Bundeswehr leistet weiter Hilfe zur Selbsthilfe in Afghanistan

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Bundeswehr leistet weiter Hilfe zur Selbsthilfe in Afghanistan
Regionale Herausforderungen, Globale Entwicklungen
Bundeswehr leistet weiter Hilfe zur Selbsthilfe in Afghanistan
Von: Rolf Tophoven
Afghanistan: Die Bundeswehr wird gegenhalten
"Taliban ist nicht gleich Taliban", differenziert Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan, als sich der
Luftwaffen-Airbus mit dem Vier-Sterne-General an Bord im Anflug auf den Strategischen
Lufttransportstützpunkt Termez in Usbekistan befindet. Schneiderhan ist auf einem seiner mehrmals im Jahr
stattfindenden Truppenbesuche nach Afghanistan. Große Sorge bereiten dem Generalinspekteur der
Bundeswehr diesmal besonders die sich im Norden des Landes, in der Region um Kunduz, verschärfende
Sicherheitslage, die Häufung von Anschlägen auf Soldaten der Bundeswehr. Vor Ort will er sich daher ein Bild
verschaffen, ausführliche Analysen von den Kommandeuren und Patrouillenführern hören über jüngste
Taktiken und Vorgehensweisen der Angreifer. General Schneiderhan weiß, nicht immer sind es Taliban, oft
auch Kriminelle und lokale Interessengruppen, die Fahrzeuge und Männer der Bundeswehr ins Visier
nehmen. "Taliban ist nur ein Synonym für vieles unter diesem Begriff. Wir müssen präzise untersuchen,
woher unseren Soldaten in jüngerer Zeit die größte Gefahr droht und welche Techniken und Taktiken der
Gegner einsetzt!"
Nach dem Zwischenstop in Termez geht es mit der Transall 160D am nächsten Tag weiter in den riesigen
Nato-Stützpunkt Mazar-e Sharif. Das Camp Marmal ist logistisches Drehkreuz für alle Bundeswehr und
andere Isaf-Verbände. Deutschland ist hