres Körpers, unsere hektische und unnatürliche Lebensweise, der so genannte Disstress,
eine unbefriedigende und oft als sinnlos empfundene Arbeitswelt, wie auch die zunehmende Isolierung und Vereinzelung nicht nur alter
Menschen - all das, und noch einiges mehr, könnte, mit dem entsprechenden Willen und Einsatz, relativ schnell behoben werden und
weitaus mehr an Gesundheit "einbringen", als jede schulmedizinische Therapie. Doch Bypassoperationen, Herz- Lebertransplantationen,
komplizierte neurochirurgische Eingriffe, bis ins feinste ausgetüftelte chemische Gifteinsätze, aus der Sicht der Ärzte bringen diese
Maßnahmen ein vielfaches an Reputation, und wer will schon nur ein Feld-, Wald- und Wiesenarzt sein? Die Wahl der Medizinindustrie
dürfte klar sein, ebenso die der Politiker. Wir sprechen hier vom Industriestandort Deutschland, von Genforschung, von über 4 Millionen
Beschäftigten, von 370.000 Ärzten. Es kann nicht verwundern, dass die Pharmabranche selbst in Zeiten der wirtschaftlichen Stagnation
schwarze Zahlen schreibt. Sie alle fahren fette Gewinne ein. Der Reingewinn des Schweizer Pharmakonzern Novartis stieg im Jahr 2004 auf
5,8 Milliarden Dollar, der achte Rekordgewinn in Folge. Ein "deutliches Plus" bei Herz- Kreislauf- und Krebsmedikamenten, den
"Wachstumsmotoren" der Branche, machte es wieder einmal möglich. Ähnlich sah es bei den deutschen Unternehmen aus. Schering hatte
einen Gewinn von ca. 750 Millionen Euro, und BASF steigerte ihn um 55% auf 4,65 Milliarden Euro (FR 21.1.2005).
Am Ende dieser Entwicklungen steht eine Zweiklassenmedizin. Und ihre Verlierer stehen bereits fest: die Alten, die Alleinerziehenden, die
Arbeitslosen, die sozial Unterprivilegierten, die Sterbenden, die Dahinsiechenden in den Pflegeheimen, all diejenigen, die sich die
entsprechenden Zusatzversicherungen nicht leisten können oder wollen. Private Anbieter werden sich die Rosinen herauspicken, dem
öffentlichen Sektor werden die Kosten bleiben. Wir sollten unsere Steuermittel klug und sparsam einsetzen, kein Thema, aber wir sollten uns
sehr gut überlegen, ob wir unser Gesundheitssystem in erster Linie nach profitablen Maßstäben ausrichten wollen. Ob dies sinnvoll ist, ist
mehr als fraglich.
- Trinkwasser. Überall auf der Welt müssen die Menschen deutlich mehr für Strom, Gas und Wasser bezahlen, wenn die Konzerne das
Sagen übernommen haben. Das lukrative Geschäft mit dem blauen Gold ist viel versprechend. Drei Weltkonzerne geben darin den Ton an:
Danone, Nestle und Coca Cola.
Tatort Manila, die Hauptstadt der Philippinen. In Sachen Trinkwasser ist Manila zweigeteilt. Ostmanila gehört dem "Ayala Clan", der unter
der Fuchtel eines US-Konzerns steht, Westmanila dem "Lopez Clan", der sich die Rechte eines französischen Wasserkonzerns gesichert
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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hat. Für die meisten der über zehn Millionen Bewohner Manilas war sauberes Wasser schon immer ein Luxusartikel, aber seit der
Privatisierung hat sich die Lage nochmals dramatisch verschärft. In Ostmanila ist der Preis für Trinkwasser seitdem um 500% gestiegen, im
Westen gar um 700%. Ein Drittel ihres eh schon kärglichen Einkommens müssen die Bewohner der Armenviertel Manilas heute für ihre
Trinkwasserrechnung aufbringen. Da verwundert es nicht, dass überall in Manila Wasserleitungen illegal angezapft werden. Das ist
gefährlich, denn in den maroden Wasserrohren muss ein ganz bestimmter Druck herrschen, ansonsten können Krankheitserreger
eindringen und das Wasser kontaminieren. Doch es gibt noch einen anderen Grund, warum der Wasserdruck in den Armenvierteln Manilas
regelmäßig absinkt. Auch die reichen Menschen in den schwer bewachten Villenvierteln Manilas wollen gesund bleiben, auch sie wünschen
sauberes Trinkwasser, gute Qualität. Also muss anderswo der Wasserdruck sinken. Die Folge waren diverse Choleraausbrüche in den
Armenvierteln mit mehreren hundert Toten, hauptsächlich Kinder. Mittlerweile wissen die Menschen dort, wenn sich das Wasser gelblich
verfärbt und nach Fäkalien zu stinken beginnt, dann wird wieder gefährlich.
Auch in Berlin ist die Wasserversorgung mittlerweile in privaten Händen. 1,7 Milliarden Euro hat der Verkauf der Wasserechte in die
chronisch klammen Kassen des Berliner Haushalts gespült. 2000 Arbeitsplätze gingen verloren (Was die wohl kosten?). Hinsichtlich der
Preisentwicklung haben wir das gleiche Bild wie im weit entfernten Manila. Seit der Privatisierung sind die Wasserpreise um stolze 13%
gestiegen. Damit hat Berlin sich an die Spitze aller deutschen Städte gesetzt. 4,89 Euro kostet der Kubikmeter Wasser heute (2005), fast
doppelt soviel wie in München, wo er (noch) bei 2,89 Euro liegt. Der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (VBB)
meint dazu: "Die Wasserpreise sind explodiert, und ein Ende ist nicht abzusehen." (Berliner Zeitung vom 26. April 2005). Und ob Sie es
glauben, oder auch nicht, Berlin hat den Wasserkonzern Rewe/Viola auf Jahre hinaus einen jährlichen Gewinn von 60 Millionen Euro
garantiert. Sollte es mal weniger sein, wird der Berliner Steuerzahler die Differenz ausgleichen. Übrigens: Auch in Sachen Strom und Gas ist
Berlin echt Spitze: Nach dem Verkauf der Bewag (1997) und der GASAG (1998) stiegen die die Preise um 38, bzw. 30 Prozent. 7.000
Arbeitsplätze gingen verloren.
Hier geht es um weitaus mehr, als“nur“ Privatisierung. Nur ein Staat mit dem sich seine Mitglieder auch identifizieren können, entfaltet seine
integrativ-zentrifugalen Kräfte. Doch was bleibt von ihm, wenn er seinen Bürgern nicht einmal mehr die grundlegendsten Dinge des Lebens
zur Verfügung stellt, wenn er außer Steuern einzutreiben, kaum noch etwas anzubieten hat? Wenn er sich aus wesentlichen Bereichen des
öffentlichen Lebens zurückzieht, wenn er seine Dienstleistungen einstellt, wenn er sich aus der Gesundheitsversorgung verabschiedet, dem
Nahverkehr, der Bildung, den Universitäten, der Altersversorgung, der Bereitstellung von Wasser, Strom und Gas, wenn er diese und all die
anderen grundlegenden Dienstleistungen wohlfährig der Wirtschaft überlässt, damit sie sich daran mästen mögen? Hier geht es um Basics,
um das grundlegende Selbstverständnis des Staates, um das Eingemachte. Und ich meine, man sollte doch zumindest darüber
nachdenken, ob wir überhaupt wollen, dass Pepsi Cola oder Müllermilch die Getränkeversorgung in unseren Schulen übernehmen,
McDonalds oder Burger King die Schulspeisung. Sollen IBM und Siemens wirklich als Sponsoren von Universitäten auftreten? Sony und
IBM die PC`s zur Verfügung stellen? Microsoft die entsprechende Software bereitstellen? Wollen wir den Pharmariesen Pfizer, Schering,
Merck, GlaxoSmithKline, Hoffmann Loche Roche, Sanofi/Aventis oder wie sie alle heißen, erlauben zu bestimmen, welche Medikamente in
den Regalen der Apotheken stehen, welche Art von Medikamenten die Ärzte zu verschreiben haben, wollen wir wirklich, dass private
Anbieter wie die Rhön Kliniken, Asklepius oder Fresenius unsere Krankenhäuser übernehmen, dass die Neuigkeiten dieser Welt von Rupert
Murdoch verbreitet werden, oder von erzkonservativen Kampfsendern wie FOX-TV. Nike statt Faust? Burger King statt Nathan der Weise?
Adam Smith statt Berthold Brecht?
10.8 Die Kampfhunde des Kapitals: IWF, WTO, Weltbank
Die drei wichtigsten Institutionen, deren sich die Global Player für ihre Ziele bedienen sind: die Weltbank, der internationale Währungsfond
(IWF) und die Welthandelsorganisation (WTO). Gleich den schwarzen Reitern in Tolkiens "Herr der Ringe" verbreiten sie überall wo sie
auftauchen Tod, Verderben und Elend. Ohne diese scharfen Waffen des internationalen Finanzkapitals wäre der Neoliberalismus nicht
denkbar. Hinter dem IWF und der Weltbank stehen zurzeit 184 Mitglieder. Die Gewichtung jeder dieser 184 Stimmen richtet sich nach der
Höhe ihrer gezahlten Beiträge. Die Hauptbeitragszahler sind die USA (mit Abstand), Japan, Deutschland, Frankreich und Großbritannien.
Der IWF und die Weltbank wurden beide 1944 gegründet, hautsächlich um die zerstörte Nachkriegswelt wieder aufzubauen. In den
siebziger und achtziger Jahren wurden sie grundlegend umgebaut und neu ausgerichtet. Ihr Hauptaufgaben liegen heute im Bereich der
Lenkung und Regulierung der weltweiten Finanzströme. Wie gesagt, dass Stimmrecht ihrer Mitglieder richtet sich nach den eingezahlten
Beiträgen des jeweiligen Landes, frei nach dem Motto "One Dollar - One vote". Damit werden diese Organisationen von den reichen
Ländern des Westens dominiert und damit geführt, insbesondere von den USA. Länder, die Hilfe von der Weltbank und dem IWF
annehmen, müssen „Gegenleistungen“ erfüllen, d.h. harte und rigorose Auflagen akzeptieren und auch strikt erfüllen, von daher kommt es in
der Folge immer zu erheblichen Auswirkungen auf die Ökonomie und die soziale Austarierung eines empfangenen Staates und damit auf
das alltägliche Leben der Menschen.
Gegenleistungen heißt: Kürzung der öffentlichen Ausgaben, Privatisierungsmaßnahmen einleiten und die Grenzen für ausländische Exporte,
Investitionen und das internationale Finanzkapital öffnen (Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung). „Anpassungsprogramme“ stellen
für die Shogune eine Lizenz zum Geld drucken dar. Die Zeche zahlt der kleine Mann. Seine Lebensgrundlagen werden in der Folge zum
Schlachtfeld. Es liegt auf der Hand was passiert, wenn internationale Konzerne und Banken über völlig hilflose Nationen herfallen,
Konzerne, von denen einige über mehr Finanzkraft verfügen, als westliche Industrienationen. Niemand kann mit einem Supertanker
konkurrieren, wenn er selbst nur einen verrosteten LKW besitzt. Aufgrund der ungeheuren Machtfülle von IWF und Weltbank spricht die
internationale Wirtschaftspresse denn auch von einer unlegitimierten Weltregierung, einer undemokratischen, totalitären Bande von
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Räuberhäuptlingen, die "in einem neuen Zeitalter des Imperialismus (rücksichtslos) die Interessen der transnationalen Unternehmen,
Banken, und Investmentfirmen (vertreten)". (Noam Chomsky , aus: "Profit over People").
- Die Weltbank: Genau genommen heißt sie "The World Bank Group", Gruppe deshalb, weil es sich insgesamt um fünf Institutionen
handelt, die unter dem gemeinsamen Dach "Weltbank" organisiert sind. Die Weltbank und der IWF sind untrennbar mit dem Namen Bretton
Woods verbunden, dem Ort ihrer Entstehung in New Hampshire/USA July 1944. Der zweite Weltkrieg ging dem Ende zu, die Welt lag in
Trümmern und musste wiederaufgebaut werden. Weltbank und IWF sollten diese gigantische Aufbauarbeit voranbringen. Der an den
Goldpreis gekoppelte Dollar wurde die Leitwährung der Welt. Die Überwachung der Wechselkurse oblag dem IWF, die Weltbank übernahm
die Vergabe von Krediten zum Wiederaufbau der zerstörten Weltwirtschaft. Die Rolle der Weltbank und des IWF veränderten sich deutlich,
als die Zerstörungen des Weltkrieges in den 60iger Jahren weitgehend beseitigt waren. Nun waren nicht mehr die Industrieländer die
Hauptempfänger, sondern die Entwicklungsländer. Die Entwicklungshilfe wurde einer der Hauptaufgaben der Weltbank.
Abbildung 55: WTO – Protest
Sie ist der "kreditgebende Nothelfer", sie vergibt Investitionskredite für den Aufbau von Infrastrukturen, darüber hinaus finanziert sie
hunderte von Entwicklungsprojekten in der ganzen Welt. Ihre Ideologie ist die Ideologie des Neoliberalismus: freier Handel und freie Märkte
bringen Wachstum, und Wachstum bringt Fortschritt und Entwicklung. Wir haben es hier mit einer reinen Bankermentalität zu tun, einer
ausschließlich ökonomischen Betrachtungsweise, die Menschenrechtsverletzungen ebenso unberücksichtigt lässt, wie Bildung, Gesundheit,
Soziales und andere wichtige entwicklungspolitische Parameter wie den Schutz der Umwelt. Die Arbeit der Weltbank wird seit langem heftig
kritisiert, ihre entwicklungspolitischen Vorhaben gleichen einer Liste von Fehlschlägen. Ihre Kredite waren bis zum 1. September 2004 an
harte und strikte Bedingungen geknüpft, an Strukturanpassungsmaßnahmen von Seiten der Empfängerländer (sh. IWF). Nun scheint die
Weltbank, i. G. zum IWF, ihrem "alten Patentrezept" abschwören zu wollen. Ihre Kredite sollen nicht mehr an Bedingungen geknüpft,
sondern in Entwicklungsdarlehen umgewandelt werden. Man wird sehen, was daraus erwächst.
- Der Internationale Währungsfond (IWF): Wie bei der Weltbank heißt es auch hier "One Dollar - One Vote", deshalb bestimmen im IWF
ebenfalls die reichen Länder, allen voran die USA (17% der Stimmanteile), wo es lang geht. Seine Aufgabe ist die Sicherung und
Stabilisierung der weltweiten Währungen und internationalen Wechselkurse. Etwas salopper formuliert, gleicht die Aufgabe des IWF der
einer die Feuerwehr: Droht irgendwo ein währungspolitischer Brand, eine Krise des internationalen Finanzkapitals, dann kommt der IWF mit
heulenden Sirenen angefahren und löscht ihn kurzerhand. Der IWF achtet im Grunde genommen darauf, dass bei finanziellen Krisen kein
Spekulant sein Geld verliert, dass keine Bank, kein Geberland, seine Kredite abschreiben muss. Allerdings stehen dahinter nicht
altruistische Motive, sondern knallharte finanzielle Erwägungen, denn das in finanzielle Schwierigkeiten geratene Land muss einen strikten
Entschuldungs-, sowie Entwicklungsplan vorlegen, aus dem hervorgeht, wie es den ihr zur Verfügung gestellten Kredit, den
Strukturanpassungskredit (= SAK), verwenden will. Nur wenn es dies im Sinne neoliberale Kriterien tut, wird es überhaupt vom IWF bedient.
SAK`s werden seit Anfang der 80 er Jahre vergeben. Kurzfristiges Ziel dieser Maßnahmen ist es immer, erst einmal die akut gefährdeten
Kredite und Einlagen der Banken und Spekulanten zu retten, die mittel- und langfristigen Ziele bestehen darin, die armen Länder der Dritten
Welt noch stärker von der vom Westen dominierte Weltwirtschaft abhängig zu machen.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Um in den (fragwürdigen) Genuss von Strukturanpassungskrediten zu kommen, müssen also harte Bedingungen erfüllt werden,
Bedingungen, die dazu führen, dass die Volkswirtschaften der veramten Länder im Sinne des Neoliberalismus umgestaltet werden. Dazu
gehört, die Umorientierung der Volkswirtschaft auf Export, um ausländische Devisen zu erwirtschaften, denn diese werden dringend
benötigt, um die neuen (und alten) Schulden bedienen zu können; die radikale Kürzung der Staatsausgaben, einschließlich des Budgets für
Gesundheit, Bildung und Soziales; die Abwertung der Landeswährung, um die Wettbewerbschancen zu verbessern; der Abbau von
"Handelsbarrieren", was nichts anderes heißt, dass Arbeitslöhne, Sozialprogramme, Umweltschutzgesetze, Zölle und wirtschaftliche
Förderprogramme für die einheimischen Unternehmen beschnitten und zurückgefahren werden; die Implementierung von Gesetzen, die den
einheimischen Markt für ausländische Unternehmen und Banken "öffnen" sollen; die Privatisierung von Staatsunternehmen, um
ausländischen Unternehmen den Zugang zu diesen Bereichen zu ermöglichen; die Aufhebung, bzw. Umgestaltung staatlicher Vorschriften
zum Arbeitsrecht und Arbeitsschutz; die Behinderung oder gar der Verbot von Gewerkschaften und anderen Schutzorganisationen der
Arbeiter und Angestellten.
Mit anderen Worten: Nimmt ein verschuldetes Land einen Strukturanpassungskredit an, unterwirft es sich praktisch der Kontrolle der
Weltbank und des IWF, was nichts anderes bedeutet, dass es seine Volkswirtschaft den internationalen Konzernen und Spekulanten zum
Fraß vorwirft. Meistens bleibt dem krisengeschüttelten Land gar keine andere Wahl. Die Macht des Einen, ist, wie wir wissen, die Ohnmacht
des Anderen. Dies ist durch Zahlen eindrucksvoll belegt und liegt auch ganz im Selbstverständnis des Neoliberalismus und seinen Dogmen.
"Die schlimmsten Verwüstungen erlebten zwischen 1980 und 1990 diejenigen Regionen, die den SAK`s am heftigsten ausgesetzt waren.
Zum Beispiel stieg in Lateinamerika die Zahl der in Armut lebenden Menschen von 130 Millionen im Jahr 1980 auf 180 Millionen zu Beginn
der neunziger Jahre. Hunger und Unterernährung nahmen zu, Krankheiten wie Tuberkulose und Cholera kamen mit aller Macht zurück.
1991 forderte z. B. die Cholera 1300 Opfer. Afrika: Südlich der Sahara sank das pro Kopf Einkommen in den 80er Jahren jährlich um 2,2%.
Die Gesamtschulden betrugen durchschnittlich 110% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gegenüber 35% der anderen Entwicklungsländer. Am
Ende der 80er Jahre war das pro Kopf-Einkommen auf denselben Stand wie bei der Entkolonisation in den 60er Jahren. Von den 690
Millionen Menschen der Region wurden 1995 200 Millionen als arm klassifiziert. Fünf Jahre später hatte die Hälfte der 600 Millionen südlich
der Sahara nicht mehr als 0,65 US-Dollar pro Tag zu Verfügung. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen im Süden stagnierte in den
Achtzigerjahren, im Norden stieg es jährlich um 2,4%. Heute ist das durchschnittliche Jahreseinkommen im Norden mit 12510 US-Dollar 18x
höher wie das durchschnittliche Jahreseinkommen im Süden." ( Walden Bello, phillippinischer Wissenschaftler und Sozialaktivist, aus:
Schwarzbuch der Globalisierung).
Da die internationalen Krisen nicht selten selbst von den Banken des Westens und den internationalen Spekulanten ausgelöst werden, oder
„systemimmanent“ bedingt sind, läuft die Politik des IWF im allgemeinen auf eine Selbstalementierung der reichen Länder auf Kosten der
armen Länder hinaus, die sich mit jedem neuen Kredit höher und höher verschulden.
- Die Welthandelsorganisation (WTO): Die WTO wurde am 1. April 1994 gegründet, sie ist die offizielle Nachfolgeorganisation des
"Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen" (GATT), des " General Agreement of Tariffs and Trade" vom 1. Januar 1948. Eines ihrer
wichtigsten Ziele war es den internationalen Handel zu liberalisieren und eine dementsprechende Handelsorganisation innerhalb der UN zu
gründen, letzteres scheiterte jedoch aufgrund des Kalten Krieges. Die WTO ist zwar eine zwischenstaatliche Organisation, aber aufgrund
der bestehenden Machtverhältnisse haben dort ebenfalls vor allem die USA, und, im geringeren Grade, die anderen westlichen
Industrienationen das Sagen, schließlich kontrollieren die USA, Japan und die EU zusammen genommen etwa 80% des Welthandels. Das
erklärte Ziel der WTO ist es den Einfluss des Staates auf die Wirtschaft insgesamt zu beschneiden und zurückzudrängen. Alles was den
freien Wettbewerb behindert, alle Handelsbarrieren, alles was die Handlungsfreiheit von Unternehmen einschränkt, soll zugunsten des freien
Marktes eingemottet werden. Sämtliche Schutzzölle, alle subventionierte Bereiche der Industrie und der Landwirtschaft soll nach dem
Eigenverständnis der WTO bald der Vergangenheit angehören, denn ihr erklärtes Ziel ist die größtmögliche Liberalisierung des
internationalen Handels mit Waren, Dienstleistungen, Kapital und patentähnlichen Rechten (TRIPS).
Die WTO legt die Regeln des Welthandels fest, und zwar mit Hilfe eines komplizierten Mechanismus aus Übereinkunft und Abmachung ihrer
Mitglieder, an dessen Ende rechtswirksame Verträge und Gesetze stehen, an die sich alle Mitglieder strikt zu halten haben, andernfalls
drohen ihnen harte Strafen, wirtschaftliche Sanktionen und, wenn verwundert es, auch bilaterale, d.h. außerinstitutionelle
„Vergeltungsmaßnahmen“, die natürlich jedem Mitglied freistehen, wenn es mit bestimmten Entscheidungen oder Entwicklungen der WTO
nicht einverstanden ist. Mithilfe der WTO versuchen die Shogune der Globalisierung gegenwärtig einen Weltmarkt zu implementieren, in
denen sie ihre strategischen Interessen und Ziele gewahrt und auch durchgesetzt sehen. Dabei hat die WTO inzwischen ihr Mandat auf
zwei zukunftsträchtige Gebiete ausgedehnt: auf den Handel mit Dienstleistungen und auf den Schutz von geistigem Eigentum! Zwei äußerst
sensible, aber sehr lukrative zukünftige Geschäftsbereiche, die schon heute erhebliche Bedeutung besitzen, wie wir gleich sehen werden.
Ein Wort noch: Die WTO hält viel darauf, dass ihre Verträge und Abmachungen durch Einstimmigkeit zustande kommen, doch das Axiom
der Macht führt dazu, dass die Interessen der Shogune nicht zu kurz kommen. Die WTO, obwohl eine zwischenstaatliche Organisation, ist
die imperiale Waffe schlechthin, "es ist ohne Zweifel" die machtvollste Kriegsmaschine in den Händen der Beutejäger" (Jean Ziegler). Ihre
Vergeltungsmaßnahmen sind gefürchtet und kleinere Länder sind dem Zorn der WTO völlig ausgeliefert. Ihre Struktur ist undemokratisch,
undurchsichtig und klüngelhaft. Es gibt zwar ein Streitschlichtungsverfahren (ORD), doch diese Streitigkeiten werden über teure Anwälte
ausgetragen, Anwälte, die sich in der komplizierten Materie des internationalen Rechts bestens auskennen, Anwälte, die sich viele der
armen Länder Lateinamerikas, Afrikas und Asiens gar nicht leisten können. Die WTO Verträge haben immerhin ein Volumen von 26.000
Seiten erreicht, nicht gerade wenig. Ihre Formulierungen gleichen unseren Lohnabrechnungen, d.h., sie sind alles andere, als leicht zu
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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verstehen. Darüber hinaus werden Stimmen erkauft und/oder durch entsprechenden Druck erpresst, bzw. sorgen korrupte, bestechliche
Eliten in den armen Ländern dafür, dass "alles nach Plan läuft".
Die WTO hält die Fiktion einer Handelsorganisation aufrecht, obwohl sie, so Jean Ziegler, mit "ausgedehnten Erzwingungsvollmachten
ausgestattet ist", d.h. sie kann Streitigkeiten schlichten, Schiedsgerichte einberufen Berufungen zulassen, Strafen aussprechen, Funktionen,
die eigentlich nur Gerichten zugestanden werden. Und in all diesen Bereichen handelt sie autonom, souverän, völlig unkontrolliert von
demokratischen Institutionen, so als hätte sie über sich nur noch den blauen Himmel und Gott. Sozialklauseln oder Umweltziele werden Sie
in der Satzung der WTO vergeblich suchen.
Diese undurchsichtigen und undemokratischen Strukturen lassen Charles Derber zu folgender Schlussfolgerung kommen: "Die WTO, der
IWF und verwandte Institutionen sind in der Tat Schattenregierungen ohne Transparenz und öffentliche Partizipation, die für eine
Demokratie wesentlich sind. Der renommierte Finanzanalyst und Autor Howard Wachtel schreibt, dass die WTO "keine geschriebene
Satzung hat, keine öffentlichen Anhörungen durchführt und die Öffentlichkeit de facto nie an ihren Entscheidungen beteiligt ist. In ihren
Tagungsräumen gibt es nicht einmal einen öffentlichen Bereich". Begründungen für die Urteile der WTO-Tribunale werden nicht publiziert,
und weder Interessensgemeinschaften noch Bürger sind berechtigt, den WTO-Gremien Argumente vorzutragen. Bei einer Körperschaft,
ausgestattet mit effektiver Macht über die Umwelt-, Gesundheits-, Steuer- und Handelsgesetze jeder Nation, zeugt dies, wie Politologen es
höflich formulieren, von einem ernsthaften "Demokratriedefizit". (…). Einfache Bürger und gewählte Repräsentanten der Staaten haben
weder formelle Entscheidungskompetenz innerhalb der WTO, noch haben sie eine rechtliche Position bei den Verhandlungen der WTOTribunale, die über globale Souveränität entscheiden. Stattdessen gehören seit langem große Unternehmen zu den Beratern und Insidern."
(aus: „One World“).
TRIPS. Lassen Sie uns über TRIPS sprechen, einem besonders verwerflichen Vorgang in Sachen WTO. Bei TRIPS geht es um die
"Vereinbarung über handelsbezogene Aspekte von Schutzrechten für geistiges Eigentum". TRIPS, "war das Ergebnis der Lobbyarbeit eines
Komitees interessierter Konzerne, darunter Monsanto, DuPont und General Motors. Der Name des Chemiegiganten und
Nahrungsmittelkonzerns Monsanto taucht immer wieder auf, wenn es um besonders unrühmliche Machenschaften in dieser Branche geht
(Paul Kingsnorth, "Global Attack!"). Berühmt berüchtigt geworden war Monsanto vor allem im Zusammenhang mit dem während des
Vietnamkrieges eingesetzten doxinhaltigen Entlaubungsmittels Agent Organe, für dessen Herstellung er verantwortlich war. 1984 musste
Monsanto 45,5% der Entschädigungssumme von 180 Millionen Dollar an dioxinverseuchte Vietnamveteranen zahlen. Heute finden Sie
Monsanto an vorderster Front derjenigen Unternehmen, die aggressiv genveränderte Nahrungsmittel auf den Markt drücken.
Um was geht es bei TRIPS? Nach Paul Kingsnorth ist "TRIPS … eines der zentralen Abkommen der WTO - und eines der umstrittensten.
Es soll die Besitzrechte von Konzernen an Produkten, Produktionsverfahren und sogar Informationen stärken. Es verlangt, dass alle
Mitglieder der WTO ein strenges Patentrecht US-amerikanisches Zuschnitts einführen, und sieht vor, dass Patente oder Urheberrechte, die
in einem dieser Länder erteilt werden, automatisch in allen Mitgliedsländern gelten. TRIPS hört sich recht harmlos an, ist aber alles andere
als harmlos, denn dieses Übereinkommen wird von den Konzernen nicht nur genutzt, um die Entwicklung billiger Software zu verhindern,
TRIPS zwingt arme Länder, in ihren Schulen Lehrbücher zu verwenden, die aus urheberrechtlichen Gründen teuer sind, und wird eingesetzt,
um die Verbreitung der Entwicklung fundamentaler Techniken zu verhindern, die im Rahmen der Entwicklung traditionell von Gewerbe zu
Gewerbe und Land zu Land weitergeben wurden. Die Gegner von TRIPS sehen darin eine Verschwörung und sprechen kurz und bündig
von "Biopiraterie", einer Vereinbarung über die "Patentierung von Leben". (aus: Global Attack“).
Mit TRIPS kann ich mir also nicht nur Produkte oder Herstellungsverfahren patentieren lassen, sondern auch Informationen und Wissen von
Saatgut, Pflanzenwirkstoffen, genetischen Codes usw., egal was. Etwas, dass die Evolution im Verlauf von Jahrtausenden hervorgebracht
hat, kann so von einem Unternehmen an sich gerissen und damit monopolisiert werden. Ein außerordentlicher Kunstgriff. Auf den Punkt
gebracht: Mithilfe von TRIPS werden Entdeckungen in Erfindungen verwandelt. Doch eine Entdeckung ist etwas völlig anderes als eine
Erfindung! Pflanzenwirkstoffe sind Teil der Biosphäre und gehören damit der gesamten Menschheit. Doch die Konzerne sehen das offenbar
anders, aus leicht verständlichen Gründen. Und so schwärmen ihre Mitarbeiter in die Tiefen der Dschungel aus, um zu lauschen, was die
Schamanen Amazoniens so alles Nützliche kennen, was für Kräuter sie für ihre magischen Heilungszeremonien benutzen, ganz
unverbindlich selbstverständlich. In aller Heimlichkeit haben sich Unternehmen und Konzerne "… in den letzten Jahren Patente auf
Pflanzen, Medikamente und Nahrungsmittel gesichert, die Indianer Amazoniens schon seit Jahrtausenden benutzen. Sie haben sich
mexikanische Maissorten patentieren lassen, die in Chiapas seit Jahrhunderten angebaut werden, Saatgut, das von Indianerdörfern
gezüchtet und benutzt wurde, und sogar Teile der menschlichen DNS", so Paul Kingsnorth in "Global Attack".
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Abbildung 56: TRIPS
Er berichtet uns auch vom texanischen Konzern "RiceTec", der im Jahre 1997 versuchte sich die Eigentumsrechte von 20 Varietäten des
Basmatireises zu sichern, einer, wie alle Reisesser wissen, edlen und sehr schmackhaften Reissorte, die seit Jahrhunderten Bestandteil der
indischen und pakistanischen Kultur ist, das Ergebnis unermüdlicher Züchtung von Generationen von Bauern, ein unerhörter Angriff, der nur
teilweise abgewehrt werden konnte.
Nehmen wir AIDS. Von der AIDS-Front gibt es keine Entwarnung, i. G., AIDS weitet sich immer mehr zur Pest unserer Tage aus, eine
Tatsache, die uns langsam, aber unerbittlich einzuholen beginnt, auch im vermeintlich sicheren Westen. Die Zahl der an HIV-Infizierten wird
von der WHO auf über 40 Millionen geschätzt, 34 davon leben in den unterentwickelten Regionen der Welt. AIDS kennt keine Grenzen,
ebenso wenig wie das Verlangen nach Sex. Und AIDS kostet viel Geld, Geld, das die meisten Menschen in den armen Ländern nicht haben.
Sie wissen das, ich auch. Die an AIDS erkrankten Menschen in Afrika und anderen Teilen der Welt sterben vorzeitig, zu früh, unnötig,
einfach deshalb, weil sie sich die sich die teuren antiviralen, patentgeschützten Medikamente der Pharmariesen nicht leisten können, und
natürlich auch, weil das Geld für eine effiziente Gesundheitsvorsorge fehlt. Das mag uns nicht interessieren, sollte es aber. Wenn schon
nicht aus Mitgefühl, dann aus Eigeninteresse, denn der HIV Virus wird uns nicht verschonen, unsere Oase in Sachen AIDS wird nicht zu
halten sein. Wenn Jean Ziegler vom Dritten Weltkrieg spricht, dann spricht er auch von den vielen Toten an dieser Front. Die AIDS-Toten
haben viele Gesichter, heben wir eines von ihnen, eines, dass diesen Krieg bereits verloren hat, aus der anonymen Dunkelheit der Masse
hervor. Hennig Mankell verleiht ihm in seinem bewegenden Buch "Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt" moralische Durchschlagskraft.
Christine heißt eines dieser Gesichter. Christine war eine junge, gebildete Frau. Sie war Lehrerin. Sie wird den Kindern dort fehlen, auch
ihren eigenen. Sie sagte uns: "Virushemmende Mittel gegen AIDS kosten im Monat genau das Doppelte von dem, was ich verdiene. … Man
kann sich natürlich fragen, ob die Medikamente zu teuer sind, oder ob ich zu wenig verdiene. Aber die Antwort ergibt sich von selbst. Mit
meinem Lohn habe ich es immer geschafft, die Familie zu ernähren. Aber das Geld reicht nicht, um mich vor dem Tod zu schützen." Patente
mögen Unternehmen schützen, Menschen werden durch sie nicht unbedingt geschützt.
Die Menschen des Westens bilden 15% der Weltbevölkerung, aber 85% des pharmakologischen Weltmarktes. Es verwundert daher nicht,
dass immer noch kein Impfstoff für Malaria existiert, einer anderen verheerenden Krankheit an der jedes Jahr 3 Millionen Menschen sterben,
überwiegend Kinder bis zum fünften Lebensjahr, alle 30 Sekunden eins. Obwohl 40% der Weltbevölkerung von Malaria bedroht sind und die
Labors unserer Pharmariesen zwischen 1975 und 1996 1223 neuartige Wirkstoffe für Medikamente entwickelten, existiert bis heute kein
Impfstoff. Es ist sicherlich kein Zufall, dass von diesen 1223 neuen Wirkstoffen nur ganze 11 Tropenkrankheiten betrafen. Auch bei
Medikamenten herrscht offensichtlich Rassismus. Aber wer weiß, vielleicht strengen wir uns im Westen bald ein wenig mehr an einen
Impfstoff zu entwickeln, denn der Klimawandel wird dazu führen, dass in Europa die Malaria wieder heimisch werden wird. Auf Phillipsburg
am Rhein jedenfalls waren die Römer gar nicht gut zu sprechen, er war bei den Römern als ein übler, weil malariaverseuchter Ort
gefürchtet. Es ist auch gut möglich, dass der Wirkstoff gegen Malaria schon unwissentlich irgendwo in einer der Asservatenkammern der
Pharmariesen gebunkert liegt und auf seinen großen Auftritt wartet. Wenn es so ist, dann sollten wir es den Schamanen Amazoniens
danken.
Biopiraterie macht aus einer Entdeckung eine Erfindung. TRIPS sorgt dafür, dass diese Entdeckung zu einer Ware wird. So wird Wissen
monopolisiert, Wissen gelenkt, Wissen patentiert - am Ende steht ein Produkt; eine Handelsware, die viel Geld einbringt. Saatgut,
Baumrinden, Blätter, Insekten, Pilze, Pflanzensäfte, die DNS des Menschen, all das kann von Unternehmen patentiert werden, im Namen
des Fortschritts. "Biopiraterie", so Vandana Shiva, indische Ärztin, Umweltschützerin und Schriftstellerin, "ist Diebstahl, wobei die Reichen
die Armen bestehlen. Genetische Ressourcen, Pflanzen, Feldfrüchte - all das sind fundamentale Gemeinschaftsgüter, und sie müssen als
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solche geschützt werden. Konzerne haben kein Recht, sich etwas davon anzueignen, und wir müssen das klar und deutlich sagen. Es ist
ganz einfach: Das Gemeingut gehört uns". (aus: "Global Attack", Paul Kingsnorth).
10.9 Der Mythos vom freien Markt und freien Wettbewerb
Es gibt keinen freien Markt, ebenso wenig wie es einen freien Wettbewerb gibt. All das ist eine Fiktion aus der Mottenkiste des
Imperialismus. Eine Fiktion ist ein Fantasiegebilde, eine Wunschvorstellung, etwas, dass in Wahrheit gar nicht existiert. Die Ideologie des
freien Marktes verschleiert die Tatsache, dass "Märkte immer von Regierungen geschaffen werden, dass die sie nur durch staatliche
Interventionen und öffentliche Subventionen überleben können. Es gibt keinen freien Markt ohne eine Staatsmacht, die ihn etabliert, reguliert
und militärisch schützt, und es gibt keine Kapitalgesellschaften ohne Gewerbeordnungen und Regierungen, die ökonomische und soziale
Ordnung garantieren. Und alle Marktsysteme beruhen auf vielfältige Formen "kapitaler Wohlfahrt", die nicht allein auf Steuererleichterungen
und Subventionen besteht, sondern auch aus staatlichen Aufwendungen für Bildung, Infrastruktur und Forschung, ohne die jede Wirtschaft
kollabieren würde. Insbesondere ist der Staat Garant für die Einhaltung von Verträgen und die Verfolgung von Betrug, was absolut
notwendig ist, damit die Menschen das Vertrauen in den Markt behalten." (Charles Derber, aus: "One World").
Wenn unsere liberalen Feldherren das nächste Mal von freien Märkten und freiem Unternehmertun schwafeln, wissen Sie nun, dass das
alles nur Hirngespinste sind, dummes Geschwätz mit dem Ziel, uns vom Wesentlichen abzulenken. Bedenken Sie: Wir haben es hier mit
einem zentralen Dogma in der Globalisierungsdebatte zu tun. Wenn es überhaupt keinen freien Markt gibt, dann bricht die Argumentation
der Shogune wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Märkte müssen etabliert, Wettbewerb muss reglementiert, Wirtschaften müssen
geschützt werden. Bildung, Infrastruktur und Forschung, ohne Staaten, die dies leisten, von Steuergeldern finanziert, kann kein Markt
existieren. Märkte schweben nicht einfach im freien Vakuum. Was den freien Markt angeht, haben wir es also mit einer arglistigen
Täuschung zu tun.
Volkswirtschaften sind zarte, empfindliche Pflänzchen. Jede Wirtschaft, insbesondere natürlich eine schwache und rückständige, muss sich
daher mit Schutzzöllen und anderen den freien Handel und freien Wettbewerb eindämmenden und kontrollierenden Maßnahmen schützen.
Das ist (über)lebenswichtig für sie. Starke Mitkonkurrenten, internationale Konzerne, Monopolunternehmen, samt ihren Handels- und
Finanzorganisationen, sie sind wie aggressive Viren, die einen schon geschwächten Körper den Rest geben. Wenn eine kleine, sich
entwickelnde Volkswirtschaft überleben, wenn sie überhaupt so etwas wie eine reelle Chance haben will, dann muss sie ihre einheimischen
Unternehmen und Märkte schützen. Das ist eine ökonomische Binsenweisheit. Jeder erfolgreiche Staat hat das getan, und tut dies heute
noch.
Die USA, Kanada, Europa, Japan, all die Giganten weinen nichts als Krokodilstränen, wenn sie die Öffnung der Märkte aggressiv einfordern,
wenn sie den freien Handel propagieren, den weltweiten unbegrenzten Wettbewerb. Sie ignorieren damit ganz bewusst und ganz gezielt
ihre eigene protektionistische Geschichte, aufgrund dessen ihre Konzerne heute marktbeherrschende Stellungen besitzen. Sie selbst haben
ihre Wirtschaften vor unliebsamen Mitkonkurrenten abgeschottet und geschützt, wann immer das nötig war, und das tun sie auch heute
noch (Landwirtschaft, Flugzeugindustrie). Jede verantwortungsbewusste Regierung dieser Welt wirft ihr wachsames Auge auf die sensiblen
Bereiche ihrer Volkswirtschaft, das muss sie einfach. Da ist nichts mit vollständiger Öffnung der Märkte für alle. Und so wird Airbus in
Toulouse genauso alimentiert wie Boeing in Seattle, der Chiphersteller Infineon im Osten der Bundesrepublik, genauso wie die Autobauer
von General Motors in Detroit. Abschottungsmaßnahmen wechseln sich ab mit neoliberalen Maßnahmen und Parolen, je nachdem was der
einheimischen Wirtschaft gerade am meisten nützt. Und das gilt selbstverständlich auch für die ganz Großen im Konzert. Ein Blick auf die
Geschichte genügt. Erst als ihre heimischen Industrien stark genug waren, um vor der ausländischen Konkurrenz bestehen zu können, erst
als ihre Ökonomien eine bestimmte Stärke besaßen, begannen sie sie ihre Grenzen ganz vorsichtig für Mitkonkurrenten zu öffnen. Taiwan,
Südkorea, Singapore und neuerdings Malaysia, auch sie verfuhren so. Zarte Pflänzchen müssen gehegt und gepflegt werden. Wenn wir
dies den armen Länder nicht zugestehen, nehmen wir ihr ihnen jede realistische Entwicklungschance.
Noch einen Grund gibt es von einer Fiktion zu sprechen: Monopole. Dort wo Monopole herrschen, ist selbstverständlich kein Platz für freie
Märkte oder freien Wettbewerb. Nach den selbst ernannten Regeln des Neoliberalismus spricht man von einem Monopol, wenn 5
Unternehmen mindestens 50% eines Marktes beherrschen. Danach müssen wir bei den Gebrauchsgütern, in der Automobilindustrie, bei
den Fluggesellschaften, der Raumfahrtindustrie, den elektrisch und elektronischen Geräten, sowie in der Stahlindustrie von einem Monopol
sprechen. In anderen wichtigen Bereichen sind wir mit 40% nahe dran: der Ölindustrie, der PC-Produktion und den Medien.
Was immer wir kaufen, was immer wir konsumieren, mit welcher Airline wir auch die Sonne suchen, wo immer wir tanken, mit welcher
Software im Internet surfen, welches TV-Programm wir auch wählen - wir können sicher sein, fast immer haben wir es mit einem Monopol
oder mit einem monopolartigen Anbieter zu tun, denn mittlerweile findet die "… gesamte Produktion der Weltwirtschaft (…) zunehmend unter
dem Dach einiger weniger gigantischer Firmen statt: Die Top 200 halten 90 Prozent aller Patente in der Welt; sie erzeugen, verarbeiten und
verkaufen einen großen Teil unserer Nahrung; sie liefern Öl für unsere Autos und Heizungen; sie betreiben die globalen Medien- und
Unterhaltungsindustrie für Milliarden von Menschen; sie produzieren den größten Teil der Software und bauen die Computer, auf denen sie
läuft. Sie bauen die Flugzeuge und Autos, in denen wir reisen, sie produzieren den größten Teil unserer Kleidung, liefern fast alle Bank- und
Finanzdienste und bestimmen auch zunehmend über das Gesundheitswesen. Nicht zuletzt produzieren die Top 200 nahezu sämtliche
Waffen für die vollgestopften Arsenale aller Staaten." (Charles Derber). Siemens, Mikrosoft, Sony, IBM, General Motors, Toyota, Nike,
Nestle, Coca Cola, Nokia, Mansanto, McDonalds, FOX-TV und wie sie auch alle heißen mögen, überall auf der Welt tummeln sich die
Monopolkonzerne und dominieren die Märkte.
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-
Information: Die Welt der Bilder und der Informationen wird von 6 Konzernen beherrscht. AOL-Time-Warner,Disney-ABC,
Viacom-CBS (Paramount), die News Corp (Fox) und Sony. Allein die Murdoch Gruppe News Corp ist auf vier von fünf Kontinenten
präsent, mit 800 Gesellschaften in 52 Ländern.
-
Fluggesellschaften: Die großen Fluglinien der Welt haben sich zu so genannten "internationalen Allianzen" zusammen
geschlossen, zu strategischen Partnerschaften. Zurzeit (2004) gibt es fünf: Star Alliance, Oneworld, Skyteam, Qualifyer und KLMNorthwestern. Im Jahr 2000 brachten es diese fünf Allianzen auf 58% aller Fluggäste.
-
Patente: 90% aller Patentrechte entfallen auf die multinationalen Konzerne.
-
Nahrungsmittel: Die 10 größten Nahrungsmittelkonzerne besitzen 85% der Marktanteile im Bereich der Pestizide, 60% im
Bereich der Tiermedikamente, 35% im Bereich der Pharmazeutika und 32% beim Saatgut.
Niemand von den Bittstellern der Dritten Welt kann sich diesen Giganten entgegenstellen. Punktum. Nehmen wir den Agrarmarkt. Länder
wie Mali, Mozambique oder auch Ruanda gehören zu jenen 49 ärmsten Nationen, die nur etwa 0,5% des Welthandels bestreiten,
größtenteils mittels Agrarprodukten. USA, Kanada, Japan und die EU sind demgegenüber an 80% des Welthandels beteiligt. Die OECDStaaten wendeten allein im Jahr 2002 335 Milliarden Dollar auf, um ihre Landwirte zu unterstützen. Man schätzt, dass z.B. die afrikanischen
Bauern 70 Milliarden Dollar pro Jahr mehr einnehmen würden, wäre allein Europa bereit, seine Agrarsubventionen zu streichen, ein
Vorgang, der seit langem von den armen Ländern massiv kritisiert wird.
In anderen Bereichen sieht es ähnlich aus. Selbst George W. Bush, ein enthusiastischer Freund des Freihandels, scheute sich nicht die
amerikanischen Stahlwerke durch Einfuhrsperren, Zölle, Exportsubventionen und "Buy American" Kampagnen zu schützen, als es ihm
passend erschien, ebenso wenig wie er die einheimische Holzindustrie, die Textilindustrie und die amerikanischen Farmer unterstützte.
Viele Branchen, auch in den USA, sind mittlerweile durch Billigkonkurrenten gefährdet und fürchten um den massiven Verlust von
Arbeitsplätzen. Zuckerindustrie, Maisanbau oder eben auch die Flugzeugherstellung, Bush steht daheim unter gehörigen Druck von Seiten
der einheimischen Wirtschaft, von Branchen, die geschützt werden wollen vor unliebsamer Konkurrenz aus Lateinamerika, aus dem Fernen
Osten oder auch aus dem alten Europa. Unter Ronald Reagan hieß diese Politik "Reagan Protectionism", denn auch er kümmerte sich
intensiv um den Schutz der amerikanischen Wirtschaft und ihrer Interessen, entgegen all seiner radikalen neoliberalen Floskeln. Und so
befürchten schon manche der mittlerweile etwas irritierten amerikanischen Handelspartner, dass die nächsten vier Jahre unter Bush junior
ganz verlaufen könnten, als erwartet. Entgegen aller Prognosen nach Bush Wiederwahl im Jahr 2004 könnten es tatsächlich eher Jubeljahre
für den Protektionismus werden. So gerieten sich beispielsweise Ende des Jahres 2004 der europäische Handelskommissar Peter
Mandelson und sein amerikanischer Kollege heftig in die Haare, da die USA sich weigerten "zahlreiche Exportsubventionen abzuschaffen,
die die Welthandelsorganisation (WTO) längst für unrechtmäßig erklärt“ hatte". Peter Mandelson drohte daraufhin europäische Strafzölle
gegenüber den USA nicht zurückzunehmen." ("Die Zeit 2/2005). So ist das mit tollwütigen Hunden, manchmal fallen sie sogar ihre eigenen
Herrchen an.
10.10 Wachsende Armut auf den Inseln des Reichtums: In der Wohnstube des Neoliberalismus
"Lasst uns gemeinsam reich werden," rief Heinrich von Pierer, der Ex-Chef von Siemens, seinen chinesischen Geschäftsleuten bei einem
Galadinner zu, auf chinesisch versteht sich, nicht auf englisch, er hatte sich augenscheinlich gut vorbereitet. So ist das mit der Gier,
Dagobert Duck bekommt niemals genug. Und dementsprechend macht Siemens auch keinen Hehl daraus, wie es noch reicher zu werden
gedenkt: Arbeitsplatzverlagerung ins Ausland, Arbeitsplatzvernichtung in Deutschland und für den zurückbleibenden Rest sozialer Raubbau
auf breiter Front mittels groß angelegter Erpressung. 63.000 Arbeitsplätze haben sich bei Siemens Deutschland inzwischen in Luft aufgelöst,
während im Ausland 138.000 dazu gekommen sind. "Offshoring" heißt das auf Neudeutsch. Ab July 2004 wurde bei Siemens wieder die 40
Stundenwoche eingeführt, ohne Lohnausgleich versteht sich. Das ging ganz locker über die Bühne, denn die Androhung von 30.000
möglichen Entlassungen, sofern die Lohnkosten nicht senkt würden, sowie die Pläne, die Produktion der Handys und der schnurlosen
Telefonen von Bocholt und Kamp-Lipolt nach Ungarn zu verlegen, zog. Am Ende hatte Siemens seine Handysparte doch verkauft, an Benny
Q, einem südkoreanischen Konzern, und dieser ging 2006 in die Insolvenz, selbstverständlich nachdem das Know how abgezogen war.
Gleichzeitig kündigte Siemens an, seine Dividende um 13% zu erhöhen, insgesamt 1 Milliarde Euro sollte von dem 5 Milliarden Euro Gewinn
des Jahres 2004 an die Aktionäre ausgeschüttet werden. Des einen Leid, des anderen Freud. Auch die Deutsche Bank verfährt ähnlich:
Obwohl sie soviel verdient, wie seit vielen Jahren nicht mehr, obwohl sie im Jahr 2004 einen Vorsteuergewinn von 6,5 Milliarden Euro
erzielte, und obwohl sie sich in den letzen Jahren schon von 21.000 ihrer ehemals 85.000 Mitarbeiter getrennt hatte, entließ sie weitere
6.000 Angestellte (Februar 2005). Die Deutsche Telekom verfährt ganz genauso: Seit ihrer Privatisierung vor 10 Jahren (1995) hat sie sich
von 112.000 Mitarbeiter getrennt.
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Abbildung 57: Rückgang industrieller Arbeitsplätze im Westen (Spiegel)
Das Jahr 2004 war ein gutes Jahr für die erste Riege der deutschen Konzerne, sie konnten ihre Gewinne um insgesamt 60% steigern: E-On
machte +13%, BASF +55%, Deutsche Bank +81%. Die Gewinne der Kapitalunternehmen stiegen seit 1993 inflationsbereinigt um fast 60%
("Die Zeit" vom 11.11.2004). "Wohin mit dem ganzen Geld?", schrieb der Spiegel angesichts dieser Zahlen dann auch (48/2004).
"Nirgendwo in ganz Europa verdienen die Großunternehmen derart gut, nicht einmal in den Vereinigten Staaten fahren derzeit Wal-Mart,
General Motors und Co. so unverschämt hohe Gewinne ein."
"Die fetten Jahre sind vorbei", das mag für Ottonormalverbraucher gelten, nicht aber für die Shogune. Ihre Geschäfte brummen, ihre
Gewinne steigen, ihr Reichtum vermehrt sich in schwindende Höhen. "Die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen," ist,
so Herold Jörg, Volkswirt der Dresdner Bank in Frankfurt, "hervorragend." Die im DAX enthaltenen Unternehmen konnten ihre Gewinne
allein im Jahr 2003 um 30% steigern. VW, Mercedes, Siemens, Continental, Deutsche Bank - sie alle schreiben schwarze Zahlen.
Deutschland erlebt eine Krise ganz neuer Art. Obwohl die Weltwirtschaft wächst, wie seit 30 Jahren nicht mehr, obwohl die deutschen
Exporte stärker steigen als in allen anderen großen Industrieländern, obwohl die deutschen Unternehmen hervorragend verdienen, steigt die
Arbeitslosigkeit dramatisch weiter, auf 5.216.434 im Februar 2005. In dessen steigen die Gewinne der deutschen Kapitalgesellschaften, auf
geschätzte 22 Prozent für das Jahr 2005. (Rolf Schneider, Leiter der Volkswirtschaft der Dresdner Bank in der „Zeit" vom 3. März 2005).
Ein seltsam kontrastierendes Programm läuft derzeit: Während das reiche Fünftel immer reicher wird, kommt das arme Fünftel zunehmend
unter die Räder. Die Ränder des Mittelstands beginnen auszufransen, etwas, das ihm durchaus bewusst ist. Armut und sozialer Abstieg
macht vor niemanden mehr Halt. Ansehen und Bildung mag die Resistenz dagegen erhöhen, eine Erfolgsgarantie aber gibt es nicht. Eine
Studie der Universität Bielefeld zeigt: "Die Kluft zwischen arm und reich nimmt zu." Insbesondere seit 1993 hat der Zug in Richtung
Polarisierung deutlich an Fahrt aufgenommen. Der Elitenforscher Hartmann kommt zu dem Schluss, "dass die Chancen der unteren
Bevölkerungsschichten aufzusteigen deutlich gesunken" seien. Nach ihm ist der soziale Aufstieg heute schwieriger, als noch vor 30, 40
Jahren.“ ("Zeit" vom 23.9.2004).
Es ist augenscheinlich: Schon unter diesen ersten, bisher doch noch recht moderaten Schlägen des Neoliberalismus, beginnt der
gesellschaftliche Kitt in unseren westlichen Gesellschaften beängstigend schnell zu bröseln. Das reiche Fünftel unserer Gesellschaft, sowie
das arme Fünftel, beide verweigern dem Staat die notwendige Solidarität, beide haben sich mittlerweile vom Staat innerlich verabschiedet,
wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen: Die einen, weil sie ihn und seine Ressourcen zum Zwecke der Profitmaximierung
schamlos ausbeuten, sich aller gesellschaftlichen Verpflichtungen und sozialen Verantwortung entledigend, und die anderen, weil sie nicht
anders können, weil sie von ihm alimentiert werden müssen, aus den verschiedensten Gründen, sei es selbst verschuldet oder auch nicht.
Die Superreichen versuchen ihr schwer verdientes Geld am Finanzamt vorbeizuschleusen, legal oder auch illegal, ins Ausland zu retten, auf
geheime Nummernkonten, während die Verarmenden um ihr Überleben kämpfen, in Resignation und Depression und Dumpfheit
versinkend, in Gewalt und Suff und Hoffnungslosigkeit. Bedenkliche Entwicklungen, Entwicklungen, die aus Sicht der demokratischen Kultur
gefährlich sind. Auf den übrigen 60% der Bevölkerung liegt derweil die ganze fiskalische Last. Und nicht nur diese. Diese 60% der
Deutschen sind es, die gegenwärtig eine beispielslose Verunsicherung und Desillusionierung erleben, eine, die ihnen zunehmend den Spaß
an der Spaßgesellschaft raubt. Wir alle spüren, dass wir mit Hartz IV schnell nach unten "durchgereicht" werden können und das macht
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Angst. Kein Wunder. Das Risiko eines Arbeitslosen unter die Armutsgrenze zu fallen ist, laut dem Datenreport des Statistischen
Bundesamtes, dreimal so hoch wie das von Beschäftigten.
Um zu verstehen, was hier wirklich vor sich geht, will ich einen längeren Absatz aus dem Buch „Die Globalisierungsfalle“ von Hans-Peter
Martin und Harald Schumann zitieren. Er zeigt, mit welcher Arroganz und Skrupellosigkeit und Menschenverachtung die Shogune vor sich
gehen. Er wird Ihnen jede noch verbliebene Illusion zerstören. „Im September 1995 hatte Michael Gorbatschow im Namen seiner Stiftung
500 führende Politiker, Chefs von Industrie- und Medienkonzernen und Wissenschaftler nach San Franzisko eingeladen, ins luxuriöse
Fairmont-Hotel. Die Zukunft verkürzen die Pragmatiker im Fairmont auf ein Zahlenpaar und einen Begriff: „20 zu 80“ und „tittytainment“. 20
Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung würden im kommenden Jahrhundert ausreichen, um die Weltwirtschaft in Schwung zu halten. „Mehr
Arbeitskraft wird nicht gebraucht“ meint Magnat Washington Sycip. Ein Fünftel aller Arbeitssuchenden werde genügen, um alle Waren zu
produzieren und die hochwertigen Dienstleistungen zu erbringen, die sich die Weltgesellschaft leisten könne. Diese 20 Prozent werden
damit aktiv am Leben, Verdienen und Konsumieren teilnehmen – egal, in welchem Land. Das eine oder andere Prozent, so räumen die
Diskutanten ein, mag noch hinzukommen, etwa durch wohlhabende Erben. Doch sonst? 80 Prozent der Arbeitswilligen ohne Job? „Sicher“,
sagt der US-Autor Jerry Rifkin, Verfasser des Buches „Das Ende der Arbeit“, „die unteren 80 Prozent werden gewaltige Probleme
bekommen“. Sun-Manager Cage legt noch einmal nach und beruft sich auf seinen Firmenchef Scott McNealy: Die Frage sei künftig „to have
lunch or be lunch“ zu essen haben oder gefressen werden … Im Fairmont wird eine neue Gesellschaftsordnung skizziert: Reiche Länder
ohne nennenswerten Mittelstand – und niemand widerspricht. Vielmehr macht der Ausdruck, „tittytainment“ Karriere, den der alte Haudegen
Zbigniew Brzezinsky ins Spiel bringt. Der gebürtige Pole war vier Jahre lang Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter,
seither beschäftigt er sich mit geostrategischen Fragen. „Tittytainment“, so Brzezinsky, sei eine Kombination von „entertainment“ und „tits“,
dem amerikanischen Slangwort für Busen. Brzezinsky denkt dabei weniger an Sex als an Milch, die aus der Brust einer stillenden Mutter
strömt. Mit einer Mischung aus betäubender Unterhaltung und ausreichender Ernährung könne die frustrierte Bevölkerung der Welt schon
bei Laune gehalten werden.“
Sie sehen, die Shogune mögen vieles andere sein, dumm sind sie nicht: „Notwendige Illusion“, „Konsens ohne Zustimmung“, „Tittytainment“
- vor diesem Hintergrund sollten Sie das, was jetzt folgt, begreifen, auch den griffigen Slogan „Fordern und Fördern“, den die rot-grüne
Bundesregierung unter Schröder in ihrer Agenda 2010 unter das Volk brachte. Wie das Fördern funktionieren soll bei inoffiziellen
Arbeitslosenzahl von etwa 8,6 Millionen, müssen uns die Herren da oben allerdings noch plausibel machen.
Armut. Deutschland ist ein reiches Land. Sein Geldvermögen hat sich zwischen 1991 und 2004 mehr als verdoppelt, von 2,02 Billionen auf
4,41 Billionen. Seine sozialen Leistungen sind selbst in Europa immer noch Spitze, nur übertroffen von den skandinavischen Ländern. Auch
in Sachen Armutsrisiko ist Deutschland überdurchschnittlich gut aufgestellt, lediglich in Dänemark und Schweden ist das Risiko arm zu
werden, noch geringer. Dennoch müssen wir feststellen: Maßloser Reichtum und beklemmende Armut sind in Deutschland weit verbreitet
und in Zunehmen begriffen, besonders seit Hartz IV (Januar (2005). Die Ursachen von Armut sind leicht auszumachen: Arbeitslosigkeit,
Niedrigeinkommen, überhöhter Konsum, unwirtschaftliche Haushaltsführung, Trennung, Scheidung, Krankheit, gescheiterte
Selbstständigkeit, Kinder. Etwa 18% aller Vollbeschäftigten sind in Deutschland bereits im Niedriglohnsektor beschäftigt. Die Schwelle zum
Niedriglohn liegt bei zwei Drittel des mittleren Einkommens, im Jahr 2004 waren des 1800 Euro brutto. 3,6 Millionen Beschäftigte arbeiteten
für weniger. Nur noch 68% der Westdeutschen werden von Tarifverträgen erfasst. Im Osten sind es gar nur 53%. Aber selbst Tariflohn zu
erhalten bedeutet nicht, dass sie auch davon leben können, deshalb bekommen knapp eine Million Menschen ergänzend zu ihrem Lohn
Arbeitslosengeld II. „Niedrige Löhne“, so die „Zeit“, würden nicht unproduktive Arbeit abbilden, sondern vor allem (die) Machtverhältnisse am
Arbeitsmarkt (21.9.2006). Und die sind eindeutig.
Ungleichgewichte. Pro Kopf gesehen, besitzt jeder Deutsche ein Geldvermögen von 133.000 Euro (Bargeld, Spareinlagen, Termingeld,
Wertpapiere, Investmentszertifikate, Aktien, Bauspareinlagen und Versicherungen). Rechnen wir dieses Nettovermögen auf Körpergröße
um, dann wäre jeder Deutsche durchschnittlich 175 cm groß, was natürlich überhaupt nicht der Realität entspricht. Stellen Sie sich vor, Sie
säßen auf einem Stuhl und innerhalb von einer Stunde würden alle Haushalte Deutschlands an Ihnen vorbeiziehen, dann würde sich
folgendes Bild ergeben: In den ersten sechs Minuten sehen Sie rein gar nichts, da alle Haushalte verschuldet, bzw. ohne Vermögen sind.
Nach zwanzig Minuten haben die Menschen vor Ihnen eine Größe von 19 Zentimetern erreicht, nach dreißig 60 und nach vierzig erscheinen
die ersten Durchschnittsmenschen von 1,75 m, schnell abgelöst von 3,40 m Riesen. Nach neunundfünfzig Minuten hätte ihr Gegenüber vor
Ihnen die Zehnmetermarke überschritten, was immer noch recht klein ist, angesichts der 100 reichsten Deutschen, die durchschnittlich 41km
in den Himmel ragen. (nach „nak“, Nationale Armutskonferenz).
Das Armutsrisiko in unseren Gesellschaften wächst besorgniserregend. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der rot-grünen Regierung kam
für das Jahr 2003 zu dem wenig schmeichelhaften Schluss, dass der Wohlstand in Deutschland sehr ungleichmäßig verteilt sei. Nach ihm
hat das Armutsrisiko im letzten Jahr zugenommen, von 12,1 % auf 13,5 %. Nach einer Studie des Deutschen Instituts der
Wirtschaftsforschung (DIW) waren es im Januar 2005 bereits 15,3%, 12,6 Millionen Menschen, knapp ein Fünftel, die weniger als mit 60%
des Durchschnittseinkommens auskommen mussten, also dessen, was allgemein üblich ist. Familien und Kinder unter 16 Jahren und
Alleinerziehende waren in dieser Gruppe überdurchschnittlich oft vertreten. Kinder stellten mit 15% die größte Gruppe der
Sozialhilfeempfänger dar. Armut ist aber nicht nur ein finanzielles Problem, Arme sterben im Durchschnitt 7,4 Jahre früher. Arbeitslose
weisen eine 20 mal so hohe Suizidrate auf, ihre Sterblichkeit ist 2,6 mal so hoch, wie im Vergleich zu ihren arbeitenden Kollegen. Viele arme
Familien gehen nicht mehr zum Arzt. Seit Einführ von Praxisgebühr und Zuzahlungen ist die Masernimpfung bei Kindern um 30%
zurückgegangen, obwohl Kinder immer noch davon befreit sind, was auf einen gravierenden Mangel an Aufklärung unter den Betroffenen
hinweist. Hans Jürgen Marcus, der Sprecher der Armutskonferenz, warnt davor, dass Atemwegserkrankungen wie Lungenentzündungen
und Tuberkulose auf dem Vormarsch sind (Armutskonferenz 2004).
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Abbildung 58: zunehmende Armut in den Wohlstandsländern (London)
"Die Trendwende ist da, die Armut nimmt eindeutig zu", so auch Ulrich Schneider, der Hautgeschäftsführer des Paritetischen
Wohlfahrtsverbandes ("Die Zeit" vom 12.8.2004). "Es gibt immer mehr Arme, Bettler und Suppenküchen", auch bei uns in Deutschland.
Berlin ist schon heute ein einziger Sozialfall, dort lebt jeder 13. Haushalt von Vater Staat. In 380 Städten der Republik werden täglich
"überschüssige" Nahrungsmittel eingesammelt und an Suppenküchen und Obdachlosenheimen verteilt. 500.000 Bedürftige werden auf
diese Weise unterstützt. Die absolute Zahl der Sozialhilfempfänger stieg seit 2000 von 2,68 Millionen auf 2,8 Millionen im Jahr 2003 an. Die
"notwendigen Reformen" benachteiligen eindeutig die sozial Schwachen. Hartz IV wird diesen Zustand verschärfen, so das Resümee Ulrich
Schneiders. Der Trend ist ungebrochen. Nach Berechnungen des Kinderschutzbundes (Tagesspiegel vom 28.7.2006) hat sich die
Kinderarmut seit 2004 mehr als verdoppelt. Danach leben in Deutschland 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche auf dem Niveau von
Sozialhilfe, jeder sechste Minderjährige. Als Hauptursachen für diese "Infantilisierung der Armut" gelten die anhaltende
Langzeitarbeitslosigkeit und die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe.
Nach Peter Wahl, Mitarbeiter von WEED (= Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung, Mitglied des Koordinierungskreises von ATTAC), wird
Hartz IV für viele Betroffene Armut bedeuten, selbst nach den recht großzügigen Richtlinien für Armut, die die EU festgesetzt hat. Absolut
arm ist, wer weniger als einen Dollar pro Tag zur Verfügung hat. In diesem Fall ist das physische Überleben direkt gefährdet. Diese
Definition der Weltbank ist wenig hilfreich und kaum sinnvoll, wenn man die Lebensbedingungen in den reichen Ländern untersuchen will.
Daher wurde der Begriff der "relativen Armut" eingeführt. Man spricht von einer relativen Armut, wenn das Pro-Kopf-Einkommen einer
Person (genauer gesagt das "Nettoäquivalenzeinkommen") unter 60% des Bevölkerungsdurchschnitts liegt. Mit dieser Summe ist die
Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben einer Gesellschaft nicht mehr möglich (= soziale und kulturelle Ausgrenzung). Diese Definition
ist in der EU heute verbindlich. Sie ist immer noch recht großzügig, weil in ihr alle oberen und unteren Extreme eingeglättet werden, d.h. die
ganz Reichen und die ganz Armen werden aus der Berechnung herausgenommen. Nach dieser Definition liegt die monetäre Armutsgrenze
in den alten Bundesländern bei 730,20 Euro pro Kopf, in den Neuen bei 604,80. In den ersten beiden Jahren liegen die Bezieher des
Arbeitslosengeldes II (ALG II) noch knapp oberhalb dieser Grenze, ab dem 3. Jahr jedoch darunter (662 Euro). Noch schlechter sieht es
aus, wenn beide Partner ALG II Empfänger sind, d. h. eine "Bedarfsgemeinschaft" bilden, dann erhält jeder von ihnen schon im ersten Jahr
677,50 Euro pro Monat, das sind 62,70 Euro weniger, als die EU als Grenze für die relative Armut festgelegt hat. Die Frankfurter Rundschau
(16.9.2004) folgerte angesichts dieser Daten: "Es gibt nichts zu beschönigen an den Lebensgrundlagen in Deutschland".
3,1 Millionen Privathaushalte waren im Jahr 2002 verschuldet. 1991 waren es noch 2,8 Millionen. Nach einer Studie des DIW stieg der
Armutsanteil der Bevölkerung in Deutschland bis zum Jahr 2003 auf 15,3 Prozent, das sind 12,6 Millionen Menschen, fast ein Fünftel (18%)
mehr als 1998. Dazu gehören auch sage und schreibe drei Millionen Erwerbstätige! Armut vererbt sich, und das nicht nur monetär. Kinder
von Sozialschwachen haben deutlich schlechtere Zukunftsaussichten, denn gegenüber dem Nachwuchs von Gutverdienern mit
entsprechenden sozialen Status, besitzen sie eine 7,4% geringere Chance auf ein späteres Studium.
Reichtum. Das Geldvermögen (Bargeld, Spareinlagen, Termingeld, Wertpapiere, Investmentzertifikate, Aktien, Bauspareinlagen,
Versicherungen) hat sich in Deutschland zwischen 1991 von 2,02 Billionen auf 4,10 Billionen glatt verdoppelt. Dieses gewaltige Vermögen
ist aber extrem ungleich verteilt. Das obere Zehntel der Gesellschaft besitzt 47% (ein Plus von 2% gegenüber 2003), während den unteren
50% weniger als 4% gehören. Das ärmste Zehntel besitzt nichts oder weniger, d.h. es ist verschuldet. Dementsprechend steil angestiegen
ist der Anteil der Millionäre in Deutschland, von 510.000 (1997) auf 756.000 (2004). 93 Milliardäre leben bei uns, mit einem
durchschnittlichen Vermögen von 258 Milliarden Euro (2004), ein monetärer Anstieg gegenüber 2003 um 13,6 Milliarden. Die beiden
reichsten Deutschen sind übrigens die Aldi-Brüder, sie besitzen zusammen 30,3 Milliarden Euro. Interessant ist dabei, dass die beiden
reichsten Männer Deutschlands ihr Geld genau dort in dem Bereich scheffelten, wo die Bezahlung, die Arbeitsbedingungen und die soziale
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Absicherung mit am schlechtesten ist, wie bei Wal-Mart, dem großen Bruder von Aldi aus Amerika. Lidl, Penny, Schlecker – alles
Unternehmen, die sehr viel Geld verdienen, aber schlecht bezahlen.
Die meisten Vermögenden haben übrigens schon groß angefangen, den Selfmademan gibt es eher selten, das legt uns jedenfalls der
Ökonom Dierk Hirschel nahe, der in einer Studie 12.000 reiche und weniger reiche Personen untersucht hat. (Uni Lüneburg). Nach seinen
Zahlen ist die Vorstellung - durch eigene Arbeit reich zu werden - eine Mär. Es ist genau anders herum: „Wo das Ergebnis, also Einkommen
und Vermögen sehr ungleich verteilt ist, ist Chancengleichheit unmöglich.“ (Elitenforscher Hartmann, aus: „nak“). Etwas plastischer
ausgedrückt: Der Teufel scheißt gern auf einen Haufen, der schon da ist. Ich denke, darauf bezog sich auch Herr Imhoff (Mitarbeiter eines
Münchner Bankhauses), als er in dem Zeitinterview vom September 2004 sagte: "Meine Kunden (die Superreichen) zahlen trotz ihres
Reichtums kaum Abgaben. Und zwar ganz legal im Einklang mit den Steuergesetzen."
Für uns Normalsterbliche, diejenigen 60%, auf denen die ganze fiskalische Last dieses Landes ruht, sieht die Steuerwelt etwas grausamer
aus. 1960 musste ein Arbeitnehmer nach Berechnung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in Düsseldorf im Schnitt 16%
seines Einkommens ans Finanzamt abführen. Gewinn- und Vermögenssteuern wurden mit demgegenüber mit 23% belastet. Heute liegt die
durchschnittliche Abgabenlast eines Arbeitnehmers bei 35% (= direkte Steuern) Gutverdiener müssen sogar weit mehr als die Hälfte ihres
Einkommens an den Staat abführen. Rechnen wir die indirekten Abgaben hinzu, wird deutlich, was wir Schultern müssen. Auch die kleinen
und mittelständischen Betriebe stöhnen unter der fiskalischen Last, während die Großen der Branche schon lange kaum noch Steuern
zahlen, da sie ihre Gewinne hier, mit den Verlusten dort verrechnen können. (sh. auch die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer 1998).
Der Wiesbadener Wirtschaftsprofessor Lorenz Jarass hat ermittelt, "dass die deutschen Kapitalgesellschaften bis zur letzten Reform (2001)
effektiv nur einen Steuersatz von 20 Prozent zahlten, danach sogar nur noch 10 Prozent." Deutschland verfügt über die höchsten
Steuersätze in Europa, erzielt damit aber nur die geringsten Einnahmen. Laut der EU-Kommission kommt Deutschland, effektiv gesehen,
gerade mal auf 0,6% des Bruttoinlandsprodukts, so wenig wie kein anderes europäisches Land. Nur noch Litauen erzielt ähnlich niedrige
Einkünfte aus der Besteuerung ihrer Unternehmen. ("Die Zeit", 17.2.2005). Die nominale Steuerbelastung von Kapitalgesellschaften lag im
Jahr 2004 Deutschland bei 38,6% (Platz 1 in Europa). Gezahlt haben sie aber weitaus weniger, der implizierte Steuersatz lag nur bei 20,1%
(Platz 15)), und damit steht Deutschland am Ende der europäischen Statistik, nur Slowakei (18,3%), Griechenland (17.0%), Estland (10,9%)
und Litauen (6,5%) verlangten weniger. In den USA liegt die Belastung der Unternehmen bei 18,6% und in Japan bei 15,9%.
Dementsprechend sind die Einkünfte des deutschen Fiskus aus der Kapitalertragssteuer eingebrochen, von 20,9 Milliarden Euro (2001) auf
9,9 Milliarden (2004). Lag die Steuerquote im Jahr 1991 noch bei 22,5% (= 338,4 Milliarden Euro), war sie im Jahr 2004 auf 20,3% (= 442,4
Milliarden Euro) geschrumpft. Woran das liegt ist eindeutig: Die Shogune bedienen sich bei den kleinen Leuten, dass Geld wird von unten
nach oben umverteilt. Seit den 70er Jahren erfolgt ein Geschenk dem anderen. Insbesondere wären da zu nennen: die Abschaffung der
Gewerbekapitalsteuer (1998), die Reduzierung des Einkommenspitzensteuersatzes von 53% auf 47% (1994), auf 45% (2004) auf
schließlich 42% (2005), die Einführung eines Erbschaftssteuer-Freibetrages von 225.000 Euro (2004), die Senkung des
Körperschaftssteuergesetzes von 45% auf 40% (1999) und 25% (2001) und vor allen Dingen die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die
Einkommenssteuer (= die Verrechnung von Gewinn und Verlust miteinander). Gewinn- und Vermögenseinkommen wurden im Jahr 1960
noch mit 20% direkt besteuert, 2003 waren es nur noch 5,7. Derweil stieg die Lohnsteuerbelastung von 6,3% (1960) auf17,7% (2004).
(Quelle: Statistisches Bundesamt). Die deutschen Steuergesetze gleichen einem Schweizer Käse, wer viel hat und international aufgestellt
ist, der kann diese Löcher für sich nutzen und entschlüpfen, ganz legal. Das sollten wir bedenken, wenn unsere Shogune wieder zu
jammern beginnen.
Hinsichtlich des Reichtums in Deutschland resümiert „Die „Zeit“ denn auch: "In den vergangenen zehn Jahren ist das zusätzliche
Geldvermögen vor allem jenen zugeflossen, die schon eine Menge hatten, die Ungleichheit der Verteilung hat deutlich zugenommen.
(23.9.2004).
Während das Geldvermögen seit 1950 um das 207 fache angestiegen ist, haben die Bruttolöhne nur um das 17 fache zugelegt, mit seit
Jahren rückläufiger Tendenz. Kein Wunder, die Lohnstückkosten liegen heute unter dem Niveau von 1997, eine direkte Folge der
drastischen Rationalisierungen, die Reallöhne sind um 4% geschrumpft, die Preise aber haben um 7 % zugelegt. Die Lohnquote am
gesamten Volkseinkommen ist entsprechend gefallen, von 73% (Ende der 70er Jahre) auf 59% (2004). Die Gewinnquote der Unternehmen
dagegen ist gestiegen, von 27% auf 41%. Da kann man sich schon mal was gutes tun, dachten wohl auch die Manager der DAX notierten
Unternehmen, ihre Gehälter stiegen in den letzten Jahren um sage und schreibe 180%. „Bedenklich dabei ist, dass die Investitionen trotz
kräftig steigender Gewinneinkommen zurückgehen. Das heißt, dass immer mehr Gewinne auf den Finanzmärkten statt in die reale
Wirtschaft und Arbeitsplätze investiert werden.“ („nak“). Eine explosive Mischung, schon seit längerem warnen Fachleute vor einem Kollaps
der internationalen Finanzmärkte, der jede Zukunftsplanung zur Makulatur werden lassen würde.
Und die 756.000 Millionäre in Deutschland? Wo verstecken sie ihr Geld vor dem Zugriff des Fiskus? Allein 500 Milliarden Euro sollen auf
Schweizer Nummerkonten lagern. Ab einer Million können auch sie dabei sein, ab dieser Summe werden sie für die Schweizer Großbanken
interessant. Nebenbei bemerkt, wenn wir die Schweiz schon hier erwähnen: Das Vermögen der 3 reichsten Schweizer Privatpersonen
entspricht dem der restlichen 97 Prozent (Jean Ziegler), ein Umstand der Vertrauen schafft. Falls Sie ihr Geld transferieren wollen, Sie
können sicher sein, ihr Geld ist drüben in besten Händen, eine ganze Nation lebt offenbar gut vom dem illegalen Geld krimineller
Geldwäscher, internationaler Steuerflüchtlinge und deutscher Millionäre, mitten im Herzen der Freiheit.
Arbeit und Brot. Strukturwandel. Man sagt, dass alles was in den Vereinigten Staaten geschieht, mit einer gewissen Zeitverzögerung
irgendwann auch zu uns kommt. Es lohnt sich also mal `rüber zu schauen über den Teich. In den Vereinigten Staaten, so David Morris in
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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"Freihandel der große Zerstörer" (Schwarzbuch der Globalisierung Kapitel 8), dem am weitesten entwickelten kapitalistischen Land, auch in
Sachen Neoliberalismus, ist der Lebensstandard seit 1980 ständig gesunken. Verschiedene Untersuchungen sind zu dem Schluss
gekommen, dass der amerikanische Arbeitnehmer 1988 fast einen halben Tag länger arbeiten musste, um auf den gleichen Lohn zu
kommen wie 1970, und dass der durchschnittliche amerikanische Arbeitnehmer heute über weniger Freizeit verfügt als vor 200 Jahren.
Noam Chomsky kommt in seiner Analyse hinsichtlich der USA zu dem gleichen Schluss: "Für den größten Teil der Nordamerikaner sind die
Einkommen seit 15 Jahren ständig gefallen, die Arbeitsbedingungen schlechter, gesicherte Arbeitsplätze seltener geworden. Neu ist jedoch,
dass sich diese Tendenz in der wirtschaftlichen Erholungsphase fortsetzt. Die Ungleichheit ist so stark wie seit 70 Jahren nicht mehr und
einschneidender als in anderen Industrienationen. Keine Industriegesellschaft hat so viele in Armut lebende Kinder wie die USA, gefolgt von
der übrigen englisch sprechenden Welt." ("Profit over People"). Auch die Bereiche in denen gearbeitet und Geld verdient wird, haben sich
dramatisch gewandelt. Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor haben massiv zugenommen, während sie in den klassischen Sektoren wie der
Industrie deutlich abgenommen haben. Hinzu kommt eine ständige Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung, der Zeitarbeit und der nur
befristeten Arbeitsverträge mit der entsprechenden geringeren Bezahlung.
Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten ist in den USA stetig von etwa 12 Millionen (1984) auf 16 Millionen (1997) angewachsen. In allen hoch
entwickelten Ländern ist diese Tendenz zu beobachten. Die Mitarbeiter von McDonalds/USA z. B. sind zu etwa 80% Teilzeitbeschäftigte. Bei
Wal-Mart/USA liegt der Anteil bei 30%, wobei bei Wal-Mart die Vollbeschäftigung schon mit 28 Wochenstunden beginnt. Auch die Qualität
der Arbeitsverträge hat sich verschlechtert: Zunehmend Zeitverträge, mit deutlich schlechteren Konditionen, was die sozialen Absicherungen
und Urlaubstage angeht.
Noami Klein hat die negativen Auswirkungen dieser sich verändernden Arbeitswelt in ihrem Buch "No Logo!" untersucht. Sie schreibt: "Der
Arbeitsplatzabbau in der Fertigungsindustrie und die Wellen der Sparmaßnahmen im öffentlichen Dienst gingen alle mit einer gewaltigen
Zunahme der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor einher, so dass inzwischen 75% der Arbeitsplätze in den USA im
Dienstleistungsbereich und im Einzelhandel bestehen. … Heute verkaufen viereinhalb mal so viele Amerikaner Kleidung in Fachgeschäften
und Warenhäusern, wie Arbeiter benötigt werden, um die Kleidung zu weben und zu nähen.“ Und die Bezahlung? „Die meisten großen
Arbeitgeber in der Dienstleistungsbranche behandeln ihre Arbeitskräfte, als ob diese ihren Lohn nicht für wichtige Dinge wie etwa Miete oder
den Unterhalt von Kindern brauchten. Stattdessen behandeln die Arbeitgeber im Einzelhandel und in der Dienstleistungsbranche ihre
Arbeitskräfte wie Halbwüchsige - wie Studenten, die einen Ferienjob machen, um ihr Taschengeld aufzubessern, oder die auf dem Weg zu
einer erfüllteren und besser bezahlten Karriere nur einen kurzen Zwischenstopp einlegen wollen. Mit anderen Worten, es sind tolle Jobs für
Leute, die diese Jobs nicht wirklich brauchen." Angesichts der erbärmlichen Bezahlung fragt sie sich, wie Familien überhaupt von dem
wenigen Geld leben können, dass sie mit dieser Art von Arbeit verdienen. Der Vollzeitbeschäftigte ist in den USA mittlerweile zu einer
Minderheit geworden. Selbst zwei bis drei Jobs reichen heute dort vielfach nicht mehr aus, um genug Geld für ein würdiges Leben zu
verdienen.
Deutsche Wirklichkeiten. 392.000 Arbeitsplätze gingen allein im Jahr 2003 verloren (= Minus 1%). Es war das vierte Jahr in Folge. 2002
waren es 294.000 (= Minus 1,4%). Insgesamt waren noch 38,2 Millionen Menschen in Deutschland erwerbstätig. Die Zahl der gemeldeten
Arbeitslosen stieg im Februar 2005 auf knapp über 5,2 Millionen. Experten gingen allerdings von einer viel höheren, "verdeckten"
Arbeitslosigkeit aus, die bei etwa 7 bis 8 Millionen gelegen haben dürfte. In der Eurozone lag die offizielle Arbeitslosigkeit bei 12,6 Millionen
(= 8,9%), in der gesamten EU bei 19 Millionen. 26% der Arbeitslosen in Westdeutschland waren Langzeitarbeitslose, d.h. länger als 2 Jahre
arbeitslos. Im Osten lag ihre Quote bei 40%. Laut Umfragen der Deutschen Industrie- und Handelskammer gaben 43% aller befragten
Unternehmer an (2004), sie würden sich verstärkt außerhalb Deutschlands engagieren. Im Jahr zuvor waren es 30%. Die Führungsspitze
des Reifenherstellers Continental z. B. geht davon aus, dass ihr Unternehmen in spätestens 30 Jahren keine einzige Fabrik mehr in
Deutschland betreiben wird. Selbst die Deutsche Telekom, bis vor kurzer Zeit immerhin noch im Besitz des Bundes, beschäftigt inzwischen
ein Drittel ihrer Mitarbeiter im Ausland. Deutsche Unternehmen haben bisher rund 2,6 Millionen Arbeitsplätze ins Ausland verlagert. Nach
einer Studie der Boston Consulting Group könnten in den nächsten 10 Jahren weitere 2 Millionen dazu kommen.
Vielleicht ist das alles aber auch nur ein Mythos, ein Arbeitsplatzauswanderungsmythos sozusagen. Vielleicht sind es nur 300.000 Jobs, die
verloren gegangen sind, oder 500.000 oder eine Million, wer weiß das schon genau. denn eigentlich geht es gar nicht darum, wie viele Jobs
tatsächlich verloren gegangen sind. Es geht darum, Angst zu schüren, darum, die Menschen gefügig zu machen. All diese
Schreckenszahlen mit denen wir durch die Medien bombardiert werden, sind beileibe kein Zufall. Sie gehören zu einem wohldurchdachten
Plan neoliberaler Gehirnwäsche, der zur ideologischen Aufweichung der Bevölkerung führen soll, an dessen Ende der Konsens ohne
Zustimmung steht. Diese grausamen Zahlen in Umlauf zu bringen, das reicht schon aus, um die ideologische Machtbalance zwischen Arbeit
und Kapital in die gewünschte Richtung zu verändern. Ist es schließlich so weit, haben die marktradikalen Rauchbomben ihre beabsichtigte
Wirkung getan, dann kann der soziale Raubzug losgehen, Widerstände sind nun kaum noch zu erwarten.
Im Jahr 2003 waren von den 38,2 Millionen in Deutschland Beschäftigten 26,9 Millionen (= 70,4%) im Dienstleistungssektor tätig, also genau
dort, wo die soziale Demontage derzeit am härtesten zu schlägt. 81% der im Dienstleistungsbereich Beschäftigten sind Frauen, mit
Tariflöhnen (!), für die wir früher nicht einmal aufgestanden wären. So verdient ein Friseur im Osten im ersten Berufsjahr stolze 3,82 Euro in
der Stunde, eine Verkäuferin 5,82 und eine Floristin 7,75. Von April 1995 bis Mai 2003 stieg die Zahl der im Dienstleistungssektor
Beschäftigten um 3,5 Millionen (= 17%) auf 24 Millionen an. Der Verlust an Vollarbeitsstellen war dementsprechend: Sein Anteil sank um 3,5
Millionen auf 22,1 Millionen (März 1992 - März 2004). Das bedeutet: Von den insgesamt 38,2 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland
waren im Jahr 2004 16,1 Millionen (= 42%) in Teilzeit beschäftigt. Von diesen 16 Millionen Teilzeitarbeitsstellen besaßen nur 1,28 Millionen
(= 8%) einen festen Arbeitsvertrag. Während im Dienstleistungssektor insgesamt ein starker Anstieg von schlecht bezahlten, unsicheren
(prekären) Arbeitsplätzen zu beobachten ist, von denen man kaum seine Miete bezahlen kann, sank indessen im produzierenden Gewerbe,
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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traditionell das "Reich der Gewerkschaften", die Zahl der (gut bezahlten) Arbeitsplätze um 4,1 Millionen auf 11,3 Millionen (= 36%).
Innerhalb von nur 12 Jahren (1992 – 2005) schrumpften die industriellen Arbeitsplätze in Deutschland um stolze 2,3 Millionen auf 7,5
Millionen (USA von 3,4 Millionen auf 14,2).
Das im Dienstleistungssektor schlechte Löhne gezahlt werden, in denen nur Teilzeit gearbeitet wird, ohne feste Arbeitsverträge, ist
allgemein bekannt. Hinzu kommen die Minijobs, Ein-Euro Jobs, Ich-AG`s und die vielen Praktikanten, viele von ihnen arbeiten am Rande
oder gar unterhalb des Existenzminimums.
Das Wissenschaftszentrum Nordrhein Westfalen kommt in einer Studie (IAT Report 2006) zu dem Ergebnis, dass mittlerweile knapp 21%
aller abhängig Beschäftigten in Deutschland (= 6 Millionen) für Niedriglöhne arbeiten, d.h. für einen Lohn, der unter 9,83 Euro (West) und
7,15 Euro (Ost) liegt. 2,6 Millionen (= 9%) bekommen sogar noch weniger, sie erhalten einen Stundenlohn von 7,38 Euro (West), bzw. 5,37
Euro (Ost). Der IAT Report kommt zu dem Schluss, dass „Teilzeitbeschäftigte und Minijobber/Innen überdurchschnittlich häufig von
niedrigen Stundenlöhnen betroffen“ sind, und dass „der mit dieser Beschäftigungsform verbundene Steuer- und Beitragsvorteil von den
Beschäftigten häufig als Brutto-Lohnzugeständnis an den Arbeitgeber weitergegeben wird.“ Besonders Minijobber verdienen schlecht, „86%
arbeiten unterhalb der Niedriglohnschwelle“, d.h. sie sind arm, obwohl sie arbeiten.
Stichwort Gewerkschaften. Gewerkschaften, wie begrenzt ihr Einfluss auch sein mag, wie unvollkommen sie auch sein mögen,
Gewerkschaften sind die Schutzorganisationen der Arbeiter/Innen. Ohne Gewerkschaften sind die abhängig Beschäftigten völlig wehrlos
den Angriffen des internationalen Kapitals ausgesetzt. Im Jahr 2003 gehörten nur noch 22% der Beschäftigten (= 7,36 Millionen) 2004 dem
Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) an (1983 32%). Allein im Jahr 2003 hatten sich 340.000 Mitglieder vom DGB verabschiedet. Es
erscheint mir nicht klug, den Gewerkschaften genau dann massenhaft den Rücken zu zukehren, wenn man sie am meisten braucht. Doch
die Gewerkschaften müssen sich verwandeln. Sie müssen ihr Selbstverständnis ändern, und das werden sie: Druck erzeugt Gegendruck.
Noch nie seit dem 2. Weltkrieg waren die Gewerkschaften notwendiger als heute.
Gewerkschaftsarbeit ist in vielen Ländern der Welt ein riskantes Unterfangen geblieben, manchmal sogar ein lebensgefährliches. Der
"Internationale Bund Freier Gewerkschaften" (IBFG) ermittelte für das Jahr 2000 113 schwere Verletzungen der gewerkschaftlichen Rechte.
"Allein im Jahr 2000 wurden 210 Gewerkschafter ermordet, als vermisst gemeldet oder in den Selbstmord getrieben, 2931 Aktivisten wurden
zusammengeschlagen, verletzt oder gefoltert." (Le Monde Diplomatique). Falls Sie sich nun fragen sollten, was das mit uns hier zu tun hat,
dann zeigen Sie damit, dass Sie immer noch ein mangelndes Verständnis für die komplexen Zusammenhänge der globalisierten Ökonomie
haben. Neoliberalisierung bedeutet den wirtschaftlichen und sozialen Kampf aller gegen aller, international, weltweit. Dass was auf den
Philippinen geschieht, hat durchaus etwas mit unseren Arbeitsplätzen zu tun, auch mit dem, was wir für unsere Arbeit an Lohn bekommen.
Es darf uns einfach nicht gleichgültig lassen, wenn Unternehmen aus unseren Heimatländern Gewerkschafter verfolgen lassen, dies dulden,
verschweigen oder gar vertuschen. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie sich hinter ihren Subunternehmern verstecken, denn damit laden wir
sie ein, auch bei uns frecher zu werden. In diesem Sinne hängen unsere Arbeitsbedingungen eng mit den Arbeitsbedingungen in den
Billiglohnländern zusammen.
Die Gewerkschaftsfreiheit, das Streikrecht und die Tariffreiheit gehören zu unseren grundlegenden Rechten. Ohne internationale Solidarität,
ohne internationale Zusammenarbeit und Koordination wird es in Zukunft noch schwerer für die Gewerkschaften hierzulande werden. Der
Hammer der Standortverlagerung wird uns erpressbar machen. Er wird die Tarifverhandlungen bestimmen, das Streikrecht aushöhlen, die
demokratischen Freiheiten. Das Leiden einer Wendy Diaz ist eng mit unserem Schicksal verbunden. Wir sind nicht getrennt von ihr, schon
auf dieser recht "banalen" Ebene nicht. In diesem Sinn darf uns auch die Ermordung des nigerianischen Umweltaktivisten Kenule SaroWiwa (1995) nicht unberührt lassen, denn diese hat nicht nur etwas mit dem Ölmulti Shell und seiner skandalösen Rolle in Sachen
Umweltverschmutzung/Nigerdelta zu tun, sondern auch etwas mit seiner Haltung zu den grundlegenden Menschenrechten und zur
Demokratie. Nicht nur, weil es unmoralisch ist einen Umweltaktivisten zu ermorden, dass sollte eigentlich selbstverständlich sein, sondern
weil unsere Konzerne von Kontinenten stammen, die sich in ihrem Selbstverständnis und ihren Werten der Aufklärung verpflichtet fühlen.
Shell hat uns alle beschämt und der weltweiten demokratischen Bewegung Schaden zugefügt.
10.11 Fazit
Wenn es am Anfang dieses Kapitels heißt, Globalisierung ist Krebs, ist dies nicht als Floskel zu verstehen, sondern wortwörtlich: Krebs tötet
– Globalisierung tötet. Als der amerikanische Konzern Bechtel die Wasserversorgung in Bolivien kaufte, kam es in Cochabamba, der
drittgrößten Stadt Boliviens, zu Volksaufständen. Menschen, die von 2 Dollar pro Tag leben müssen, sollten plötzlich ein Viertel ihres
Einkommens für Trinkwasser ausgeben. Im Verlauf der Demonstrationen kam es gewalttätigen Ausschreitungen, die Armee und Polizei
schlug nicht nur äußerst hart zurück, sie schoss auf die unbewaffnete Menge. 17 Menschen starben, darunter Hugo Daza, er wurde nur 17
Jahre alt. Hunderte wurden schwer verletzt, darunter viele Kinder. Viele von diesen „Schwerverletzten“ werden zeit ihres Lebens unter den
Folgen der Gewalttätigkeiten zu leiden haben. Nicht wenige haben in diesen Auseinandersetzungen ihre physische und auch psychische
Zukunft verloren. Sie haben sie verloren, weil sie für ihr Recht auf bezahlbares Trinkwasser aufgestanden sind. Am Ende verlor Bechtel den
Kampf. Es gibt viele andere skandalöse Beispiele, das sollten wir nicht vergessen, wenn unsere fein herausgeputzten Herren in ihren gut
sitzenden Anzügen uns wiedermal ihre erfolgreichen Bilanzen präsentieren. Unsere eloquenten Manager gehen für ihren Erfolg über
Leichen.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Was zurzeit auf der Welt geschieht, was wir gegenwärtig an uns erleben, auch bei uns im Westen, ist im Grunde genommen nichts Neues.
Was wir sehen, ist vielmehr eine Wiederholung im Großen, was im Kleinen innerhalb der USA schon einmal geschah, am Ende des 19.
Jahrhunderts während des „Gilded Age“, des goldenen Zeitalters, heute natürlich sehr viel pointierter und nuancierter. Damals teilten die
Räuberbarone die USA unter sich auf, heute ist es die ganze Welt, die die Shogune unter sich ausmachen. Die Folge ist, dass sich alle nur
denkbaren Gegensätze gegenwärtig dramatisch zuspitzen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion war nur der Auftakt. Die große Krise des
Kapitalismus steht uns noch bevor, ob es ein Zusammenbruch oder ein Verglimmen werden wird, steht noch nicht fest, doch ersteres wird
immer wahrscheinlicher, denn es sind nicht nur die Finanzmärkte, die überhitzt sind, Gaia selber ist am bereits mächtig am schwitzen, wie
wir gleich sehen werden. Es geht hier also nicht um ein paar „kosmetische Reförmchen“, sondern um ein Paradigmawechsel, um eine
radikale Extirpation der Krankheit Krebs, das ist die entscheidende Einsicht.
Das internationale Finanzkapital besteht im wesentlichen aus ca. fünfhundert weltweit operierenden Monopolkonzernen, den Global Playern,
die etwa 25% des Welteinkommens erwirtschaften. Der Neoliberalismus kann als der zurzeit sehr erfolgreiche Versuch einer kleinen, aber
gut organisierten Minderheit von reichen Kapitaleignern beschrieben werden, alle für sie relevanten Bereiche der Gesellschaft um der
Profitmaximierung willen zu kontrollieren, zu manipulieren und nach ihren monetären Vorstellungen umzubauen. Das ist gemeint, wenn wir
von der Ökonomisierung aller öffentlichen Bereiche sprechen.
Zu verstehen, dass der Neoliberalismus seinem Wesen nach antidemokratisch, antipartizipatorisch, antifreiheitlich ist, sein muss, also genau
das Gegenteil von dem, was er behauptet, ist wesentlich. Staatssozialismus bedeutet: den Staat für seine privaten Zwecke einzuspannen.
Genau das ist es, was die Shogune tun. Die Gewinne privatisieren – die Kosten aber sozialisieren. Wie schaffen die Shogune das? Wieso
protestieren so wenig von uns? Um dieses Phänomen zu erklären, genügen drei Stichwörter: notwendige Illusion, Konsens ohne
Zustimmung, Tittytainment. Der Aufwand, den die Shogune dafür betreiben ist Milliarden Dollar schwer, ein deutlicher Hinweis dafür, dass
die Schafe auf der Weide nur schwer zu kontrollieren sind. Sie sind offensichtlich nicht ganz so dumm, wie sie es gerne hätten. Die
notwendige Illusion führt zum Konsens ohne Zustimmung. Tittytainment ist ein tranceähnlichen Zustand, der mit Hilfe der Massenmedien
unter Einsatz von Abermilliarden Dollar täglich aufs Neue induziert wird.
Kurzum: Die Weltökonomie ist in die Hände von skrupellosen Räuberbaronen geraten. Etwa 500 Großkonzerne teilen gegenwärtig ihre
Einflusssphären unter sich auf. Hinter ihnen agieren die Puppenspieler der internationalen Finanzarchitektur und die Großbanken, die die
eigentlichen Fäden in den Händen halten. Ihren weltumspannenden Raubzug nennen die Shogune der Macht Globalisierung. Globalisierung
unter dem Diktat des Neoliberalismus ist ein heimtückischer, rücksichtsloser Angriff auf die Lebensgrundlagen und der Lebensqualität der
gesamten Menschheit, nicht nur derjenigen, die in den verarmten Regionen der Erde ihr jämmerliches Dasein fristen. Zudem, und das ist die
eigentliche Gefahr wie wir gleich sehen werden, wird der sich als Globalisierung tarnende Neoliberalismus die ökologische Belastbarkeit
Gaias endgültig überdehnen, denn die damit einhergehende Ideologie des unbegrenzten Wachstums, euphemistisch als Konsumismus
bezeichnet, ist auf Dauer unhaltbar. Doch Neoliberalismus ist noch mehr: Er ist eine perfide Attacke ins Herz der demokratischen
Selbstbestimmung der Völker, denn der Neoliberalismus ist von Grund auf antidemokratisch, obwohl er ständig das Gegenteil behauptet.
Trotzdem erscheint er fast alternativlos, da seine Prinzipien, trotz aller Widersprüche, mehrheitlich von der Bevölkerung als richtig akzeptiert
werden. Gegenwärtig drängt er als Primat der Ökonomie auch in die letzten, noch nicht von ihm beherrschten öffentlichen Domänen des
öffentlichen Lebens ein. Wer aber die „Ökosphäre und damit die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten will, der muss die Ökonomie als
Unterfall der Ökologie verstehen lernen, (und nicht umgekehrt). Deshalb muss es zum unantastbaren Grundsatz werden, dass die
demokratische Selbstbestimmung und die Erhaltung der Umwelt unbedingten Vorrang vor Wirtschaftsdogmen haben." (Hermann Scheer, Le
Monde Diplomatique).
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"Ich glaube, dass unsere Spezies jetzt am Scheideweg
zu ihrer eigenen evolutionären Zukunft steht.
Wir sind mit der realen Perspektive unseres eigenen Aussterbens konfrontiert.
Und die harte Wahrheit ist, dass wir das allein uns zuzuschreiben haben.“
Jeremy Rifkin, Foundation of Econic Trends, Washington D. C., Tagesspiegel 20.9.06
"Die zivilisatorische Selbstgefährdung als Folge der drohenden Klimakatastrophe
kann nur durch entschiedene Schritte in den nächsten ein bis zwei Generationen,
also innerhalb der nächsten 20 bis 40 Jahre, abgewendet werden.
(…) Wenn der Ausstoß von klimaschädlichen Gasen,
vor allem durch die Verbrennung fossiler Energien, weiter zunimmt,
droht ein flächendeckender Zusammenbruch der ökologischen und gesellschaftlichen Systeme."
aus: "Stiftung Entwicklung und Frieden, Globale Trends 2004/2005"
11 Allzu Menschliches Teil 2: Die ökologische Katastrophe
11.1 Schlaglichter
- Die "Zeit" (25. 3. 2004)": Vergiftetes Klima: Wie viel Rücksicht auf zukünftige Generationen kann sich ein Land leisten, dessen aktuelle
wirtschaftliche Leistung zu wünschen übrig lässt? Was nutzt es dem Klima, wenn Europa sich zwar müht, binnen 20 Jahren (1990 bis 2010)
seinen Kohlendioxidausstoß um 250 Millionen Tonnen zu reduzieren, China aber in einem einzigen Jahr (2202) um 700 Millionen Tonnen
zulegt? Und auf welch tönernen Füssen steht eine vermeintlich globale Klimaschutzpolitik, deren vertragliche Grundlage, das Kyotoprotokoll,
immer noch nicht zum Arsenal des Völkerrechts gehört?"
- "Der Tagesspiegel" (12.3.2004): "Industrie gibt das Klima auf: Die deutsche Industrie hat entgegen ihrer Selbstverpflichtung zum
Klimaschutz ihren Ausstoß an Kohlendioxid (CO2) von 2000 bis 2002 um 15 Millionen Tonnen erhöht. Bis 2005 wollte sie ihre Emissionen
um 20 Millionen Tonnen reduzieren. Nach Tagesspiegel Informationen lagen die Gesamtemissionen der Industrie im Jahr 2002 bei 506
Millionen Tonnen CO2, im Jahr 2002 waren es noch 491 Millionen Tonnen. Das ist eine Trendumkehr."
- "Der Tagesspiegel" (28.3.2004): Was hat ein Hurrikan vor Brasilien zu suchen? Vor der Küste Brasiliens hat sich ein Hurrikan gebildet.
Nach Angaben des Meteorologen Eric Blake vom Nationalen Hurrikan-Warnzentrum in Miami fällt der Sturm bislang noch in die leichteste
Kategorie Eins auf der Hurrikan-Skala von fünf Stufen. Beunruhigend ist für die Meteorologen, dass Hurrikane eigentlich erst im Sommer
auftauchen und: "Hurrikane bewegen sich normalerweise auf der Nordhalbkugel. Dieser Hurrikan hat den Äquator überquert. Es ist der
erste, der jemals vor Brasilien gesichtet wurde: "Das gibt Probleme."
- "Frankfurter Rundschau" ( 8. 11.2004): "Atomtransport: Castor-Gegner von Zug getötet. Bei Arvricourt in Lothringen überfuhr der
Atomzug mit den zwölf Castor-Behältern einen Demonstranten, der sich an die Gleise gekettet hatte. Dem 23 jährigen seien beide Beine
abgetrennt worden, … Er starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus."
- "Berliner Morgenpost" (1.September 2005): „Chaos nach "Katrina" - New Orleans geht unter. Wasser steigt weiter. Tausende
Todesopfer befürchtet. 20 Ölplattformen vermisst. Die Verwüstungen nach dem Hurrikan Katrina im Südosten der USA übertreffen die
schlimmsten Befürchtungen. New Orleans ist zu 80 Prozent unter Wasser …"
- „Der Tagesspiegel" (8. September 2005): Deutsche Industrie will Umwelt weniger schützen. DIHK fordert Priorität für
Wirtschaftswachstum. Investitionen und Arbeitsplätze. In 18 Punkten fordert der DIHK (Deutsche Industrie- und Handelskammertag)
Änderungen in der Umweltpolitik. … die Fortsetzung der Vorreiterrolle (Deutschlands) in der internationalen Umweltpolitik (sollte) nicht mehr
Priorität haben."
- Tagesspiegel (30. September 2005): Das Eis schmilzt. Die Erderwärmung verläuft viel schneller, als die Klimaforscher es bisher erwartet
haben. Bis Ende dieses Jahrhunderts rechnet das Max-Planck-Institut für Meteorologie mit einem durchschnittlichen Anstieg der Temperatur
um 2,5 bis 4,1 Grad. Ein Anstieg um etwa 2 Grad wird von vielen Wissenschaftlern als Grenze des Beherrschbaren gesehen. Der
Klimaforscher Hartmut Grassl sprach vom "stärksten Klimawandel, der in den letzten Millionen Jahren auf der Erde im globalen Mittel
aufgetreten ist". Die Auswirkungen sind dramatisch: Bis 2100 rechnen die Forscher damit, dass das gesamte Eis rund um den Nordpol im
Spätsommer abgeschmolzen ist.
- Berliner Morgenpost (20. Oktober 2005): Der stärkste Hurrikan aller Zeiten. Der Tropensturm "Wilma" ist in wenigen Stunden vom
Tropensturm zum stärksten jemals registrierten Hurrikan herangewachsen. Die Meteorologen des Hurrikanzentrums in Miami (Florida)
ordneten den Wirbelsturm … als "extrem gefährlich" und "katastrophal" ein. … "Wilma" ist nach "Katrina" und "Rita", die in den USA große
Verwüstungen angerichtet hatten, der dritte Wirbelsturm der höchsten Kategorie in diesem Jahr.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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- Tagesspiegel (06. 12. 2006): „Heißester Herbst seit 500 Jahren? Ein Temperaturrekord jagt den nächsten. Nach dem „heißen Herbst“ ist
auch der Dezember auf Rekordkurs. An der Nordseeküste gelten seit Dienstag historische Temperaturmarken nicht mehr. Der
Jahrhundertherbst 2006 ist der mit Abstand wärmste in Deutschland seit Beginn der flächendeckenden Wetteraufzeichnung im Jahre 1901.
Deutschlandweit lag die Mitteltemperatur mit 12,0 Grad um 3,2 Grad höher als der Mittelwert 1961 bis 1990. Klimaforscher der Universität
Bern glauben sogar, dass der milde Herbst 2006 der wärmste in ganz Europa seit 500 Jahren war.“
11.2 Kalis dunkles Antlitz
26.12.2004. Media vita in morte sumas" - "Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen." Die Tsunami-Katastrophe in Südostasien vom
zweiten Weihnachtstag des Jahres 2004 dürfte auch die hartnäckigsten Ökoromantiker unter uns davon überzeugt haben, dass die Natur
ungemein grausam und hart sein kann, also alles andere als gerecht, sanft, lieblich. Die Natur als wärmendes Nest, natürlich, das war und
ist nichts weiter als eine überhöhte, menschliche Idealisierung, eine Art von Mutter-Projektion, und es mag ein ironischer, bitterböser, aber
sehr ernst gemeinter Scherz von Maya gewesen sein, dass es uns gerade dort erwischt hat, wo wir Erholung, Entspannung und
Traumstrände suchen, dort, wo unsere Vorstellung vom Paradies besonders nahe zu sein scheint, an den Traumstränden Thailands und Sri
Lankas, dort wo "immer lächelnde" Menschen unsere gehetzten westlichen Seelen ölen, wo Sonne und Palmen unsere tiefen Sorgenfalten
glätten. Aber die Natur umarmt uns nicht nur, ja, danke Kali, Danke Hekate, Danke Saturn, dass Ihr uns daran erinnert habt, auch wenn ihr
sehr schmerzhaft in eurer Nachdrücklichkeit ward, ich denke, wir haben die Lektion gelernt, ja die Natur verschlingt auch, gnadenlos, ohne
Rücksicht auf Ansehen und Herkunft, auf Alter und Geschlecht. Wir Babyboomer in Europa mussten dies vielleicht noch lernen, wir, die wir
fernab von Weltkriegen und größeren Naturkatastrophen aufgewachsen sind, heimelig, gut versorgt, ja überversorgt von Ärzten und
Krankenhäusern, von Staat und Gesellschaft.
In diesem Kapitel geht es nicht um Technikfeindlichkeit, Wissenschaftsfeindlichkeit oder gar um eine idealisierende Verherrlichung von
Mutter Natur. Es geht darin auch nicht um den edlen Wilden oder um eine Rückbesinnung zu den guten alten Zeiten. Es soll uns hier um
Mensch und Natur gehen, um jene fragile Koexistenz, die erdhistorisch gesehen, erst einige 10.000 Jahre besteht, die sich aber jetzt mit
erstaunlicher Geschwindigkeit in Richtung globaler Katastrophe zu entwickeln scheint. Gerade deshalb wollen wir zu Beginn dieses Kapitels
eines nochmals klar feststellen: Die heldenhaften Bemühungen der gesamten Menschheit eine oft sehr grausame Natur zu verstehen und
zu bändigen zu wollen, können nicht oft gewürdigt werden. Ich verneige mich davor. Ich verneige mich vor den grandiosen Leistungen
unserer Wissenschaftler und Techniker. Ich bin begeistert und stolz zu dieser Menschheit gehören zu dürfen. Aus weichen Fernsehsesseln
heraus lässt sich leicht kritisieren. Doch wenn ihr Kind an einer bakteriellen Hirnhautentzündung leidet, da bin ich mir ziemlich sicher, dann
wären Sie, genauso wie ich, unglaublich froh, dass es so etwas wie Penicillin gibt. Leben zehrt von Leben, Leben nimmt Leben, einzig und
allein, um weiterleben zu können. Und wir, wir alle sind Empfangende und wie auch Nehmende in diesem großen Netzwerk des Mysteriums.
Unsere Anstrengungen die Natur zu verstehen, sie zu begreifen, sie zu bändigen, müssen weiter gehen. Darin ist nichts Verwerfliches. In
unseren Anstrengungen müssen wir allerdings begreifen, "dass die eigentliche evolutionäre Herausforderung darin liegt, dass wir Menschen
(…) uns harmonisch an dieses viel größere lebende Wesen integrieren und kreativ anpassen müssen.“ Die Alternative dazu ist
unangenehm, denn "entweder wir schaffen das oder wir werden von diesem Organismus abgestoßen." (Elisabeth Sathouris, Biologin und
Philosophin, aus: "Politik des Herzens"). Dr. Thomas Berry drückt es so aus: "Ich glaube, alle Menschen beginnen zu begreifen, dass man
einfach nicht endlos Wälder fällen oder Böden verbrauchen kann oder Wasser verschwenden, die Luft verpesten oder Abfälle in die Flüsse
werfen kann." (aus: "Politik des Herzens"). Er war der Überzeugung, dass wir wieder ein "Gefühl für das Heilige" brauchen, eine Art neuen
Schöpfungsmythos, der das "Ganze" hier als einen Ausdruck des Göttlichen begreift und feiert.
Was die Gegenwart angeht, müssen wir hart und ehrlich mit uns ins Gericht gehen. Als planetare Gemeinschaft sind wir mit etwa 20
gewaltigen, uns global herausfordernden krisenhaften Entwicklungen konfrontiert, und die Zukunft unseres Planeten wird davon abhängen,
wie wir in den nächsten zwei Dekaden damit umgehen. Diese 20 globalen Probleme lassen sich auf etwa 5 bis 6 Kernprobleme reduzieren.
Zwei wichtige Krisenherde haben wir im vorherigen Kapitel bereits untersucht: die Politik und die Ökonomie, und daran gekoppelt die Frage
nach Armut und Gerechtigkeit und Demokratie. Obwohl uns diese Krisenherde so stark beschäftigen,einfach, weil sie so naheliegend sind,
verschleiern sie doch, was da eigentlich auf uns zu kommt. Sie sind sie dem, was folgt, untergeordnet. Bald werden wir schmerzhaft
begreifen, dass die Ökonomie eine Unterkategorie der Ökologie ist, nicht umgekehrt. Ökologie ist kein Luxus, kein Kostenfaktor, sondern
eine unser aller zukünftiges Leben limitierende Bedeutsamkeit. Solange wir das nicht begreifen, begreifen wir nichts. Ohne unsere
natürlichen Lebensgrundlagen werden wir nicht überleben, so einfach ist das.
James Lovelock, der Begründer der "Gaia-Hypothese", drückt diese Erkenntnis so aus: "Wir sind seit vielleicht 2 Millionen Jahren hier. Das
ist weniger als ein Tausendstel der bisherigen Lebensspanne des Planeten - also ein winziges Stück Zeit. Und Zivilisationen gibt es in der
Geschichte des Lebens erst seit einem Augenblick. (…) … ich glaube, wir müssen den Begriff Krise auf zwei Arten sehen. Einmal als einen
menschlichen Begriff, einen Begriff menschlicher Zivilisationen. Und wir müssen Krisen als einen Zustand des planetaren Lebensprozesses
und seiner Zukunft verstehen. Diese beiden organischen Systeme stehen fast im Gegensatz zueinander. (…). Das ist ein tiefer Konflikt. (…)
… ich bin da nicht sehr optimistisch. (…). Menschen sind eine zähe Spezies, ebenso wie der Planet ein zäher Organismus ist. Und es wird
überall viele Menschen geben, die so eine Krise überleben, was auch immer passiert. (Aber) … die Zivilisation wird wieder ganz von vorne
anfangen müssen." (aus: "Politik des Herzens"). Ja, Gaias Regenerationskraft ist sehr erstaunlich, wie wir bald sehen werden. In ihrer
wechselhaften Geschichte starben einige Male 70% aller Lebewesen aus, einfach so, und manchmal waren sogar 90% und mehr. Gaia wird
unsere „Hochkulturen“ sicherlich überleben. Wo wir dabei bleiben werden, diese Frage ist nicht ganz so leicht zu beantworten.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Wir wollen uns hier mit vier Kernproblemen auseinandersetzen, vier Bereiche, die uns in Zukunft, ob wir wollen oder nicht, in immer
stärkerem Masse in Beschlag nehmen werden. Hinter diesen Kernproblemen tun sich einige weitere heikle Entwicklungen auf, von denen
jede Einzelne wiederum eine ernsthafte Herausforderung darstellt. Global heißt: Kein Staat, und sei er noch so mächtig, ist dazu in der
Lage, auch nur eines dieser Probleme allein zu bewältigen, ganz zu schweigen alle zusammen. Die vier globalen ökologischen Krisenherde
sind:
- die Klimaveränderung
- die Bevölkerungsexplosion
- die Ressourcenvernichtung
- das Artensterben
Hinter diesen Begriffen verstecken sich einige der wichtigsten Probleme, denen wir uns als Menschheit gegenwärtig ausgesetzt sehen. Sie
sind die unmittelbare Folge unserer recht einfältigen und kurzsichtigen Art und Weise zu wirtschaften, Realpolitik zu betreiben und Konflikte
zu lösen. Dass es nun so kommt, wie es kommt, ist nur folgerichtig, es ist die logische Konsequenz unseres unvernünftigen Denkens und
profitorientierten Handelns. Das Gesetz des Karmas wirkt auf dieser groben Ebene fast für öffentlich. Doch dahinter alldem steckt weitaus
mehr, denn die Hintergrundmusik des kommenden Dramas wird von etwas ganz Anderem orchestriert, von einem reduktionistischmechanistischen Welt- und Menschenbild, dass das Universum als eine geistlose, leblose, Maschine ansieht, die wir nach eigenem
Gutdünken verwüsten und verschmutzen dürfen, in der fälschlichen Meinung, für die zwangsläufig anfallenden Kosten nicht aufkommen zu
müssen. Da ist es nur stringent, strukturelle Schieflagen mit technischen Lösungen begegnen zu wollen. Klimawandel? OK., dann blasen wir
Schwefelsäure in die Atmosphäre. Wir besitzen sehr viel "Zerstörungs-Wissen", aber zu wenig "Erhaltungs-Wissen" (Prof. Dr. Klaus Michael
Meyer-Abich), das ist der entscheidende Punkt. Mit jedem Baum, mit jedem Tier, mit jedem Insekt aber, dass durch unser Tun ausgerottet
wird, verlieren nicht nur ein Stück Natur, sondern auch einen Teil unserer Seele, einen Teil unserer Selbst. 15 Milliarden Jahre lang hat das
Universum auf uns gewartet, und in dieser langen Vorbereitungsperiode hat es genau diejenigen Bedingungen geschaffen, die wir
brauchen, um existieren zu können. Das ist so einfach, dass es fast weh tut. Gaia und wir sind wie Fisch und Wasser, Feuer und Schwefel,
Messer und Scheide, der eine, kann ohne den anderen nicht sein, wir sind passgenau, die Biosphäre ist wie maßgeschneiderter Anzug für
uns. Wir können nicht einfach einen Ärmel abtrennen von ihm, oder den Gürtel abschnallen, dann rutscht die Hose, und das ist in diesem
Fall nicht nur peinlich, sondern gefährlich. Wir können nur sein, weil die Biosphäre so ist, wie sie ist, nur deshalb sind wir hier, nur deshalb
leben wir. Je mehr Teile wir aus dieser passgenauen Umwelt entfernen, desto unwirtlicher wird es für uns …
Welch Kraft und welche Solidarität hat der Tsunami ausgelöst! Welch unglaubliche Hilfsbereitschaft! Für einen winzigen Augenblick hat die
Welt den Atem angehalten, und gezeigt, was möglich ist, wenn unser Herz berührt wird. Über 250.000 Tote sind zu beklagen, ihnen können
wir nicht mehr helfen. Vielleicht wollte uns Kali mit ihrem Hüsteln aber etwas ganz anderes zeigen: "Seht, zu was ihr in der Lage seid, wenn
ihr doch nur endlich wolltet!" Vielleicht liegt darin der Sinn. Zu fühlen, wie es sich anfühlt, wenn die gesamte Menschheit in Leid und Freud
zusammensteht und sich hilft. Und? War es nicht ein gutes Gefühl?
11.3 Natur und Seele
Die provozierende Botschaft der Mystik in Sachen Natur und Mensch aus gutem Grund gleich zu Beginn:
Gott ist nicht Natur – Gott ist in der Natur
Gott ist genauso wenig Natur, wie der Geist Materie ist. Gott umfasst die Natur, ja, das ist richtig, genauso wie er den Stein umfasst und
auch unser Denken. Wenn mein Ich-Gefühl sich dermaßen erweitert, dass es sich in die Natur hinein auflöst, dann ist eine Begegnung mit
Gott im grobstofflichen Reich der Natur (= Naturmystik). Dahinter aber existieren noch andere Reiche, die "... Gottheitsmystik des
grobstofflichen Reichs, die formlose Mystik des feinstofflichen Reichs, die formlose Mystik des kausalen Reichs und die integrale Mystik des
Nondualen." (Ken Wilber, aus: "Einfach Das"). Wir können Gott in der Natur finden, ja, das ist richtig, aber Gott mit der Natur gleichzusetzen
ist falsch, denn das ist reduktionistisch, da Gott weitaus mehr ist, als „nur“ die Natur. Die Natur ist eine der Emanationen Gottes, ein
Ausdruck des Absoluten, doch es gibt noch andere.
Hinsichtlich des Menschen können wir sagen, dass er selbstverständlich tief in der organischen Natur des Lebens verwurzelt ist, ohne
Biosphäre kann sein Körper nicht sein, und auch sein Geist nicht, aber mit der Seele verhält es sich völlig anders, denn die menschliche
Seele ist Teil der Weltenseele, der „Anima Mundi“, und diese ist nicht Körper, sondern, das, was den Körper hervorbringt. Daher sagt die
Mystik an dieser Stelle:
Der Mensch ist eine verkörperte Seele, nicht ein Körper, der eine Seele hervorbringt.
Die menschliche Seele ist also Teil der Weltenseele, genauso wie die Natur, deshalb können wir in der Natur sehr viel über uns erfahren,
sogar Gott selbst. Doch Gott auf die Natur zu begrenzen, hieße aus der Sicht der Mystik ein fataler Fehler zu begehen, denn die Natur der
Formen wandelt sich in jeder Sekunde, da gibt es Geburt und Tod, ein Werden und Vergehen, ein Kommen und Gehen. Im Sterblichen nach
dem Unsterblichen zu suchen, das macht aus der Sicht der Mystik also wenig Sinn. Wir müssen uns bemühen das Formlose hinter den
Formen zu entdecken, ohne die Welt der Formen zurückzuweisen, das ist der Königsweg zur Wahrheit. Doch ebenso steht fest, dass wir nur
im Formlosen unsere Todlosigkeit entdecken können, denn das, was den Menschen im Kern ausmacht, ist unsterblich, unwandelbar,
ungeboren, also etwas, was man von der Natur nicht gerade sagen kann.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Die „immerwährende Philosophie“, die Philosophia perennis, spricht an dieser Stelle von der „Großen Kette des Seins“. Diese umfasst die
Physiosphäre (= Materie), die Biosphäre (= Leben), die Noosphäre (= Geist/Bewusstsein), aber auch die Theosphäre, d. h., die
"transzendenten Reiche" des Übersinnlichen. Die Große Kette des Seins reicht tief in die Stofflichkeit der Materie hinein, an ihrem oberen
Ende jedoch, löst sie sich auf, da geht sie ein in die nichtstofflichen Reiche des Transzendenten. Selbstverständlich setzen wir uns mit
ganzem Herzen für die Natur ein, für die Menschen, für die Tiere, die Pflanzen, wie könnten wir auch anders, als Teil der Anima Mundi sind
sie Teile von uns selbst. Doch unser letztendliches Ziel geht weit darüber hinaus! Wir wollen dorthin, wo das Reich der Seele beginnt. In
gewisser Weise ist das ganz natürlich, denn nur dort finden wir den tiefen Frieden, den wir seit jeher suchen, nur dort erfahren wir die
Befriedigung all unserer unerfüllten Sehnsüchte, nur dort nach werden wir so geliebt, wie wir geliebt werden wollen, ohne Bedingungen,
ohne Voraussetzungen, ohne Handel. Das wird uns alles (leider) erst bewusst, wenn wir dort sind, wo wir hinwollen. So geht das Spiel nun
einmal. Erst dann wissen wir, dass es tatsächlich stimmt, wenn es da heißt: „Dir ist bereits vergeben!“ Die Erfahrung der Seele jedenfalls,
reicht von der Erde bis zur höchsten Ebene der Nondualität, wo sie schließlich in der Herrlichkeit Gottes aufgeht, sich selbst vergessend
eins wird mit Allem und Nichts.
Die Mystik sagt: „Die Seele ist der "Hintergrund des Seins", der Zeuge in uns, sie ist kein Organ, sondern das, was unsere Organe belebt,
sie ist das Licht, das auf die Leinwand fällt, damit wir den Film erkennen können, der da draußen gerade für uns läuft. Sie ist nicht Wille oder
Verstand, nein, nein, nein, sie ist dessen Voraussetzung, dessen Vorbedingung! Sie ist so dicht bei uns, dass wir sie gar nicht bemerken, so
wie wir auch unserer Hornhaut im Auge nicht gewahr sind, durch das die Lichtphotonen auf unsere Netzhaut fallen.
Will ich den gesamten Tanz der Seele erfahren, und darauf kommt es aus der Sicht der Mystik an, dann muss ich die Welt, und damit auch
die Natur, hinter mir lassen. Da muss die "Despotie der Sinne" durchbrochen werden, muss ich still werden, nach innen gehen, "…
gesammelt sein im Lautersein: (denn) da ist ihre Stätte (…). Willst Du volle Freude und Trost haben und finden in Gott, so sieh` zu, dass Du
ledig seiest aller Kreaturen, alles Trostes von den Kreaturen…" (Meister Eckhart, aus: Geh`den Weg der Mystik", Peter Reiter). Das ist
wichtig im Zusammenhang mit Ökologie und Umweltzerstörung, denn deren Anhänger sehen in der Natur tendenziell das Nonplusultra, das
Ziel unserer Reise. Doch Gott in der Natur zu erkennen ist nur der allererste Schritt.
Der Tiefenökologie, dem ökologischen Feminismus muss unsere Sympathie gelten, das ist unbestritten, unsere ganze Unterstützung muss
dort hinfließen, schließlich hängt unser menschliches (!) Überleben an der Frage des ökologischen Selbst. Aber das wird nicht reichen, um
unser Leid zu beenden und unsere innere Sehnsucht zu stillen. Selbst eine "in Ordnung gebrachte Welt", sofern das jemals überhaupt
möglich sein sollte, bringt reichlich Katastrophen hervor, den Tsunami zum Beispiel, und andere, die "natürlichen Katastrophen", sozusagen,
Krankheit, Alter und Tod. Daher reichen Tiefenökologie und Ökofeminismus allein nicht aus, auch wenn sie ganz wichtige, derzeit sogar die
wichtigsten Schritte im kollektiven Bewusstsein der Menschheit sind. Was beiden fehlt, ist eine Ontologie des menschlichen Geistes, eine
Vision weiterer menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten, ein "Masterplan" des Bewusstseins sozusagen. Sie bietet "außer" Natur nichts an,
keine Landkarten, keine Gewahrseinsexperimente, keine speziellen Techniken, die zur Erfahrung von Gott in der Natur und darüber hinaus
führen können. Jeder ist hier quasi auf sich selbst gestellt. Tiefenökologie, feministische Ökologie allein birgt in sich die Tendenz, in der
Verschmelzung mit der Natur die Vollendung der menschlichen Reise zu sehen. Und das ist einfach falsch. Im schlimmsten Fall resultiert
daraus eine Prä/Trans-Verwechslung, was nicht anderes heißt, dass in alten Zeiten alles besser gewesen sein soll, dass damals die
Menschen in Einklang mit Mutter Natur gelebt haben sollen, wohlig genährt an Mutters Brust, eins mit allem, versunken voll Trunkenheit mit
dem göttlichen Absoluten. Wir werden später nochmals darauf zurückkommen.
Bis hierher lässt sich sagen: Es muss vorwärtsgehen, nicht zurück! Zurück bedeutet Regression, Amnesie, Involution, Weltflucht - vorwärts
heißt Progression, Bewusstheit, Evolution, Engagement. Selbstverständlich, die Natur ist göttlich, verehrungswürdig, heilig!", so jubilierten
schon viele, viele Mystiker/Innen vor uns in ihrer verzückenden Ekstase, und so jubilieren auch wir. Gott zeigt sich uns auf allen Ebenen und
daher ganz sicher auch in der Natur. Aber die Erfahrung der Naturmystik ist eben nur der erste Schritt, die erste elementare
Grenzüberschreitung. Die Erfahrung Gottes in der Natur kann so plötzlich über uns hereinbrechen, wie ein gewaltiger Gewitterregen im
Sommer, im Allgemeinen aber benötigen wir dafür erprobte Methoden, sichere Techniken, „Gewahrseinsexperimente“ (Ken Wilber). Und
daran fehlt es unseren Globalisierungsgegnern, Umweltkämpfern, Politaktivisten, Menschenrechtlern, Ökofeministen, Tiefenökologen und
wie sie alle heißen mögen in der Regel. Diese Sicht haben sie nicht. Da sind sie ganz die narzisstischen Kinder der Moderne, infiziert vom
materialistischen Virus der Naturwissenschaften, durchdrungen vom alles relativierendem Konstruktivismus der Postmoderne, haltlos
dahintreibend in einem haltlosgewordenen Kosmos, ohne inneren Sinn, ohne innere Ausrichtung, ohne verlässliche moralische Werte, denn
diese sind ja längst im grauen Einheitsbrei des Relativismus unserer überschlauen Philosophen aufgegangen. Werte und Wertvolles lassen
sich da kaum mehr entdecken, daher ist jede Meinung gleich gut, jedes Urteil gleich richtig und jede Handlung irgendwie berechtigt,
nachvollziehbar. Ohne inneren Kompass aber, ohne zeitlose Werte, ohne klare Hierarchien, Verwirklichungshierarchien, nicht
Machthierarchien, wird es schwierig für uns, zu überleben. Uns bleibt keine andere Wahl als zu wählen, denn auch nicht wählen, heißt zu
wählen. Die richtige Wahl aber entscheidet alles. Übertreiben wir es mit unserem Verständnis nicht. Multikulturalismus ist gut, aber
archaisch-patriarchale Stammesstrukturen sind nun mal schlecht mit dem Feminismus oder der Aufklärung zu vereinbaren. Wir sollten
wissen, mit wem und was wir es zu tun haben. So vermeiden wir Enttäuschungen. Ökologie ist gut, aber der „edle Wilde“ ist eine rein
menschliche Projektion, genauso, wie eine Mutter Natur, die nur geben soll, aber nicht nehmen.
11.4 Über die Begrenztheit unserer Welt
Wenn das Axiom der Wirtschaft "Macht" ist, dann ist das Axiom der Natur "Begrenztheit", denn obwohl die Natur voller Fülle ist, ist sie auch
begrenzt. Daraus folgt:
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Unbegrenztes Wachstum ist in einer begrenzten Welt nicht möglich
Das nächste Stichwort in diesem Konzept ist "Nachhaltigkeit". Wir leben nicht nachhaltig, wenn wir mehr verbrauchen, als wieder aufgefüllt
wird. Wenn wir alle Bäume eines Waldes abholzen, ist der Wald irgendwann verschwunden. Wenn wir die Meere überfischen, gibt es
irgendwann keine Fische mehr und wenn wir alles Erdöl abgepumpt haben, sind die Lagerstätten leer. Danach kommt nichts mehr.
Nachhaltigkeit bedeutet, dass wir dem Rechnung tragen. Nachhaltigkeit "betrifft alles, von den albernen Kleinigkeiten bis zu den tiefsten
Fragen (…). Die Richtung ist bekannt: Wir müssen weniger verbrauchen, unsere Sachen besser nutzen und sie wiederverwerten. Wir
müssen erneuerbare Energien benutzen und müssen die Finger lassen von fossilen Brennstoffen und Atomkraft. Wir müssen respektvoller
und wirkungsvoller mit Wasser umgehen. Wir müssen die Schlucht zwischen den Armen und Reichen überbrücken. All das wissen wir. Und
wir wissen genug, um damit zu beginnen, all das besser zu machen." (Donella Maedow, aus: Politik des Herzens"). Wir leben nachhaltig im
besten Sinne des Wortes, wenn wir innerhalb eines Jahres nicht mehr verbrauchen, als die Natur wieder "herstellen" kann.
Jeder Mensch auf der Erde hinterlässt einen ganz individuelle Spur. Hinsichtlich der ökologischen Folgen wird er "ökologischer Fußabdruck"
genannt. Mithilfe des ökologischen Fußabdruckes können wir die Kosten unserer Lebensweise quantifizieren. Damit gelangen wir zu der
persönlichen Verantwortlichkeit, die jeder Einzelne von uns für sein tägliches Tun trägt.
Nach Ervin Laszlo ("Wie kann ich die Welt verändern") definiert der ökologische Fußabdruck "das Ausmaß, in dem die biologische
Produktionsfähigkeit des Planeten "genutzt", bzw. beziehungsweise belastet wird, durch ein Individuum, eine Stadt, eine Nation oder auch
die Menschheit als Ganzes. Der ökologische Fußabdruck definiert die Landfläche, die für eine bestimmte Intensität menschlicher Ansiedlung
erforderlich ist." Alle wichtigen Parameter hinsichtlich unserer Lebensweise werden dafür erhoben. Am Ende dem untersuchten Objekt
bestimmte Landfläche zugewiesen, mit dem es auskommen muss, sofern es nicht mehr verbrauchen will, als im Laufe eines Jahres
"nachwachsen" kann. Diese Fläche verändert sich natürlich dynamisch, ihre Berechnung hängt von sich schnell wandelnden Parametern ab,
z. B. von der Größe der Weltbevölkerung, von der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche, Ressourcenverbrauch, Trinkwassernutzung, usw.,
usf.. Zur Zeit stehen jedem Menschen auf der Erde 2,1 Hektar biologisch produktiver Raum zur Verfügung ("Earth Council", Costa Rica). In
den 52 untersuchten Ländern lag der durchschnittliche ökologische Fußabdruck jedoch bereits bei 2,8 Hektar, was darauf hinweist, dass wir
die Ressourcen der Erde schon deutlich überbeanspruchen. Der World Wildlife Found (WWF) kam in seiner Studie "Living Planet Report
2000" zu dem Schluss, dass wir "unseren "Erd-Anteil" schon nahezu um ein Drittel überschreiten (30,7%). Und natürlich, wir, die Bewohner
der westlichen Industrienationen sind es, die den größten Brocken verkonsumieren. "Die USA überschreiten ihren Anteil nahezu um das
Zwölffache, das macht pro US-Bürger durchschnittlich 12,5 Hektar nutzbare Erdoberfläche." Unter dem Strich wird ganz deutlich, dass wir
mehr Ressourcen verbrauchen, als uns die Biosphäre der Erde zur Verfügung stellt. Ervin Laszlo weist uns in diesem Zusammenhang auf
etwas ganz Selbstverständliches hin: "Die Situation (wird sich) … dramatisch verschlechtern, wenn alle Länder einfach das westliche
Wohlstandsmodell übernähmen. Wenn alle 189 Nationen der Welt dem Beispiel der 42 "reichen" Länder folgten, stiege die Überdehnung
der biologischen Produktionskapazität dieses Planeten auf über 100 Prozent." Mit anderen Worten: Machen wir so weiter wie bisher, dann
brauchen wir im Jahr 2050 "zwei weitere Planeten von der Größe der Erde", um unseren Lebensstandard zu halten.
11.4 Der Klimawandel: Alles Lüge oder was?
Wie steht`s nun mit dem Klimawandel? Sieht es wirklich so schlimm aus oder neigen wir angesichts der mahnenden Worte unserer
Klimaforscher zu überschießender Hysterie? Sollte unser schöner deutscher Wald nicht auch schon längst Geschichte sein, vom schwefligsauren Regen industrieller Abgase zerfressen? Aber er steht doch noch oder irre ich mich? Und das mit dem Ozonloch haben wir auch
wieder hingekriegt, nicht wahr? Warum sollte das mit dem Klima anders sein? Fakt ist: Die Erde erwärmt sich rasant und die Treibhausgase,
insbesondere das Kohlendioxid, tragen einen entscheidenden Beitrag dazu bei, das jedenfalls steht für die meisten Klimatologen mittlerweile
außer Frage. Das folgende Diagramm soll den Zusammenhang veranschaulichen.
Abbildung 59: Temperaturanstieg letztes Jahrtausend Nordhalbkugel
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Setzen wir weiter ungebremst Treibhausgase frei, wird sich die Durchschnittstemperatur der Erde bis zum Jahr 2100 nochmals um 3 bis 5
Grad Celsius erhöhen, vielleicht sogar um bis zu 11,5. „Fünf Grad aber, erzeugen eine andere Welt“, so Hans Joachim Schnellnhuber, Leiter
des Potsdamer Instituts für Klimaforschung. Nach Jeremy Rifkin, kritischer Begleiter unserer postmodernen Gesellschaft, Berater von
Staatsoberhäuptern, Vorsitzender der Foundation on Economic Trends, täuschen wir uns, wenn wir meinen, „so weitermachen zu können
wie bisher“, dass es mit ein bisschen „Aufmerksamkeit für Energieeffizienz“ hier und ein wenig „verbesserte Emissionsstandards“ da getan
sei. (Interview Tagesspiegel 20.09.2006). Es geht um sehr viel mehr, vielleicht sogar ums Ganze. Der Einfluss der Treibhausgase auf das
Erdklima ist außerordentlich stark: Ohne sie würde die durchschnittliche Erdoberflächentemperatur bei minus 15 Grad Celsius liegen.
Abbildung 60: Warmzeiten in Korrelation zum CO2 –Wert in der Atmosphäre
Was das Ganze besonders prekär macht, ist die zeitliche Dynamik. Zu früheren Zeiten fielen und stiegen die Temperaturen innerhalb von
Jahrhunderten bis Jahrtausenden. Ein Temperaturunterschied von 5 Grad Celsius entschied darüber, ob die Erde vereist oder grün ist.
Heute spielen sich die Veränderungen innerhalb von wenigen Jahrzehnten ab. Dementsprechend groß ist der Anpassungsdruck in der
Biosphäre, zumal Fauna und Flora durch die Aktivitäten des Menschen schon seit Längerem unter erheblichen Stress stehen. Unter Strich
müssen wir feststellen, dass unsere Umwelt bei diesem Tempo nicht genügend Zeit hat, um sich den Veränderungen anzupassen. Bei einer
Halbwertszeit des CO2 von 100 Jahren, ernten wir heute das Ergebnis, das 3 bis 4 Generationen vor uns gesät haben. Und: Die Entwicklung
nimmt weiter an Fahrt auf. Die fünft wärmsten Jahre seit 1890 waren: 2005, 1998, 2002, 2003, 2004 (NASA).
Grund zur Panik? Droht die Katastrophe? Professor Dr. Arne Naess, der große Pionier der modernen Umweltethik, "Vater" der
Tiefenökologie, meint dazu: "Wir müssen aufhören uns vorzustellen, dass … die ökologische Katastrophe gleich hinter der nächsten Ecke
lauert. … Es kann durchaus sein, dass wir das 21. Jahrhundert ohne den großen Zusammenbruch durchstehen, auch wenn sich die
Gesamtlage immer weiter verschlechtert. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass wir es (erst) im 22. Jahrhundert schaffen, immer weniger
zerstörerisch zu werden. (…). Ich bin ein großer Optimist - aber erst für das 22. Jahrhundert. Für das 21. Jahrhundert bin ich pessimistisch,
denn zurzeit werden wir immer weniger nachhaltig. Auch wenn ich für das 21. Jahrhundert große Probleme auf uns zukommen sehe, halte
ich nichts von diesen Untergangsszenarien. Wir müssen uns klar sein über die Folgen unseres Handelns und die Kosten des Wandels
begreifen. Wir sollten heute und morgen dafür arbeiten. Denn je mehr wir das tun, desto weniger Ärger haben wir im 21. Jahrhundert." (aus:
"Politik des Herzens"):
3
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Abbildung 61: durchschnittlicher Temperaturanstieg nördliche und südliche Halbkugel (1861 – 2004)
(Le Monde Diplomatique, bearbeitet)
Ist Arne Naess der "Vater der Tiefenökologie", so kann James Lovelock mit Fug und Recht als „Vater der Gaia-Hypothese" bezeichnet
werden. Er ist nicht ganz so optimistisch in dieser Sache: "Die Grundregel (Gaias) ist: Organismen, die das Spiel der Kooperation und
wechselseitiger Anpassung nicht mitspielen, sterben aus. (…) Jeder Organismus, der die Umwelt für seine Nachkommen verbessert, wird
aufblühen. Während jene Organismen, die dabei versagen und sie verschmutzen oder zerstören, aussterben werden. Das ist die große
Warnung an uns, denn im Moment gehören wir Menschen eher zur zweiten Kategorie als zu ersten. (…) Ich vergleiche unsere jetzige
Situation immer mit dem Europa der 30er Jahre kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Wir alle ahnten, dass ein Krieg kaum zu verhindern war.
(…). Wer deutlich auf die Entwicklung hinwies, galt als finsterer Pessimist und wurde nicht sonderlich ernst genommen. Und doch ahnten wir
alle tief innen, dass irgendetwas Übles passieren würde. (…) Ich glaube, dieses sehr allgemeine Gefühl des Unwohlseins ist heute wieder
weit verbreitet. Die Menschen kennen nicht die Natur der Katastrophen oder Desaster, die möglicherweise vor uns liegen. Aber sie sind sich
ziemlich sicher, dass wir nicht so ohne weiteres davonkommen werden, weil sie uns sehr bald erwischen können." (aus: Politik des
Herzens).
In diesem Spannungsfeld wollen wir uns bewegen. Viele der hier vorgestellten Daten und Fakten sprechen für sich, die Fülle der
wissenschaftlichen Indizien sind inzwischen überwältigend. Ein klarer Verstand reicht aus, um zu verstehen, eins und eins sind zwei. Auch
wenn die Gegebenheiten sehr kompliziert sind in Sachen Klima, einiges noch ungeklärt ist: Das Klima ist ins rutschen gekommen, die Erde
erwärmt sich rasant, der Metabolismus Gaias ist aus dem Gleichgewicht geraten, dem allem kann wohl niemand mehr ernsthaft
widersprechen wollen. Dabei geht es gar nicht allein um das Klima. Erst wenn wir die Klimakrise mit den anderen unheilvollen globalen
Entwicklungen vernetzen wird deutlich, wie fatal der Weg ist, den wir als Menschheit insgesamt eingeschlagen haben.
11.5 Der Klimastreit: Zum gegenwärtigen wissenschaftlichen Disput
Für das Erdklima gilt: Es war niemals stabil, insbesondere in den letzten Jahrhunderttausenden nicht. Das hat verschiedene Ursachen: die
Schwankungen der Erdachse, die zyklische Abweichung der Erdbahn von ihrer sonst fast kreisförmigen Form um die Sonne, wie auch die
unterschiedliche Neigung der Erdachse gegenüber ihrer Bahnebene. An der Erde zerren große "Gewichte", vor allem Jupiter und Saturn,
aber auch die Venus. Die mittlere jährliche Sonneneinstrahlung wird dadurch zwar kaum beeinflusst, doch kommt es infolgedessen zu
großen geografischen und jahreszeitlichen Verteilungsschwankungen der Sonneneinstrahlung, die bei etwa 20 Prozent liegen. Hinzu
kommen die Zyklen der Sonne selbst, Schnee- und Eisflächen, die Verteilung der Landmassen, sowie der Meeresströmungen. Der
Golfstrom z. B., der so wichtig für das milde winterliche Klima Europas ist, begann sich etwa vor 4,6 Millionen Jahren deutlich zu verstärken.
Damals begann sich der Isthmus von Panama, die Meerenge zwischen Nord- und Südamerika, endgültig zu schließen. 1,9 Millionen Jahre
später war der Atlantik vom Pazifik abgetrennt. Alle diese Einflüsse führen zu langfristigen und zyklischen Klimaschwankungen. Daran
entzündet sich der Streit unter den Klimaforschern. Handelt es sich bei der Erderwärmung um naturgegebene Schwankungen (=
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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"natürliches Rauschen") oder ist sie Menschenwerk? Zu der ersten Gruppe der Forscher zählen sich die "Klimaskeptiker", zur der Zweiten
die "Klimawarner".
Gerade als ich dieses Kapitel schrieb (März 2005), entbrannte unter den Klimatologen ein heftiger Streit. Es ging dabei um die
"Hockeyschlägerkurve", jenes Diagramm (sh. Abbildung unten), das wie kein anderes, den Klimawandel symbolisiert.
Abbildung 62: Hockeyschlägerkurve nach Mann (Wikipedia)
Um was geht es in diesem Streit? Zirka alle 150 Millionen Jahre gefriert die Erde zu einem Eispanzer. Die letzte Kälteperiode setzte vor 1,6
Millionen Jahren ein, ihren Höhepunkt hatte sie vor ca. 20.000 bis 15.000 Jahren. Während der Eiszeiten sinkt die weltweite
Durchschnittstemperatur auf 11 bis 14 Grad Celsius ab. Heute liegt das Mittel bei knappen 16 Grad. Noch befinden wir uns in einer Eiszeit,
allerdings in einer Zwischeneiszeit (= Interglaziale), sozusagen in der Warmperiode einer Eiszeit. Nach dem langfristigen, natürlichen Trend
müsste sich die Erde derzeit abkühlen, dass Gegenteil ist jedoch der Fall: Sie erwärmt sich und zwar deutlich. Eiszeiten werden Glazialen
genannt. Während der Glazialen werden große Mengen an Wasser in Form von Eis gebunden. Gletscher entstehen. Und das bedeutet: Der
Meeresspiegel sinkt ab, das letzte Mal waren es 120 m. Neues Land wird frei. In Südostasien konnte so der Tiger über Land bis nach Bali
vordringen. Erst das tiefe Wasser zwischen Bali und Lombok stoppte ihn. Vor 12.000 bis 10.000 Jahren begann sich das Eis dann in den
Norden zurückzuziehen, dass Meer holte sich das frei gefallene Land zurück. Die Höhe der weltweiten Meeresspiegel hängt demnach sehr
eng mit dem in den Gletschern als Eis gebundenen Wassers zusammen. Insbesondere die Antarktis und Grönland nehmen dabei eine
herausragende Stellung ein. In den Gletschern der Polar- und der Hochgebirgsregionen ist ein Großteil der weltweiten Süßwasservorräte
gebunden. Nur 2,5% des auf der Erde vorkommenden Wassers ist Süßwasser. Der Rest ist salzig, zum Trinken ungeeignet. Im übrigen sind
Eiszeiten die Ausnahmen in der langen Geschichte der Erde, 90 Prozent ihrer bisherigen Lebensspanne verbrachte sie komplett eisfrei.
Abbildung 63: Die letzten Eiszeiten (Le Monde Diplomatique, bearbeitet)
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Erwärmt sich die Erde nun aufgrund natürlicher, quasi zyklischer Einflüsse oder ist der Temperaturanstieg auf menschliche Einflüsse
zurückzuführen? Die Forscher sprechen in diesem Zusammenhang von Forcings (= Antriebe). Es gibt natürliche Forcings, und
menschengemachte. Zurzeit, davon sind zumindest die meisten Klimatologen überzeugt, überwiegen die menschengemachten "Forcings".
Aber das sich die Erde gerade deutlich aufheizt und dass dies dramatische Folgen für die gesamte Menschheit haben wird, wenn es so
weitergeht wie bisher, daran zweifelt eigentlich niemand, nicht einmal die "Klimaskeptiker", die den "anthroprozentrischen Treibhauseffekt"
selbst stark anzweifeln. Die Radikalsten von ihnen sehen darin nichts als einen "normalen" zyklischen Vorgang.
Und in der Tat liegt hier der Hase im Pfeffer. Die Mehrheit der Klimawarner sind der Auffassung, dieses "natürliche Rauschen" in ihren
Berechnungen und Modellen herausgefiltert zu haben. Nach ihnen ist die gegenwärtige Erwärmung hauptsächlich durch die
„Dekarbinisierung“ (= Verbrennung fossiler Brennstoffträger) verursacht. Wie gesagt, eine Minderheit unter ihnen sieht das anders. Wir
Laien müssen der komplizierten Diskussion zwischen den Skeptikern und den Warnern irgendwie etwas entgeistert folgen, darauf
vertrauend, dass diese Diskussion zwischen ihnen gewissenhaft geführt wird und mit der nötigen Ernsthaftigkeit. Wir sollten uns aber
generell über die starke Verquickung von Politik, Industrie und Klimawissenschaft im klaren sein, denn hier geht es um viel Geld, sehr viel
Geld, um wichtige politische und ökonomische Entscheidungen von enormer Tragweite. Die Frage nach dem "Aus welcher Ecke kommt die
Kritik" muss uns einfach wichtig sein in dieser Diskussion, nur so können wir einigermaßen einschätzen, woher der Wind in etwa weht. Auch
Wissenschaftler sind nicht immun gegen den "Virus der Eitelkeit", der durch das Licht der Öffentlichkeit entsteht, zumal die große Beachtung
der Medien zusätzlich Geld in ihre Forschungsbereiche fließen lässt.
Der Physiker Stefan Rahmstorf, Professor am Potsdam-Insitut für Klimafolgenforschung und Mitglied im "Intergovernmental Panel on Aprupt
Climate Change" (IPPC), einer zwischenstaatlichen UN-Organisation, gibt uns dazu folgenden Rat: "Ich würde einem Laien empfehlen, sehr
skeptisch zu sein bei extremen Aussagen, ganz gleich, ob sie den Klimawandel dramatisieren oder ob sie das Problem negieren und
behaupten, das sei alles natürlichen Ursprungs." Er fasst die naturwissenschaftliche Datenlage zu folgenden Kernaussagen zusammen:
"Das Klima des Mittelalters war relativ warm, anschließend gab es eine Abkühlung bis ins 17. oder 18. Jahrhundert, wo sich kürzere
Schwankungen überlagerten. Danach haben wir im 19. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert einen starken Trend zur Erwärmung. Was die
Studien auch übereinstimmend ergeben, ist die Tatsache, dass Ende des 20. Jahrhunderts wärmer ist als je zuvor in den letzten tausend
Jahren. (Technology Review 3. März 2005). Professor Mojib Latif, Klimatologe am Leibnitz-Institut für Meereswissenschaften der Universität
Kiel, äußert sich dazu entschiedener: "Die Modelle prognostizieren seit etwa 10 Jahren dasselbe - für den Fall, dass wir so weitermachen
wie bisher. Die zu erwartenden globalen Temperaturveränderungen sind einmalig in der Geschichte der Menschheit - unabhängig davon, ob
es drei oder vier Grad sind. … Es wird ja immer wieder - auch von Fachkollegen behauptet, dass die Erwärmung, die wir vor allem in den
letzten dreißig Jahren beobachtet haben, natürliche Ursachen haben. Unsere Modelle sind so gut, dass wir dies jedoch ausschließen
können.“ (Spektrum der Wissenschaft, Dossier, Dezember 2002).
11.6 Die Hockeyschlägerkurve
Und nun also die Diskussion um die "Hockeyschlägerkurve", jener berühmten Grafik, die so anschaulich wie nichts anderes die starke
Erwärmung des Erdklimas symbolisiert. Die "Hockeyschlägerkurve" ist gewissermaßen das Fieberdiagramm der Erde. Sein Erschaffer ist
der Klimatologe Michael Mann. Wir Menschen brauchen Symbole. Symbole sind geeignet, um komplexe Sachverhalte auf den Punkt zu
bringen. Die Hockeyschlägerkurve ist solch ein Symbol. Bisher war sie das optische Argument schlechthin. Insgesamt sehr überzeugend,
emotional aufheizend. Nun aber wird sie in einem bestimmten, entscheidenden Segment stark in Zweifel gezogen. Der Klimaskeptiker
Stephen McIntyre, Kanadier, Bergbauberater, Statistikexperte, und Ross McKitrick, Ökonom, ebenfalls Kanadier, meinen herausgefunden
zu haben, dass die Hockeyschläger-Kurve im entscheidenden Abschnitt unkorrekt sei, dass sie auf einer falschen, (besser) dürftigen
Datenlage beruhe. Die "Mann-Kurve", die ja eine nachträgliche(!) Rekonstruktion des Erdklimas mit Hilfe von "Proxydaten" ist, soll, was das
15. Jahrhundert angehe, unkorrekt sein. ("Proxy" = nächstkommend, sehr ähnlich. Proxydaten werden aus Baumringen, Bohrkerne von
Sedimenten, Eis usw. gewonnen.). Nicht in der Methodik, das sei hier betont, sondern, was die insgesamt dünn gesäte Datenlage der
damaligen Zeit angehe. Entscheidende Fakten sollen von Mann weglassen worden seien; dadurch kam es zu nicht zulässigen
Einglättungen der Fieberkurve. Mit anderen Worten: Im 15. Jahrhundert war es u. U. schon einmal so warm wie heute. Aber, und das ist das
Entscheidende, bei einem atmosphärischen Kohlendioxidgehalt, das deutlich geringer war als heute. Damit wäre das CO2 aus der
Schusslinie. Und wir könnten so weiter machen, wie bisher. Es ist naheliegend, wer daran Interesse haben könnte.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Abbildung 64: Hockeyschlägerkurve in der Kritik (bearbeitet)
Nach McKritik und McIntyre war es also, ganz im Gegensatz zu Michael Mann, in den letzten eintausend Jahren u. U. schon einmal so warm
wie heute: im 15. Jahrhundert. Das Heikle daran ist: Damals gab es noch keinen massiven CO2-Ausstoß durch Menschenhand. Und wenn
damals die Erdtemperatur schon einmal auf heutigem Niveau war, mit CO2 Werten in der Atmosphäre so um die 250 ppm, dann gibt es
keinen triftigen Grund anzunehmen, die heutige Erderwärmung sei allein auf die Freisetzung von Treibhausgasen zurückzuführen. Sie
sehen wie brisant und hochpolitisch das Thema ist. Das ist Wasser auf die Mühlen der "Klimaskeptiker". Und die Industrie hört dies natürlich
gern, ganz besonders die Amerikanische. Sie verweigert ja bis heute die Unterzeichnung des Kyotoprotokolls von 1997. Die USA blasen ein
Viertel aller weltweiten CO2-Emissionen in die Luft. Seit 1990 haben sie ihren jährlichen Ausstoß um stolze 720 Millionen Tonnen gesteigert.
Die USA und die übrigen hoch entwickelten Industrieländer sind für 61% aller Treibhausemissionen verantwortlich. Der erwachenden
Moloch China liegt mit 14% an zweiter Stelle. Pro Kopf gesehen bringt jeder Amerikaner pro Jahr gegenwärtig 20,5 Tonnen CO2 in die Luft,
ein Japaner 9,3, ein Europäer 8,6, ein Chinese 2,5 und ein Inder 0,9. Im Jahr 2010, so die Voraussagen, dürfte es zu einem weiteren
Anstieg der Treibhausemissionen um etwa 60 Prozent gegenüber 1990 gekommen sein. Insgesamt hat sich die Konzentration von CO2 seit
dem 18. Jahrhundert um etwa 35% erhöht. Absolut gesehen ist die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre so hoch wie seit 650.000
Jahren nicht mehr, so die neusten Ergebnisse des europäischen Eisbohrprogramms aus der Antarktis (Tagessspiegel vom 15.3.2005).
Dreiviertel der atmosphärischen CO2 Erhöhung resultieren aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe.
Doch auch Stephen McIntyre bezweifelt nicht, dass es auf der Erde dramatisch wärmer wird. Darum ging es ihm nach eigener Darstellung
auch gar nicht. "Unsere Ergebnisse widerlegen nicht, dass die Erdatmosphäre wärmer wird“, sagt er in einem Interview mit der Technology
Review vom 3. März 2005. "Aber die berühmte Hockeyschläger-Studie erlaubt uns keinerlei Schlüsse über das Ausmaß der heutigen
Erwärmung relativ zu den vergangenen tausend Jahren. Das bleibt weiterhin unklar …" Klimatische Rückberechnungen auf frühere
Klimaepochen sind immer schwierig und mit gewissen Unsicherheiten behaftet. Für die Einschätzung zurückliegender Klimazeiträume
braucht man repräsentative Daten. Anders ausgedrückt: Ich muss an vielen verschiedenen Stellen der Erde suchen, buddeln und bohren,
mit dem entsprechenden Aufwand an Wissen, Zeit und Geld. Gegenwärtig werden die Daten Michael Manns überprüft, ein arbeitsintensiver
Vorgang von ca. 3 Jahren, was vielleicht erklärt, aber nicht entschuldigt, warum dies bisher unterlassen wurde. Stefan Rahmstorf zu diesem
Disput: "Es wird so getan, als sei diese Rekonstruktion des letzten Jahrtausends der Beleg für die menschliche verursachte Klimaänderung.
Tatsächlich ist die Folgerung, dass der Mensch inzwischen das Klima entscheidend beeinflusst, nicht (!) auf der Basis der Rekonstruktion (=
Manns Hockeyschläger-Kurve) gezogen worden. Sondern zu dieser Erkenntnis kam man schon zuvor (!), bevor es die Rekonstruktionen
überhaupt gab, etwa im Bericht des IPPC 1995. Und auch die Klimaschutzmaßnahmen im Kyotoprotokoll wurden beschlossen, bevor man
solche Temperaturkurven für das letzte Jahrtausend zur Verfügung hatte." (Technology Review 3. März 2005).
11.7 Gaias Krankheitssymptome
Egal, wohin wir schauen, egal, wohin wir uns wenden: die Erde krankt, sie schwitzt, sie fiebert. Wir drehen an Schrauben, von denen wir
besser die Finger lassen sollten. Nichts ist unwahrscheinlich, Murphys Gesetz (= wenn etwas schiefgehen kann, dann wird es irgendwann
auch einmal schiefgehen) legt uns nahe, dass wir mit Überraschungen rechnen müssen. Mit "Klimasprüngen" zum Beispiel. Klimasprünge
sind die kurzfristige, katastrophale Veränderungen des Klimas, gewissermaßen die „Worst-Case-Szenarien" (= WSC) der Klimawarner. Sie
sind erst einmal recht unwahrscheinlich, was nicht bedeutet, dass sie nicht doch völlig überraschend über uns hereinbrechen. Das ist so,
weil wir nicht genau wissen, was in „nicht linearen Systemen“ vor sich geht, wo die Grenze ihrer Belastbarkeit liegt und wann sie erreicht ist.
Weil "heute" beim Klima heißen kann, in 50 Jahren. Zu den "WSC" gehören sich abschwächende, abreißende oder ihre Richtung
verändernde Meeresströmungen (Stichwort: Golfstrom, nordatlantisches Förderband, El Nino), die Abbrüche gewaltiger Gletschermassen in
der Westantarktis (Stichwort: Ross-Schelfeis, Amundsen-See, Twaites-Gletscher) oder der Zusammenbruch des Grönlandeisschilds. Dazu
gehören aber auch ausbleibende Monsunregen oder langanhaltende Dürren wie jüngst in Südspanien und Portugal. Klimatologische
Katastrophen treten ein, wenn klimarelevante Schwellen dauerhaft und in kritischer Weise überschritten werden. Ist dies erst einmal
geschehen, dann hilft außer Beten rein gar nichts mehr, dann wird das in Schieflage befindliche Erdklima insgesamt ins Rutschen geraten
und erst dann wieder zum Stehen kommen, wenn es sich auf ein neues, stabiles Gleichgewicht eingependelt hat. Am beunruhigendsten ist
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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dabei der „point of no return“, ein kritischer, irreversibler Umschlagspunkt des Erdklimas, der, so der zunehmende Konsens bei einem Plus
von 2 Grad liegen dürfte, entsprechend einem atmosphärischen CO2-Anteil von 400 bis 550 ppm. Jenseits dessen kommt es wahrscheinlich
zu einer galoppierenden Temperaturerhöhung für mehrere Jahrtausende. Bei der derzeitigen Steigerungsrate der Treibhausgase dürfte
dieser kritische Punkt in 10 bis 30 Jahren erreicht sein. (sh. dazu auch „Atlas der Globalisierung 2006“).
Wir müssen davon auszugehen, dass sich bestimmte meteorologische Parameter in naher Zukunft weiter grundlegend verändern werden.
Unser Wetter wird sich wandeln, unsere Umwelt wird eine andere werden und unsere Lebensweise wird sich den neuen Gegebenheiten
anpassen müssen, in wenigen Jahrzehnten. Die Meisten von uns, ganz sicher aber unsere Kinder, werden das noch erleben. Bestimmte
Regionen werden davon profitieren, andere nicht. Es dürfte es zu heftigen Krisen kommen, die vermutlich sehr viel mehr Verlierer kennt, als
Gewinner. Wir müssen dabei unterscheiden zwischen Klimaveränderungen und Wetterextremen, bzw. Wetterkapriolen.
Klimaveränderungen beruhen auf langfristigen Trends. Wetterextreme beziehen sich auf kurzfristige und regionale Auswirkungen des
Klimawandels. Wir sollten ebenso bedenken, dass andere Parameter die Auswirkungen der klimatischen Veränderungen weiter verschärfen.
Alles andere wäre naiv. Klimawandel, Naturkatastrophen, Bevölkerungsexplosion, Ressourcenvernichtung und Artensterben werden sich
gegenseitig aufschaukeln und die menschliche Zivilisation als Gesamtheit herausfordern. Den Blick nur auf das sich verändernde Klima zu
werfen, wäre eine sehr begrenzte Sichtweise. Die allgemeine politisch-ökonomische (Sinn-)Krise wird das Ihrige dazu beitragen, genauso
wie der neoliberale Frontalangriff auf die freiheitlichen Grundwerte und die Lebensbedingungen der Menschheit. Der Zusammenbruch des
Sowjetimperiums war erst der Aperitif. Die existenzielle Krise des Kapitalismus, das ist, für jeden der sehen will, ganz offensichtlich, wird
derzeit weltweit eingeläutet.
1. Feuer: Schwitzende Welt
- Zunehmender Treibhauseffekt. Unstrittig ist: Im weltweiten Mittel hat die Lufttemperatur innerhalb des letzten Jahrhunderts in Bodennähe
um 0,8 Grad Celsius zugenommen, nehmen wir den Beginn der Industrialisierung sind es 1,0 Grad. Das IPPC geht in seinen Modellen
davon aus, dass die Temperatur bis zum Jahr 2100 um weitere 1,4 bis 5,8 Grad Celsius ansteigen wird, je nachdem wie sich die
klimatologischen Parameter in Zukunft weiter verändern. 6 Grad, das "wäre mehr als der Unterschied zwischen heute und dem Tiefpunkt
der letzten Eiszeit vor rund 24.000 Jahren.“ (National Geographic 02/2004). Doch wie schon gesagt: Das Ganze geschieht nur innerhalb von
knappen zwei Jahrhunderten, nicht wie zuvor in Jahrtausenden. Aber nicht nur allein der Temperaturanstieg ist besorgniserregend, auch die
Dynamik, die sich dahinter versteckt. Seit 1970 hat sich die Geschwindigkeit der Erwärmung glatt verdoppelt. Von den 1,0 Grad Celsius, die
sich die Erde seit der Industrialisierung hat, entfallen 0,3 Grad auf die letzten 30 Jahre. Der nächste Bericht des IPPC wird für das Jahr 2007
erwartet. Die Temperaturunterschiede in den Modellen des IPPC erscheinen groß, zu groß, wie Kritiker anmerken, doch ist es im Grunde
genommen unerheblich, ob sie im Mittel um 2 Grad, oder "nur" um 4 Grad Celsius ansteigen. Selbst eine weitere Aufheizung der
Atmosphäre von "nur" 2 Grad Celsius wird spürbare Auswirkungen auf unsere Lebensweisen haben. Das ist ja das Erstaunliche: Schon der
doch eher noch moderate Temperaturanstieg von 1 Grad Celsius hat die Zerstörungskraft der tropischen Wirbelstürme bereits exponentiell
anwachsen lassen.
Ursache der deutlichen Erwärmung der Erde, so zumindest die überwiegende Mehrheit der Klimaforscher, sind die Treibhausgase. Mit einer
Tonne verheizter Kohle produziert man zwei bis drei Tonen CO2. Pro Jahr blasen wir etwa 8 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre,
Tendenz weiter ansteigend. 80% davon stammen aus fossilen Brennstoffen, allesamt fast reines Kohlendioxid. Kohle besteht zu 96% aus
Kohlenstoff, Öl zu 86% und Holz zu 50%. Seit Ende des 18. Jahrhunderts ist der CO2-Anstieg in der Atmosphäre um insgesamt 30 Prozent
angestiegen. Damals betrug er 280 ppm (parts per million), heute liegt er bei 381. der höchste Wert seit 20 Millionen Jahren. Wenn wird dem
Treiben kein Ende bereiten, wird er Ende des 21. Jahrhunderts um weitere 200 bis 600 ppm geklettert sein. Treibhausgase wirken wie eine
Käseglocke, sie verhindern, dass die Wärmestrahlung im infraroten Spektralbereich zurück in den Weltraum entweicht. Salopp gesagt:
Wärme kommt rein, aber nicht wieder raus. Die wichtigsten Treibhausgase sind Kohlendioxid (CO2), Methan (CH4), FCKW, Ozon (O3),
halogenierte Kohlenwasserstoffe (CHF3, CF4) und Distickstoffoxid (N20). Sie machen zwar nur 0,3% der Erdatmosphäre aus, ihre Wirkung
aber durchschlagend.
Neben den Treibhausgasen spielen Leuchtfeuchtigkeit, Schneeflächen, Wolken und Aerosole eine wichtige Rolle hinsichtlich der
"Strahlungsbilanz" unseres Planeten. Aerosole sind winzig kleine feste Partikel, Schwebestoffe, die fein verstäubt in der Luft umherwirbeln.
Oft haben sind sie von einem Flüssigkeitsfilm überzogen. Mit Ausnahme von Ruß, verringern Aerosole die Erdtemperatur, weil sie die
Sonneneinstrahlung reflektieren oder absorbieren. In der Regel verbleiben Aerosole nur wenige Tage in der Luft. Erinnern wir uns: Diese
drastische Temperaturerhöhung innerhalb des letzen Jahrhunderts findet in einer natürlichen Warmperiode unseres Planeten statt, einer
Interglaziale. Das ist wichtig, denn das heißt nichts anderes, als dass wir in einer geologischen Ausnahmesituation dem Erdklima noch
zusätzlich ein paar Grade draufpacken. In den 400.000 Jahren zuvor entwickelten sich die Warmperioden bei einem atmosphärischen C02Gehalt von 190 bis 260 ppm. Heute liegen wir wie gesagt bei 381 ppm. Im Grunde genommen tun wir nichts weiter als massiv in den
natürlichen Kohlenstoffkreislauf Gaias einzugreifen, d. h. C02 freizusetzen, das vor Jahrmillionen in Jahrmillionen in der Erde gespeichert
wurde. Und das mit gutem Grund. Blicken wir dazu kurz auf unsere Nachbarin im Sonnensystem, auf die Venus. Ihre Atmosphäre besteht
zu 100% aus Kohlendioxid, die Temperatur ist dementsprechend, sie liegt bei ungemütlichen 450 Grad Celsius. Schwefelsäure regnet aus
ihren Wolken, die so dicht sind, dass kein Sonnenstrahl jemals auf ihre Oberfläche fällt. Kurzum: Die Venus ist ein tödlicher Ort, allein der
atmosphärische Druck würde uns sofort zerquetschen. Wir können festhalten: Hoher C02-Gehalt bedeutet hohe Temperaturen. Würden auf
der Erde die gleichen Bedingungen wie auf der Venus herrschen, müssten wir bei einer Temperatur von etwa 200 Grad dumpf vor uns
hinbrüten. CO2 muss aus der Atmosphäre eliminiert werden, wenn unser Anzug weiter passen soll. Wir tun nun seit Jahrzehnten genau das
Gegenteil. Das ist unklug.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
200
Kurzfristig speichert Gaia Kohlenstoff in Wäldern und Meeren, sowie in all jenen Pflanzen und Mikroorganismen, die Fotosynthese
betreiben. Sie nehmen mithilfe des Sonnenlichts und des grünen Chlorophylls Kohlenstoff auf und geben Sauerstoff ab. Das hat seit vielen
Jahrhunderttausenden sehr gut funktioniert. 35% des CO2 Austausches findet in den Wäldern der Tropen statt, 14% stecken in den
Permafrostböden der Arktis. Und einiges vom weltweiten CO2 ist in den eisigen Gewässern der arktischen und antarktischen Meere
gebunkert, allein der Nordatlantik nimmt jedes Jahr 500 Millionen Tonnen davon in sich auf. Die größten CO2 Speicher an Land sind
übrigens die borealen Wälder Europas, Amerikas und Asiens, d.h. die Wälder der nördlichen Hemisphäre, die mittlerweile ebenfalls massiv
bedroht sind. Vorübergehende Lagerungsstätten werden "Kohlenstoffsenken" genannt. Langfristige Speicher sind die fossilen (=
urzeitlichen) Energieträger wie Kohle, Erdöl und Erdgas, die nichts weiter sind, als die längst abgestorbenen Pflanzen und Organismen
früherer Zeitalter.
Abbildung 65: Hitzewelle Europa 2003 mit 30.000 Opfern
Fazit: Die Energiebilanz Gaias ist aus dem Gleichgewicht geraten, Gaia speichert heute mehr Wärme, als sie wieder in den Weltraum
abgibt. Bildlich gesprochen haben wir seit Beginn der Industrialisierung auf jedem Quadratmeter Erde zwei leuchtende Christbaumkerzen
aufgestellt, die ihre Wärmeenergie zusätzlich in die Atmosphäre abgeben (James E. Hansen, Direktor des Goddard-Insituts für
Weltraumforschung der NASA, Professor am Earth Institute der Columbia Universität in New York, Spektrum der Wissenschaften 2/2005).
Schnelle Abhilfe ist aufgrund der Trägheit des globalen Klimasystems nicht in Sicht, egal, welche Maßnahmen wir jetzt auch ergreifen:
Heute spüren heute die Auswirkungen, deren Ursachen 100 zurückliegen. Hinsichtlich des Klimawandels müssen wir demzufolge davon
ausgehen, dass wir es in Zukunft mit deutlich höheren Temperaturen zu tun haben werden.
2. Wasser: Steigende Meere - Schmelzendes Eis
- Eisfreier Nordpol. Wie Magnete ziehen die kalten Regionen der Erde die überschüssige Hitze der Tropen an. Winde und
Meeresströmungen tragen die aufgestaute Wärme des Äquators in den hohen Norden, dorthin, wo es kalt ist. Die gesamte Energiebilanz
der Erde wird dadurch nachhaltig geprägt. Die riesigen Eis- und Schneeflächen der Arktis geben die überschüssige Hitze wieder an die
Atmosphäre ab, zusätzlich wirken sie wie ein gigantischer Spiegel, der die Sonneneinstrahlung aus dem All reflektiert. Die Wissenschaftler
nennen diese Reflexion des Sonnenlichts "Albedoeffekt". Dort wo das Nordpolarmeer mit Eis und Schnee bedeckt ist, werden 85% aller
Sonnenstrahlen in den Weltraum zurückgeworfen. Schmilzt das Eis, sinkt der Albedoeffekt. Eisfreie Stellen reflektieren nur noch 7% des
Sonnenlichts. Den Rest nehmen sie als Wärmeenergie auf.
Satellitenbilder zeigen, dass die winterliche Schneebedeckung der Erde seit dem Ende der sechziger Jahre um 10% abgenommen hat.
(Spektrum der Wissenschaft, Dossier, Dezember 2002). Die Eisflächen des Nordpolarmeeres stehen ebenfalls unter gehörigem Druck. Seit
1972 sind sie um 3 Prozent pro Jahrzehnt geschrumpft. Neueste Satellitenaufnahmen deuten sogar auf eine weitaus höhere
Schrumpfungsrate hin: Danach soll sie dreimal so hoch liegen, bei annähernd 9 Prozent. "... Wo Zeit in Jahrhunderten oder Jahrtausenden
gemessen wird, ist das rasant." (Spektrum der Wissenschaften 2/2005). Rasant und riskant, denn in den extremen Gebieten der Erde gelten
ganz andere Gesetze als üblich. Ein Beispiel. Während sich bei uns eine Bananenschale innerhalb weniger Tage zersetzt, braucht es in der
Antarktis 80 Jahre dazu. Wie in anderen extremen Gebieten der Erde auch, können wir am Nordpol eine besondere Dynamik entdecken:
Allein in den letzten 20 Jahren hat sich die Arktis durchschnittlich achtmal so stark erwärmt, wie während des letzten Jahrhunderts
insgesamt. Heute werden am Nordpol die höchsten Temperaturen seit 400 Jahren gemessen. Dass gleiche gilt für den Verlust der
Eisfläche, sie ist in den letzten 25 Jahren dramatisch geschrumpft. Geht der Trend so weiter, "… wird das Nordpolarmeer ab dem Jahr 2080
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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im Sommer (wohl) eisfrei sein". (Spektrum der Wissenschaften 2/2005). Was für die Eisfläche gilt, gilt auch für deren Stärke. UBootmessungen ergaben, dass der Verlust an Eisdicke in bestimmten Gebieten bereits bei bis zu 40 Prozent liegt.
- Anstieg des Meeresspiegels. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich der Meeresspiegel um insgesamt 15 Zentimeter erhöht. Ein
Drittel der gemessenen Erhöhung beruht auf der thermischen Ausdehnung der Weltmeere in Folge der Erderwärmung, ein Drittel lässt sich
auf die abschmelzenden Gletscher zurückführen. Für das letzte Drittel wurden bisher (2002) keine Ursachen gefunden. Bis zum Jahr 2.100
wird der Meeresspiegel um weitere 9 bis 88 cm steigen, je nachdem wie viel der Temperaturanstieg letztendlich betragen wird. Allein der
thermische Effekt dürfte bei 30 cm liegen. Derzeit steigen die Meeresspiegel im jährlichen Mittel um 1,5 bis 2 mm pro Jahr an, dies konnte
durch aufwendige Messungen mittels Radarsatelliten nachgewiesen werden. Perspektivisch gesehen haben die massiven Gletscher des
arktischen und antarktischen Festlands, die Eismassen Grönlands und die Hochgebirgsgletscher der Anden, der Rocky Mountains, des
Himalajas usw. den größten Einfluss auf die Höhe des Meeresspiegels. Das schwimmende Eis des Nordpolarmeeres hingegen verdrängt
genauso viel Masse, wie es beim Abschmelzen freisetzt, d. h., es trägt nicht zur Erhöhung bei.
Die lokalen Auswirkungen der ansteigenden Meere werden ganz unterschiedlich sein. Armut wird eine große Rolle spielen, aber auch
regionale Begebenheiten; z. B. hebt sich in bestimmten Gebieten die Küstenlinie (Stockholm, ca. 4 mm pro Jahr), wo hingegen sie sich in
anderen absenkt (Honolulu , ca.1,5 mm), ausgelöst durch tektonische Bewegungen der Erdplatten, oder aufgrund der letzten Eiszeit (=
postglaziales Zurückfedern). Große Teile Mitteleuropas, der mittleren USA, des nördlichen Teils von Alaska senken sich nachweisbar,
während sich beispielsweise Skandinavien, Kanada und Nordsibirien erheben (2 bis 12 mm pro Jahr). Viele Länder und Regionen der Welt
müssen in Zukunft mit großflächigen Überflutungen rechnen: Dazu gehört Bangladesh, das heute schon regelmäßig im Meerwasser
versinkt. Kandidaten sind natürlich auch die Malediven, die Niederlande, Florida, Louisiana oder New York City.
Bild 66: Anstieg Meeresspiegel Bangladesh
Insbesondere Sturmfluten, Orkane und tropische Wirbelstürme könnten desaströse Auswirkungen zeitigten, die alles in den Schatten stellen,
was bisher bekannt ist. In den USA ist besonders New Orleans bedroht (dieser Abschnitt wurde im Sommer 2005 geschrieben, 3 Monate
vor „Kathrina“). Dort verquicken sich Eingriffe des Menschen, regionale Besonderheiten und ansteigender Meeresspiegel auf beängstigende
Weise. Bereits im Jahr 1965 wurden Teile New Orleans durch den Hurrikan "Betsey" 3 Meter hoch überflutet. 1992 verfehlte "Andrew" die
Stadt um 150 Kilometer. Alles in den Schatten stellte aber der Hurrikan "Georges" (1998). Seine Richtung und Stärke entsprach genau dem
Katastrophenszenarium, dass der Geologe Shea Penland für New Orleans am meisten fürchtet. Eine riesige Flutwelle, ausgelöst durch
einen Hurrikan aus Richtung Osten kommend, erfasst das Mississippi-Delta voll, und lässt den Lake Pontchartrain über die Ufer treten. New
Orleans wäre von Wasser eingeschlossen, niemand könnte entkommen. Im schlimmsten Fall würde New Orleans bis zu sechs Metern im
Meerwasser versinken. (Spektrum der Wissenschaften 2/2005).
- Schrumpfende Hochgebirgsgletscher. Überall, weltweit, ziehen sich die Gletscher der Hochgebirge in die höheren Lagen zurück, in
erschreckendem Tempo. Die Fotos aus unterschiedlichen historischen Epochen sind wie mahnende Zeigefinger, die uns darauf hinweisen
wollen, wie dramatisch der Substanzverlust der Gletscher mittlerweile ist. Gletscher sind aber nicht nur entscheidende Indikatoren der
Erderwärmung, sondern vor allem auch wichtige Stabilisatoren der Gebirgswelt. Schrumpfen die Gletscher - bröckeln die Berge, und dann
müssen wir Menschen weichen. In naher Zukunft schon werden bestimmte Gebiete unbewohnbar sein. Unbewohnbar aufgrund von
Schnee-, Geröll- und Schlammlawinen, unbewohnbar, weil winzige Bäche sich in tosende, alles mit sich reißende Wasserfälle verwandeln,
oder auch, weil aufgestaute Gletscherseen unter ihrem eigenen Druck bersten und ihre tödliche Fracht in die Täler tragen.
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202
Abbildung 67: aufgestauter Gletschersee Himalaya
Der fruchtbare Boden der Berge wird mit den Wassermassen mitgerissen werden. Wenn der nackte Fels in der Sonne glänzt, wird
Landwirtschaft wird kaum noch möglich sein. In den Flachlandebenen, dort wo der Mutterboden aus den Bergen die Flussläufe auffüllt, wird
es in Zukunft periodisch zu großflächigen und verheerenden Überschwemmungen kommen. Die Gebirgswelt wird die Niederschläge in
immer geringerem Maße in sich aufnehmen und speichern können (sh. Bangladesh, Poebene, Rheingraben). Schwindende Gletscher und
abgeholzte Gebirgswälder - beide Faktoren werden sich gegenseitig verstärken. Hinzu kommt, dass Gletscher kostbare Speicher des raren
Süßwassers sind. Die Quellen einiger der mächtigsten Ströme der Welt liegen in diesen Gebieten. Aus dem Himalaja, dem "Dach der Welt“,
entspringen sieben wichtige Ströme: der Indus, der Mekong, der Yangtse, der Ganges, der Gelbe Fluss, der Brahmaputra und der Salween.
Allein "im Gangesbecken … leben 500 Millionen Menschen, die vom Flusswasser abhängig sind. Würden die Eisströme (im Himalaja) völlig
schmelzen, bräche die Trinkwasserversorgung hunderter Millionen Menschen in weiten Teilen Süd- und Ostasiens zusammen." (Gunther
Jauk, Diplomgeograf, Spektrum der Wissenschaften 2/2005). Eine ungeheure Katastrophe wäre die Folge. Insgesamt wären etwa eine
Milliarde Menschen davon betroffen.
Abbildung 68: Rückzug des Gangtori Gletschers (Himalaya)
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
203
Das "ewige Eis" der Gebirge ist in den letzten 40 Jahren insgesamt um etwa 4.000 Kubikkilometer geschrumpft, das entspricht einem Würfel
mit einer Kantenlänge von 16 Kilometern. Beispiele. Der Gantori-Gletscher, die Quelle des Ganges, verlor in den vergangenen 150 Jahren
fast zwei Kilometer seiner Ausdehnung. Allein in den Jahren von Mai 1966 bis Oktober 1999 zog er sich um weitere 76 Meter zurück. In den
letzten 35 Jahren verlor er alles in allem 850 Meter. Satellitenaufnahmen zeigen, dass Bhutans Gletscher jedes Jahr 30 bis 40 Meter an
Länge einbüßen. (Spektrum d. W., 2/2005). Die Gletscher der Alpen haben seit 1850 etwa die Hälfte ihres Volumens eingebüßt. Der
Gletscher der Zugspitze (2650 m) ist der Schneeferner. Einst bedeckte er stolze 300 Hektar, inzwischen ist er auf weniger als 50 Hektar
zusammengeschrumpft. Geht es in diesem Tempo weiter, dann wird der Schneeferner in 25 Jahren Alpengeschichte sein. In den 60 er
Jahren lagen die sommerlichen Durchschnittstemperaturen auf dem Schneeferner bei 1,5 Grad. Im Hitzesommer 2003 waren es 5,2 Grad.
Ende der 70er Jahre gab es noch 5.100 Alpengletscher mit einem Gesamtvolumen von 140 Kubikkilometern Eis. Bis zum Jahr 2003 war ein
Viertel ihrer Fläche und ein Drittel ihres Volumens abgeschmolzen. Allein der Jahrhundertsommer von 2003 führte zu einem Substanzverlust
von rund einem Zehntel. (dtv, Jahrbuch 2005).
- Matschige Permafrostböden. Im hohen Norden Sibiriens wiederholt sich das, was zuvor schon in Alaska, Kanada und Tibet beobachtet
wurde: Die borealen Zonen der Erde reagieren, wie alle anderen extremen Lebensräume auch, besonders empfindlich auf
Temperaturveränderungen. Im hohen Norden Sibiriens liegt die Temperatur im Jahresmittel nur knapp über dem Gefrierpunkt, der strenge
Winter dauert 8 bis 9 Monate. Eine nur geringfügige mittlere Temperaturerhöhung reicht in diesen empfindlichen Regionen schon aus, um
zu einer deutlich längeren Vegetationsperiode zu führen. Seit den 80er Jahren setzt das Frühjahr in den Gebieten der Tundra mehrere Tage
früher ein. Und da sich auch der Beginn des Herbstes weiter nach hinten verlagert hat, haben die Pflanzen Nordsibiriens heute eine ganze
Woche (= 7 %) mehr Zeit zur Verfügung, um zu wachsen. Bei einer Vegetationsperiode von nur durchschnittlich 3,5 Monaten ist das sehr
viel. Die Folge: Die Permafrostböden Sibiriens tauen auf. Das ist nicht bedeutungslos, denn erstens umfasst die Permafrostfläche immerhin
fast ein Viertel der Gesamtoberfläche der Erde, und zweitens lagern dort in den bis zu 500 m tief gefrorenen Böden Unmengen von
"Methanhydrat" (= "geogenes" Methan). Methan ist eine chemische Vorstufe des Ozons. Wird es aus freigesetzt, und davon ist auszugehen,
dann wird dies den Treibhauseffekt weiter anheizen. Messreihen im Lenadelta (von 1999 bis 2004) haben ergeben, dass die
Durchschnittstemperaturen von 11,2 auf 12,1 Grad Celsius angestiegen sind. (Spektrum der Wissenschaften 2/2005).
Methan ist 21-mal so klimawirksam wie Kohlendioxid. Zusammen mit den anderen anthropogenen Emissionen (Stickoxide, Ozon, FCKW,
Russ) hat es momentan den gleichen Effekt auf die Erderwärmung wie Kohlendioxid für sich alleine genommen. In den letzten Jahren ist die
Konzentration von Methan in der Atmosphäre rückläufig gewesen, das wird sich wohl ändern, denn zusätzlich zum nun freiwerdenden
Methanhydrat, bilden auch Mikroorganismen Methan, "biogenes" Methan. In den kurzen Sommermonaten verwandelt sich die gesamte
Tundra in eine morastige Flusslandschaft. Dann blubbert es allerorten im feuchten Morast. Methan steigt auf, Methan, erzeugt von den so
genannten "Archaen" (= Archaebakterien). Der Klimaexperte Richard B. Alley wies anhand grönländischer Bohrkerne nach, dass der
Methan- und Kohlendioxidgehalt in der Luft "beim Übergang von einer Kalt- zu einer Warmzeit (immer) um rund 50 bzw. 75 Prozent in die
Höhe (schnellte)" (Spektrum der Wissenschaften 1/2002). Das ging einher mit einer Periode abrupter starker Erwärmung, in der Grönland
sich zu Grünland verwandelte. Diese Perioden (= Interstadiale) dauerten nach Alley einige Jahrhunderte bis wenige Jahrtausende. Es geht
also nicht nur um Häuser, die in den aufgeweichten schlammigen Böden Alaskas versinken, um Straßen, die unbefahrbar werden, um
Erdölpipelines, in denen sich gefährliche Spannungen aufbauen, wenn wir von den tauenden Permafrostböden sprechen. Es geht vor allem
um Methan. Daneben würde auch zusätzliches CO2 frei werden, 25 ppm bis 100 ppm. (National Geographic 2/2004).
Abbildung 69: tauende Permafrostböden Sibirien
Natürlich gibt es auch den gegenteiligen Effekt. Höhere Temperaturen bedeuten, dass die Vegetationsgrenze sich deutlich nach Norden
verschiebt, dadurch würde die Biomasse der Tundra zunehmen. Bäume, Büsche, Sträucher und Moos, sie alle binden (kurzfristig)
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Kohlendioxid. Gleichzeitig werden die typischen borealen Wälder des Nordens ihre typische Erscheinung verlieren, wie in Alaska zu
beobachten ist, wo Borkenkäferplagen ganze Wälder dahinraffen. Neue Pionierpflanzen werden kommen. Es wird sich zeigen müssen, ob
die zusätzlich anwachsende Biomasse in den borealen Zonen den Effekt des freiwerdenden Methans und CO2 werden auffangen können.
Fachleute bezweifeln das aufgrund des Tempos der Veränderungen.
3. Erde: Das Land verändert sein Gesicht
- Regen und Dürre. Zusätzliche Wärme breitet sich über den gesamten Planeten aus, horizontal, hinauf in den hohen Norden und hinab in
den tiefen Süden, aber auch vertikal, aufwärts zu den massiven Gipfeln der Hochgebirgsregionen. Das Gesicht der Erde verändert sich
dabei. Die höheren Temperaturen führen dazu, dass mehr Feuchtigkeit verdunsten kann, vor allem in den Tropen. Die warme, mit
Feuchtigkeit gesättigte Luft wird polwärts abtransportiert und führt zu einem mehr an Niederschlägen in diesen Gebieten. "Tatsächlich haben
seit der Jahrhundertwende parallel zum globalen Temperaturanstieg die Niederschläge in den gemäßigten Regionen der Nordhalbkugel
zugenommen, und zwar überwiegend in der kalten Jahreszeit. Dagegen regnet es über den tropischen und subtropischen Landmassen seit
einigen Jahrzehnten immer weniger, dies zeigt sich besonders im Sahel und ostwärts bis Indonesien" (Spektrum: Dossier Klima, 1/2002).
Mit der Wärme kommen Regen und Hitze, aber auch Dürre, Wassermangel, Hunger und Krankheit. Während die Vegetationsgrenzen sich
ausbreiten, die borealen Wälder nach Norden wandern, beginnen andere Gebiete unter Dürre, Wasserknappheit und Wüstenbildung zu
leiden. Die mittleren globalen Niederschläge haben zwar global gesehen um 5 bis 20 Prozent zugenommen, aber vom zusätzlichen Nass
profitieren nicht alle gleichermaßen. Die ariden und semi-ariden Regionen der Erde dürften in Zukunft noch trockener werden, mit der Folge,
dass sich die Halbwüsten und Wüsten ausbreiten werden. Wieder wird es Verlierer geben und Gewinner. In dieser Hinsicht wird der
gesamte Mittelmeerraum wird zu den Verlierern gehören, vor allem Spanien, Süditalien, aber auch der mittlere Westen der USA, die
Subsahara,Nordafrika, China, Indien und selbstverständlich Australien. Bevölkerungsexplosion, Bodenerosion, schrumpfende Wälder,
ansteigender Meeresspiegel, all das wird dazu führen, dass der Wassermangel zu einem noch drängenderen Problem wird. Hinzu kommt
die Verschmutzung und chemische Kontaminierung der Böden, z. B. mit Nitraten, die das Trinkwasser verseuchen. Schon heute hat nur
jeder fünfte Mensch auf der Welt hat Zugang zu sauberem Wasser, 1,2 Milliarden Menschen müssen mit einer verschmutzten, bräunlichtrüben Brühe vorlieb nehmen oder etliche Kilometer laufen.
Abbildung 70: Dürre in Spanien
Die Luft wird zwar ständig wärmer, und wärmere Luft kann mehr Feuchtigkeit speichern, das heißt aber noch nicht unbedingt, dass es auch
häufiger (!) regnet. Wie wir aus der Schule wissen, regnet es, wenn die relative Luftfeuchtigkeit 100% beträgt. Davon muss unbedingt die
Niederschlagsmenge (!) unterschieden werden, d. h. die Intensität des Regens. Diese wird in erster Linie von der Gesamtmenge des in der
Luft enthaltenen Wasserdampfes bestimmt, und der Zeiteinheit, in welcher der Regen niedergeht. Und in der Tat: Was sich in den letzten
Jahren verändert hat, ist vor allem die Niederschlagsmenge, d. h. die Ergiebigkeit der Niederschläge, nicht unbedingt die Häufigkeit. Viel
Regen in kurzer Zeit aber ist schlecht, nicht gut. In den USA fallen heute 10 % aller Niederschläge bei sehr heftigen Schauern und
Gewittern. Was das bedeuten kann, zeigte uns das Elbe- und Oderhochwasser aus den Jahren 1997 und 2002. Innerhalb weniger Stunden
fielen damals bis zu 200 Liter Regen pro Quadratmeter, eine ganze Badewanne voll. Starkregen, Wolkenbrüche, tropische Stürme - all diese
Niederschläge bringen keinen Segen, sie nützen nichts, denn die niedergehenden Wassermengen können vom Boden überhaupt nicht
aufgenommen werden. Im Gegenteil, die höheren Temperaturen, die Schönwetterphasen, die Hitzeperioden führen dazu, dass die Böden
langfristig trockener werden und den Regen immer sehr viel schlechter aufnehmen können.
Mittelfristig gesehen wird die Erde durch die Erwärmung wohl eher trockener als feuchter werden. Der Grundwasserspiegel wird absinken,
Feuchtgebiete und Seen austrocknen, Flüsse zu Rinnsalen degenerieren. Es wird mehr Feuchtigkeit verdunsten, als durch die heftigen
Niederschläge ersetzt werden kann. Heftige, kurzfristige Regenfälle, Stürme und Orkane verschlimmern diese Situation dann nur noch.
Neben ihrer großen Zerstörungskraft belasten sie die Ökosysteme zusätzlich, da mit dem abströmenden Wasser wertvoller Mutterboden
weggeschwemmt wird, Dreck und angesammelte Giftstoffe freigesetzt werden, die sich in die Gewässer ergießen. Zurück bleibt ein harter,
ausgetrockneter, ausgelaugter und unfruchtbarer Boden, der für die Landwirtschaft wertlos ist.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Entgegen unserer subjektiven Wahrnehmung ist Deutschland übrigens kein ausgesprochen wasserreiches Land. Brandenburg ist sogar
traditionell Trockengebiet. In seinem sandigen Untergrund versickert das spärliche Nass in Rekordtempo, daher bestimmen Birken und
Kiefern das Bild der Wälder. Beobachtungen zeigen, dass in bestimmten Gebieten Brandenburgs heute dreiviertel weniger Niederschläge
fallen als noch in den 60er Jahren. Schon gibt es Szenarien, die davon ausgehen, dass die Spree Berlin in Zukunft gar nicht mehr erreichen
könnte, dass ihr irgendwo im trocken gefallenen Spreewald vorzeitig die Luft ausgegangen ist.
- Vorzeitiger Frühling. Die meteorologischen Daten weisen aus, dass die frostfreien Tage nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Kontinenten
deutlich zugenommen haben. Während die Tageshöchsttemperaturen seit 1950 um durchschnittlich 0,1 Grad pro Jahrzehnt angewachsen
sind, lag der Anstieg der absoluten Tiefsttemperaturen sogar doppelt so hoch, bei 0,2 Grad, was nichts anderes bedeutet, dass die Nächte,
in denen es friert, rückläufig sind. Die Vegetationsperiode währt heute länger, die Gewässer bleiben länger eisfrei und sie brechen früher
auf, wenn sie überhaupt noch einmal zu frieren. Ein dramatisches Beispiel hierzu. In der Hudson Bay, im Nordosten Kanadas, lebt der
Eisbär. Mittlerweile bricht in dieser kargen Region der Erde das Eis zwei Wochen früher auf als noch vor 20 Jahren. Für die bis zu 450 kg
schweren Eisbären hat das drastische Konsequenzen, denn im Winter jagen sie auf dem Eis der Hudson Bay nach Robben und kleinen
Walen. In dieser kalten Jahreszeit bekommen sie auch ihre Jungen. 14 Tage weniger Eis bedeutet für sie 14 Tage weniger Zeit zum jagen,
14 Tage weniger Zeit um Fettpolster anzulegen, 14 Tage weniger, um ihre Jungen aufzuziehen. Seit 1980 sind die Geburtenraten und das
Gewicht der Kolosse um ca. 10 Prozent zurückgegangen. (Ian Stirling, National Geographic Februar 2004). Das Überleben der Eisbären
steht auf zunehmend dünnerem Eis.
Bis zu 14 Tage haben sich die Übergänge von Herbst zu Winter und von Winter zu Frühling bereits verschoben. In Teilen der USA und
Australiens können die Bauern mittlerweile bis zu 11 Tage früher mit der Aussaat beginnen. In wenigen Jahrzehnten wird sich der Maisgürtel
der USA um etwa 150 km nach Norden verschoben haben, nach Kanada hinein. Temperaturverschiebungen, vor allem in den oberen und
unteren Grenzbereichen, zeitigen erhebliche und manchmal ganz unerwartete Auswirkungen. Warum die Temperaturminima in den letzten
55 Jahren doppelt so schnell angestiegen sind wie die Temperaturmaxima weiß bisher niemand zu erklären. Nur, dass es so ist. Stare,
Singdrosseln, Rauchschwalben und Mauersegler brechen mittlerweile bis zu sechs Wochen später in ihre Winterquartiere auf. Außerdem
kehren sie früher zurück. Störche überwintern in Spanien, statt in Nigeria. Graugänse in den Niederlanden, statt am Mittelmeer. Warum auch
den langen Weg auf sich nehmen, wenn es leichter geht? Genauso sehen das auch die Amseln, auch sie meiden inzwischen den
anstrengenden und gefährlichen Weg in den Süden. Sie überwintern lieber in unseren aufgeheizten Städten. Silberreiher, Wüstengimpfel,
Felsenschwalben sind in Deutschland mittlerweile heimisch geworden, auch der Bienenfresser, der eigentlich in Spanien, Portugal und auf
dem Balkan sein Domizil hat. Aber auch immer mehr Insekten wagen den Sprung aus dem mediterranen Raum über die Alpen zu uns.
Liebellenarten wie der "südliche Blaupfeil", die "südliche Binsenjungfer" oder die "frühe Heidelibelle" tauchen zunehmend bei uns auf und
erzählen uns auf ihre Weise von den steigenden Temperaturen.
- Neue und alte Krankheiten. Die Temperaturminima haben überproportional zu gelegt. Im Zusammenhang mit Krankheiten ist das von
besonderer Relevanz. Milde Winter mögen gut für die Bauern sein, doch weniger Frost bedeutet mehr Insekten. Es geht dabei nicht nur um
lästige, aber eigentlich recht harmlose Insekten, sondern auch gefährliche Infektionskrankheiten, die von ihnen übertragen werden können.
Teile Thüringens sind mittlerweile zu Zeckenrisikogebiete aufgestockt worden. Zecken übertragen FSME und Borreliose, zwei gefährliche
Krankheiten des Nervensystems. Ein anderes Beispiel. Dem gefährlichen West-Nil-Virus gelang 1999 der Sprung aus dem Mittelmeerraum
in den Nordosten Amerikas, wo es sich dauerhaft festsetzen konnte. Es wird von Mücken namens "Culex pipiens" übertragen und
verursacht eine Denguefieber (= hämorraghisches Fieber) ähnliche Symptomatik. Im Jahr 2004 erkrankten fast 2.500 Amerikaner daran.
Auch Malaria wird von einer Mücke übertragen, der Anophelesmücke. Gelbfieber, und das schon erwähnte Denguefieber werden ebenfalls
von einer Stechmückenart übertragen, der Aedes aegypti. Alles was sie brauchen, um gut zu gedeihen, sind Temperaturen, die oberhalb
von 15 Grad, bzw. 10 Grad Celsius liegen. "Nach einigen Berechnungen wird sich bis zum Ende des 21. Jahrhunderts die Zone der
potenziellen Malariaverbreitung … erheblich ausdehnen. Das Gebiet wird dann 60 statt heute 45 % der Weltbevölkerung betreffen, auch
deshalb, weil sie (die Mücken) dabei sind die Gebirgswelt zu erobern. In Indien wurde sie schon auf 1.600 m Höhe gesichtet und in
Kolumbien gar auf 2.000 m. In folgenden Ländern sind diese Entwicklungen nachgewiesen. Für Malaria: Äthiopien, Ruanda, Uganda,
Simbabwe, Tansania, Papua Neuguinea und Irian Jaya. Für das Dengue-Fieber: San Jose, Costa Rica und Mexiko. Für das Gelbfieber: die
östlichen Anden, Kolumbien und Indien. (Spektrum der Wissenschaften 1/2002).
Die Malaria tötet Jahr für Jahr 2 bis 3 Millionen Menschen. Aber wer weiß, vielleicht hat es ja für die armen Menschen durchaus Vorteile,
wenn der reiche Westen in Zukunft direkt von dieser Menschheitsgeißel betroffen sein wird. Diese enorme Bedrohung könnte die vor sich
hindümpelnde Impfstoffforschung in Sachen Malaria endlich voranbringen. Auch alte Bekannte wie Cholera und Typhus dürften sich in
Zukunft verstärkt zu Wort melden, genauso gefährliche Exoten wie das das "Hantavirus", eine tödliche Lungenerkrankung, übertragen von
einer Hirschmaus namens Peromyscus maniculatus, die in den USA schon für einige Nervosität gesorgt hat.
- Wetterextreme und Wetterkapriolen. Hitzesommer in Deutschland. In Deutschland macht sich die weltweite Erwärmung bisher deutlicher
bemerkbar als anderswo. Im Mittel hat sie um 0,9 Grad Celsius zugelegt (weltweit 0,6 Grad). Der Normalwert liegt heute bei 8,3 Grad
Celsius. Das Jahr 2000 übertraf dabei alles bisher da gewesene, es war das Wärmste seit 250 Jahren. Dem Deutschen Wetterdienst
zufolge lag die mittlere Temperatur in jenem Jahr bei 9,9 Grad Celsius, 1,6 Grad mehr als der Temperaturmittelwert. Dahinter folgen die
Jahre 1994, 1999, 2002 und 2003. Für die Münchner Rückversicherung hat "die Zukunft (damit) schon begonnen" ("Die Zeit" vom
9.12.2004). Der Hitzsommer des Jahres 2003, mit tagelangen Temperaturen von weit über 40 Grad Celsius, hat nach WHO-Schätzungen zu
20.000 Toten geführt (Deutschland 7.000). In Frankreich kam es zu einem regelrechten Skandal, da die Gesundheitsversorgung diesem
nicht Rechnung trug. In jenem Jahr schrumpfte der Rhein zu einem Rinnsal zusammen, die Kraftwerke hatten Probleme mit der Kühlung,
die Wasserqualität ließ stark nach, giftige Algen machten sich breit, Seen trockneten aus, die ersten Aufrufe zu einem sparsameren Umgang
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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mit Wasser und Strom ergingen (EnBW/Baden-Würtemberg). Das deckt sich alles mit den Erkenntnissen der Klimaforscher, nach ihnen
reichen schon geringe Abweichungen vom Temperaturmittel aus, um extreme Wetterperioden zu verursachen. Der Meteorologe ChristianDietrich Schönwiese aus Frankfurt schätzt, dass das Risiko solch extremer Hitzeperioden, schon heute um etwa das Zwanzigfache
angestiegen ist. „Ab 2040 werden heiße Sommer wie der vom Jahr 2003 den Wärmedurchschnitt bilden.“ (Sir David King, oberster
wissenschaftlicher Berater der britischen Regierung, Tagesspiegel, 20.9.2006).
Abbildung 71: Klimaveränderung Deutschland (Max Planck Institut)
„Die heißen Tage pro Jahr mit Höchsttemperaturen von über 30 Grad Celsius werden sich verdoppeln, statt 20 werden es in 80 Jahren 40
bis 50 Tage sein.(Gunther Thiersch, ZDF-Meteorologe, Tagesspiegel 20.9.2006). Damit hätten wir ein Klima wie in Südfrankreich und in der
Toskana. Bereits heute geht die WHO weltweit von 150.000 Klimaopfern jährlich aus. Opfer sind werden vor allem die Alten und Kranken,
ganz abgesehen von den volkswirtschaftlichen Schäden. Der Raum Berlin/Brandenburg wird besonders betroffen sein. Schon heute fallen in
der „Sandkiste Deutschlands nur 600 mm Regen. Bis zum Jahr 2050 werden die Temperaturen um rund 1,4 Grad Celsius zugenommen, der
Regen aber um 200 mm abgenommen haben. Die reinen Kieferwälder in und um Berlin werden dem nicht widerstehen können. Mischwald
muss her.
- Exodus im Hochgebirge. Wie alle Grenzbereiche des Lebens reagiert auch die Hochgebirgswelt sehr sensibel auf äußere
Veränderungen. Die Nischen für Leben im Hochgebirge sind rar gesät. Hinzu kommt, dass die Temperaturen im Hochgebirge noch
dynamischer ansteigen als im Flachland. In der Hochgebirgswelt Nepals z. B. sind die Durchschnittstemperaturen seit 1970 um jährlich 0,12
Grad Celsius angestiegen. Im tropischen Flachland Indiens dagegen nur um 0,06 Grad. Die Alpen sind heute etwa 1 bis 1,2 Grad wärmer
als noch um 1900, deutlich mehr als der weltweite Trend. Durch die Erwärmung wandert die Vegetationsgrenze nach oben, in 100 Jahren
um ca. 150 Meter, rein theoretisch, denn die ins Rutschen kommende Bergwelt, Schutt und Geröll, könnten diesen Effekt erheblich
vermindern. Mit dem Temperaturanstieg werden sich Fauna und Flora der Bergwelt einschneidend verändern, auch dort wird es Gewinner
und Verlierer geben. Zu den Verlierern werden einige, nur ganz begrenzt vorkommende seltene Arten gehören, die sich in ihrer
Anpassungsfähigkeit den lokalen Gegebenheiten angepasst haben. Sie können nirgendwo hin ausweichen. Unbemerkt von der breiten
Öffentlichkeit werden sie aussterben, nur bedauert von einigen "verschrobenen" Experten, die sich über den Verlust der Vielfalt im Klaren
sind. Da ist es nicht anders wie im Regenwald, auch dort geht vieles unwiederbringlich verloren. In den Alpen wird wohl "Sauters
Felsenblümchen" zu den Verlierern gehören, ein hübsches Pflänzchen mit leuchtend gelben Blüten. Es bewohnt eine sehr schmale Zone in
den höchsten Gipfeln der nordöstlichen Alpen. Wie viele weitere Spezialisten des Überlebens wird es dem Ansturm von "unten" nicht
standhalten können. Und weiter nach oben geht es nicht, da ist nur noch dünne Luft.
4. Luft: Der Wind flaut auf
- Tropische Stürme, Orkane, Wetterkapriolen. Immer wenn die Oberflächentemperatur der Meere auf 26,5 Grad klettert, schlägt die
Geburtsstunde der tropischen Wirbelstürme, in jedem Jahr ist das etwa 87 mal der Fall. Es ist nahe liegend, dass es mit steigenden
Temperaturen häufiger zu tropischen Stürmen, Orkanen und Unwettern kommt. Doch wie immer in Sachen Klima sind die Zusammenhänge
sehr komplex und damit kompliziert. Nichts ist ganz sicher. So hat es zum Beispiel in den siebziger, achtziger und frühen neunziger Jahren
im Atlantik weniger Hurrikane gegeben als in den Jahren zuvor, allerdings änderte sich das im weiteren Verlauf dann deutlich. Allein die
Karibik wurde danach in sehr kurzen Abständen von fünf schweren Wirbelstürmen mit Geschwindigkeiten bis zu 350 Stundenkilometern
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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heimgesucht. Sie hiessen Lisa, Ivan, Jeanne, Charly und Frances. Hinter ihren Namen verbergen sich Schäden von jeweils bis zu 40 bis 50
Milliarden US Dollar, so die Münchener Rück Versicherung. Vom menschlichen Leid einmal ganz abgesehen, kann ein einzelner Hurrikan
schnell Sachschäden von bis zu 100 Milliarden US Dollar verursachen. Besorgnis erregend ist auch die Tatsache, dass die 10 teuersten
Hurrikane alle nicht länger als 16 Jahre zurückliegen. Natürlich sind es besonders die armen Regionen der Erde, die unter den
Auswirkungen von Naturkatastrophen zu leiden haben. So hat der Hurrikan "Mitch" (sh. Abbildung unten) 1998 in Nikaragua Schäden in
Höhe der halben jährlichen Wirtschaftsleistung verursacht. Bis heute hat sich das Land davon noch nicht erholt. Die Hurrikansaison 2005
brach alle Rekorde und fand mit „Kathrina“ und „Wilma“ ihre dramatischen Höhepunkte. Wie wird wohl die Saison 2006 verlaufen?
Abbildung 72: Hurrikan Mitch vor Honduras
Nicht allein die unglaubliche Kraft des Windes ist für die immensen Zerstörungen verantwortlich. Es sind vor allem die mit den
Wirbelstürmen einhergehenden katastrophalen Niederschläge sowie die dichte Besiedlung der gefährdeten Landstriche, die zu den
verheerenden Folgen führen. Peter Hoppe, Leiter der Geo-Risiko-Forschung bei der Münchener Rückversicherung meint, dass die Prämien
für Versicherungsnehmer aufgrund der steigenden Risiken weiter stark ansteigen werden. Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für
Wirtschaftsforschung schätzt, dass bei einer weiteren Erwärmung von einem Grad Celsius im Jahr 2050 Schäden durch Stürme,
Überflutungen, Dürren auftreten können, die in einer Größenordnung von 214 Billionen Dollar jährlich liegen. Auch ein anderes Phänomen
wird in Zukunft sehr wahrscheinlich häufiger zu beobachten sein: El Nino (= starke Abkühlung des Meerwassers im südlichen
Westpazifik/Südostasien/Australien und starke Erwärmung des Oberflächenwassers vor der Ostküste Südamerikas). Mojib Latif, der schon
zitierte Klimaforscher aus Deutschland, geht jedenfalls davon aus, dass in Zukunft El-Nino ähnliche Situationen, d. h., dass Ausbleiben der
Regenzeit in Südostasien und massive Niederschläge an der Ostküste Südamerikas, wesentlich häufiger auftreten. (Geo-Wissenschaft). Die
Schwester von "El Nino" ist "La Nina". Sie würde umgekehrt Australien und Südostasien katastrophale Niederschläge bescheren und im
Osten Südamerikas zu einer Dürreperiode führen. Die Wissenschaftler sprechen in diesen Zusammenhang von der "Südlichen Oszillation".
Im Nordatlantik gibt es einen ähnlichen Vorgang, die "arktische Oszillation". Und immer sind damit das enge Zusammenspiel von
Meerestemperatur, Lufttemperatur, Windrichtung und Niederschlagsmenge gemeint. Die Folgen, je nach Region, sind: Starkniederschläge,
Trockenzeit, ausbleibende Fischschwärme, giftige Algenbildung, Erdrutsche, Krankheit, Hunger, Durst, Verarmung.
Aber nicht nur in den südlichen und tropischen Regionen der Erde müssen wir mit erhöhten Gefahren rechnen. Auch in den gemäßigten
Regionen der Erde droht vermehrtes Unheil. 1990 wurde Dänemark gleich von einer ganzen Reihe von Winterstürmen überzogen: Die
Orkane Daria, Vivian und Wiebke richteten Schäden von 10 Milliarden Dollar an. Am 3./4.12. 1999 traf es wiederum Dänemark mit dem
Orkan "Anatol". Am 26.12. 1999 zog dann der Orkan "Lothar" über Deutschland und Frankreich hinweg. 140 Menschen starben. Und gleich
darauf, am 26./ 27.12. 1999 brach "Martin" über uns herein. Im Jahr 2004 verwüsteten zwei ausgewachsene Tornados in Ostdeutschland
zwei Dörfer, zwei Jahre später gab es die ersten Todesopfer. 1995 wurde auch zum ersten Mal ein Hurrikan im südlichen Mittelmeer
beobachtet, im Jahr 2001 ein Wirbelsturm in Äquatornähe, sowie ein Wirbelsturm in vor Brasilien (2004). Diese Regionen galten bislang als
hurrikanfrei. Die Oderflut (1997) und das Elbehochwasser (2002) blieben noch zu nennen, sie wurden durch eine so genannte "Troglage"
ausgelöst. Troglagen führen zu massiven Niederschlägen in kürzester Zeit. Und natürlich: mehr Energie in der Atmosphäre, gepaart mit
steigenden Meeresspiegeln, das eröffnet ganz neue Perspektiven in Sachen Sturmfluten.
11.8 Apokalypse Now- "Worst-Case-Szenarien"
1. Grönland und die Antarktis: Aufgrund der Erderwärmung fallen auf der Antarktis und Arktis heute 3 bis 5 Prozent mehr Niederschläge.
Diese werden als Eis und Schnee gebunden. Berechnungen zufolge müsste danach der Meeresspiegel weltweit um 0,2 Millimeter pro Jahr
sinken, was er jedoch nicht tut. Warum nicht? Am wahrscheinlichsten ist, dass der "Output" an Schmelzwasser größer ist als der "Input" an
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Schnee. Das gilt insbesondere für Grönland, von dort erreichen uns immer mehr besorgniserregende Meldungen. Bis vor kurzem hieß es:
Noch ist noch nichts bewiesen. Doch wie es scheint, schmelzen Grönlands Eiskappe rapide, um stolze 235 Kubikkilometer pro Jahr.
Die Situation in Grönland und in der Antarktis differieren sehr. Die Eismassen des hohen Nordens scheinen im Ganzen gesehen, sehr viel
anfälliger für Temperaturveränderungen zu sein, als die der Antarktis. Das Gebiet der Antarktis umfasst 14 Millionen Quadratkilometer, seine
Eismassen liegen zum großen Teil dem Festland auf. Die Stärke des Eisschildes beträgt durchschnittlich 2.200 m, stellenweise aber auch
4.000 m. Hinzu kommen 1800 Gigatonnen Neuschnee pro Jahr, plus diejenigen 450, die auf den drei großen Schelfeisplattformen
niedergehen: dem Ross-Schelfeis, dem Ronne-Fichner-Schelfeis und dem Amery-Schelfeis. Würde die gesamte Schneemenge der
Antarktis abschmelzen, würden die Weltmeere um 6,5 Millimeter steigen. Eine komplett eisfreie Antarktis würde den Pegel der Ozeane um
etwa 70 m anheben. 90 Prozent allen Eises der Erde ist am Südpol gebunden, der Gefriertruhe Gaias. Grönland speichert zehnmal weniger
Eis. Dort ist es insgesamt auch wärmer und feuchter, mit anderen Worten instabiler.
Sollten Grönlands Gletscher, und die dort gebundenen 500 Gigatonnen an Schnee, in den nächsten Jahrzehnten abschmelzen, dann wird
der Meeresspiegel um bis zu 90 Zentimeter ansteigen. Bohrkerne aus den Sedimentschichten des Lomonossow-Rückens (250 Kilometer
vom Nordpol entfernt) haben gezeigt, dass das arktische Klima in den vergangen 80 Millionen Jahren nicht stabil war. Es kam durchaus vor,
dass die Temperaturen innerhalb von nur 100 Jahren um bis zu 20 Grad Celsius schwankten. Erst seit in den letzten 10.000 Jahren hat sich
das Klima Grönlands auf das heutige, stabile Niveau eingependelt. (Bericht des Arktischen Rates ACIA, "Die Zeit“ vom 11.11.2004). Doch
nun wird Grönland wieder zu Grünland, wie es scheint. Der Beruf des Bauern kommt wieder in Mode. Das Eis auf den gefrorenen Böden
zieht sich zurück.
Der mächtigste Gletscher Grönlands ist der Jakobshavn. Er allein entwässert das Eisschild Grönlands um 6,5%. Nach einer von der NASA
finanzierten Studie des Wissenschaftsmagazins „Nature“ hat sich seine Fließgeschwindigkeit seit 1997 verdoppelt, von 6.700 m 1987 auf
12.600 m heute. Gleichzeitig verringerte sich Dicke seit 1997 um jährlich 15 m. Seine Zunge zog sich im Jahr 2000 zurück, um 3 Jahre
später vollständig auseinander zu brechen (sh. Abbildung).
Abbildung 73: Gletscher Jakobshavn Rückgang (Grönland)
Noch im Jahr 2002 schien es, als wäre die Antarktis im Vergleich zu Grönland ein Hort dauerhafter Stabilität. Das Spektrum der
Wissenschaften (1/2002) berichtete damals: "Im Moment liefern weder die Modelle noch die Satellitenaufnahmen Hinweise darauf, dass die
Polkappen zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen. Nach den neusten Abschätzungen zeigen sie sich zwar unerhört dynamisch, doch
für ein Schwinden gibt es keinerlei Anzeichen." (Catherine Ritz, Frederique Remy). Heute, nur drei Jahre später, hört sich dies alles schon
ein wenig anders an. Stefan Rahmsdorf (Professor für Physik der Ozeane am Potsdamer Institut für Klimaforschung, Mitglied im IPPC) ist
mittlerweile besorgt, was die Verhältnisse dort unten angeht: "Auch mein amerikanischer Kollege Richard Alley hat in mehreren aktuellen
Aufsätzen daraufhin gewiesen, dass sowohl Teile von Grönland als auch Teile der Antarktis derzeit dynamische Reaktionen zeigen, die auf
ein Risiko schnelleren Abschmelzens hindeuten. Alley kennt als Leiter von Eisbohrprojekten beide Eismassen wie kaum ein Zweiter. (…).
Wenn er eine Warnung ausspricht, nehme ich das sehr ernst." ("Die Zeit", 10.2.2005).
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Richard Alley stellte während seiner Untersuchungen überrascht fest, dass es im Verlauf der letzten 120.000 Jahre zu wiederholten,
plötzlichen "Klimasprüngen" gekommen sein muss. Für ihn war das überraschend und beunruhigend zugleich. Hören wir ihn selbst: "Das
Verblüffendste an den Interstadialen (Warmzeiten) ist ihr abruptes Auftreten. Innerhalb weniger Dekaden oder manchmal sogar nur weniger
Jahre änderten sich die Durchschnittstemperaturen um fünf bis teils mehr als zehn Grad." (Spektrum der Wissenschaften, Dossier: Klima).
Es blieb aber nicht nur bei den Warmzeiten, sondern es kam zu "Oszillationen", was als "Flackern" bezeichnet wird, zu einem sprunghaften
Verhalten des Klimas insgesamt. Im Grunde genommen können nur verschiedene, sich gegenseitig beeinflussende und aufschaukelnde
Rückkopplungsmechanismen zu solchen dramatischen Effekten führen: schmelzende Eisflächen, abrutschende Gletscher, ihren Lauf
verändernde Meeresströmungen, ein sich abschwächender Albedoeffekt, sich dadurch weiter deutlich erwärmende Meere und Landmassen,
erhöhte Niederschlagsmengen, tauende Permafrostböden, die erhebliche Mengen an Methan freisetzen usw. usf. Es scheint insbesondere
so zu sein, dass sich die klimatischen Bedingungen am Südpol und Nordpol wechselseitig beeinflussen, d. h., es ist denkbar, dass es im
Norden zu einem Temperaturabsturz kommt, während dessen es im Süden immer wärmer wird. Verantwortlich dafür, so die
Wissenschaftler, dürften in erster Linie die warmen und kalten Meeresströmungen sein, die die Temperaturen der Weltmeere umwälzen,
angetrieben von unsichtbaren, gigantischen Förderbändern und Pumpwerken.
Dass die Gletscher Alaskas drastisch schrumpfen, das ist seit etwa 50 Jahren allseits bekannt. In den letzten 10 Jahren hat sich ihre
Rückzugsgeschwindigkeit freilich immer weiter erhöht, um das bis zu Dreifache. Nun scheint es, als wären die übrigen Gletscher des
Nordens ebenfalls in Bewegung geraten. Dies entspricht den Voraussagen der verschiedenen Klimamodelle, die alle für die Pole einen
überdurchschnittlichen Temperaturanstieg voraussagen. Sprach man hinsichtlich der Gletscher Grönlands bis vor einigen Jahren noch von
einer "stabilen Ostseite", und einer "mäßig schrumpfenden Westseite", so heißt es nun: "Neueste Aufnahmen aus dem All zufolge scheint
die Abschmelzgeschwindigkeit jedoch mit der Zeit über den gesamten Eisschild hinweg gestiegen zu sein. Das Gebiet, in dem es in einem
bestimmten Sommer taut, hat seit 1978 pro Jahrzehnt um sieben Prozent zugenommen, wobei es 2002 einen Allzeitrekord gab." (Spektrum
der Wissenschaften 2/2005). Die Menschen auf Grönland jedenfalls, beginnen sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Wie einst die
Wikinger, die am Ende in Grönland scheiterten, weil die mittelalterliche Eiszeit einsetzte, beginnen sie seit Kurzem Getreide anzubauen und
Viehhaltung zu betreiben. Würde der Eispanzer des Grönlandeises komplett abschmelzen, käme es zu einer globalen
Meeresspiegelerhöhung von 7 Metern. Käme auch noch das Eisschild der Westantarktis hinzu, wären es 12 Meter.
2. Gefahrenpunkt Westantarktis. Wir dürfen uns die Eismassen der Antarktis nicht als starren, unbeweglichen Monolithen vorstellen. Wir
wissen heute, dass im Eis enorme dynamische Kräfte in vertikaler wie auch horizontaler Richtung wirken, dass in der Tiefe die
Temperaturen zu- und nicht abnehmen, dass sie am Grund des Eises nur noch knapp über dem Gefrierpunkt liegen und das es Boden taut.
Vor Kurzem wurde unter dem Eisschild der Antarktis der größte Süßwassersee der Erde entdeckt. Er befindet sich in 3000 Meter unter dem
Eis, ist mehr als 300 km lang und stolze 40 km breit. Der immense Eisdruck und die geothermische Wärme bewirken, dass unter dem Eis
der Boden aufweicht und sich in rutschigen Morast verwandelt. Diese Zonen werden als "Eisautobahnen" bezeichnet. Langsam, aber
unerbittlich befördern sie das Gletschereis in Richtung Meer, wo es abbricht und als Eisberg ins offene Meer treibt. Je nach dem Relief des
Bodens kann das Eis auf diese Weise 100 Meter und mehr im Jahr zurücklegen. Andere bringen es dagegen nur auf wenige Meter, manche
bewegen sich so gut wie gar nicht oder kommen, nachdem sie vorher sehr aktiv gewesen sind, plötzlich zum Stillstand. Die Dynamik der
Eisautobahnen hängt eng mit dem gefrorenen Meerwasser zusammen, der die gesamte Antarktis wie ein Eispanzer umgibt. Dieser
Treibeispanzer ist sehr wichtig, er stützt und stabilisiert die Gletscher auf dem Festlandsockel. Hinzu kommen die drei großen
Schelfeisgebiete. Auch diese geben dem Eis Halt. Seit der letzten Eiszeit vor 20.000 Jahren hat der Eispanzer um ca. 5,3 Millionen
Kubikmeter abgenommen, vor allem die Westantarktis musste Substanz lassen.
Was die Klimaerwärmung angeht, ist die Westantarktis ist weitaus gefährdeter (sh. Abbildung unten, Spektrum der Wissenschaften 2/2005).
Die Landmasse der Westantarktis ist sehr viel kleiner als die der Ostantarktis. Dazu ausgefranster, zerklüfteter und steiler, und, was der
ganzen Angelegenheit erst die richtige Brisanz gibt, erhebliche Teile ihrer Eis- und Landflächen liegen auf oder sogar unter
Meeresspiegelniveau. Ihre weit ins Meer ragende Halbinsel ist aus der Luft gut zuerkennen. Sie weist nach Südamerika, ihre lange, zum
Pazifischen Ozean hin offene Flanke, wird von der Amundsen See begrenzt. Der Isthmus zwischen West- und Ostantarktis ist ebenfalls gut
zu erkennen. Er wird von zwei ausgedehnten Eisfeldern eingedämmt: dem Ronne-Schelfeis und dem Ross-Eisschelf.
Und genau darauf bezieht sich Richard Alley. Während die Ostantarktis in den letzten 15 Millionen sehr stabil gewesen zu sein scheint, gilt
das für ihren "kleinen Bruder", der Westantarktis, ganz und gar nicht. Sie kann kurzfristig auseinanderbrechen und sie ist dies auch schon
mindestens einmal innerhalb der letzten 600.000 Jahre. Der Tidenhub rund um die Antarktis beträgt bis zu 1,5 Meter. Allein aufgrund der
thermischen Ausdehnung der Weltmeere könnte der Meeresspiegel innerhalb der nächsten 100 Jahre um 30 Zentimeter höher liegen.
Meerwasser würde unter das Schelfeis dringen und vom Untergrund ablösen. Damit wäre das Festlandeis der Westantarktis akut bedroht.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Abbildung 74: Die Antarktis
James E. Hansen, der Direktor des Goddard-Insituts für Weltraumforschung der NASA, und Professor am Earth Institute der Columbia
Universität in New York, gehört zu den Mahnern in dieser Angelegenheit. Niemand spricht derzeit davon, dass das Eis der Antarktis
abschmilzt, i. G., es nimmt aufgrund der höheren Niederschlagsmenge gegenwärtig sogar noch zu. Es gibt derzeit überhaupt keine
Anzeichen für einen Kollaps der Westantarktis, allerdings weist uns Hansen daraufhin, dass Eisschilde sehr schnell kollabieren können,
wenn sie erst einmal instabil geworden sind. Der Unterschied zwischen einer Eiszeit, so Hansen, und unserer heutigen Warmzeit liegt bei 6
Watt pro Quadratmeter, das sind 5 bis 6 Christbaumkerzen oder eine durchschnittliche Temperaturerhöhung von 5 Grad Celsius.
Hansen weiter: "Kritisch ist zurzeit vor allem die Wärmeakkumulation der Weltmeere, denn sie dienen als gigantische Wärmepuffer, in denen
ein Großteil der überschüssigen Sonnenenergie landet. Das heißt nicht, dass schon in den nächsten Jahren mit einem starken Anstieg des
Meeresspiegels zu rechnen wäre. … (das) dauert vielleicht noch einige Jahrhunderte. (…). Ich vermute allerdings, dass es nur mehr einige
Jahrzehnte dauert, bis der Meeresspiegel deutlich ansteigt, sofern die Energiebilanz des Planeten noch mehr aus dem Gleichgewicht gerät.
(…) Wo liegt die Grenze, (…), (wir erreichen) diese Grenze spätestens dann, wenn die globale Mitteltemperatur um ein weiteres Grad
Celsius steigt. Und das bedeutet, dass das Klimaforcing höchstens noch um ein Watt pro Quadratmeter zunehmen darf. (…). Dieser Wert
könnte in zwölf Jahren erreicht sein. Das wesentliche Problem der weltweiten Erwärmung ist aus meiner Sicht der Anstieg des
Meeresspiegels, gekoppelt mit der Frage, wie schnell Eisdecken zerfallen können.(…). Angesichts des rasanten momentanen
Temperaturanstiegs auf einem ja bereits warmen Planeten ist voraussehbar, dass sommerliche Schneeschmelze und Regen schon bald
größere Bereiche Grönlands und die Ränder der Antarktis erfassen werden. Der steigende Meeresspiegel hebt das marine Schelfeis an und
löst es von den Verankerungen am Meeresboden. Damit kann es den Eispanzer an Land nicht mehr abstützen, so dass deren Rand
schneller zum Ozean hin abrutscht. Zwar dauert es lange bis sich eine Eisdecke bildet, aber sobald sie zu zerbrechen beginnt, kann sie sich
atemberaubend rasch auflösen. (Spektrum der Wissenschaft Januar 2005).
Während alle Forscher gebannt auf das vermeintlich gefährdete Ross- und Ronne-Eisschelf starren, dringen nun neuerdings äußerst
beunruhigende Nachrichten aus einer schwer zugänglichen, steil abfallenden und daher bisher kaum erforschten Region der Westantarktis
zu uns. Es geht um die Eisdecke des "Pine-Islands" und das Eis des "Twaites-Gletschers" (s. u.). Unabhängig voneinander haben
amerikanische und englische Forscher, untermauert durch neueste Satellitenbilder, herausgefunden, dass das Eis dort rasant schmilzt und
ihre Gletscher in Richtung Meer driften. Geht es so weiter, dann haben sie innerhalb der nächsten 7.500 bis 15.000 Jahre 30 Prozent ihrer
Gesamtmasse verloren. Schon heute trägt ihre Abschmelzrate mit 0,1 bis 0,2 Millimeter zum Meeresspiegelanstieg bei, das sind immerhin 5
bis 10 Prozent. (Spektrum d. W., 2/2005). Für dieses entlegene Gebiet wurde damit für die Antarktis erstmals zweifelsfrei nachgewiesen,
dass sich die globale Erderwärmung auch in der Antarktis klimarelevant niederschlägt. Zusätzlich zeigen Satellitenbilder, wie schnell riesige
Eisflächen aus dem Schelfeis herausbrechen und auf das offene Meer treiben.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Abbildung 75: Übersicht Antarktis
Abbildung 76: Abbruch Twaites Gletscher
Die rechte Abbildung zeigt das Schelfeis des Twaitesgletschers, von dem sich innerhalb weniger Tage eine riesige Eisfläche von der Größe
Mallorcas ablöst. Darunter sehen Sie den massiven Substanzverlust das Larsen-B-Eisschelfs innerhalb von 7 Jahren. Die Stärke des Eises
beträgt dort immerhin 200 m.
Abbildung 77: Larsen Schelfeis
Abbildung 78: Larsen Schelfeis
Das sind keine guten Nachrichten aus der Antarktis. Selbst die vorsichtigsten Schätzungen des IPPC gehen davon aus, dass die Weltmeere
sich in den nächsten Jahrzehnten nochmals um ein bis vier Watt pro Quadratmeter erwärmen dürften. Nach Professor James E. Hansen
würde damit der "Ernstfall" in der Antarktis eintreten. Im Oktober 2004 „teilte die US-Raumfahrtsbehörde NASA mit, sie rechne bis 2050 mit
einem Temperaturanstieg um 3,6 Grad Celsius in einigen Teilen der Antarktis, während eine Forschergruppe des Britisch Antarctic Survey
zum Ergebnis kam, dass der westliche Teil jährlich ein Volumen von 250.000 Kubikmeter Eis verliert.“ (Atlas der Globalisierung 2006). Wie
gesagt, das Eisschild der Ostantarktis ist zurzeit noch sehr stabil. Für die Westantarktis scheint dies aber nicht mehr zu gelten. Bricht das
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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westarktische Eisschild zusammen, steigt Meeresspiegel weltweit um 8 Meter. Schmilzt auch die Ostantarktis, dann wären es unglaubliche
64 Meter. Die Nordsee würde vor den Toren Berlins stehen.
3. Der Golfstrom. Die tauenden Permafrostböden der Tundra, die zunehmenden Niederschläge, die anschwellenden Ströme Sibiriens, die
schmelzenden Gletscher Grönlands, Alaskas und Kanadas, wie auch die schmelzende Meereisdecke der Arktis - sie alle tragen dazu bei,
dass sich warmes, leichtes Süßwasser vermehrt in das Nordpolarmeer des hohen Nordens ergießt. Die Lena, der Ob, der Irtysch, der
Kolyma, der Jenissej, sie führen heute 25 Prozent mehr an Wasser. Jahr für Jahr steigen ihre Wassermengen um 7 Prozent, das ist so, als
würden wir das zweieinhalbfache Volumen des Bodensees in den Rhein einspeisen, oder den dreimonatigen Abfluss des Mississippi in den
Golf von Mexiko. Neuste Messungen mithilfe von Satelliten haben ergeben, dass schon im Jahr 2030 im Verlauf der Sommermonate das
gesamte Nordpolarmeer eisfrei sein dürfte. Ende August 2006 wurde zum ersten Mal ein breiter Riss im Eis beobachtet, der sich bis zum
Nordpol zog („Die Welt“ vom 21.9.2006).
Damit uns Europäern der Golfstrom erhalten bleibt (sh. Abbildung unten), muss stark salzhaltiges, spezifisch schweres Wasser an Grönland
und Island vorbei bis nach Norwegen vordringen können. Schmelzwasser und Regenwasser könnten das so genannte "hyaline
nordatlantische Förderband" stark abschwächen, oder sogar abreißen lassen, zumindest was dessen nördlichsten Ausläufer angeht. So
könnte paradoxerweise ein Kälteeinbruch ausgelöst werden und Nordeuropa zu Eis gefrieren, und das mitten in einer Fieberperiode der
Erde. Nichts mit Palmen auf Norderney, so ungerecht kann es auf der Welt zu gehen. Die Konsequenzen für das Klima Europas und dem
Osten der USA wären enorm: Es würde sich dem von Alaska annähern. Das arktische Eis würde tief in den Süden vordringen, Eisberge
würden die Schifffahrt stark gefährden und beeinträchtigen, die Landwirtschaft in diesen Gebieten würde ungeahnte Einbrüche erleiden,
bzw. ganz unmöglich werden. Insgesamt würde sich das Klima auf der nördlichen Erdhalbkugel erheblich abkühlen und trockener werden,
während es auf der Südlichen den gegenteiligen Effekt auslösen würde. Das gesamte Weltklima wäre ein anderes.
Abbildung 78: Golfstrom (RedAndr)
Die Trockenheit in bestimmten sensiblen Regionen würde deutlich zu nehmen, denn ein kalter Nordatlantik führt nach Ansicht der
Klimatologen zu mehr Trockenheit in den Monsungebieten Afrikas und Asiens. Extreme Dürren und sich ausbreitende Wüsten wären die
Folge. Heute noch stark besiedelte Regionen in Asien und Afrika würden unbewohnbar werden, da die ersehnten Monsune ausbleiben
dürften. Angesichts Hunderter von Millionen Menschen, die auf den Monsunregen angewiesen sind und die heute schon kaum Zugang zu
sauberem Trinkwasser haben, eine apokalyptische Vorstellung. Das zumindest sind die Szenarien, mit denen sich Richard Alley
auseinandersetzt, dem weiter oben schon erwähnten Professor für Geowissenschaften an der Pennsylvania State Universität. Er ist der
Meinung, dass die "Wissenslücke" hinsichtlich des menschlichen Eingreifens in die Klimamechanismen der Erde beunruhigend groß ist, und
dass es klug wäre, der drohenden Gefahren ins Auge zu sehen. Nach ihm sollten wir rechtzeitig Maßnahmen "ergreifen, durch die sich der
Einfluss des Menschen auf das Klima in einer Weise verringert, dass eine katastrophale Veränderung unwahrscheinlich wird." (Sektrum der
Wissenschaften, 2/2005).
Wird es am Ende so sein, wie Martin Claußen, Klimaphysiker und Vorsitzender der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft, annimmt?
"Meine persönliche Erfahrung ist folgende. Der Mensch muss getreten werden. Solange nicht wirklich etwas passiert, passiert nichts. Klar,
die durchhängende Wirtschaft hat manchen von den Umweltproblemen abgelenkt. Zunehmende Klimakapriolen und Wetterextreme werden
den Blick aber wieder anders fokussieren - besonders wenn man selber getroffen werden könnte. Das macht handlungsbereit." (National
Geographic 2/2004).
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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11.9 Platzende Nähte: Die Bevölkerungsexplosion
"Man hat niemals prähistorische Skelette von Menschen gefunden, die älter als 50 Jahre geworden waren. Die menschliche
Lebenserwartung betrug in 99,9 Prozent der Zeit, die wir diesen Planeten bewohnt haben, 30 Jahre. Jetzt müssen wir innerhalb einer
einzigen Generation einhunderttausend Jahre alter Prägungen unseres Körpers und unserer Kultur überwinden." (Frank Schirrmacher: "Das
Methusalemkomplott").
Im Gegensatz zum Szenarium des Klimawandels steht das des Bevölkerungswachstums bereits fest. Die Prognosen hinsichtlich des
Anstiegs der Weltbevölkerung sind erstaunlich genau, schon seit Jahrzehnten. Im Jahr 2003 lebten 6,3 Milliarden Menschen auf der Erde.
Ihr Durchschnittsalter betrug 26 Jahre. Gibt es keine Katastrophe größeren Ausmaßes, so wird die Menschheit bis zum Jahr 2050 um
weitere 2,6 Milliarden angewachsen sein, auf 8,9. Am Ende dieses Jahrhunderts dürfte ihre Zahl etwa bei 9,1 Milliarden liegen. Der
Höhepunkt ist damit erreicht. Anschließend, so die Prognosen, wird die Menschheit leicht schrumpfen. Am Ende des 22. Jahrhunderts wird
ihre Zahl bei etwa 8,5 Milliarden liegen, und ein Jahrhundert darauf dürfte sie sich bei etwa 9 Milliarden eingependelt haben. ("Atlas der
Globalisierung").
Jahrhunderte lang wuchs die Menschheit nur sehr langsam. Noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts lag die Zahl der
Weltbevölkerung bei 1,5 Milliarden, um sich dann innerhalb eines einzigen Jahrhunderts zu vervierfachen. Wie groß solch eine Dynamik
sein kann, mögen folgende Beispiele zeigen. Im April 1991 forderte ein Wirbelsturm in Bangladesh 120.000 Opfer. Drei Monate später war
diese "kleine Delle" in der Bevölkerungsstatistik schon wieder ausgeglichen. Und trotz des Massensterbens im südlichen Afrika aufgrund der
AIDS-Epedimie, wird sich die Bevölkerungszahl Afrikas in den kommenden 50 Jahren verdoppeln, auf 1,2 Milliarden. Und wir sollten auch
Folgendes nicht vergessen: Der dramatische Anstieg der Weltbevölkerung fand in einem Jahrhundert statt, das voller Kriege, Massenmorde
und anderer Katastrophen war. Aus Sicht der Evolution sind wir eine erstaunlich erfolgreiche Spezies.
Abbildung 79: Anstieg Weltbevölkerung (Anton Wikipedia)
Das Wachstum der Weltbevölkerung hat sich vor allem deshalb verlangsamt, weil viele der reichen westeuropäischen Industriestaaten etwa
hundert Jahre zuvor vor in den "demografischen Übergang" eingetreten sind, d. h., ihre Geburtenraten begannen damals deutlich
abzusinken. Ursachen dafür waren medizinischer Fortschritt, zunehmender Wohlstand, Schwangerschaftsverhütung, Emanzipation, soziale
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
214
Errungenschaften und vor allem Bildung. Eins hat sich dabei ganz klar gezeigt: Ohne die Einbindung und Befreiung der Mädchen und
Frauen wird das Bevölkerungsproblem nicht zu lösen sein. Das "Ersatzniveau", d. h. der Ausgleich von Geburtenrate und Sterberate, liegt
bei 2,1 Kindern pro Frau. Bis zum Jahr 2050, so die demografischen Voraussagen, wird sich diese Tendenz in den meisten Ländern der
Welt durchgesetzt haben. Die Welt wird also nach und nach älter werden, nicht jünger.
Anders ausgedrückt: Sollten die Bevölkerungswissenschaftler recht behalten, dann steht der Welt nach einem weiteren Anstieg der
Weltbevölkerung bis zum Ende dieses Jahrhunderts eine Konsolidierung bevor. Nach dem "Baby-Boom" wird der "Oma-Boom" kommen
("Atlas der Globalisierung"). Wir können gegenwärtig drei globale Tendenzen beobachten. Einen dramatischen Rückgang der Bevölkerung
in den hoch entwickelten Industrieländern, eine sich abzeichnende Stabilisierung in Mittel- und Südamerika, Süd- und Ostasien, sowie ein
weiter ungebremster Wachstumsschub in Afrika und im arabischen Raum. Insbesondere in den ärmsten Ländern ist das
Bevölkerungswachstum bisher ungebrochen. (In China fehlen dagegen in den nächsten Jahrzehnten Abermillionen von Frauen. Selbst
Schuld, fällt mir dafür nur ein, wenn man über Jahrzehnte weibliche Feten selektiv abtreibt, darf man sich halt nicht wundern, wenn
„plötzlich“ Frauenmangel herrscht …).
Ob ungebremstes Wachstum oder starker Geburtenrückgang, beide Szenarien in der Lage Gesellschaften zu zerreißen. Nehmen wir
Deutschland. "Vorausgesetzt es gibt keinen Krieg, sind die Weichen für die nächsten 50 Jahre unumkehrbar gestellt. Die deutsche
Bevölkerung wird bis 2050 um ca. zwölf, womöglich um 17 Millionen Menschen abnehmen. Ohne Zuwanderung würde der Rückgang 23
Millionen Menschen betragen. Ohne gravierende Veränderung der Geburtenrate und der Zuwanderung wird im Jahr 2050 die Hälfte der
Deutschen über 51 Jahre (heute: 40 Jahre) alt sein und eine psychologische Lebensperspektive von 30 Jahren haben. Italien wird am Ende
des Jahrhunderts bei gleich bleibendem Trend nur noch zehn Millionen Einwohner haben" (Frank Schirrmacher: "Das
Methusalemkomplott"). Wie viele Zuwanderer kann eine Kultur verkraften, mit wie wenig Menschen kann eine hoch entwickelte Wirtschaft
auskommen?
Wie wir es auch drehen und wenden wollen, hinsichtlich der Bevölkerung steht die Gesellschaften dieser Welt vor extremen
Herausforderungen, radikalen Umgestaltungen und sozialen Umbrüchen, und das nicht nur allein aufgrund der demografischen Zahlen.
Könnten wir die Erde von einem Raumschiff aus betrachten, dann würden wir erkennen, dass unsere Art zu leben ziemlich dem von
Legehennen entspricht. Wenig Platz, viel Dreck, ein deutlich erhöhtes Krankheitsrisiko, und überall, wohin man blickt, Aggression und
Depression, so wie der erfolglose Versuch, dem allen irgendwie entkommen zu wollen. Immer mehr Menschen leben in riesigen
Ballungsräumen, in Städten, in urbanen Zentren mit Abermillionen von Menschen. Nur ganze 48 Stunden braucht ein Krankheitserreger
heutzutage, um den Erdball mit dem Flugzeug einmal zu umkreisen. Nicht auszudenken was passiert, wenn ein entsprechend virulenter
Erreger sich auf den Weg in unsere Ballungsräume macht, zum Beispiel ein neuer Grippevirus, der H5N1 wäre solch ein Kandidat.
Die Lungenkrankheit SARS wird dann nur ein Vorgeschmack gewesen sein. 1950 lebten 30 Prozent der Menschen in Städten, im Jahr 2007
wird es schon die Hälfte sein. In den Industriestaaten liegt die Zahl schon jetzt bei 75 Prozent. Allein in den 50 größten Städten der Erde
leben mittlerweile 500 Millionen Menschen, und das, obwohl sie durch Erdbeben extrem gefährdet sind. Im Jahr 2000 gab es auf der Welt
dreißig Städte mit mehr als 6,5 Millionen Einwohnern, angeführt von Tokio mit 27,2 Millionen, gefolgt von Dhaka (22,8), Bombay (22,6), Sao
Paulo (21,2) Delhi (20,9) und Mexiko City (20,4) und vielen anderen, wie immer sie auch heißen mögen. In ihnen vereinigen sich
Wirtschaftskraft und Kauflust, Reichtum und Armut zu einer explosiven Mischung. Allein die Megacity Tokio verfügt über die gleiche
Wirtschaftskraft wie Frankreich, Los Angeles über diejenige von Indien. Die schnell wachsende Menschheit übt einen immensen Druck aus,
nach allen Seiten, auf Fauna und Flora und natürlich auf sich selbst.
75 Prozent der Weltbevölkerung leben in Gebieten, von denen man sich tunlichst fernhalten sollte. Es sind genau diejenigen Regionen, die
in den letzten 20 Jahren von Erdbeben, Tropenstürmen, Hochwasser, Dürren, Erdrutschen und Schlammlawinen am stärksten heimgesucht
wurden. In den Megacitys wie Rio de Janeiro, Manila, Bombay, Lagos oder Kairo haust mehr als die Hälfte der Bewohner in Slums. 1999
tötete in Venezuela Schlammlawine 30.000 Slumbewohner. 500 Millionen Chinesen sind von Tropenstürmen bedroht, 160 Millionen Inder
durch Sturmfluten, 30 Millionen Japaner durch Erdbeben, angeführt von Tokyo, dem Horrorszenarium schlechthin. Zwei Drittel der
Weltbevölkerung leben weniger als 50 Kilometer von der Küste entfernt. Da ist es nicht klug, die die Küsten schützenden Riffe zu zerstören
oder die roten und schwarzen Mangrovenwälder abzuholzen, nur um Platz für Shrimps- und Fischfarmen zu schaffen, die für ein paar
magere Jahre Profit versprechen. Auch das ist eine Erkenntnis des Tsunamis vom 26.12.2004, wenn auch keine Neue: Was wird passieren,
wenn die Meeresspiegel steigen, wenn die Mündungsgebiete vom Nil, Amazonas, Ganges, Gelben Fluss, Mississippi im Meer versinken?
Meerwasser wird in Süßwasserquellen eindringen, Sturmfluten werden Küsten wegspülen, Menschen werden flüchten. Auch dazu gibt es
schon Zahlen. Bis zu 150 Millionen Menschen, so die Berechnungen, werden in den nächsten Jahrzehnten aus den überfluteten
Küstenregionen fliehen müssen.
Klimawandel, Bevölkerungswachstum, Armut und Naturkatastrophen sind Geschwister, denn, „dass Katastrophen vornehmlich die Armen
ereilen, kommt nicht von ungefähr. Lebensraum ist oft nur in exponierten Gebieten erschwinglich.“ ("Die Zeit" vom 20.1.2005). Aus dieser
Perspektive müssen wir die scheinbar unanwendbaren Naturkatastrophen betrachten, und die damit zusammenhängenden Opferzahlen.
Angesichts dieser unheilvollen Verknüpfung natürlicher und anthropomorpher Ursachen sind die Zukunftsperspektiven nach der Münchener
Rück Versicherung nicht besonders erfreulich, sie besagen, dass wir "…. in den kommenden Jahrzehnten mit mehr und schwereren
Unglücken rechnen müssen, als wir es aus den, sagen wir, letzten fünfzig Jahren gewohnt sind (…) … Die Zahl der Naturkatastrophen (hat
sich) verdreifacht. Dass es so ist und schlimmer kommen dürfte, liegt an einigen auf mittlerer Sicht unaufhaltsamen globalen Entwicklungen.
Die Wichtigsten sind: Bevölkerungswachstum, Klimawandel, wachsende Mobilität, wachsende Beweglichkeit des internationalen
Finanzkapitals. ("Die Zeit" vom 5.1.2005). Der Geowissenschaftler und Meteorologe Gerhard Berz ("Master of Desaster") war 30 Jahre für
Münchener Rück tätig. Er kalkulierte die Risiken von Naturkatastrophen ("GeoRisikoForschung-Institut). In einem Interview mit "Die Zeit"
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
215
kommt er zu folgendem Schluss. Frage: "Malen sie nicht mitunter etwas zu schwarz? - Berz: "Ich denke nicht. Ich glaube sogar, dass wir die
Gefahren nicht so schwarz malen, wie sie tatsächlich sind." Laut der UN gab es zwischen 1990 und 2003 195 größere Naturkatastrophen
mit 800.000 Opfern. Jedoch nicht die spektakulären Ereignisse sind die großen Killer und Kapitalvernichter, nicht Erdbeben,
Vulkanausbrüche und Tsunamis, sondern vielmehr extremes Wetter. Und extremes Wetter heißt: Hitzeperioden, Hungersnöte, Dürren,
Sturm- und Sturzfluten, Überschwemmungen usw. 57 Prozent (= 456.000) aller Todesopfer resultieren aus dieser Kategorie. ("Die Zeit" vom
5.1.2005).
Exkurs. Lassen Sie mich am Ende noch einmal auf die in Deutschland zurückgehenden Geburtenzahlen zurückkommen. Folgendes sollte
uns dabei klar sein: Hinter den rückläufigen Geburtenzahlen verbirgt sich eine kulturelle Haltung, eine geistige Einstellung, deren Wurzeln in
der modernen Industriegesellschaft selbst zu suchen sind. Sie beruht auf Werten, die rein patriarchaler Natur sind. Alles was mit nähren und
umsorgen zusammenhängt wird abgewertet, nicht gewertschätzt, findet keine Anerkennung und wird dementsprechend verächtlich
gemacht. In dieser Hinsicht ist die gegenwärtige Diskussion oberflächlich und intellektuell flach, sie dringt überhaupt nicht zum Kern des
Problems vor. Kinderlosigkeit und die damit zusammenhängenden Zukunftsprobleme werden aus einer rein männlichen Sichtweise
diskutiert. Wer bezahlt unsere Renten? Was wird aus dem Wirtschaftsstandort Deutschland? So werden wir „das Problem“ nicht lösen.
Beate Clausnitzer, 32 Jahre jung, hat das klar erkannt. In einem Beitrag für "Die Zeit" zu diesem Thema schrieb sie folgende
bemerkenswerte Sätze dazu: "Der Geburtenrückgang ist die Quittung für ein hoch industrialisiertes Arbeitssystem und Ausdruck seiner
Werte. Wir arbeiten, um kalkulierbar einen direkten materialistischen Gewinn im Hier und Jetzt zu erzielen. Wert hat, was "sich errechnet".
Dieser Materialismus steht im Gegensatz zu dem, was Kinder bedeuten: eine unsichere Investition in die Zukunft, die man selbst nicht mehr
erleben wird, auf die man nur vertrauen kann. (…) Diese Paradoxie (Gleichberechtigung = Verlust von Mutterschaft) offenbart die eigentliche
Unvereinbarkeit von Mutterschaft und Erwerbsarbeit: Frauen gelten als gleichberechtigt - um den Preis der Mutterschaft, also gerade des
Merkmals, dass sie von Männern unterscheidet und das einmal von "statusprägenden Charakter für sie war". ("Die Zeit" vom 10.3.2005).
Gleichberechtigung kann danach nicht bedeuten, dass Frauen bessere Männer werden, dass sie neben ihrem Beruf auch noch
Vollzeitmütter sind. Wer ist dazu schon in der Lage? Niemand. Wir müssen Mutterschaft wieder als einen Wert an sich betrachten, einen,
der ganz oben auf der gesellschaftlichen Leiter steht und irgendwo da unten. Welche Lebensmodelle wir auch immer entwickeln werden in
Zukunft, solange wir nicht unsere Mütter auf Händen tragen, solange sie nicht das Wertvollste sind, dass wir haben, nämlich die Hüterinnen
unserer Zukunft, wird es nicht vorangehen mit unseren Gesellschaften. Exkurs Ende.
11.10 Die Vernichtung unserer natürlichen Ressourcen
Drei Milliarden Menschen in Asien warten auf ihr Auto. Was wird wohl geschehen, wenn jeder Chinese ein Auto besitzt? Sie fordern
Wohlstand, berechtigterweise, wir aber wissen, dass es nicht gehen wird und auch nicht geschehen darf, selbst bei extrem sparsamen
Umgang mit unseren Ressourcen. Mein zehnjähriger Sohn versteht die Sache mit dem Auto, dem Erdöl und dem Klima. Jedes Schulkind
würde es verstehen, nur wir Erwachsenen weigern uns beharrlich eins und eins zusammenzuzählen. Aber wer weiß, vielleicht begreifen wir
über den steigenden Preisen für Stahl, Erdöl, Erdgas, Beton und den vielen anderen Rohstoffen von denen wir abhängig sind, etwas
schneller. Wir können nur das verbrauchen, was uns Gaia bereitstellt, mehr nicht. Gaia rechnet in Jahrhunderttausenden, nicht in
Jahrzehnten oder Legislaturperioden. Ihr Atem ist länger, als der Unsrige. Sie denkt in anderen Dimensionen. In Sachen natürliche
Ressourcen wollen uns auf zwei Themen konzentrieren: Wasser und Erdöl. Die Gründe sind einfach: Beide sind knapp. Beide sind
existenziell wichtig. Beide sind potenzielle Kriegsschauplätze. Wie unser Körper ohne Wasser nicht leben kann, kann die Industrie ohne
Erdöl nicht sein. Flüssiges Gold und schwarzes Gold, zwei Stoffe mit höchst explosivem Charakter.
- Süßwasser. Der Dominikanerpriester Matthew Fox schreibt: "Wer in einem Haus mit fließendem Leitungswasser lebt, hält Wasser für
selbstverständlich. (…). Wir leben in der Annahme, die Erde würde uns ständig bedienen. Das ist falsches Denken. Brauchen wir denn
Katastrophen, um uns die Wahrheit zu verdeutlichen, dass alles ein Geschenk ist?" (aus: Schöpfungsspiritualität). In Bezug auf das
Trinkwasser gilt dies nur noch bedingt. Wasser wird uns nicht geschenkt. Wir müssen es bezahlen. Das weckt Begierden. Schon greifen die
Megakonzerne nach dem flüssigen Gold. Die Privatisierungswelle rollt. Zusätzlich gilt: Wir verseuchen unser Trinkwasser, wo wir nur
können. Zum Beispiel mit dem Nitrat aus der Stickstoffdüngung der Landwirtschaft, mit Antibiotika, das aus achtlos weggeworfenen
Tabletten stammt, oder mit dem Hormon Östrogen aus den Antibabypillen, das mit jedem Toilettengang in die Umwelt gelangt. Nitrat wird im
Magen zu Nitrosaminen verwandelt. Nitrosamine gehören zu stärksten krebserzeugenden Stoffen, die wir kennen, das sollten wir wissen.
Auch Antibiotika und Östrogene haben im Trinkwasser nichts zu suchen, denn Antibiotika erzeugen Resistenzen und Östrogene Krebs,
lassen Männer "verweiblichen" und senken die Fruchtbarkeit der Spermien. 1950 waren 0,5 Prozent der männlichen Collegestudenten in
den USA unfruchtbar. 1978 waren es bereits 25 Prozent. Antibiotikaresistente Keime sind Erreger, die kaum noch oder überhaupt nicht
mehr auf Antibiotika ansprechen. Der MRSA (= MultiResistenter Staphylokokkus Aureus) stellt mittlerweile im Klinikalltag ein sehr ernstes
(und teueres) Problem dar. Sie sollten auch wissen, dass unser Trinkwasser so gut wie gar nicht auf Arzneimittelrückstände untersucht wird.
Für andere Stoffe gelten Grenzwerte, die uns Sicherheit suggerieren sollen, wo es keine gibt.
Stichwort Chemie. Der massive Einsatz von Chemie, nicht nur in der Landwirtschaft, ist einer der wahrscheinlichsten Gründe, warum immer
mehr Menschen an Krebs, Allergien und Asthma erkranken. "Krebs ist inzwischen (nach Unfällen) die zweithäufigste Todesursache bei
Kindern," schreibt Thom Hartmann, "auf deren Konto volle zehn Prozent aller Todesfälle bei Kindern gehen." Heute, so Thom Hartmann
weiter, erkrankt in den USA schon jedes 600. Kind in den ersten zehn Jahren seines Lebens an Krebs. "Seit 1973 sind die Erkrankungen an
akuter lymphatischer Leukämie (ALL) bei Jungen um 27 Prozent gestiegen, und die Fälle von Hirntumoren während desselben Zeitraums
sogar um 40 Prozent." (aus: "Unser ausgebrannter Planet"). Jedes Jahr verlassen tausende von neuen chemischen Verbindungen die
Industrieanlagen, von denen keiner weiss, wie sie untereinander reagieren. Um 3.000 Prozent ist der Einsatz von Pestiziden in den USA seit
dem Zweiten Weltkrieg gestiegen, und die Muttermilch unserer Frauen enthält immer noch das starke Kontaktgift DDT. Abermillionen von
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Bangladescher trinken täglich mit Arsen verseuchtes Brunnenwasser, ohne das sie dies wissen. Ihnen bleibt keine andere Wahl. In gewisser
Weise, so könnte man sagen, graben wir uns selbst das Wasser ab.
Trinkwasser ist selten und daher sehr kostbar, es muss aufbereitet, entgiftet werden, und jeder der über 6 Milliarden Menschen auf der Welt
braucht es, mindestens 50 Liter pro Tag - zum trinken, kochen, waschen, zum reinigen. Wir selbst bestehen zu über 60 Prozent aus Wasser.
Nicht ohne Grund hat die Vollversammlung der UN das Jahr 2003 zum "Internationalen Jahr des Süßwassers" deklariert. Das hat gute
Gründe: Erstens leben schon heute über 2 Milliarden Menschen in wasserarmen Regionen, und zweitens gehen wir viel zu
verschwenderisch mit dem knappen und kostbaren Nass um. Wir sprechen zwar vom Blauen Planeten, aber nur 2,5 Prozent alles auf der
Erde vorkommenden Wassers ist Süßwasser. Der Rest ist salzig, ungenießbar, unbrauchbar für uns und nur unter hohem Energieaufwand
und hohen Kosten aufzubereiten. Was wir brauchen, ist ein verbesserter Schutz unserer Trinkwasservorräte, eine nachhaltige
Wasserbewirtschaftung und einen sorgsameren Umgang mit dem Süßwasser. Die UNESCO schreibt dazu. "Am Beginn des 21.
Jahrhunderts steht die Erde vor einer Wasserkrise. Es ist eine Krise des Wassermanagements, verursacht im wesentlichen durch falsche
Bewirtschaftung von Wasser. (…) Sollte sich nichts tun in Sachen Wasser, so dürfte es im Jahr 2025 für zwei Drittel der Weltbevölkerung ein
ernsthaftes Wasserproblem geben. Schon gegenwärtig herrscht in über 30 Ländern der Erde Wassermangel. Wenn nichts geschieht,
dürften es bis dahin 48 sein." (aus: World Vision).
70 Prozent der weltweiten Trinkwasserreserven werden von der Landwirtschaft und der Gartenanlagenbewässerung verbraucht. Auch die
Industrie langt kräftig zu. Und wir, die wir in den hoch entwickelten Ländern des Westens leben, verschwenden es ohne viel darüber
nachzudenken. Ein Amerikaner verbraucht zwölf Mal so viel Wasser wie ein Afrikaner aus der Subsahara. Auch Europa dürfte im direkten
Vergleich schlecht da stehen. Jedes Jahr sterben 5 Millionen Menschen an Krankheiten, die durch verseuchtes Wasser verursacht werden,
allen voran Cholera, Salmonellosen, Typhus, Hepatitis. Durchfallerkrankungen führen jährlich zu 1,8 Millionen Todesfällen. 90% davon sind
laut WHO Kinder unter fünf Jahren. Laut dem UNPD, dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, haben 20% der Bewohner Sri
Lankas und Indonesiens keinen Zugang zu unbedenklichem Trinkwasser. 1,7 Milliarden Menschen leiden an Wassermangel, wenn nichts
geschieht, werden es in 30 Jahren 5 Milliarden sein, mehr als die Hälfte der Menschheit. Die nächsten Konflikte sind da vorprogrammiert.
Sie werden sich um das Euphrat-Wasser (Türkei/Syrien/Irak), Nil-Wasser (Sudan/Ägypten) und Jordan-Wasser (Israel/Jordanien) drehen.
Halten wir fest: 1,7 Milliarden Menschen leben gegenwärtig in Regionen, in denen 20% der vorhandenen Wasserressourcen verbraucht
werden. Bis zum Jahr 2025 wird ihre Zahl auf etwa 5 Milliarden angewachsen sein. Da die Meeresspiegel in Folge der Erderwärmung
ansteigen werden, wird sich die Situation weiter zuspitzen. Meerwasser wird fruchtbare, stark bevölkerte landwirtschaftliche Flächen
bedrohen und in Süßwasserquellen eindringen. Nicht nur das. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind eine Milliarde Menschen akut durch
Wüstenbildung bedroht. In einigen Gebieten der Sahelzone breitet sich die Wüste jährlich um unglaubliche 10 Kilometer aus. Der Druck auf
diese wasserarmen Regionen wird mit steigenden Temperaturen noch zu nehmen. Im Norden von Burkina, Mali oder Niger liegt der
Grundwasserspiegel schon heute oft in 50 Meter Tiefe. Die Wasserkrise ist nur ein Problem, wenn auch ein sehr dringliches. Klimawandel,
Bevölkerungsexplosion, Armut, fehlendes Wissen, Wüstenbildung, extensive Holznutzung, die damit zusammenhängende Versalzung der
Böden zeichnen ein düsteres und bedrohliches Bild. 1960 verließen weltweit etwa 79 Millionen Menschen ihre Heimat, mehr oder weniger
freiwillig. Im Jahr 2003 war ihre Zahl auf 175 Millionen angewachsen. Anders ausgedrückt: Auf 35 Menschen kommt ein Migrant. Nach dem
Flüchtlingswerk der UN, dem UNHCR, befanden sich im Jahr 2003 17,1 Millionen Menschen auf der Flucht, davon waren 9,7 Millionen
Kriegsflüchtlinge. Aufgrund der beschriebenen Entwicklungen wird in den nächsten Jahren der Migrationsdruck und die Zahl der
(Wirtschafts) Flüchtlinge auf die hoch entwickelten Staaten weiter deutlich zu nehmen. Nicht nur Armuts- und Kriegsflüchtlinge werden sich
auf den Weg machen, sondern auch Menschen auf der verzweifelten Suche nach trinkbarem Wasser, sofern sie das noch können.
- Erdöl: Vizepräsident Richard Cheney ist ein vorausschauender Mann, jemand, der etwas vom Öl versteht. Er und Bush, sei es Senior oder
Junior, stehen für die amerikanische Ölindustrie und ihre Interessen. Vor seiner Zeit als Vizepräsident im Weißen Haus sagte er zu den
Ölvorräten unserer Erde folgendes: "Wir werden jedes Jahr um zwei Prozent mehr Erdöl brauchen, dabei dürften die Fördermengen jährlich
um drei Prozent fallen. Das ergibt bis 2010 eine Fehlmenge von 50 Millionen Barrel pro Tag." Das ist sechsmal soviel wie Saudi-Arabien
täglich fördert. Auch Henry Kissinger, der alte Haudegen und Stratege im amerikanischen Außenministerium, nicht gerade zimperlich, wenn
es um die Verteidigung amerikanische Interessen im Ausland geht, weiß natürlich, dass zwei Drittel der weltbekannten Erdölvorkommen in
der Golfregion lagern und dass der Welterdölmarkt 30 Prozent seines Bedarfs aus dieser Region bezieht. Nach ihm ist "… Erdöl zu wichtig,
als das man es den Arabern überlassen könnte." Ganz klar: Erdöl ist das "Blut der Welt". Und so wie der Junkie seinen täglichen Schuss
Heroin braucht, um in seine sorgenfreie Welt entfliehen zu können, so benötigt die Weltwirtschaft das schwarzes Gold der Erde, um den
Motor des Wirtschaftswachstums am Laufen halten zu können. Ohne Öl kein Profit. Da kann man schon mal schlecht schlafen. So erging es
vor langer Zeit wohl auch John D. Rockefeller, dem Vater von Standard ÖL, auch unter den Namen Exxon oder ESSO bekannt. Ein
Alptraum muss ihn geplagt haben, als er hervorstieß: "… stell` dir vor, es gibt kein Erdöl mehr, das ganze Erdöl ist einfach weg." (alle Zitate
aus: Spiegel, 22/2004). Nun scheint sein Albtraum Wirklichkeit zu werden, denn nach Rafael Ramirez, Ölminister von Venezuela, dem
drittgrößten Opec- Förderland, ist "Die Ära billigen Öls … vorbei." ("Die Zeit"/ 27.5 2004).
Auch wenn man über Rockefellers Albtraum irgendwie schmunzeln muss, zu schmunzeln gibt es wenig. Erdöl und Krieg, Erdöl und
(westlicher) Wohlstand, Erdöl und Armut gehen Hand in Hand. Alle wichtigen Erdölfelder liegen in exponierten Krisenregionen: die
Golfregion, der Kaukasus, Westafrika, Venezuela. Die letzten Kriege drehten sich alle ums Öl. Iran/Irak (1980 - 1988), Kuwait/Irak (1990),
Irak/USA (seit 2003). Auch der Kaukasus ist bekannterweise nicht gerade ein Hort der Entspannung, geschweige denn von Demokratie.
Georgien, Aserbaidschan, Kasachstan, Turkmenistan, alles Wackelkandidaten in Sachen Sicherheit. Und die Weltwirtschaft braucht
verlässliche Partner, sonst gerät sie ins Trudeln. Die Zahlen für Deutschland. Erster Ölpreisschock 1974/1975, ausgelöst durch das
Ölembargo der OPEC: Wirtschaftswachstum minus 1,4 Prozent (1975). Zweiter Ölpreisschock 1980 bis 1988, ausgelöst durch den Krieg
zwischen Iran-Irak: Wirtschaftswachstum minus 1,0 Prozent (1982). Dritter Ölpreisschock 2000/2001 ausgelöst durch die Ereignisse vom 11.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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September 2001: Wirtschaftswachstum minus 0,1 Prozent (2003) (Spiegel: 22/2004). Es ist wie beim Trinkwasser: Kostbarkeiten führen zu
Begehrlichkeiten und diese zu Konflikten.
Exkurs. Erdgeschichtliches zum Erdöl. Vor 410 Millionen Jahren, dem Paläozoikum (= Erdaltertum), das auch als Zeitalter des Karbon
bezeichnet wird, war alles anders. Die Landmasse Gaias bestand aus einem einzigen riesigen Kontinent, Pangäa genannt. Klimatologisch
und geologisch gesehen ist es sehr bedeutsam, dass 75 Prozent der Erdoberfläche aus Wasser bestehen und nur 25 Prozent aus Land,
und wie gesagt, damals konzentrierte sich diese Landmasse quasi auf einem Fleck. Die Atmosphäre war sehr aufgeheizt, die Temperaturen
waren bedeutend höher als gegenwärtig und das lag, natürlich, am Kohlendioxid, dem Treibhausgas. Die Geologen wählten den Namen
Karbon ganz bewusst, Karbon bezieht sich auf Kohlenstoff, dem Grundbaustoff des Lebens. Kohlenstoff ist die Voraussetzung für das
Leben schlechthin. Unter Einfluss der Sonne, mithilfe der Fotosynthese, wurde Kohlendioxid eingefangen und zu organischer Masse
umgewandelt, und so ist es bis heute geblieben. Hitze und Kohlendioxid sorgten im Karbonzeitalter dafür, dass die Pflanzenwelt förmlich
explodierte. Wir können uns das heute kaum vorstellen, aber Pangäa war von verrottenden Pflanzen förmlich überdeckt, über und über. Sie
bildeten verrottende Schichten aus organischem Schleim, diese erreichten an manchen Stellen durchaus hunderte von Metern. In den
Ozeanen spielte sich ein ähnlicher Vorgang ab, auch dort wurde Kohlendioxid in Form von Algen und Mikroorganismen gebunden, die sich
nach und nach auf den Meeresböden ablagerten. So wurde die Atmosphäre Gaias vom Kohlendioxid "gereinigt". 70 Millionen Jahre dauerte
die erdgeologische Epoche des Karbon. Vor 300 Millionen Jahren dann, wurde Pangäa aufgebrochen. Wir wissen nicht genau, was geschah
und wie das geschah, am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass ein riesiger Meteorit die Erde traf und zu einer ungeheuren Katastrophe führte.
Pangäa zerbrach in mehrere Teile und das war gut so, denn nun begann Wasser zwischen die neuen Landmassen zu dringen.
Das Erdklima begann sich drastisch zu verändern. Küsten bildeten sich, Ozeane entstanden, Gebirge türmten sich auf - die Anden, der
Himalaja, die Alpen, die Pyrenäen - sie alle verdanken dieser Katastrophe ihre Existenz. Bis in unsere heutigen Tage treiben gewaltige
Erdplatten auf dem feurigen Untergrund Gaias umher, angetrieben durch kosmische Kräfte, die an der Erde zerren und sie von Zeit zu Zeit
erbeben lassen, die unentwegt Vulkane gebären, manchmal leider auch Tsunamis. Das verrottete Pflanzenmaterial geriet unter großen
Druck, es wurde noch tiefer unter in die Erde verbannt, es wurde zerreiben, gepresst und zerquetscht, atomisiert, und innerhalb eines schier
unermesslichen Zeitraums von 300 Millionen Jahren entstand das, was wir heute als Kohle-, Erdgas- und Erdöllagerstätten bezeichnen. 12
Prozent aller Erdölvorkommen stammen aus dem Karbonzeitalter, 13 Prozent aus dem Jura, und 17 aus der Kreide, zwei späteren
geologischen Epochen. Im Grunde genommen handelt es sich bei den fossilen Brennstoffen also um pflanzliche und tierische Überreste,
d. h. um aus dem Verkehr gezogenes Kohlendioxid.
Nicht einmal ganz eintausend Jahre ist es erst her, da machte der Mensch eine großartige Entdeckung. Im Boden fand er eine dunkle,
schmierige, ölig-bitumartige Substanz. Diese Substanz brannte sehr viel besser und nachhaltiger, als alles, was er zuvor zum Feuer machen
benutzt hatte. Er entdeckte das Erdöl, und bald darauf die Kohle. 300 Millionen Jahre hatten diese Schätze in der Erde geruht, nun aber
wurden sie Teil der menschlichen Kultur. Die fossilen Brennstoffe sind hoch konzentrierter Kohlenstoff, vielseitig einsetzbar, und vor allem
brennen sie deutlich länger als Holz. Es sollte noch einmal einige Jahrhunderte dauern, bis 1850, dann brach das Zeitalter der fossilen
Brennstoffe endgültig an. Die Stichworte dazu lauten: Industrialisierung, Dampfmaschine, Ottomotor. Das Erdöl wird gern als schwarzes
Gold bezeichnet, und das mit Recht. Sein Wert für den Menschen ist unermesslich, insbesondere wenn wir bedenken, wie lange Gaia
benötigt hat, um es in solchen Massen herzustellen. Darum muss es uns eigentlich ein wenig verwundern, dass wir so sorglos und so
nachlässig und so verschwenderisch damit umgehen. Nicht nur wegen des CO2 und den Temperaturen, nein, Erdöl ist nicht nur ein
wichtiger fossiler Brennstoff, aus Erdöl wird fast alles hergestellt, was uns umgibt und was wir zum Leben brauchen, oder meinen zu
brauchen:
Michael Moore, der Filmemacher, gerade durch einen Oskar veredelt, setzt sich für uns die Narrenkappe auf. Er hält uns den Spiegel vors
Gesicht, wenn er über unseren verschwenderischen Umgang mit dem Erdöl schreibt: "Ich habe gehört, dass es damals, als du auf die Welt
gekommen bist, so viel Öl gab, dass ihr alles daraus hergestellt habt. Und dass ihr die meisten dieser Sachen einmal benutzt habt und dann
weggeworfen habt"- "(Ja), du hast recht wir stellten praktisch alles aus Erdöl her, dass wir in Kunststoff verwandelten. Möbelpolster,
Einkaufstüten, Spielzeug, Flaschen, Kleidung, Arzneimittel, selbst Babywindeln wurden aus Erdöl hergestellt. Die Liste der Dinge, die zum
Teil aus Öl und seinen Nebenprodukten bestanden, war endlos: Aspirin, Fotoapparate, Golfbälle, Autobatterien, Teppiche, Kunstdünger,
Brillen, Shampoo, Klebstoff, Computer, Kosmetika, Waschmittel, Fußbälle, Insektizide, Koffer, Nagellack, Toilettensitze, Strumpfhosen,
Zahnpasta, Kissen, weiche Kontaktlinsen, Reifen, Kugelschreiber, CD`s, Turnschuhe - alles, was du willst. (…). Wir waren imstande, einen
Liter Benzin zu verfahren, um einen Liter Milch zu kaufen, und sogar die war noch in einer Plastikflasche abgefüllt". - "(Aber) wie sind die
Leute überhaupt auf den Gedanken gekommen, Öl zu verbrennen? Warum etwas verbrennen, von dem man nur wenig hat? Haben die
Leute damals auch Diamanten verbrannt?" - "Nein, Diamanten haben sie nicht verbrannt. Diamanten galten als wertvoll. Erdöl galt zwar
auch als wertvoll, aber das kümmerte niemanden. Wir machten daraus einfach Benzin, legten Strom an eine Zündkerze und verbrannten
das Zeug, wo immer sich die Gelegenheit bot." (aus: "Volle Deckung Mr. Bush"). Von 330.000 Medikamenten in der Apotheke lassen sich
gerade einmal zwei finden, in denen sich keine Hilfsstoffe finden lassen, die nicht aus Erdöl bestehen. Exkurs. Ende.
Im Grunde genommen ist alles Wesentlichen in Sachen fossiler Brennstoffe schon gesagt. Über die restlichen, wirtschaftlich noch
interessanten und ausbeutbaren Lagerstätten, und bekannt sind auch die Namen und Orte, der mit dem Öl zusammenhängenden
ökologischen Katastrophen und Skandale: Exxon Valdez, Niger Delta, Brent Spar, um nur drei zu nennen. Die 260.000 Barrel Rohöl der
Exxon Valdez ergossen sich in den Prince William Sound von Alaska. Das Niger Delta wird seit Jahrzehnten von Shell verseucht und mit der
Ölplattform "Brent Spar" wird zwar keine Umweltkatastrophe in Zusammenhang gebracht, zeigt aber die Gesinnung der Ölindustrie recht gut
auf. Natürlich, es gibt noch andere Namen. Und hinter all diesen Namen verstecken sich ökologische Katastrophen. "Erika" - Bretagne
(1999), "Torrey Canyon" - Cornwall/England (1976). Das größte Unglück ereignete sich übrigens weit entfernt von uns im Jahr 1979 vor der
Küste Trinidads und Tobga. Dort kollidierten die "Aregean Captain" und der "Atlantic Express". 2.160.000 Millionen Barrel Öl flossen ins
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Meer. Die Hauptverschmutzung der Meere durch Öl, auch das ist längst bekannt, vollzieht sich jedoch fast unbemerkt von der Öffentlichkeit:
Das meiste Öl fließt des nächtens ins Meer, wenn die Schiffe routinemäßig ihr verbrauchtes Öl Meer pumpen. 22 Prozent aller
Ölverschmutzung der Meere stammen aus dieser Quelle.
Wir wissen auch, dass Mitte dieses Jahrhunderts die wirtschaftlich rentablen Vorratsstätten aller Wahrscheinlichkeit nach ausgebeutet sein
werden. Wir wollen nicht kleinlich sein, sei es einfach das Ende dieses Jahrhunderts, auf 50 Jahre mehr oder weniger kommt es uns nicht
an. Ja, eigentlich ist alles klar und doch verändert sich nichts in unserer Haltung. Es geht um viel Geld, sehr viel Geld. Die Optimisten der
Branche sehen die Sache so: 900 Milliarden Barrel Erdöl sind in den vergangenen 150 Jahren insgesamt gefördert worden. Geschätzte
1200 Milliarden Barrel sind noch bekannt. Zusätzlich, so ihre Hoffnung, liegen noch weitere 500 Milliarden Barrel irgendwo in bisher
unentdeckten Lagerstätten. Demzufolge dauert es noch eine Weile, mindestens 150 Jahre, bevor es eng wird. Allerdings gibt es auch ganz
andere Stimmen und Psychologie gehört nun mal zum Geschäft. So musste zu Beginn des Jahres 2004 Royal Dutch/Shell seine
vorhandenen Reserven deutlich nach unten korrigieren, um satte 20 Prozent. Ja, es wird immer aufwendiger und auch immer kostspieliger
neue Lagerstätten zu erschließen. Die letzten "Elefantentreffer", die Entdeckung sehr ergiebiger Erdölfelder, liegen alle lange zurück. 90
Prozent des heutigen Erdöls stammt aus Bohrlöchern, die 20 Jahre und älter sind. 1938 wurde das Feld Burgan in Kuwait entdeckt, 1948
das Feld Ghawar in Saudi-Arabien. Der Anteil dieser beiden Felder an der Gesamtmenge der Erdölförderung beträgt stolze 8 Prozent.
Erwähnenswert sind noch die Ölfelder der Nordsee, die in den 70iger und 80igerJahren erschlossen wurden. Allerdings ist ihre Produktion
bereits rückläufig, sie sank von 6 Millionen auf 5,3 Millionen Barrel.
Niemand weiß genau, wie viel Öl wirklich noch unter der saudischen Wüste lagert. Das ist Chefsache des saudischen Königshauses. Auf
Überraschungen sollten wir uns daher einstellen. Beispiel Oman 1997. Parktisch von heute auf morgen kommt die Ölproduktion im Feld von
Jibal zum Erliegen. Niemand hatte damit gerechnet. Und doch kam es so. 250.000 Barrel Öl wurden dort täglich aus dem Boden gepumpt.
Alle glaubten, das geht bis in alle Ewigkeit so weiter. Dann kam der plötzliche Einbruch, praktisch über Nacht, völlig unerwartet, auch für die
Experten. Das Feld von Jibal galt als gigantisch, seine Vorräte wurden als unerschöpflich angesehen. Heute werden dort nur noch ganze
50.000 Barrel gefördert. In vielen Ländern ist der Gipfel der Ölförderung längst überschritten: Libyen (1970), Iran (1974), Rumänien (1976),
Brunei (1979), Indonesien (1997). Und Neues kommt kaum noch.
Es gibt selbst innerhalb der Ölbranche Fachleute, die sehr viel skeptischer sind. Colin Campbell gehört zu diesen Skeptikern. Er ist heute
über 70 Jahre alt. Seit den fünfziger Jahren hat er für alle "Großen der Branche" gearbeitet. Und er ist anerkannt. Es ist notwendig, in
diesem Zusammenhang zwischen Geologen und Ökonomen zu unterscheiden. Und auch für wen sie arbeiten, ist wichtig. Geologen sind
Fachmänner in Sachen Lagerstätten. Ökonomen in Sachen Profit. Colin Campbell glaubt den Optimisten nicht. Aufgrund seiner langjährigen
Erfahrung ist er zum "Ölskeptiker" konvertiert. Seiner Meinung gibt es zwar noch genügend Öl, ist es zu früh vom Ende des Ölzeitalters zu
sprechen, dass es aber nach dem Jahr 2005 bergab geht, steht für ihn außer Frage. (Spiegel 22/2004). Friedrich Wilhelm Wellner,
Geowissenschaftler, ist ähnlicher Meinung. "Beim gegenwärtigen Verbrauch reichen die heute bekannten Vorräte noch für 43 Jahre. In
Wirklichkeit aber wachsen die Ölreserven, weil der technische Fortschritt die Ausbeutung von Vorkommen ermöglicht, die früher
unerreichbar waren. … Das Fördermaximum bei konventionellem Erdöl (wird) zwischen 2015 und 2020 erreicht sein … Ja, die Wende steht
im Grunde unmittelbar bevor. Aber es ist nun einmal so, dass immer weniger neue große Ölvorkommen entdeckt werden. Wir nähern uns
unerbittlich dem Fördermaximum. … Die Zeit des billigen Öls ist vorbei" ("Die Zeit" 36/2004).
Selbst wenn diese Einschätzung stimmen sollte: Die Dynamik der Wirtschaftsentwicklung in China und Indien dürfte alle Prognosen schnell
zur Makulatur werden lassen. Im Jahr 2003 wurden täglich 80,6 Millionen Barrel Rohöl gefördert; im Jahr 2004 waren es schon 2 Millionen
mehr. Und nur 60 Prozent des in den letzten Jahren geförderten Öls, so die Energieberatungsfirma Wood Mckennzie aus Edinburgh, konnte
durch neue Funde ersetzt werden. (Spiegel 22/2004). Bis zum Jahr 2025 wird ein weiterer Anstieg der globalen Ölnachfrage um 60 Prozent
prognostiziert. Gegenwärtig verbraucht ein Amerikaner 26 Fässer Öl pro Jahr, ein Chinese 1,8 und ein Inder nur 0,9. 1993 gab es in China
700.000 Pkws, heute sind es über 24 Millionen, und im Jahr 2020 werden es wahrscheinlich 120 Millionen sein. Niemand wird den
chinesischen und indischen Durst nach Öl stillen können, über zwei Milliarden Menschen wollen ebenfalls am Wohlstand partizipieren, und
wenn die Wirtschaft Chinas und Indiens richtig in Fahrt kommt, dann werden auch die bekannten 43.000 Ölfelder der Welt nicht ausreichen.
Schon weit vor dem Ende der Erdölzeitalters, wird dem kleinen Mann der Sprit ausgehen, er wird es einfach nicht mehr bezahlen können.
Da verwundert unsere Verschwendung doch. In den USA hat ein Lebensmittel durchschnittlich 1.300 Meilen hinter sich gebracht, bevor es
auf dem Tisch des Verbrauchers landet. Die verschiedenen Komponenten eines Rasierapparates der Marke Braun werden in 9
verschiedenen Ländern gefertigt. Sie kommen aus Schweden, USA, Deutschland, Marokko, China und den Philippinen. Blumen aus
Kolumbien, Erdbeeren aus Südafrika, Äpfel aus Argentinien, T-Shirts aus Burma und Butter aus Neuseeland. Das ist nur möglich, weil der
Erdölpreis künstlich niedrig gehalten wird. Noam Chomsky weist uns auf Folgendes hin: "Ein großer Teil des Pentagonbudgets dient dazu,
die Ölpreise im Mittleren Osten auf einem Niveau zu halten, das die USA und ihre Energiegesellschaften für angemessen befinden: Eine
technische Untersuchung (meines Wissens die Einzige zu diesem Thema) kommt zu dem Schluss, dass die Ausgaben des Pentagons auf
eine dreißigprozentige Subventionierung des Marktpreises für Rohöl hinauslaufen." Daran zeigt sich, so Noam Chomsky weiter, dass die
"geläufige Ansicht, fossile Brennstoffe seien billig, auf einer Fiktion beruhen". ("Profit over People“). Vielleicht ist der Westen deshalb so
nachsichtig mit den Diktatoren der Ölförderländer, denn bei einer nachhaltigen Demokratisierung dieser Staaten dürfte das Zeitalter des
billigen Öls schon heute vorbei sein. Demokratische Regierungen neigen dazu sich dem Diktat der Ölmultis zu widersetzen (siehe Iran
1956).
Diese äußerst fragwürdige ökonomische Praxis der weiten Wege verschlingt nicht nur unnötig Öl, sondern schlägt sich auch in der
Kohlendioxidbilanz entsprechend nieder. Nach Angaben der Autoindustrie setzt ein PKW pro 100 Kilometer durchschnittlich 1,61 kg
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Kohlendioxid frei. Macht bei 1000 km 16 kg, bei 10.000 km 160 kg. Ein Tempolimit von 90 Stundenkilometer in der EU, würde zu einer
Reduzierung von täglich 81 Millionen Litern Kraftstoff führen. Das sind immerhin 9 Prozent des Gesamtverbrauchs.
Zwei Dinge werden wir bald schmerzhaft einsehen müssen. Erstens, Auto fahren war schon immer Luxus war, nicht nur in Sachen Umwelt,
sondern auch in Sachen Geldbörse, und zweitens, wir können uns den Individualverkehr nicht mehr leisten können. Wie der Frosch auf die
Schlange starren wir gebannt auf die Preisschilder an den Zapfsäulen, doch die eigentliche Katastrophe geht an uns vorbei. Und über den
Preis des Rohöls werden die Veränderungen nun kommen. Anders scheint es nicht zu gehen, wir brauchen den ökonomischen Druck. Im
April 2005 lag der Preis des Nordseeöls auf dem Rekordniveau von 57,58 Dollar pro Fass (159 Liter). US-Leichtöl kostete 58,18 US-Dollar.
Im Jahr 2006 überschritt er die 70 Dollar Marge. Fachleute rechnen bereits mit Spitzenpreisen, die zwischen 80 und 100 US-Dollar liegen.
Der Spiegel kommt angesichts dessen zu folgendem Fazit: "Ungewisse Ölreserven, hochbetagte Lagerstätten und ein Weltbedarf, der
ständig wächst: Manches spricht dafür, dass die Skeptiker zu Recht daran zweifeln, dass Rohöl im Überfluss vorhanden ist und dass es vor
allem so billig bleiben kann, billiger zum Beispiel als Mineralwasser." (22/2004).
11.11 Artensterben: Der Letzte macht das Licht aus
Manche von uns sehen in Tieren nichts als eine Ressource: Fleischressource, Milchressource, Fellressource, Potenzressource. Ich sehe
das anders: Jedes Tier hat einen Wert an sich, einen Wert, der nicht auf seinem Nutzen für uns Menschen beruht. Genauso betrachte ich
die Menschen. Jeder Mensch hat einen Wert, seinen Wert. Ein Mensch ist keine Ressource der Wirtschaft. Er mag vieles sein, aber
Humankapital ist er definitiv nicht. Leider reduziert die materialistische Kultur uns Menschen zunehmend darauf. Daher fühlen wir uns so
wertlos, ausgestoßen, nutzlos, wenn wir unsere Arbeit verlieren. Das ist schade. Dagegen müssen wir uns zur Wehr setzen. Jeder ist
Mensch wertvoll. Jedes Tier ist wertvoll, ganz so wie jeder Baum. Der Baum, die Pflanzen, die Tiere sind unsere Brüder. Ohne unsere
Brüder müssen sterben.
Natürlich müssen wir Dinge zerstören. Leben zehrt von Leben, so ist das nun einmal. Die nordamerikanischen Ureinwohner wussten das.
Bevor sie ein Tier töteten, baten sie um Vergebung. Und gleichzeitig baten sie den Großen Geist um Unterstützung und Schutz für die Jagd.
Wie würde unsere Welt wohl aussehen, wenn wir ein wenig von dieser edlen Haltung in uns aufnehmen könnten? „Jeder Teil dieser Erde ist
meinem Volk heilig, jede glitzernde Tannennadel, jeder sandige Strand, jeder Nebel in den dunklen Wäldern, jede Lichtung, jedes
summende Insekt ist heilig, in den Gedanken und Erfahrungen meines Volkes. (…).Wie kann man den Himmel kaufen oder verkaufen - oder
die Wärme der Erde? (…). Gott gab Euch die Herrschaft über die Tiere, die Wälder und den roten Mann, aus einem besonderen Grund doch dieser Grund ist uns ein Rätsel. Vielleicht könnten wir es verstehen, wenn wir wüssten, wovon der weiße Mann träumt - welche
Hoffnungen er seinen Kindern an langen Winterabenden schildert – und welche Visionen er in ihre Vorstellungen brennt, sodass sie sich
nach einem Morgen sehnen.“ („Rede des Häuptlings Seattle“, Patmos Verlag 2003). Zu begreifen, dass jede Spezies einen Wert an sich
hat, würde uns unseren eigenen Wert deutlicher vor Augen führen. Alles ist wertvoll. Nichts ist selbstverständlich, wir sind alle nur Gäste,
Durchreisende, die sich dankbar etwas nehmen dürfen, aber nichts von all dem besitzen.
Wenn wir den Zustand der Biosphäre angemessen beurteilen wollen, spielt die biologische Vielfalt, die Biodiversität eine überragende Rolle.
Sie ist sozusagen das Lacknusspapier Gaias: Gesundheit oder Krankheit? Stabilität oder Instabilität? Gerade gestern las ich, dass noch
1.400 Königstiger in Indien leben. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts waren es noch 40.000. Weit vor dem Jahr 2035, wenn das
Nordpolarmeer in den Sommermonaten eisfrei sein wird, wird der Eisbär ausgestorben sein. Ebenso bestimmte Robben- und Walarten, die
vom Eis abhängig sind. Schon wurden erste Fälle von Kannibalismus unter den Eisbären beobachtet. In 10 bis 20 Jahren werden
wahrscheinlich alle afrikanischen Großaffen ausgerottet sein, auch die Berggorillas in den Bergen Ostafrikas, denen Diana Fossey schon
vor Jahren ein unauslöschliches Denkmal gesetzt hat. Auch der Orang Utan auf Sumatra und Kalimantan in Indonesien wird dann nicht
mehr sein, am Ende waren alle Anstrengungen umsonst. Manche Arten werden beweint und betrauert werden, schmerzlich vermisst, die
Meisten aber werden sich still und heimlich auf den Weg machen, wen interessiert es schon, wenn eine hässliche Krötenart fehlt oder eine
unbekannte Ameisenart? Anhand der Artenvielfalt können wir aber auch erkennen, wie es um uns als Menschheit bestellt ist. Danach sieht
es nicht besonders gut aus. Denn ohne unsere Freunde aus der Welt der Pflanzen und Tiere können wir nicht überleben.
Die Gleichung ist einfach: je geringer die Vielfalt in einem Ökosystem, desto geringer ist seine Stabilität. Und wer will schon ernsthaft
behaupten, dass wir nicht Teil eines globalen Ökosystems sind. Selbstverständlich, wir sind empört, wenn kleine Robbenbabys mit
Knüppeln auf dem Eis erschlagen werden, wenn majestätische Wale harpuniert werden oder wenn riesige, über eintausend Jahre alte
Redwoodbäume unter den Kettensägen von Holzfällern fallen. Wir brauchen diese starken emotionalen Bilder. Das Artensterben jedoch
spielt sich größtenteils im Kleinen ab, bei den Insekten. Insekten sind wichtige Indikatoren für den Zustand unserer Umwelt, sozusagen
Bioindikatoren. Man könnte sie auch als "Frühwarnsystem von Mutter Natur" bezeichnen, das gilt besonders für die Schmetterlinge, die sich
den regionalen Verhältnissen ihrer Umwelt passgenau einfügen.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Abbildung 80: Rückgang der Artenvielfalt
Nun schlagen die Biologen Alarm. Es scheint, als machten die filigranen Flieger rar. Eine durchregulierte, arg strapazierte Umwelt scheint
sie zum Rückzug zu zwingen. Beobachtet wurde dies zuerst in England. Gibt es weniger Schmetterlinge, dann tut sich etwas Wichtiges im
Ökosystem, so die Warnung der Biologen, Schmetterlinge sind Spezialisten. Der "Large Blue" beispielsweise, der Ameisenbläuling, wie er
bei uns genannt wird, ist so ein Spezialist. Die Raupen aus seinen Eiern gedeihen nur auf einer ganz bestimmten Pflanze, dem
Wiesenknopf. Die Eier selbst werden von einer ganz bestimmten Ameisensorte „betreut“. Ameisen, Wiesenknopf und Large Blue – eine
Schicksalgemeinschaft, stirbt der Eine, stirbt auch der Andere. Dr. Martin Warren vom "Butterfly Conservation Dorset" in England spricht von
Horror, sollte sich herausstellen, dass unsere Schmetterlinge wirklich massiv im Rückzug begriffen sein sollten. Nach ihm wäre das ein
Beleg, dass wir in das sechste große Massensterben Gaias eingetreten sind. (ZDF, Abenteuer Wissen vom 13.4.2005).
Warum sage ich das? Weil ich ihre Aufmerksamkeit zu den kleinen Dingen lenken will. Wissen wir um das Kleine, das stirbt, können wir
bewusst auf die Symbole wie Tiger und Eisbär zurückgreifen, um die Menschen aufzurütteln. Doch sterben werden wir, sollte es zum
Äußersten kommen, weil unsere kleinen Brüder und Schwester gegangen sind.
Die letzten Regenwälder fallen gerade. Jedes Jahr schrumpfen sie um 1 bis 2 Prozent. In Indonesien hat der Regenwald seit 1985 um 50%
abgenommen. Bleibt es bei diesem Tempo, gibt es auf Sumatra außerhalb der Nationalparks, in 4 Jahren, in Kalimantan in 9 Jahren keinen
Primärwald mehr. Man schätzt, dass in jedem Jahr 25.000 bis 500.000 unentdeckte Tier- und Pflanzenarten untergehen. 60 Prozent der
Korallenriffe sind akut gefährdet, 50 Prozent der Mangrovenwälder, 50% der Fischgründe sind ausgebeutet, 20% sind überfischt, die
restlichen 30% werden derzeit verwüstet
Eine im Jahre 1998 von 400 Wissenschaftlern des "American Museum of Natural History" in New York City verfasste Erhebung besagte,
dass fast 70 % der Biologen der Ansicht waren, dass "ein massenhaftes Aussterben drohe und ein Fünftel aller lebenden Spezies in den
nächsten 30 Jahren verschwunden sein könnte" …Sie führten nahezu jeden Verlust in der Pflanzen- und Tierwelt auf menschliche
Aktivitäten zurück. Eine Schätzung, die im "National Geographic" veröffentlicht wurde, kommt zu dem deprimierenden Ergebnis, dass 50 %
der pflanzlichen und tierischen Spezies (Fische, Vögel, Insekten und Säugetiere) im Verlauf Laufe der nächsten einhundert Jahre akut vom
Aussterben bedroht sind. Solch ein Massensterben hat im Verlauf der Erdegeschichte bisher fünf Mal gegeben, Sie wurden stets durch
natürliche Ursachen ausgelöst. „Die sechste Auslöschung ist auf dem Weg, und diesmal sind wir die Ursache." (Duane Elgin, "Ein
Versprechen für die Zukunft").
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Abbildung 81: unberührter Regenwald (Christian Ziegler wikipedia)
Richard Leakey, der weltberühmte Paläontologe stellt folgende dramatische Rechnung auf. Innerhalb der letzten 300 Millionen Jahre starb
(schätzungsweise) eines Spezies innerhalb von 4 Jahren aus. Das sind 25 Spezies in 100 Jahren oder 250 in 1000. In den zurückliegenden
100 Jahren hat sich das Tempo deutlich erhöht, seitdem hat die Erde fast ein Viertel aller Pfanzen- und Tierarten verloren (Thom Hartmann,
"Unser ausgebrannter Planet").
Wer weiß, vielleicht ist es angesichts dieser dramatischen Zahlen doch klüger von natürlichen Ressourcen zu sprechen, von Biokapital,
einfach deshalb, weil wir wenig Zeit haben und Geld besser motiviert. Stichwort Medikamente. Viele der potentesten Arzneimittel stammen
aus der Natur oder wurden ihr "abgeschaut". Morphin (Schmerzen/Mohn), Digitalis (Herz/Fingerhut), Marcumar (Blutgerinnung/Pfeilgift),
Kokain (Schmerz/Pflanzenblatt), Penicillin (Infektion/Schimmelpilz), Taxol (Krebsmittel/Eibe). 25 "Blockbuster", 25 Renner gibt es auf dem
heiß umkämpften Arzneimittelmarkt. 10 von diesen Rennern sind Plagiate aus der Schatzkiste von Mutter Natur. Jedes fünftel Arzneimittel in
den USA weist Substanzen auf, die aus wildlebenden Organismen gewonnen wurden. Wenn wir begreifen, dass viele Pflanzen und Tiere
lebenswichtige Aufgaben in den Ökosystemen erfüllen, z. B. die Reinigung von Trinkwasser, die Stabilisierung von Berghängen, den Schutz
von Küsten, den Erhalt von Humus, dass sie uns mit Heilstoffen versorgen, mit Genvielfalt usw. usf., und dass das alles Geld einbringen
kann, mehr als wir durch kurzfristige Zerstörung und Vernichtung bekommen, warum nicht? Ich liebe den Elefanten auch so, aber wenn
reiche Touristen mit ihrem Geld etwas dazu beitragen, auch gut.
11.11 Schlussbetrachtungen und Ausblick
Auf unsere Generation und die beiden uns nachfolgenden Generationen kommt es an. Noch können „wir zwei Spezies für jede gegenwärtig
zum Aussterben verdammte Art retten“, machen wir weiter so wie bisher, „werden aller Wahrscheinlichkeit nach drei von fünf Spezies zu
Beginn des nächsten Jahrtausends nicht mehr unter uns sein;“ (Tim Flannery, „Wir Wettermacher“); noch können wir den CO2-Ausstoß
begrenzen und damit den Klimawandel und die daraus resultierenden Kosten einigermaßen begrenzen; noch können wir unsere
Ökonomien, Gesellschaften, unsere internationale Beziehungen neu gestalten, gerechter, nachhaltiger, solidarischer, zukunftsfähiger; noch
können wir den Zusammenbruch unserer Kulturen verhindern; noch muss es nicht so schlimm kommen, wie es kommen könnte. Dich dazu
muss die (westliche) Welt ihrer Verantwortung endlich gerecht werden, muss sie die notwendigsten Schritte einleiten, heute, in den nächsten
beiden nächsten Dekaden, nicht morgen. Ohne einen weltweiten Bewusstseinswandel, wird dieser Wandel nicht zu schaffen sein. Auf den
Geist im Menschen wird es ankommen. Weltbilder bringen Welten hervor.
Die westliche Industrieländer stehen aus vielerlei Gründen in der Bringeschuld, die „Kohlenstoffschuld“ ist nur eine davon. Kohlenstoffschuld
heißt: Wir sind die Hauptverursacher des Klimawandels - deshalb müssen wir auch die Kosten dafür tragen! Nicht nur die Finanziellen,
sondern auch die Technologischen, Wissenschaftlichen, Sozialen, Gesellschaftlichen und natürlich auch die Ökologischen. Dem
Verursacherprinzip muss Geltung verschafft werden. Ohne eine radikal veränderte Lebensweise, mit anderen Werten, anderen
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Vorstellungen, anderen Visionen, wird das alles nicht zu machen sein. Ein wenig Rouge wird nicht reichen. Wir sollten und wir können
Vorbilder sein, einfach, weil wir das Wissen dazu haben, das technisch-wissenschaftliche Know-how und die moralische Verantwortung für
diejenigen, die nach uns kommen.
Was für eine Alternative haben wir? Keine. Es geht um unser Überleben. Zusammenbruch oder Durchbruch? Die nächsten Jahre werden
entscheiden. Zusammenbruch bezogen auf unsere Zivilisationen kann heißen: Niedergang, Abstieg, Auflösung, Zerfall, Untergang, mit den
entsprechenden sozialen Gräueln oder eben auch die Vernichtung unserer gesamten Spezies, dass Ende des evolutionären Experimentes
Mensch. Das eine die Erde dominierende Spezies die Bühne verlassen musste, das hat es zuvor schon einige Male gegeben. Dass das
Undenkbare nicht eintritt, darauf können wir uns nicht verlassen, denn ein „Worst-Case-Szenarium“ wäre auch Folgendes: Nachdem die
Erde sich bis zum Jahr 2100 um 3 bis 5 Grad Celsius erwärmt hat, mit den entsprechenden ökologischen und ökonomischen
Konsequenzen, werden im planetarischen System mehrere „Kippschalter“ (H. J. Schnellnhuber) gleichzeitig umgelegt. Es kommt zum
„galoppierenden Treibhauseffekt“. Die Temperaturen der Erde steigen innerhalb weniger Jahre um mehr als 10 Grad Celsius. Daraufhin
zerbricht das Eisschild Grönlands, auch das Eis der Westantarktis rutscht ins Meer, der Meeresspiegel steigt daraufhin weltweit um 50
Meter; der Golfstrom reist ab, der indische Monsun bleibt aus, verschiedene, sich selbst unterhaltende Prozesse laufen parallel ab, die die
Temperaturen der Erde für mehrere Jahrtausende auf einem hohen Niveau halten, was zum Aussterben der Menschheit führt.
Dieses Szenarium mag eintreten oder auch nicht. Eins steht aber bereits heute fest: Der Klimawandel ist eine Ausgeburt von
Ungerechtigkeit. Er stellt das Verursacherprinzip auf den Kopf, genauso, wie er das Vorsorgeprinzip missachtet. Diejenigen, die am meisten
unter dem Klimawandel leiden werden, haben am wenigsten zu ihm beigetragen. Diejenigen, die ihn verursacht, die sich mit den fossilen
Brennstoffen einen (kurzfristigen) materiellen Reichtum und Wohlstand verschafft haben, werden ihn dagegen wohl am besten verkraften,
auch, wenn sie am Ende gemeinsam mit den Armen dieser Erde untergehen sollten.
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Wir können nicht darauf warten, dass die Welt sich umkehrt,
dass die Zeiten sich ändern oder dass die Revolution kommt
und uns in eine neue Richtung trägt.
Die evolutionären Kräfte der Natur werden uns in ihrer tastenden Art
nicht mehr über die nächste kritische Schwelle in einen neuen Seinszustand treiben.
Von nun an - sollte es für uns eine Zukunft geben - müssen wir die Zukunft selbst erschaffen."
Dr. Beatrice Bruteau, aus: WIE / Winter 2002
„Die Chance, dass unsere gegenwärtige Zivilisation
das Ende des gegenwärtige Jahrhundert noch erlebt,
ist, glaube ich, nicht höher als fünfzig zu fünfzig.“
Sir Martin Rees, Astrophysiker, Professor in Cambridge
12 Umbruch, Durchbruch oder Zusammenbruch? Die evolutionäre Herausforderung
12.1 Das Leben auf Messers Schneide
Der globale Raubzug des Neoliberalismus ist der Triumph des Oberflächlichen, ein orgastischer Rausch des Banalen, ein dumpfer Aufschrei
des Ordinären. Eine Art geistige Inkontinenz hat die Menschheit befallen, der mittlerweile jedes Gespür für Achtung, Würde, Respekt und
Sinn abzugehen scheint. „Heute leben - Morgen bezahlen!“ ist die Devise des entzückten Publikums, derweil sich der „homo ökonomicus“
skrupellos seines überflüssig gewordenen „Humankapitals“ entledigt, wie achtlos durch den Müllschlucker entsorgten Mülls. Der im
Arbeitsleben stehende Mensch ist den Kombattanten des Kapitals ein gleichgültiges Ereignis geworden, eine Art hemmender Kostenfaktor,
der seiner redlich verdienten Rendite laut jammernd im Wege steht. In seinem totalitären Anspruch duldet er keinen Widerspruch und auf
diese Art und Weise entlarvt er sich auf ungeschickte Weise immer wieder selbst als asozialer Antidemokrat. Ja, der Neoliberalismus ist
nicht demokratisch, er ist ein ausgesprochener Feind der Demokratie, auch wenn die Shogune des Kapitals anderes von sich behaupten.
Globale Kapitalokratie als camouflierter Staatskapitalismus, dass Paradox der postmodernen Weltökonomie.
Doch das Falsche wird durch ständiges Wiederholen nicht richtig. Die Freiheit der Shogune, soviel ist klar, ist nicht die unsrige Freiheit. Ihre
Freiheit ist die Freiheit einer verschwindend kleinen superreichen Minderheit über den gewaltigen Rest der Menschheit, den sie
rücksichtslos missbraucht und hemmungslos ausbeutet, ganz so wie die natürlichen Ressourcen Gaias, im trügerischen Glauben, der
Menschheit keine Rechenschaft über ihre kriminellen Machenschaften schuldig zu sein.
Diese Freiheit entkernt über kurz oder lang den demokratischen Rechtsstaat samt seiner Institutionen. Sie weidet ihn aus, wie man ein
Schaf ausweidet. Ihre normativen Zwänge kommen daher wie Naturgesetze, doch sie sind nur ein geschickt inszeniertes Theaterstück,
gemacht von bestimmten Menschen für ganz bestimmte Menschen. Großmäulig fordern sie den ungehinderten und uneingeschränkten
Zugang zu so etwas was wie den freien Markt, doch der war schon früher nichts als eine Fiktion. Die Shogune sprechen von Freiheit und
Wohlstand, doch das ist nichts als Propaganda, eine trügerische, unsere Sinne verführende Fata Morgana, gespeist aus Gier, Aggression
und Nichtverstehen. Mit Fug und Recht dürfen wir den Neoliberalismus als einen Staatssozialismus der besonderen Art bezeichnen, der
sich, wie seine totalitären Brüder des untergegangenen Sowjetreiches, der Judikative, Exekutive und Legislative bedient, um seine
Interessen mehr oder weniger gewaltsam durchzusetzen. Das alles führt am Ende zu postdemokratischen Staaten, die nur noch wenig an
das erinnern, was unsere idealistischen Vorfahren auf den Barrikaden der Freiheit einst wollten. Staatssozialismus der besonderen Art heißt
sich der Regierungen und Institutionen von Staaten und Organisationen zu bemächtigen, sie für persönliche Zwecke einzuspannen, zu
manipulieren, ihre Gesetzgebung und ihre Rechtsprechung zu beeinflussen, Bildungseinrichtungen, Infrastrukturen, Menschen, Armeen in
Beschlag zu nehmen (falls es einmal nicht so laufen sollte wie gedacht), Subventionen einzustreichen, Steuererleichterungen einzufordern,
ohne für all das wirkliche reale Gegenleistungen zu erbringen oder sich dem Gemeinwohl verpflichtet zu fühlen. Noam Chomsky nennt das
"Konsens ohne Zustimmung". Wir willigen stillschweigend ein, ohne dem bunten Treiben unsere Zustimmung gegeben zu haben. Möglich
wird das durch die „notwendige Illusion“, die bewusste und intelligente Manipulation breiter Bevölkerungsschichten durch Brot und Spiele,
Tittytainment, ganz wie im alten Rom. Der Zirkus Maximus hat viele Gesichter, die Massenmedien gehören ganz sicherlich dazu.
Wo stehen wir jetzt? Nach dem Kosmologen Brian Swimme ist der Komet schon längst eingeschlagen, dass Massensterben findet bereits
statt, wie vor 65 Millionen Jahren, als der Komet in den Golf von Mexiko einschlug. Das ist nach Brian Swimme die eine Wahrheit, die wir zur
Kenntnis nehmen müssen. Die Andere ist, dass es diesmal wir Menschen sind, die diese Katastrophe verursachen, ohne uns dessen
bewusst zu sein. Auch vor 65 Millionen ging nicht von heute auf morgen "alles den Bach runter ging", aber Gaia taumelte nach dem
Einschlag ziemlich schwer angeschlagen in ihre Ringecke. Sie brauchte einige Millionen Jahre, um sich von dieser Katastrophe zu erholen.
An deren Ende stand der Mensch. Es ist schon paradox, gerade jetzt, wo wir die komplizierten Zusammenhänge in ökologischen Systemen
immer besser verstehen, wo wir uns des evolutionären Impetus des Universums immer bewusster werden, erkennen wir auch, dass wir
derzeit dabei sind, eine Katastrophe ungeheuren globalen Ausmaßes heraufzubeschwören. Gehen wir diesen Weg unbelehrbar weiter,
dann wartet am Ende das Haupt der Medusa auf uns, mit weit aufgerissenem entsetztem Blick, selbst im Tode noch voll ungestilltem Hass,
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mit geifernden Giftschlangen im Haar, den Mund im stummen Schrei des Unaussprechlichen geformt, Verdammnis fordernd und nach
Rache sinnend, ganz so wie es die alten Göttinnen bei Übertretungen dieser Art verlangten. Hybris, so die alten Götter, darf niemals
ungesühnt bleiben, das ist das eherne Gesetz.
Abbildung 67: Umbruch: Windpark (Phillip Hertzog, wikipedia)
Noch einmal. Wo stehen wir heute? Seit etwa 4 Millionen Jahren leben Menschen auf diesem Planeten, großzügig gerechnet, das ist nicht
viel, angesichts von 4 Milliarden Jahren Erdenexistenz. Wir sind eine noch recht junge Spezies. Eine junge Spezies ist zunächst immer
raubgierig, Besitz ergreifend und fordernd, das ist normal. Sie ist rüpelhaft und benimmt sich alles andere als kooperativ. Ihre Denkweise ist
Schwarz-Weiß, Beute-Jäger, Gewinnen-Verlieren. Synergismus und Kooperation ist ihr fremd, obwohl sie ohne diese Kräfte gar nicht
existieren würde. Das weiß sie bloß noch nicht. Nach den Folgen und Kosten ihres rücksichtslosen Vorgehens fragen junge Spezies erst
hinterher, auch das ist ganz natürlich, das ist sozusagen ihre Art, damit muss man leben, daran ist nichts Verwerfliches. Eine junge Spezies
muss so vorgehen. Sie muss sich etablieren, festsetzen, ihren Platz finden und einnehmen, gegen alle evolutionären Widerstände und
Herausforderungen. Das Leben ist nicht nur freundlich, daher ist das eigene Überleben das vorrangigste Ziel einer neuen Spezies. Ab einem
bestimmten Zeitpunkt jedoch stößt jede neue Gattung in ihrer Entwicklung unweigerlich an eine unverrückbare Grenze. Auch das ist
natürlich. Jedes Wachstum muss eines Tages an seine natürlichen Grenzen stoßen. Das ist leicht zu verstehen. Geschieht dies, muss
dieser Organismus umdenken lernen, d. h., dann muss er erwachsen werden. Kann er nicht umdenken, beweist er damit, dass er eine
unreife Spezies ist, dass er nicht bereit ist, mit seiner Umwelt zu kooperieren. Und damit beginnt diese Spezies einen gefährlichen Pfad
einzuschlagen, denn die Kräfte, in die sie eingebettet ist, sind weitaus größer, als ihre Eigenen, auch wenn sie dies in ihrer Verblendung
nicht sieht. Entweder sie kooperiert oder sie wird ausgelöscht.
Alles, was lebt auf dieser Erde, ist Teil eines umfassenden, lebendigen, miteinander verbundenen Netzwerkes. Nichts ist darin isoliert. Jedes
Teil dieses Netzwerkes beeinflusst reziprok den Anderen. Weist eine Spezies die synergetischen Kräfte der Kooperation dauerhaft zurück,
dann wird sie nach und nach zu einem krankmachenden Virus, der von Gaia entfernt werden wird. Das ist im Verlauf der Evolution schon
viele Male geschehen. Lebende Systeme sind wie menschliche Körper. Alles ist mit allem verbunden. Streikt meine Leber, dann hat mein
gesamter Körper ein ernsthaftes Problem, das er nicht ignorieren darf, wenn er überleben will. Niemand in einer intakten Familie kommt auf
die Idee, drei seiner vier Kinder verhungern zu lassen, nur um sein Lieblingskind zu mästen. Das wäre krankhaft. Wir tun das jedoch ständig.
Die Frage, der wir uns als menschliche Spezies nun ausgesetzt sehen, ist: Sind wir als Kollektiv, als planetarischer Bestandteil des Lebens
in der Lage, die natürlichen evolutionären Grenzen zu erkennen, an die wir durch unser Handeln gestoßen sind? Sind wir willens und auch
bereit, darauf adäquat zu reagieren, unser Handeln danach auszurichten?
Keiner von uns allein gefährdet das Leben auf der Erde, aber wir alle zusammen tun das sicherlich. Daher müssen wir von einer kollektiven
Krise der Menschheit sprechen. Ein Hauptgrund ist folgender: 6,4 Milliarden Menschen leben auf der Erde. Damit sind wir zu einer
planetaren Macht geworden, etwas, dass sehr großen Einfluss auf Gaias Geschicke nimmt und demzufolge unbedingt berücksichtigt werden
muss. Wir beeinflussen die Biosphäre Gaias nachhaltig, ganz so, wie es die Bäume tun, die Wolken, die Berge oder der Golfstrom.
Zweierlei müssen wir dabei sehen. Erstens, diese 6,4 Milliarden Menschen stellen keinen monolithischen Block dar, d. h., sie stehen auf
ganz unterschiedlichen Ebenen der geistigen Entwicklung, mit den dazu gehörigen Weltbildern, den dazu gehörigen kulturellen
Vorstellungen, die wiederum ganz bestimmte Werte und Moralvorstellungen generieren. Jedes Weltbild erzeugt eine andere Welt, seine
Welt. In dieser Hinsicht können wir heute, sehr vereinfachend dargestellt, zwei kulturelle Hauptströmungen identifizieren: Den ReligiösMythisch orientierten, wie er sich beispielsweise in den arabisch-islamischen Ländern zeigt, dort einhergehend mit patriarchalischautoritären Stammesstrukturen, und den Naturwissenschaftlich-Materialistischen, wie er sich in den der Aufklärung verpflichteten
Gesellschaften darbietet, die sich zu einem extremen Individualismus und hemmungslosen Konsumismus bekennen. Daneben gibt es am
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unteren Ende der Spirale noch kleine Reste, winzige Gebiete magisch-animistischen Denkens, wenn wir an die Urvölker Amazoniens oder
Papua Neuguineas denken, sowie eine neu auftauchende Kraft, die man als evolutionäre Spitze des menschlichen Geistes betrachten kann,
eine integrale, holistische oder tiefenökologische Sichtweise der Welt, die alles miteinander verbindet, ohne das Einzelne zu leugnen, die
Schaulogik. All diese Weltbilder sind unterschiedliche Beschreibungen der Realität. Keines dieser Weltbilder ist ganz falsch oder auch ganz
richtig. Jedes hat seine Berechtigung, je nachdem wo wir selber stehen in unserer geistigen Entwicklung. Was wir aber mit Sicherheit sagen
können ist, dass manche dieser Weltbilder umfassender sind als andere, dass einige mehr von der Wirklichkeit erkennen als andere, dass
manche die Realität vollständiger beschreiben und daher mehr Möglichkeiten bieten, mehr Freiheit, mehr Perspektive. Alle Weltbilder gilt es
zu respektieren, sie gehören zur menschlichen Geschichte, sie sind evolutionärer Bestandteil des geistigen Erwachens, sie waren wichtig für
unsere Vorfahren und für viele Menschen auf der Welt sind sie es heute noch. Doch uns bleibt nur noch wenig Zeit, deshalb müssen wir als
Menschheit voranschreiten, das überwachsen, was hinderlich ist, kurzsichtig und gefährlich.
Zweitens müssen wir verstehen, dass unsere menschlichen Zivilisationen den gegenwärtig dynamisch anwachsenden Herausforderungen
aus vielerlei Gründen nicht gewachsen sind. Ein wichtiger Grund dafür ist das mechanistische Weltbild selbst, das unentwegt nach
technischen Lösungen sucht, obwohl wir Geistige bräuchten. Andere gewichtige Gründe sind nationalstaatliches Denken sowie der Zustand
und die Struktur der staatlichen Institutionen und (internationalen) Organisationen, die einfach nicht ausgelegt sind, für das, was da auf sie
zukommt, da sie auf Herrschaftshierarchien beruhen. Autoritäre Hierarchien aber, die auf vertikaler Machtausübung beruhen, passen sich
nur langsam radikalen Veränderungen an, sie reagieren konservativ und unflexibel auf komplexe Probleme, die unerwartet und schnell über
sie hereinbrechen und nach völlig neuen Lösungsansätzen verlangen. Wir können das z. B. gut an dem desolaten Zustand der
europäischen Gewerkschaften erkennen, die gegenwärtig erhebliche Schwierigkeiten mit den Herausforderungen der Globalisierung haben.
Netzwerkartige Organisationsformen reagieren demgegenüber erheblich schneller und weitaus flexibler. Gegenüber den „alten
Organisationsformen“ haben sie aufgrund ihrer dezentralen Struktur und ihres basisdemokratischen Charakters den unschlagbaren Vorteil,
dass sie ihr Ohr am Puls der Zeit haben. Sie sind bestens mit den regionalen und lokalen Gegebenheiten vertraut und ihre
antihierarchischen Strukturen fördern die Übernahme von Verantwortung ihrer Mitglieder auf allen Ebenen. Netzwerkartigen
Zusammenschlüssen - lokal, regional, national und auch international - gehören die Zukunft. Sie werden den hypoxischen Demokratien der
Postmoderne den dringend benötigten Sauerstoff infundieren. Die patriarchalen Herrschaftshierarchien der alten Schule gehören zum
mechanistischen Paradigma. Folgen wir diesem Weltbild weiter, werden wir zusammen mit ihm untergehen. Was wir brauchen, ist eine
planetarische Sichtweise, eine holistische Weltsicht, die die regionalen und lokalen Gegebenheiten vor Ort berücksichtigt und die
Befindlichkeiten aller Beteiligten in ihre Lösungsvorschläge miteinbezieht.
Diese netzwerkartigen Strukturen und die dazugehörigen Institutionen müssen von uns erst noch ins Leben gerufen werden. Darin liegt eine
der gewaltigen Herausforderungen unserer Zeit. „Wir können viel erreichen, wenn wir anders denken, wenn wir Konzepte aus der neuen
Welt der Netzwerke übernehmen. … (Unser) Problem ist, dass die meisten Beteiligten in den traditionellen, überholten Kategorien denken.“
(J. F. Rischard, „Countdown für eine bessere Welt“). Diese neue Welt der Netzwerke muss die traditionellen mechanistischen Konzepte, die
auf Linearität und Ursache beruhen, ablösen. Systeme, die von oben nach unten aufgebaut sind, sind nicht geeignet, strukturelle Probleme
planetarischen Ausmaßes zu meistern. Etwas ganz Neues muss also her, auch wenn wir noch nicht genau wissen, wie dieses Neue
aussieht. Aber so ist das mit der Evolution: Das Emergierende ist zuerst immer nur ein zukünftige vage Möglichkeit, ein verschwommenes
Bild im Herzen des Universums. Wer konnte schon wissen, dass das Christentum einst Kathedralen hervorbringen würde? Dass aus
Wasserstoff Giraffen entstehen würden? Aus Algen Gehirne?
Was wir dazu unbedingt brauchen, ist eine kritische Masse von entschlossenen Menschen, die bereit und willens sind, andere Menschen
auf die nächste Stufe der Bewusstseinspyramide zu begleiten. Diese Menschen stehen naturgemäß weit oben auf der evolutionären
Pyramide des Geistes. Darüber sollten sie sich absolut im Klaren sein, in ihrem eigenen Interesse. Konkret heißt das: Wenn Du es nicht tust,
wird es kein anderer tun, denn da ist kein Anderer. Über Dir gähnt nichts als die unendliche Weite des Universums. Noch nicht zu sein, das
ist das eigentliche Wesen des Neuen. Um sein zu können, braucht es einen Körper durch den sich der evolutionäre Impetus des GEISTES
manifestieren kann. Dieser Körper bist Du! Das war schon immer so. Da erging es dem Quastenflosser nicht anders. Irgend jemand muss
den ersten Schritt wagen. Irgend jemand muss es riskieren. Mag sein, dass er dabei umkommt, Sauerstoff ist toxisch, Jesus wurde ans
Kreuz geschlagen, ohne Risiko läuft nichts, Neues ist halt neu, wer weiß schon, was geschehen wird.
Um die Zukunft der Menschheit zu sichern, brauchen wir nicht unbedingt erleuchtete Menschen, ganz sicherlich aber Menschen, die sich auf
der Stufe der Schaulogik befinden, nur dort finden wir jene integrale Weisheit, die in der Lage ist, dass allgegenwärtige unnötige Leiden auf
der Erde zu überwinden und die Zerstörung Gaias zu beenden. Im Grunde genommen geht es darum, eine kritische Masse von
menschlichem Bewusstsein zu bilden, ein morphogenetisches Feld geistigen Wachstums und der Heilung. Das kann natürlich nur freiwillig
geschehen, ohne jeden Zwang, ohne jeden Druck, allein durch innere Einsicht. „Doch das heißt nicht, dass wir nicht laut und entschieden
auftreten dürfen. Ganz im Gegenteil, die vulgäre Welt schreit ja so laut, sie veranstaltet solch einen solchen Tumult, solch einen Lärm, dass
wahre Stimmen kaum mehr zu vernehmen sind. Deshalb müssen wir schreien, so gut wir es vermögen. Deshalb müssen wir die Menschen
schütteln, aufschrecken, beunruhigen, wo immer wir stehen. Worauf es ankommt, ist, dass die Wahrheit nur dann, wenn man seine Vision
mit Leidenschaft vorträgt, letztlich das Sträuben der Welt überwinden kann.“ (bearbeitetes Zitat von Ken Wilber, aus: "Einfach "Das").
Die Aufgabe vor der wir stehen ist gewaltig, ohne Frage. Die Pathologie des rationalen Weltbildes und der damit einhergehende Szientismus
der materialistischen Wissenschaften haben uns an den Rand des Abgrunds geführt. Der lebensfeindliche Kontext, in dem wir uns alle
bewegen, wird uns verschlingen, wenn wir nicht aufpassen. Metanoia - Umkehr tut not. Ohne einen radikalen gesellschaftlichen Wandel wird
es nicht gehen. Bei all dem geht es nicht um oberflächliche Korrekturen, sondern um die Matrix des Lebens selbst. Zuerst kommen Geist
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und Herz. Die Institutionen und Organisationen werden dem folgen. Nur auf diesem Weg werden wir die soziale, politische, ökonomische,
ökologische und spirituelle Krise der Gegenwart überwinden. Ohne einen Bewusstseinssprung einer genügend großen Anzahl von
entschlossenen Individuen wird es nicht gehen. Das ist die Herausforderung, vor der die Weltgemeinschaft steht. Und diejenigen, die sich an
der Spitze der evolutionären Entwicklung befinden, tragen die Hauptlast für das evolutionäre Experiment namens Homo sapiens.
12.2 Erstes Szenarium: Der evolutionäre Kollaps - die Abwärtsspirale
Gaia befindet sich in einer katabolen Stoffwechsellage. Die lebensfeindlichen, degenerativen Kräfte auf ihr haben das Ruder übernommen.
Bleibt es dabei, dann wird es zum Kollaps der menschlichen Zivilisation kommen. Der einzelne Mensch wird dem nicht viel
entgegenzusetzen haben. Unsere Gesellschaften werden nicht von einem Augenblick zum anderen zusammenbrechen, so einfach wird das
Leben uns es nicht machen, nein, eine schmerzhafte Abwärtsspirale wird sich einstellen, ein antievolutionärer Sog wird uns in
verschiedenen Wellen erfassen und uns in die Dunkelheit zivilisatorischer Barbarei und seelischer Verrohung führen, dorthin, wo die
Verzweiflung haust, Elend und Hoffnungslosigkeit, Krankheit, Irrsinn und Zerfall. Kurzum: Wir werden die kulturelle Leiter hinunterfallen. Das
wird ganz unterschiedlich vor sich gehen, je nachdem, wo wir leben, was wir tun und was gerade geschieht. Der Eine oder Andere von uns
mag zuerst noch verschont bleiben, weil er in einem wohlhabenden Land lebt, weil er über genügend Reichtum verfügt oder weil er in einer
bevorzugten Weltgegend geboren wurde, während woanders schon längst das höllische Feuer der Apokalypse wütet, was, wenn wir ehrlich
sind, in vielen Gebieten der Erde schon heute der übliche Standard ist. Am Ende aber wird sich niemand der Abwärtsspirale entziehen
können. Unsere Spezies wird überleben, wahrscheinlich, die Frage ist nur wie viele und auf welchem Niveau.
Noch nie zuvor in ihrer langen Geschichte sah sich die Menschheit von solch gewaltigen, gleichzeitig auftretenden, dynamischinteragierenden existenziellen Problemen bedroht. Jedes Problem für sich alleine genommen stellt eine ernste Herausforderung dar,
zusammengenommen gleichen sie einem Erdbeben, dessen Richterskala weit über 9 liegt. Nichts wird diesem Beben widerstehen können.
Es trifft auf Staaten, Institutionen und Organisationen, die völlig unzureichend darauf vorbereitet sind. Wir wissen zwar noch nicht ganz
genau, was da auf uns zu kommt, aber dass "es" kommt, und dass "es" hart werden wird, das ahnen wir so langsam. Je länger wir warten,
desto unangenehmer wird das Erwachen sein. Jeder sehnt den wirtschaftlichen Aufschwung herbei, also genau jene Kräfte, die uns
bedrohen. Halten wir nochmals fest: Es gibt kein Armutsproblem, es gibt ein Verteilungsproblem. Die Welt ist reich genug. Würden wir die
900 Milliarden Euro, die wir im Jahr 2006 für Rüstung ausgegeben haben (137 Euro pro Kopf), anders verwenden, der Hunger wäre besiegt,
das Trinkwasserproblem gelöst, AIDS und Malaria eingegrenzt und Bildung für alle garantiert. Es liegt an uns. Vor allem aber müssen wir
damit aufhören unsere Erde als eine Art Warenlager zu betrachten. Sie ist unsere Matrix, der evolutionäre Grund, dem wir alle entspringen.
Ohne Matrix keine Kinder, so einfach ist die Rechnung. Die indische Sozialaktivistin und spirituelle Lehrerin Vimala Thakar ist da ganz direkt:
„Der Schriftzug an der Wand der Welt ist eindeutig: Lernt das Leben in Gemeinschaft oder ihr werdet in Trennung sterben. Wenn wir weiter
so achtlos und gleichgültig, profit- und genusssüchtig vor uns hinleben, dann entscheiden wir uns im Grunde für den Selbstmord der
Menschheit.“ (aus „WIE“/Winter 2006).
Das Aussterben von Großsäugetieren wie Tiger, Eisbär oder Wal mag uns betroffen machen, und das ist gut und nachvollziehbar, doch die
eigentliche Katastrophe vollzieht sich auch hier im Verborgenen, dem gewöhnlichen Auge entzogen. Insekten, Kleinstlebewesen, Frösche,
Moose, Flechten, Pilze. Artensterben, nicht Arbeitslosigkeit, ist die Katastrophe. Der Treibhauseffekt treibt nicht nur die Temperaturen in die
Höhe, er treibt auch die Vernichtung der Artenvielfalt in ungeahnte Höhen. Die ökologische Götterdämmerung wird der Ökonomischen
folgen und beide zusammen werden der Erde ein völlig neues Antlitz geben. Mit jeder verlorenen Gattung, jeder ausgelöschten Pflanze,
geht die Welt ein wenig mehr zugrunde. Jede Lebensform, wie anpassungsfähig es sie auch sein mag, stößt irgendwann an ihre Grenzen.
Wir können nur sein, weil die Biosphäre so ist, wie sie ist. Die Ausdünnung der Artenvielfalt ist ein tollkühner Drahtseilakt, der nicht gelingen
kann. Biodiversität ist kein Luxus, sondern Überlebenszweck. Umwelt und Mensch sind passgenau. Das Eine kann ohne den Anderen nicht
sein. Wie extrem schnell komplexe Systeme kollabieren können, wenn sie erst einmal instabil geworden sind, zeigte uns im positiven Sinn
der Fall der Berliner Mauer. Als negative Beispiele mögen Länder wie der Kongo, Liberia, Somalia, Jugoslawien, Irak und Afghanistan
herhalten. Sie skizzieren, was unser Gesellschaften auf dem Weg "nach unten" erwarten dürfte.
Es gehört nicht viel Fantasie dazu sich auszumalen, was passiert, wenn im Jahr 2050 die Zahl der Menschen von 6,4 Milliarden auf 9,2
Milliarden angestiegen sein wird, während gleichzeitig weniger Lebensraum zur Verfügung steht, weniger landwirtschaftliche Nutzfläche,
weniger Trinkwasser, weniger Rohstoffe, währenddessen wichtige Ressourcen zuneige gehen, bzw. nicht mehr bezahlbar sind, die fossilen
Brennstoffe etwa oder und das für die mineralische Landwirtschaft so wichtige Phosphat. Hinzu kommen noch eine ganze Reihe weiterer
realer Gefahren, die hochrisikoreiche internationale Finanzarchitektur beispielsweise, dass riesige Handelsbilanzdefizit der USA, der mit
vielen faulen Krediten erkaufte wirtschaftliche Boom in China, islamischer oder auch christlicher Fundamentalismus, die Gefahr von
Terrorakten mit weltweiten Auswirkungen (Biowaffen, Giftgas, schmutzige Atombombe), die stetige Verbreitung von Atomwaffen, marode
werdende Atomkraftwerke, unbekannte Gefahren aus der Gen-, Cyber- und Nanotechnologie („Laborfehler“, künstliche Viren, veränderte
Bakterien), seien sie militärischen oder zivilen Ursprungs, die zunehmende Resistenz von Antibiotika (TBC) und das Eindringen tropischer
Krankheitserreger in die gemäßigten Zonen infolge des Klimawandels (Malaria, Gelbfieber, Denguefieber). Auch der besorgniserregende
Abbau demokratischer Standards in den Ländern des Westens gehört dazu, der langsam orwellsche Dimensionen nimmt und uns alle zu
gläsernen Menschen macht. Videoüberwachung, Kreditkartenabrechnungen, digitale Ausweise oder Krankenkassenkarten, DNANachweise, Iris-Scannung, Handys, Mautgebühren, Girokontozugriffsmöglichkeiten durch die Finanzämter, Online-Shopping, GPS – überall
hinterlassen wir unsere Spuren und was heute gerade noch akzeptabel erscheint, wird in einem postdemokratischen Überwachungsstaat
schnell zur Horrorvorstellung schlechthin.
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Wenn ich gleich meiner apokalyptischen Fantasie freien Lauf lasse mag das krankhaft, dunkel, ja abartig erscheinen, doch ich versichere
Ihnen, in den Think Tanks der Eliten und Mächtigen, in den Chefetagen der Rückversicherer und in den kranken Hirnen der Militärs, gehören
solche Planspiele längst zur Alltagswirklichkeit, wenn sie vielleicht auch nicht ganz zu Ende gedacht werden. Zum Zusammenbruch der
menschlichen Zivilisation als globales Ereignis, so viel ist klar, gibt es keine vergleichbaren Erfahrungen. Die Vorstellung, dass die
Menschheit bis zum Ende dieses Jahrhunderts von über 9 Milliarden auf 3 oder 2 Milliarden zusammenschrumpfen könnte, ist schier
unvorstellbar. Dass damit einhergehende soziale Gemetzel und zivilisatorische Grauen, sprengen jede vorstellbare Kategorie. Wir können
nur aus kleineren, im Gegensatz dazu viel unbedeutenderen menschlichen Katastrophen, die wahrscheinlich eintretenden globalen
Szenarien hoch rechnen. Der einzelne Mensch wird im Wust der Ereignisse untergehen, ganz wie beim Holocaust, doch Schicksal ist immer
einzelnes Schicksal und dieses trifft Menschen wie mich und dich.
Bevor uns das ökologische Armageddon mit aller Härte treffen wird, dürften noch 20 bis 30 Jahre vergehen, vielleicht auch 50 oder gar 100.
Es könnten aber auch nur 10 Jahre sein, wir befinden uns in einem globalen Experiment mit offenem Ausgang, von daher kann niemand
wissen, was genau und wie schnell passieren wird. Wir dürfen auch nicht den Fehler machen, unser kurzes menschliches Leben als
Messlatte zu benutzen. Selbst einhundert oder zweihundert Jahre sind für die Erde kaum mehr als ein Wimpernschlag. Aufgrund der
Trägheitsgesetze der Biosphäre kann es also noch ein paar Jahre dauern, bis uns das ökologische Armageddon überkommt. Für die finalen
Krise des Kapitalismus gilt das allerdings nicht, sein auf exponentielles Wachstum, hemmungslosen Konsumismus, massiver
Verschwendung, maximalen Profit und kurzfristigen Überlegungen beruhendes Modell überdehnt die Belastungsfähigkeit der Systeme auf
die es beruht bei weitem. Unbegrenztes Wachstum ist in einer begrenzten Welt unmöglich. Die ökonomische Krise dürfte viele Menschen
von dem, was wirklich an Bedrohlichem auf uns zukommt, ablenken. Verständlich: Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger, Krankheit, Elend und
Verzweiflung sind überwältigende Tatsachen, bei denen nur wenige klaren Verstandes bleiben. Darum nochmals: Zuerst kommt die
Ökologie, dann die Ökonomie. Der Fisch stinkt immer zuerst vom Kopf her.
Die Ruhe vor dem Sturm, ich glaube, das ist es, was wie viele von uns zurzeit schon fast körperlich spüren. Die sich rasant zuspitzenden
Widersprüche unserer sich globalisierenden postmodernen Epoche sind nicht mehr zu übersehen. Es ist wie bei einem heranziehenden
Gewitter, kurz vor dem ersten Knall, steht die vor Hitze und Feuchtigkeit fast berstende Luft fast still. Eine eigenartig geladene, bedrückende
Atmosphäre, die uns da umgibt. Zum Fortlaufen ist es zu spät, gleich geht es los, nun müssen wir sehen, wo wir bleiben. Doch wohin? „Die
Aussichten sind düster,“ meint James Lovelock, „selbst wenn es uns gelingt, die Folgen zu lindern, (…) (die) Erde würde über 1000 Jahre
brauchen, um sich von den bereits angerichteten Schäden zu erholen, und es könnte bereits zu spät sein, dass selbst (drastische Schritte)
uns nicht mehr retten könnte(n).“ (James Lovelock, „Gaias Rache“). Dieser Dramatik wollen wir folgen, wenn wir im ersten Akt das
Szenarium des zivilisatorischen Zusammenbruchs beschreiben.
- Szenarium des Zusammenbruchs: Nach einem überraschend lang anhaltenden Weltwirtschaftsaufschwung kommt es im Jahr 2012
zu einer dramatischen Krise. Chinas Bankensystem, das den heimischen Wirtschaftsaufschwung mit vielen faulen Krediten finanziert hat,
kollabiert. Um die eigene Wirtschaft zu stützen, zieht China, und kurz darauf auch Japan, die größten Gläubiger der USA, massiv
Auslandskapital aus den USA ab. Zusätzlich werfen sie ihre immensen Dollarreserven auf den Markt. Der Dollarkurs stürzt ab. Es zeigt sich,
wovor Kritiker aufgrund des großen Leistungsbilanzdefizites der USA schon lange gewarnt hatten: der Wohlstand der USA sei auf Pump
aufgebaut. Für die USA-Wirtschaft lebenswichtige Importe bleiben daraufhin aus, zudem können die USA einen Teil ihrer Schulden nicht
mehr bedienen. Es kommt zum Börsencrash. Innerhalb weniger Stunden brechen die Aktienkurse in Tokio, Frankfurt, London und New York
in sich zusammen. Die Finanzwelt stürzt sich auf den Euro, der sich daraufhin extrem verteuert, was die internationale Krise weiter
verschärft. Die Rohstoffbörsen spielen verrückt. Der Erdölpreis springt auf 165 Dollar pro Barrel. Die Finanzspekulanten sehen zu, wie sie
ihre Haut retten können. Rücksichtslos entziehen sie dem Kapitalmarkt das Geld. Die Immobilienpreise implodieren, mehrere Großbanken,
Lebensversicherer, sowie einige der mächtigen Fondsgesellschaften geraten in die Insolvenz. Die internationale Finanzarchitektur steht vor
der größten Krise seit dem Schwarzen Freitag von 1929.
Unter diesen wuchtigen Schlägen gerät die Weltwirtschaft in eine globale Rezession. Die Handelsströme versanden, die Wirtschaften vieler
Länder, auch der Reichen, stehen vor unlösbaren Problemen. Einige Staaten der Dritten Welt kollabieren unmittelbar. Aber auch
aufstrebende Länder wie Thailand, Malaysia, Indien, Südafrika, Brasilien, Argentinien oder Mexiko können die Krise nicht meistern. Eine
toxische und höchst explosive Situation entsteht innerhalb von nur wenigen Monaten. Überall Firmenpleiten und Massenentlassungen. Die
Arbeitslosenquote in der EU steigt auf durchschnittlich 25 Prozent. Die Inflationsrate liegt bei 19 Prozent. Streiks greifen um sich, besonders
in Italien und Frankreich, wo es zu gewalttätigen Demonstrationen und Straßenkämpfen kommt. Die sozialen Sicherungssysteme sind mit
der Situation überfordert. Engpässe in der Lebensmittelversorgung stellen sich ein. Die Preise für Lebensmittel verteuern sich exorbitant. Die
Menschen in den Großstädten trifft es zuerst. Hamsterkäufe und Plünderungen greifen um sich. Die Welt hält den Atem an. Trotz der
Dramatik gelingt es den großen Industrieländern mithilfe der Weltbank, WTO und IWF das Allerschlimmste zu verhindern. Die Weltwirtschaft
kann wieder stabilisiert werden, wenn auch auf niedrigem Niveau. Der Preis dafür ist allerdings hoch: Nur noch wenige Staaten fühlen sich
an das Nachfolgeabkommen von Kyoto gebunden – nur das eigene Überleben zählt.
Gerade als sich die Situation in der Welt zu beruhigen scheint, kommt es zur erneuten Katastrophe. Zwei Jahrhunderterdölquellen in Saudi
Arabien versiegen völlig unerwartet. Die USA sehen ihre vitalen Interessen bedroht und besetzen Saudi Arabien. Iran, seit einigen Jahren
Atommacht, greift Israel an. Der Nahe und Mittlere Osten explodieren. Es kommt zum nuklearen Schlagabtausch, in dem auch Indien und
Pakistan verwickelt sind. Der Erdölpreis springt auf 282 Dollar, was die noch geschwächte Weltwirtschaft vollends zusammenbrechen lässt.
Jetzt gibt es auch in den hoch entwickelten Ländern des Westens kein Halten mehr, dass zivilisatorische Chaos bricht aus.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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In vielen Staaten wird der innere Notstand ausgerufen. Soweit noch nicht geschehen, findet eine rasche und nachhaltige Zunahme von
institutionellem Versagen statt, einhergehend mit der massiven Einschränkung freiheitlicher Grundrechte und der Entsolidarisierung der
verschiedenen gesellschaftlichen Klassen untereinander. Soziale Unruhen, Klassenkämpfe brechen aus, bewaffnete Konflikte, so wie wir es
aus den Geschichtsbüchern kennen. Zu Beginn dieser Umwälzungen findet eine nahezu vollständige Zentralisierung der Macht statt. Sicher
geglaubte zivilisatorische Standards gehen dabei verloren, demokratische Rechte besitzen keine Gültigkeit mehr. Geld und Macht und
Einfluss bestimmen die Richtung. Partikulare Einzelinteressen, formuliert und durchgesetzt durch die Machtzentren in den jeweiligen
Ländern, werden ohne Rücksicht, auch militärisch durchgesetzt. Die meisten Länder kündigen ihre Mitgliedschaft in WTO, IWF und der
Weltbank auf. Die NATO zerbricht, die EU existiert nur noch de facto. Der schon überwunden geglaubte Nationalstaat gewinnt wieder stark
an Bedeutung. Rechte Demagogen und nationalistische Populisten kommen vielerorts an die Macht. Die Menschen suchen verzweifelt nach
Halt und Sicherheit. Von Globalisierung, von einer planetarischen Familie, ganz zu schweigen von weltweitem Wohlstand, kann überhaupt
nicht mehr die Rede sein. Die dünne zivilisatorische Maske der Menschheit zerbricht - dahinter zeigt sich ihr altes evolutionäres Erbe: Der
rücksichtslose Kampf ums Überleben, dass die Stärkeren für sich entscheiden.
Eine ganze Reihe von Ländern der Dritten Welt sind zu diesem Zeitpunkt bereits teilweise oder auch ganz auseinandergebrochen, nicht nur
in Afrika, sondern auch in Südostasien, Mittelamerika und Südamerika. Der wirtschaftliche Niedergang lässt alte Feindschaften und
rassische Vorurteile wieder aufbrechen, sie stellen den Nährboden für Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit dar. Pogrome, wie einst in
Ruanda und während des Balkankrieges, greifen um sich. Hungersnöte, Seuchen und Flüchtlingswellen überziehen die Welt. Die reichen
Länder des Westens werden von vielen direkt für die Situation verantwortlich gemacht. Der religiöse Fundamentalismus nimmt dramatisch
zu, ebenso Terrorismus, Korruption und das organisierte Verbrechen. In London, Paris, Madrid, Jerusalem, Berlin, Washington, New York
und San Franzisko kommt es zu Giftgasanschlägen mit mehreren zehntausend Toten. Chaos, Hysterie und Anarchie breiten sich immer
mehr aus. Diktatoren, Stammesführer und Warlords füllen das Machtvakuum in den sich auflösenden Staaten. Nahrungsmittel- und
Wasserknappheit, so wie die zu Ende gehenden Öl- und Phosphatvorräte lassen nachhaltige, kaum lösbare lokale und regionale
kriegerische Konflikte entstehen, die so genannten "Neuen Kriege", in denen von der Völkergemeinschaft geächtete Waffen unverblümt zum
Einsatz kommen. Während ein Teil der Weltbevölkerung in Agonie und Verzweiflung versinkt, beginnt der Andere sich zu positionieren und
aktiv Widerstand zu leisten. Gewalt wird zu einem weltweit akzeptierten Verbündeten.
Ab Mitte des Jahrhunderts verschärft der Klimawandel die verzweifelte Situation in vielen Weltregionen weiter. Ansteigende Meeresspiegel,
klimatisch bedingter Regenmangel und die außer Kontrolle geratene Bevölkerungsexplosion vereinigen sich zu einer unheilvollen Allianz.
Der Rückgang der Biodiversität, der rapide und ungebremste Verlust von Tier- und Pflanzenarten, von Wäldern und fruchtbaren Böden
schreitet beängstigend schnell voran. Besonders die ariden und semiariden Gebiete rund um das Mittelmeer, in den USA und China sowie
in den Regionen südlich der Sahara breiten sich besorgniserregend schnell aus, was einen weiteren dramatischen Verlust der so dringend
benötigten landwirtschaftlichen Nutzflächen zur Folge hat. Leidet ein Teil der Erde an extremer Hitze und ausgeprägter Trockenheit, kommt
es anderswo zu Starkniederschlägen und anderen desaströsen Wetterereignissen, die ihrerseits viele Opfer fordern und zusätzlich
wertvollen Mutterboden vernichten. Nach einem verheerenden Hurrikan tritt ein, was Umweltschützer und Klimatologen schon lange
befürchtet hatten. (Folgende Zeilen wurden im Mai 2005 geschrieben, drei Monate vor "Kathrina", dem Hurrikan der Stufe 5, der New
Orleans mit voller Wucht traf). New Orleans, samt dem Mississippidelta, wird überflutet und versinkt dauerhaft im Meer. Mehrere
zehntausend Menschen ertrinken, Hunderttausende werden vertrieben. In Indien bleibt mehrere Jahre der Monsun aus, was
Hungerkatastrophen mit Millionen von Toten zur Folge hat.
Ein neues Phänomen taucht auf. Da die Meeresspiegel steigen kommt es in den küstennahen Gebieten immer häufiger zu einer
unterirdischen Invasion von Salzwasser. Dies lässt die in den tieferen Gesteinsschichten liegenden Süßwasservorkommen der
Küstenregionen versalzen und macht es ungenießbar. Millionenstädte wie Kalkutta, Bombay, Lagos, Jakarta, Los Angeles und Buenos Aires
sind davon besonders betroffen. Sie müssen aufgegeben werden. Überhaupt steigt die Versorgung der Menschheit mit ausreichend
Trinkwasser zur alles beherrschenden Frage auf. Da die Andengletscher komplett abgeschmolzen sind, stehen Lima, Quito, La Paz und
viele andere Städte in Südamerika so gut wie ohne Trinkwasser da. Gleiches Unheil droht in der Himalajaregion. Die großen Ströme Indiens
(Ganges, Brahmaputra) Bangladeshs (Jamuna), Pakistans (Indus), Burmas (Salaween), Chinas (Yangtze), Thailands, Laos, Kambodschas
und Vietnams (Mekong) sind nur noch Rinnsale. Fast 1 Milliarde Menschen sind bedroht.
Das zivilisatorische Chaos auf der Welt ist die Brutstätte von alten, aber auch neuen Infektionskrankheiten. Malaria, Dyphterie, TBC,
Typhus, Cholera, HIV/AIDS, Masern, SARS breiten sich ungehindert aus. Impfstoffe, Antibiotika oder antivirale Medikamente stehen kaum
noch zur Verfügung und wenn, dann sind sie für die meisten Menschen unbezahlbar geworden. Längst überwunden geglaubte Krankheiten
wie Pest, Pocken, Fleckfieber flackern wieder auf und versetzen die Welt in Panik. Durch die steigenden Temperaturen breiten sich
verschiedene Tropenkrankheiten bis in die gemäßigten Breiten aus, z. B. der Hunta-Virus, der in den USA endemisch wird. All diese
desaströsen Entwicklungen fordern viele, viele Millionen von Opfern, besonders unter den Alten, Armen und Kindern der Welt, die zu den
Ersten gehören, die den Kampf ums Überleben verlieren.
Mitte des Jahrhunderts liegt der Kohlenstoffanteil in der Atmosphäre bei 474 ppm. Die Durchschnittstemperaturen auf der Erde sind um 2,2
Grad Celsius angestiegen, 50 Jahre früher als prognostiziert. In bestimmten Regionen ist es durchschnittlich um bis zu 4,5 Grad heißer
geworden. Das Nordpolarmeer ist seit 15 Jahren im Sommer komplett eisfrei. Die Permafrostböden der nördlichen Hemisphäre haben sich
in matschigen Schlamm verwandelt, aus dem massiv Methan und Kohlendioxid herausblubbern. Das antarktische Schelfeis hat sich bis auf
wenige Reste aufgelöst. Die Gletscher Grönlands sind massiv auf dem Rückzug, zudem zeigt sein Eisschild besorgniserregende
Instabilitäten. Während in Kalifornien, in Teilen Europas und anderen Enklaven noch so etwas wie Ordnung existieren dürfte, vielleicht auch
über längere Zeiträume hinweg, so regiert in den meisten Regionen der Welt zu diesem Zeitpunkt längst die Anarchie. Doch auch in diesen
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Gebieten mag es Reste von lokalen und auch regionalen Zusammenschlüssen geben, die die Menschen vor den härtesten Auswirkungen
schützen. Das weitere Szenarium kann sich also regional und lokal gesehen durchaus ganz unterschiedlich gestalten, je nachdem, wie
solidarisch die Menschen unter sich sind.
Abbildung 68: Zusammenbruch: Unruhen London 2011
Es besteht zudem die Möglichkeit, dass in diesem zivilisatorischen Chaos des kulturellen Verfalls völlig neue Vorstellungen entstehen oder
alte, schon bekannte Ideen wieder aufgegriffen werden, wie man mit den Problemen der Welt auf intelligentere und bessere Weise umgehen
könnte. Geschieht dies, dann wird der weitere Verlauf dieses Szenariums vor allem davon abhängen, wie groß der ökonomische und
ökologische Druck ist, der auf der Menschheit lastet, und wie weit der wirtschaftliche, soziale, gesellschaftliche und institutionelle
Zusammenbruch schon vorangeschritten ist. Letztendlich aber wird alles davon abhängen, wie weit das kollektive Bewusstsein der
Menschheit bereit ist, von seinen früheren Fehlern zu lernen, und wie weit die Menschheit in der Lage und willens ist, daraus die richtigen
Konsequenzen zu ziehen. Leider zeigt sich die Menschheit uneinsichtig, es kommt zum globalen Zusammenbruch der menschlichen
Zivilisation.
Wachsende Temperaturen, ansteigende Meeresspiegel, klimatisch bedingter Regenmangel und die außer Kontrolle geratene
Bevölkerungsexplosion schaukeln sich gegenseitig auf. Bis zum Jahr 2065 werden mehrere Umkippschalter (= „Tipping Points“) betätigt.
Das „El Nino Phänomen“ stellt sich dauerhaft ein, was die Temperaturen des Ostpazifiks anhaltend erhöht. Indien wird vom Monsun
abgeschnitten, in Südostasien wird es erheblich trockener und heißer. Die Passatwinde verlagern sich 200 km noch Norden und Süden. Die
Kohlenstoffsenken der Weltmeere verlieren ihre Pufferfunktion, sie nehmen kein atmosphärisches Kohlendioxid mehr auf, im Gegenteil, sie
setzen das Wasser gebundene Kohlendioxid teilweise wieder frei.
Das abgeholzte Amazonasbecken trocknet aus. Der nördliche Ausläufer des Golfstroms hat sich deutlich abgeschwächt, in Westeuropa wird
es entgegen dem globalen Trend vorübergehend erheblich kälter. Im Jahr 2075 bricht die Eisplatte Grönlands auseinander. Mehrere
größere Teile stürzen ins Meer. Der Meeresspiegel steigt weltweit um 4,5 Meter an. Holland, Dänemark, die norddeutsche Tiefebene,
Florida, Bangladesh, das Amazonasbecken, das Nildelta, nur um einige Gebiete zu nennen, werden überflutet. Die großen Flussläufe der
Welt verwandeln sich in Meeresarme. Einige Atomkraftwerke versinken im Salzwasser, was zu in drei Fällen zum Super-GAU führt. Im Jahr
2082 bricht völlig überraschend auch das westantarktische Eisschild auseinander. Der Meeresspiegel steigt nochmals um 6 Meter an.
Große Landflächen der Erde versinken dauerhaft im Meer.
Am Ende des Jahrtausends kommt es zum finalen Showdown, der von vielen Wissenschaftlern befürchtete galoppierende Treibhauseffekt
lässt die globale Mitteltemperatur der Erde auf 7,2 Grad Celsius springen. Der CO2-Anteil liegt bei 700 ppm. Der von Methan bei 2230 ppb. 3
von 5 Spezies sind ausgestorben. Die Zahl der Weltbevölkerung liegt nur noch bei 2,3 Milliarden. Die Landfläche der Erde hat sich um 17
Prozent verringert. Die menschliche Zivilisation liegt am Boden. Die Informationen sind spärlich, die globale Kommunikation ist
zusammengebrochen. Der Mensch ist auf sich alleine zurückgeworfen. Vielerorts haben sich Stämme gebildet, einfach deshalb, weil die
Aussichten zu überleben, so am besten sind. Die Menschheit ist (noch) nicht untergegangen, sicherlich aber sehr vieles von dem, was wir
als menschlich ansehen.
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12.5 Zweites Szenarium: Der evolutionäre Sprung - die Aufwärtsspirale
Ein sozialer Aktivist zu sein, ist gut. Ein ökologischer Streiter zu sein, ist richtig. Dagegen ist rein gar nichts zu sagen. Doch wenn wir dabei
nicht die geistigen Strukturen beachten, die dieses Chaos in der Welt hervorgebracht haben, dann kämpfen wir wie Don Quijote einen
aussichtslosen Kampf gegen Windmühlen. Den Geist im Menschen zu ignorieren ist nicht nur kurzsichtig, das können wir uns angesichts
der dramatischen Umstände auch nicht mehr leisten. Umgekehrt gilt das Gleiche. Wer meint spirituelle Suche bedeutet, sich von der Welt
abwenden zu müssen, der Welt den Rücken zu zukehren, wer denkt, Gott hat mit dieser Welt nichts zu schaffen, der hat das Einmaleins der
Mystik nicht begriffen. Maya heißt eben nicht, alles ist Illusion. Die Illusion Mayas hat Dich im Griff, wenn Du im Vergänglichen, dass
Unvergängliche suchst, im Wandelbaren, dass Unwandelbare. Von Rückzug war niemals die Rede. Maya legt Dir nur nahe, dass Du tiefer
schauen solltest, hinter das subtile Spiel der materiellen Vorgänge, dass Du Deinen Fokus auf das Unsterbliche in Dir richten musst, wenn
Du die Quelle Deines Seins und Glücks entdecken willst. Nur dort findest Du, was Du suchst: Frieden, Sinn, Geborgenheit, Liebe, Gott. Ich
sage zwar „dort“, doch das ist de facto falsch, der Limitierung der menschlichen Sprache geschuldet. Es gibt kein „dort“. Himmel und Hölle
sind genau hier und nirgend sonst. Himmel und Hölle sind ein und dieselbe Münze.
Das Universum existiert, weil dunkel und hell sich bedingen. Das Dunkle ist die spielt sich auf der Leinwand des Hellen ab. Leiden heißt im
Dualismus gefangen zu sein, sich für eine Seite der Münze zu entscheiden. Freiheit heißt: Lehne nicht eine Seite der Gleichung ab, auch
wenn es weh tut. Schmerz ist der Bruder des Mitgefühls. Hass ist verhärtete Liebe. Schönheit braucht das Abstoßende. Das Edle braucht
das Gemeine, ohne den Chor im Hintergrund, wirkt die Stimme der Diva seltsam verloren. Freiheit wählt nicht das Eine oder Andere. Freiheit
flieht nicht vor der Welt. Freiheit wächst darüber hinaus. Der erwachte Mensch fühlt weiter den Schmerz, Schmerzen sind ein natürlicher Teil
der Existenz. Im Grunde fühlt er ihn noch intensiver, denn die trennenden Mauern seines Herz sind nun zerbrochen. Das gefüllte Glas in
seiner Hand, für ihn ist es schon entzwei, nicht weil er ein Defätist ist, sondern weil er hinter die vergehenden Formen der relativen
Wirklichkeit schaut. Er weiß, alle Dinglichkeit, alle Gestalten sind im Wandel begriffen. Gerade deshalb kann er sie so intensiv lieben sie,
bewundern, genießen, jetzt, in der Gegenwart, nicht morgen, morgen könnten sie schon zerbrochen sein. Was bleibt dem Mystiker zu tun,
wenn er den Bullen bezwungen, wenn er hinter die sich wandelnden Formen das Unendliche geschaut hat, wenn ihm bewusst wird, dass
das alles nur ein Spiel ist? Im Grunde genommen nur eines: Die leidende Menschheit zu dazu zu bringen, genauso tief zu blicken. Denn,
wenn er auch sein Leid überwunden hat, für die Menschen um ihn herum gilt das nicht, da wird weiter gerungen und gelitten, gehauen und
gemordet, die Welt um ihn herum ist eine bittersüße Frucht, die den Meisten im Halse stecken bleibt. Das unendliche Leiden auf der Welt zu
beenden, diese Aufgabe wird dem Mystiker zur Passion, zur einzigen Aufgabe, sie entspringt einem Herzen, das Gut und Böse überwunden
hat, dass hell und dunkel als Teil des Spieles anerkennt, und das weiß, dass ich das Gute wählen muss, um das Göttliche in mir freizulegen.
Dazu, und nur dazu dient das Spiel des Lebens. Er ist ein bewusster kokreativer Teil der evolutionären Kräfte des Universums, beseelt von
der Möglichkeit, dass die Menschheit endlich ihre destruktiven Kräfte überwinden möge, um zu ihrer wahren Größe zu erwachen und um
das zu Verwirklichen, was in ihrem Innersten angelegt ist.
Elemente des Durchbruchs: Ein neues Weltbild liegt in den Wehen. Und wir, jeder von uns, ist Mutter, Vater und Baby zugleich. Wir sind
Gebärende, Erzeugende und Bezeugende und das, was da geboren werden will, alles in einem. Wir sind der sich selbst vollziehende
Prozess, erkennender, selbstreflektierender Geist, der dabei ist, sich eigenhändig an seinem Schopf aus dem Schlamm der Unwissenheit
ins Licht der Wahrheit zu ziehen. Ein atemberaubendes evolutionäres Experiment. Wir sind Vater, Sohn und Heiliger Geist, Shakti und
Shiva, Bettler und König, Hitler und Mutter Theresa, alles in einem und noch viel mehr. Das dazu gehörige Weltbild ist postkonventionell,
postkonformistisch, postindividuell. Es ist postmaterialistisch, aperspektivisch, integral und damit wahrhaft universell, d. h. planetarisch. Was
wir darin sehen, ist die Geburt des reifen, integrierten Selbst, eines Selbst, das die Rationalität zu seiner höchsten Stufe führt: zur
ausgereiften Vernunft. In der Sprache von "Spiral Dynamics" (Dr. Don Beck) ist es gegenwärtig unsere kollektive Aufgabe vom „Orangen
Mem“ zum „Grüngelben Mem“ zu springen, von der "First-Tier-Ebene" zur "Second-Tier-Ebene", von einer dem Eigeninteresse
untergeordneten Sichtweise zu einer, die das Gemeinsame, Kooperative, Systemische, Netzwerkdenken betont. In der Sprache des Tantra
ist es der Sprung vom dritten zum vierten Chakra, von Manipura zu Anahata, vom Bauch zum Herzen, von der Selbstliebe zur
gemeinschaftlichen Liebe, von der Kraft des persönlichen Willens zu der alles überwindenden Kraft des Mitgefühls, zu Verständnis und
Empathie. Dieser Sprung lässt den Stamm, die eigene Gruppe hinter sich, ebenso wie es die reine Fixierung auf die Materie überwindet.
Dieses neu auftauchende Weltbild ist nicht ethnozentrisch oder soziozentrisch, sondern weltzentrisch-pluralistisch. Es geleitet die frühe
Rationalität zur reifen Rationalität, es führt den rationalen Modus zu seiner Vollendung, es bringt das Denken sozusagen zur Vernunft, und
damit wird Weisheit möglich und das Emergieren des das alles "bezeugenden Zeugen". Auf diese Weise wird die Aufklärung vollendet.
Das am östlichen Horizont auftauchende Paradigma heilt Geist und Körper, vereinigt Instinkt und Intellekt und verbindet beides zu einer
Einheit neuem Typus, den wir den „Zentauren“ nennen. Kommt Kopf und Bauch zusammen, wird in unseren Herzen die Liebe des
gegenseitigen Verstehens erweckt. Auf diese Weise kann die Spaltung zwischen Naturwissenschaft und Religion überwunden werden. Das
ist das Besondere daran. Es hat die Kraft der Erneuerung. Es ist in der Lage die Fragmentierung, die Separierung, kurz um, die Aufspaltung
in dies und das zu überwinden, ohne, und das ist ganz wesentlich, die Unterschiede zwischen den einzelnen Dingen auszublenden. Es
macht also keinen grauen Einheitsbrei aus dem vielfarbigen Spektrum des Seins, denn das aufkommende Weltbild ist nicht naiv, sondern
einfältig, d.h, offen, offen, wie ein kleines Kind offen ist. Es ist nicht als kindlich, ganz und gar nicht. Es sieht gut und weniger gut, es sieht
besser und schlechter, es sieht Rilke und Bukowski, Vivaldi und The Dead Kennedys, aber es kann diese Unterschiede als Ausdruck der
Vielfalt in der Einheit stehen lassen. Warum auch bewerten? Bewertung ist nicht nötig. Zersplitterung überwindet man nicht durch
Ausgrenzung oder Abwertung, sondern durch Hereinnahme der Unterschiede. Das neue Weltbild sieht den Wert eines jeden Dings per se,
einer jeden Sache, eines jeden Wesens, auch wenn der Wert der darin aufleuchtet, gegenüber anderen Werten ein begrenzterer Wert sein
mag. Er sieht in den Hierarchien des Seins nicht besser oder schlechter, sondern verwirklichter oder weniger verwirklicht. Ein feiner, aber
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wesentlicher Unterschied. Er kann alles für sich stehen lassen, dass eine oder andere Mal sicherlich milde darüber lächelnd, doch Gott,
dass weiß er nun, liebt die Vielfalt, den bunten Hund genauso wie den stolzen Herrn. Er kann die Dinge für sich stehen lassen, weil er
mittlerweile eine der tiefsten Wahrheiten des Kosmos begriffen hat: Alle Wahrheiten sind nur Teilwahrheiten, gute oder weniger gute
Beschreibungen einer größeren Wirklichkeit, die sich uns letztendlich entzieht. Das führt zu Toleranz.
Das neue Weltbild kann gewähren lassen, aber es kann aber auch zwischen den Dingen wählen, denn wählen müssen wir. Auch nicht
wählen, ist wählen. Dennoch darf denn man darf nicht allen gewähren lassen. Das ist wichtig, man darf nicht alles tun, was man will und
geht. Deine Freiheit endet da, wo Du meine Freiheit einschränkst. Wenn Du Deine Freiheit dazu benutzt das größere Ganze zu zerstören,
dann habe ich nicht nur das Recht Dich zu disziplinieren, sondern die Pflicht! Auch das gehört mit zum Spiel.
Wir sprechen hier von Schaulogik, von Netzwerklogik und das entsprechende Bild dazu ist der Zentaur Chiron. So wie im Zentauren Tier
und Mensch zusammenkommen, um ein ganz neuartiges Wesen zu schaffen, kommen in der Schaulogik die zersplitterten Einzelteile
unserer Weltbildes zu einer höheren Bewusstseinsebene zusammen, der integralen Sichtweise. Darin erkennen wir eine einzigartige
Qualität, eine weitere Erkenntnisstufe des menschlichen Geistes. Nach den Astrologen hat das Zeitalter des Wassermanns begonnen und
Prometheus, der Lichtbringer des Menschen, übernimmt danach gerade die Führung im kollektiven Bewusstsein des Menschen, jener Titan,
der im astrologischen System als Uranus fungiert. Das Tierkreiszeichen Wassermann ist ein von sehr hohen Idealen Geprägtes. Der sich
keiner anderen Autorität unterwerfende Geist (Prometheus) und die globale menschliche Familie werden in ihm zum großen Thema. Die
höchste geistige Vision des Wassermannes ist das selbstbestimmte Individuum, das ein gleichberechtigtes Mitglied der in Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit vereinten Menschheit ist. Individuum und Gemeinschaft, ich und wir, dieses prekäre Gleichgewicht gilt es
immer wieder aufs Neue auszutarieren.
Neues will also kommen. Neues beginnt immer mit der Auflösung des Alten im Destillierkolben der Evolution. Die Alchimisten verwendeten
dafür den Begriff "Solutio". Das große Werk des Alchimisten, dass "Opus", kann nur gelingen, wenn das Feste sich verflüssigt, wenn das
"Niedrigere" sich verflüchtigt, um zu etwas "Größeren", "Höheren" veredelt zu werden. Nicht selten wird in diesem Prozess der Verwandlung
die "Prima Materia" sichtbar, die ursprüngliche Substanz, auf dass das sich nun Auflösende beruhte. Die Prima Materia ist auch das Dunkle,
Verachtenswerte, Minderwertige, Verdrängte, das, was C. G. Jung als den Schatten bezeichnete, sei es der Individuelle oder der Kollektive.
Und wer kann ernsthaft leugnen, dass wir gegenwärtig mit der kollektiven "Prima Materia" konfrontiert werden? Aus dem Mist erwächst das
Neue, aus dem schlammigen Morast des Teichs die prächtige Lotusblüte. Doch zuvor muss Bewegung in das Feste kommen, muss es
aufgeweicht, aufgelöst, weggeschwemmt werden. So geht es zu in der Welt. Das eines ihrer ehernen Gesetze. Wenn die Raupe wirklich
zum Schmetterling werden will, muss sie sich dem Verwandlungsprozess hingeben, sich verflüssigen dürfen, darauf vertrauend, dass sie
dem Tod entrinnt und als Schmetterling wiedergeboren wird. Irgendwo in diesem Prozess der Transformation, irgendwo zwischen Raupe
und Schmetterling, ist die Raupe noch nicht ganz Schmetterling und der Schmetterling nicht mehr nur Raupe. Die homöostatischen Kräfte
der Beharrung müssen dem Drängen des Seins nachgeben, ganz freiwillig, das ist das Entscheidende. Das geht nur mit Vertrauen. Wüsste
die Raupe um das, was da an auf sie zu kommt, ich bin mir sicher, sie würde erbärmlich zittern. Deshalb würde ich sie ermuntern, würde ich
versuchen ihr Mut zu machen: "Hab keine Angst liebe Raupe! Verzweifele nicht, versuch dich dem hinzugeben, was da in dir wirkt und sich
zeigen will. Die schöpferische Intelligenz wird dich führen! Versuche loszulassen, versuche zu erkennen, dass dieser Prozess notwendig ist,
wenn Du werden willst, was tief in Deinem Innern angelegt ist. Die Raupe in Dir muss sterben, nur so kannst Du Dich in einen
wunderschönen Schmetterling verwandeln!"
Abbildung 69: Durchbruch
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Da irgendwo steht die Menschheit. Eins ist klar: Unsere einseitige, begrenzte Sichtweise des Lebens muss von einer umfassenderen Schau
abgelöst werden. Der krasse Materialismus der Postmoderne ist nicht mehr haltbar. Was kommt als Nächstes? Wir wissen es nicht! Keiner
von uns. Wir wissen nur, was nicht mehr geht und was wir schleunigst unterlassen sollten. Das heißt nicht, dass wir hilflos sind. Wir wissen
schon einiges, vielleicht wissen wir sogar sehr viel. Doch wir können nicht voraussehen, was konkret geschehen wird, was sich physisch
manifestieren wird, wenn wir an dieser oder jener Schraube der Evolution drehen, denn das ist ja das Wesen des Schöpferischen: Erst
während des Springens wissen wir, ob unter uns fester Boden ist oder gähnende Leere. Wäre es anders, wäre das Neue nicht neu, sondern
nur eine Wiederholung oder Abwandlung des Alten. Doch Chitzen Itza war neu. Bach war neu. Der Blick vom Mond auf die Erde war neu.
Wer weiß schon, was kommen wird, auch wenn wir einige Ideen dazu haben mögen. Doch eins ist unbestritten: Kaputt machen ist immer
einfacher, als aufbauen. Also aufgepasst.
Vier lange Milliarden Jahre brauchte Gaia, um ein Organ zu schaffen, mit dessen Hilfe sie sich selbst erkennen und sogar hinterfragen kann.
Das menschliche Gehirn ist das komplexeste Gebilde, das wir im Universum kennen. Und das, obwohl es darin uns nichts gibt, was nicht
zuvor schon da war! Und doch ist es völlig neu. Eisen, Kalzium, Natrium, Kalium und viel Wasser, in richtiger Menge beigegeben, in idealer
Weise zusammengebaut und schon haben wir einen Menschen? Nein, das reicht das nicht, denn auch die Dinosaurier bestanden aus nichts
Anderem. Doch wir können nachdenken, uns hinterfragen, philosophieren, unsere Triebe beherrschen, wenn wir uns anstrengen, das alles
konnten die riesigen Echsen nicht, das kam erst mit uns. Wir mögen nicht einmalig im Universum sein, hier auf der Erdoberfläche sind wir es
allemal. Wir sind das selbstreflektierende Bewusstsein Gaias. Durch uns wird sich die Erde ihrer selbst bewusst. Die Reihe geht wie folgt:
Lithosphäre (Gesteinswelt), Hydrosphäre (Wasserwelt), Atmosphäre (Luftwelt), Biosphäre (Lebenswelt) und Noosphäre (geistige Welt).
Ursprung all dessen ist das Feuer, das Feuer der Sonne und das Feuer der Erde. Und natürlich der Raum, in dem sich alles entfaltet. Ist es
möglich, dass in dieser Aufzählung etwas fehlt? Dass dahinter noch etwas kommt? Ja, sagt die Mystik. Was fehlt ist die Theosphäre, die
Welt der Seele, die jenseits des erkennenden Geistes liegt. Ist der Geist immateriell, und das ist er ganz sicher, so ist die Seele noch
immaterieller. Sie ist dessen Grund, dessen Ursache, der Atem im Atem, der Geist im Geist, das, was die Logik hinter sich lässt, deshalb ist
sie als transrational zu bezeichnen. Die Seele bedient sich der Logik des Geistes und des Körpers, wenn sie in der stofflichen Welt
physische Wirkungen erzielen will. Ohne Geist, ohne Gehirn, ohne Körper, ohne Sinne keine Wirkung. Deshalb sagen die spirituellen
Traditionen, dass wir unsere materielle Operationsbasis sauber, rein, geklärt halten sollten. Wenn der Spiegel verdreckt ist, findet die Seele
kein Gehör. Die Seele mündet in die Weltenseele, mit der sie identisch ist. Das muss man erfahren, nicht erdenken, wie überhaupt
Erfahrung, nicht Glauben, das Salz in der Suppe des neuen Weltbildes ist.
Lassen Sie uns über unsere größte Entdeckung sprechen: Evolution. Die Entdeckung der Evolution, die Tatsache, dass das Universum ein
evolutionierendes schöpferisches Unterfangen ist, ein kreativer Akt von unermesslicher Intelligenz, ist wohl die unglaublichste Entdeckung
des Menschen überhaupt. Weit vor dem Feuer, weit vor Kopernikus und auch weit vor Einstein. Autopoiese, Differenzierung und
Transformation – Selbstorganisation, die Fähigkeit, die eigene Struktur aufzubauen, zu bewahren und weiter zu entwickeln, sind die
Zauberwörter, von einfachen Strukturen zu komplexeren Strukturen, von weniger Ordnung, zu mehr Ordnung, von weniger Bewusstsein, zu
mehr Bewusstsein, von weniger Freiheit, zu mehr Freiheit, damit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ein Schnippchen schlagend.
Evolution ist nicht rückwärtige Betrachtung, sondern gegenwärtige Chance. Die Zukunft beginnt im Jetzt der Gegenwart. Deshalb sind
unsere Entscheidungen so entscheidend. Die Frage ist nicht, ob wir handeln, sondern wie wir handeln, ob wir kreativ handeln oder
destruktiv, schöpferisch oder replikativ, bewusst oder unbewusst. Intelligent sein heißt, zu kooperieren, das Universum in seiner Entfaltung
zu unterstützen. Nicht handeln, obwohl man weiß, was zu tun ist, oder gar wider besseren Wissens zu handeln, wird im spirituellen Kontext
als Unterlassungskarma bezeichnet. Unterlassungskarma ist eine Art geistige Störung, sie führt zu Stillstand und Degeneration. Auf unsere
gegenwärtige Situation bezogen: Sterben wir aus, dann ist sich Gaia ihres höchsten Erkenntnispotenzials beraubt. Wir sollten uns
angewöhnen, in diesen Kategorien zu denken. Im Geist des Menschen verwirklicht sich nichts weniger, als die Sehnsucht Gaias, sich selbst
zu feiern. Anders gesagt: Gerade jetzt, und vielleicht nur gerade jetzt, tut sich ein evolutionäres Zeitfenster auf. Hier, in diesem Teil des
Universums, auf einem recht unbedeutenden Planeten, fragt sich eine ziemlich clevere Kreatur, was das alles soll. Doch sie muss
aufpassen, das Universum kann sie verschlucken, mit Haut und Haaren, das hat es schon mit einigen seiner Geschöpfe gemacht.
Was brauchen wir? Einsicht, vor allem Einsicht. Der Geist wächst nur freiwillig oder gar nicht. Kein Zwang kann helfen. Er braucht die
Einsicht in sich selbst, auch wenn das für diejenigen, die weiter sind auf ihrer seelischen Reise, manchmal schwer auszuhalten ist. Doch
ohne Einsicht geht gar nichts. Doch wir können die Bedingungen für Einsicht verbessern. Mit relativ einfachen Mitteln. Einsicht wächst durch
leidvolle Erfahrung am schnellsten. Wir, die wir genug Leid erfahren haben, wissen das. Unsere Aufgabe ist immens, denn wir müssen
unseren Mitmenschen zur Einsicht zu verhelfen. Jedenfalls einen genügend großen Teil von ihnen. Tun wir das nicht, dann ist es gut
möglich, dass das Zeitfenster sich schließt, ohne das es zum Sprung gekommen ist. Diejenigen, die das wissen, stehen an der Spitze der
Bewusstseinspyramide. Und sie sollten sich absolut darüber im Klaren sein, dass über ihnen nichts mehr ist, dass die ganze Last auf ihren
Schultern liegt. Wenn sie nicht aufstehen, wird keiner aufstehen. Wenn sie nicht Stopp rufen, wird keiner Stopp rufen. Der Pakt des
Erwachens verlangt Authentizität. Authentizität heißt das zu leben, was man erkannt hat. Nur durch Authentizität erwacht das evolutionäre
Selbst. Das evolutionäre Selbst führt zur Geburt des wahren Selbst, das ist das Ziel. Authentizität in dieser einmaligen historischen Epoche
erfordert, dass die Erwachten beginnen, ihre Wahrheit auszusprechen, dass sie sich einmischen, lehren, sich engagieren. Keiner von uns ist
perfekt, keiner von uns ist fertig, keiner von ist besser als der Rest der Menschheit, doch wir sind sicherlich den Anderen ein wenig voraus,
eine Nasenspitze. Dieses „ein wenig voraus sein“ verpflichtet uns, dass Leben zu schützen und die Entwicklung des Bewusstseins
voranzutreiben. Tatsache ist: Wir werden niemals perfekt sein. Darum geht es gar nicht. Das ist ja der Clou: Ein authentisches Leben zu
führen, bedeutet seinem Stern entgegen allen inneren und äußeren Widerständen zufolgen, bedeutet aufzustehen, innerlich zu brennen,
trotz aller vermeintlichen Unvollkommenheiten, trotz aller Zweifel. Wir mögen nicht perfekt sein, aber sicherlich gut genug und wir haben
keine Zeit mehr. Um die Erde „zu retten“, braucht es keine erleuchteten Menschen, sicherlich aber Bewusstere, auch wenn es nicht schaden
kann, ein wenig mehr von der ersteren Sorte zu haben. Wir sollten unsere Zurückhaltung also aufgeben.
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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Und wenn wir dann lehren, predigen, handeln, gegen die Wellen von Dummheit und Ignoranz und Gleichgültigkeit, jeder auf seine Weise,
jede auf ihre Art, dann sollten wir wie der alte Meister in folgender kurzen Geschichte sein. Einst lebte ein junger Mönch in Griechenland in
einem Kloster. Eines Tages ging er zu seinem Meister und sprach: „Meister, ich meditiere, kontempliere und faste, Tag ein, Tag aus, ganz
so, wie Du es mir beigebracht hast. Dennoch, ich leide immer noch, ich kann Gott nicht erkennen, alles in mir ist dunkel. Sag mir, was kann
ich noch tun?“ Ohne zu antworten, erhob sich der Meister von seinem Sitz, warf seine Arme weit ausgestreckt in den Himmel und rief:
„Werde zu Feuer.“ Und während er noch sprach, entflammten seine Finger, sie wurden zu lockernden Fackeln, zum leuchtenden Licht für
die gesamte Menschheit.
Die Frage, warum wir da stehen, wo wir stehen und wie es überhaupt soweit kommen konnte, ist lässt sich relativ leicht beantworten. Das,
was wir heute als Krise globaler Art wahrnehmen, müssen wir als eine evolutionäre Krise des Geistes betrachten, eine weitere
Wachstumskrise des menschlichen Bewusstseins, von denen es zuvor schon mindestens vier weitere gab: archaisches Bewusstsein
(Hominiden, dunkle Vorzeit bis vor ca. 100.000 Jahren), magisches Bewusstsein (Jäger und Sammler, vor ca. 35.000 Jahren), mythisches
Bewusstsein (Bauer und Landwirtschaft, vor ca. 10.000 Jahren) und rationales Bewusstsein (Naturwissenschaften, Aufklärung, vor ca. 500
Jahren). Die Erde als Mittelpunkt des Universums musste dem heliozentrischen Weltbild weichen, Platz machen für den rationalen Geist,
der die Welt in eine mechanische, allerdings gut geölte naturwissenschaftliche Maschine verwandelte. Es schüttelte die alten Begrenzungen
ab, so wie ein Hund die Wassertropfen in seinem Fell abschüttelt. Das war gut so, die Scheiterhaufen mussten erlöschen, wir konnten es
uns nicht länger leisten, unsere klügsten Köpfe zu verbrennen oder unsere Heilerinnen in Asche zu verwandeln. Metaphysische Angst und
Aberglauben mussten beendet werden. Dieser Wandel brachte uns schier unglaubliche Erfolge, aber auch furchterregende Niederlagen. Er
brachte uns das Penicillin, aber auch die Atombombe. Heute freilich, nur etwa 500 Jahre später, weicht dieses Maschinendenken langsam
aber stetig einer neuen, umfassenderen Sichtweise. Die Krise in der wir uns gegenwärtig befinden ist die Herausforderndste seit unserer
Menschwerdung. Eine neue Achsenzeit ist angebrochen. Damals, 800 bis 500 v. Chr., wurde die Welt ebenfalls in ihren Grundfesten
erschüttert. Nicht von ungefähr wurden in dieser Zeit einige der größten Philosophen und Religionsstifter geboren: Buddha, Laotse,
Konfuzius, Patanjali, Platon, Sokrates, Aristoteles und wie sie alle heißen. Dieses Verständnis mag nützlich sein. Noch kommen wir
einigermaßen zurecht, dass Gummiband Gaias ist zwar straff gespannt, aber es ist noch nicht gerissen, es bleibt ein gewisser Spielraum.
Diesen Spielraum müssen wir nutzen.
Stichwort Freiheit. Freiheit gehört unbedingt zu diesem Spiel. Dennoch geht es nicht anders, wir brauchen diese Freiheit, auch die Freiheit
es vielleicht falsch zu machen. Freiheit gebiert das, was Thomas Berry als "kreatives Ungleichgewicht" bezeichnet. Daraus erwächst
Anspannung, und Anspannung treibt die Evolution voran. An einem bestimmten Punkt der Entwicklung müssen die Kräfte des
Zusammenhalts, der Homöostase gelockert werden, um den Kräften der Differenzierung und der Transformation zu weichen. Nur so kann
das Alte dem Zukünftigen weichen. Perfektes Gleichgewicht ist der Kältetod, ist Entropie. "Leben basiert auf Ungleichgewicht" - auf
evolutionärer Spannung. Aber wie hoch darf der Grad der Spannung sein, was kann eine Person oder eine Zivilisation aushalten, bevor sie
ins Ungleichgewicht kippt? Ab welchem Punkt nehmen die dissoziativen, destruktiven, pathologischen Kräfte überhand? Ab wann werden
sie so stark, dass sie den gesamten Prozess der (menschlichen) Evolution auf der Erde umzukehren beginnen? Das ist die entscheidende
Frage, vor der wir heute stehen. Und der alles entscheidende Faktor in diesem Kontext ist die Qualität des menschlichen Bewusstseins.
Fragen werden überhaupt eine wichtige Rolle spielen. Denn nur mit den richtigen Fragen, und den entsprechenden Antworten, werden wir
unsere Probleme zufriedenstellend lösen. Einige Beispiele.
Wollen wir wirklich den Klimawandel mithilfe von Atomenergie bekämpfen? Trotz der immensen Risiken? Trotz der hohen Kosten und der
ungeklärten Entsorgungsfrage? Das würde bedeuten, dass in den nächsten 10 Jahren (bei einer maximalen Laufzeit der alten Anlagen von
40 Jahren) 80 neue Atomkraftwerke gebaut werden müssten, ein Block alle 45 Tage. In den folgenden 10 Jahren bräuchten wir dann
nochmals 200 neue Atomkraftwerke, wie gesagt, nur um die alten AKWs zu ersetzen, ein Block alle 18 Tage. 443 Atomkraftwerke waren
Anfang 2006 weltweit am Netz. Der von ihnen produzierte Strom deckte 6% der weltweiten Primärenergie, nach Abzug aller Leitungs- und
Transformationsverluste blieben 2%. Dabei ist noch nicht einmal geklärt, wo wir den Abfall, auf den wir immerhin einige zehntausend Jahre
aufpassen müssen, aufbewahren wollen.
Wollen wir wirklich weiter soviel Treibhausgase in die Atmosphäre blasen? Wollen wir weiter dem Individualverkehr den Vorzug geben? Pro
Kilometer bläst ein Auto 150 g CO2 in die Luft. 1,5 kg auf 10 Kilometer. 15 kg auf 100 Kilometer. Das würde bedeuten, dass in den nächsten
50 Jahren der atmosphärische CO2-Anteil um etwa 100 ppm ansteigen wird, auf 485 ppm im Jahr 2055. Da der Energieverbrauch weltweit
aber steil ansteigt, dürfte der wirkliche Anstieg der klimaschädlichen Gase noch höher ausfallen.
Wollen wir wirklich weiter eine Konsumgüterindustrie unterstützen die Dinge produziert, die, wenn wir ehrlich sind, niemand wirklich braucht?
Das würde bedeuten, dass wir der Verschwendung unserer natürlichen Ressourcen nicht Herr werden können. Schon heute leben wir, was
die natürlichen Ressourcen der Erde angeht, weit über unseren Verhältnissen. Allein in den letzten 50 Jahren haben wir mehr
Naturressourcen verbraucht als die Menschheit in allen vorherigen Jahrhunderten zusammengenommen. Wir plündern unseren Planeten in
einem atemberaubenden Tempo aus. Setzt sich dieser Trend ungebrochen fort, und danach sieht es aus, dann bräuchten wir im Jahr 2050
zwei weitere Planeten von der Größe der Erde, um unseren Lebensstandard aufrechtzuerhalten.
Wollen wirklich weiter die zu Himmel schreiende Ungerechtigkeit auf der Welt ignorieren? Wollen wir weiter 900 Milliarden Dollar pro Jahr für
Waffen ausgeben, trotz Armut, Krankheit, Hunger und Elend? Zustände, an denen die reichen Länder gut verdienen? Das würde bedeuten,
dass Bevölkerungswachstum, Terrorismus und Krieg nicht überwunden werden können. Mangelnde Bildung und Unterdrückung der Frauen
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de
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lassen die Geburtenrate ansteigen, während soziale Ausgrenzung und wirtschaftliche Ausbeutung zwangsläufig zu Terrorismus und Krieg
führen. Während Europa zu vergreisen droht, wächst die Menschheit im Verlauf dieses Jahrhunderts von gegenwärtig 6,4 Milliarden auf ca.
9,2 Milliarden im Jahr 2050 an, und das genau in jenen Jahren, in denen sich die Zukunft der Menschheit entscheidet.
Wollen wir wirklich weiter dulden, dass 1,1 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, dass 2,4 Milliarden
Menschen ohne sanitäre Einrichtungen auskommen müssen, dass 60% der Menschheit mit 3 Dollar und weniger pro Tag auskommen
müssen, während die reichsten 50 Millionen (= 0,8%) genauso viel besitzen, wie die ärmsten 2,7 Milliarden (= 42%)? Das würde bedeuten,
dass diese Regionen, in denen 90% der Fäkalien und 70% der Industrieabfälle ungeklärt ins Oberflächenwasser eindringen, auf Dauer ein
Hort von gefährlichen, und zunehmend resistenten, Krankheitserregern bleiben, von TBC, Grippe, Diphterie, Malaria, AIDS, Cholera,
Syphilis, Saras und vielen anderen, die wir noch gar nicht kennen.
Wir wissen bereits, was zu tun ist. Woran es einzig hapert, ist der Wille dazu. Mit anderen Worten: Unser Bewusstsein ist noch nicht soweit.
Das wird sich ändern, wenn in naher Zukunft der Druck von außen erheblich zunehmen wird. Doch sicher ist gar nichts, genauso denkbar
ist, dass die lebensfeindlichen Kräfte auf der Erde weiter überwiegen. Es bedarf also einer bewussten Anstrengung des bewusstseinsmäßig
am weiten fortgeschrittenen Teils der Menschheit, nur so können wir über die gegenwärtige Krise überwinden und über die nächste
Schwelle der evolutionären Entfaltung gehoben werden. Wenn wir gegenwärtig auch nicht genau sagen können, welch konkrete physische
Form das neue Weltbild annehmen wird, so können wir doch einige der Faktoren benennen, aus denen heraus es geboren werden wird.
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Lebendiges Universum statt toter Maschine
Geist statt Materie
Sein statt Haben
Inneres Wachstum statt Äußeres
Sinnfindung statt Materialismus
Qualität statt Quantität
Selbstverwirklichung statt Konsumismus
Kooperation statt Konkurrenz
Teilhabe statt Ausgrenzung
Lebende Systeme statt mechanische Uhrwerke
Bildung statt Waffen
Nachhaltigkeit statt Verschwendung
Systemdenken statt linearen Denkens
Lokale Netzwerke statt Zentralismus
Weisheit statt Faktenwissen
In einer durch und durch materialistischen Welt, in der mit dem Tod alles zu Ende ist, mag unbegrenztes Wachstum und grenzenloser
Konsumismus sinnvoll sein. Doch wir sollten uns der Möglichkeit öffnen, dass das Universum etwas Größeres und Erhabeneres mit uns
vorhat, als die unendliche Steigerung des Bruttosozialprodukts und unmittelbare Bedürfnisbefriedigung. Während die Blume um ihrer selbst
willen blüht, braucht der Mensch den Sinn, seinen Sinn. Ohne Sinn ist sein Leben sinnlos. Sinn aber muss geschaffen werden, immer
wieder aufs Neue. Deshalb muss die Frage nach dem persönlichen Sinn ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit rücken. Sinn und
Bewusstsein sind untrennbar. Sie hängen von der Bewusstseinsstufe ab auf dem sich das Individuum befindet. Was dem einen Sinn macht,
erscheint dem anderen sinnlos. Die Einsicht, dass nicht nur das Universum evolviert, sondern auch das menschliche Bewusstsein, dass mit
der Rationalität nicht alles zu Ende ist, dass wir im Zentrum der schöpferischen Kräfte stehen und dass da etwas Größeres, Umfassenderes
ist, das unser Verstehen übersteigt, verändert die Perspektive radikal.
Wovon hängt unser Glück ab? Macht uns unser Besitz wirklich glücklich? Lohnt er die harte Arbeit, die Hetze, die Nervosität? Seien wir
ehrlich, wir sind nicht glücklicher geworden, unsere Glücksstrategien sind auf trügerischem Sand gebaut. Darum müssen wir uns kümmern.
Und vielleicht ist das der Ansatz, der uns am meisten überzeugt, gerade, weil wir trotz aller materieller Absicherung weiter so unglücklich
sind. Die Frage „Was macht uns glücklich und was nicht?“ packt jeden Einzelnen in seinem persönlichen Dasein. Sie besitzt viel
Überzeugungsintensität. Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Ohne Verzicht wird es nicht gehen. Das Wort „Verzicht“ fehlt in den
Schönwetterreden unserer Eliten und das aus gutem Grund: Es ist zu radikal. Es verträgt sich nicht mit unserem Wirtschaftsmodell. Und es
macht uns nervös. Wer will schon verzichten, auf den nächsten Urlaub in Thailand womöglich noch? Und doch, freiwilliger Verzicht und
Glück hängen eng miteinander, mehr noch, zu verzichten, bedeutet freier zu werden. Die Freiheit zu haben, „Nein“ zu sagen, sollte nicht
unterschätzt werden. Darin liegt viel Sprengkraft. Deshalb wird das Wort „Verzicht“ gemieden. Ein Leben in freiwilliger Einfachheit ist der
Schlüssel zum Glück. Immer mehr bedeutet eben nicht immer glücklicher. Die Veränderung des persönlichen Lebensstils ist dabei zu wenig,
er muss Hand in Hand gehen mit einer neuen völlig neuen Ausrichtung unserer Lebensmodelle. Insbesondere muss die Fragmentierung
und Atomisierung unserer Welt überwunden werden, weshalb wir von einem postmaterialistischen Weltbild sprechen dürfen. Freiwillige
Einfachheit heißt nicht Nach Duane Elgin nicht dogmatisch mit weniger zu leben, sondern sich in einem inneren und äußeren Gleichgewicht
zu befinden, „durch das wir unser authentischstes und lebendigstes Selbst bewusst in eine direkte Verbindung mit dem Leben bringen.“
(„Ein Versprechen für die Zukunft“). Nur so kann Glück, Zufriedenheit und Erfüllung von uns Besitz ergreifen. Wir müssen zu lassen, dass
die wichtigen Fragen des Lebens uns berühren.
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Das damit einhergehende Weltbild sieht das Universum mehr als ein zusammenhängendes lebendiges Ganzes an, in dem jedes Teil
miteinander verbunden ist. Dieses Universum ist nicht sinnlos, wir sind der Beweis, das dem nicht so ist. Es ist auch nicht ziellos, genauso
wie es nicht ohne Ordnung ist, wir können sogar sagen, dass es sich durch uns seiner Potenzialität bewusst wird. Die Intelligenz, die sich
darin ausdrückt, ist unfassbar, unbegreifbar, unermesslich: Der dualistische Geist im Menschen ist hoffnungslos überfordert, wenn er mithilfe
seines Alltagsverstandes das Mysterium durchschauen will. Diese genuine Limitierung des menschlichen Begreifens einzugestehen ist die
vielleicht größte Leistung, zu der die Rationalität befähigt ist.
Existenzielles Leiden ist unvermeidbar. Das unnötige Leiden der Menschheit jedoch ist selbst gewählt. Unser Wissen und Reichtum reicht
aus, um alle Menschen auf der Welt ausreichend zu ernähren, mit Kleidung, Wohnung, Gesundheit und Bildung zu versorgen. Woran es
allein mangelt, ist der Wille. Ohne einen Bewusstseinssprung einer genügend großen Anzahl von Menschen weltweit, ist kaum vorstellbar,
wie wir überleben können. In den nächsten drei Kapiteln soll davon die Rede sein. Das Erste handelt von der Geburt des Universums und
seinen vielen Wundern, vom menschlichen Geist, den es hervorgebracht hat und durch das es sich selbst betrachtet. Kapitel 14 und 15
untersuchen das Mysterium des menschlichen Bewusstseins, das uns so nahe ist und doch so unbegreiflich.
Lassen Sie mich dieses Kapitel mit einem Zitat von der indischen Sozialaktivistin und spirituellen Lehrerin Vimala Thakar enden. Es ist 22
Jahre alt und doch hochaktuell. „Wenn wir zulassen, dass alle anderen zugrunde gehen – die Menschen anderer Länder, Rassen,
Gesellschaftsklassen, Kulturen, Religionen und die übrigen Geschöpfe dieser Erde – damit wir gedeihen und unaufhörlich die Palette
unserer Genüsse und Annehmlichkeiten erweitern können, sind wir ganz klar dem Untergang geweiht. Die Hartherzigkeit, mit der wir
zulassen, dass andere missbraucht werden, damit wir unser eigenes, unbedeutendes Leben mit einem schönen Zuhause, gutem Essen und
kurzweiliger Unterhaltung ungestört weitergehen kann, ist ein Vorbote des schlimmen Schicksals, das uns alle ereilen wird. (…). Es gibt
soviel unerforschtes Potenzial in jedem Menschen. Wir sind nicht nur Fleisch und Knochen oder eine Verschmelzung verschiedener
Konditionierungen. Wenn dem so wäre, dann sähe unsere Zukunft auf diesem Planeten wirklich düster aus. Aber es gibt unendlich viel mehr
im Leben, und jeder leidenschaftliche Mensch, der es wagt, jenseits des Fragmentarischen und Oberflächlichen das Geheimnis des Seins
zu ergründen, hilft der gesamten Menschheit zu verstehen, was es heißt, ein ganzer Mensch zu sein. Revolution, totale Revolution bedeutet,
das Unmögliche zu probieren. Und wenn ein Mensch diesen Schritt in das Neue, Unmögliche wagt, dann nimmt er die ganze Menschheit
mit.“ (aus: „Spirituality and Social Action”, Vimala Programs California, Berkeley 1984; zitiert aus: WIE/Winter 2006).”
HP Detlef Wiechers, 2007, Geist und Gaia, www.integrale-therapie-berlin.de

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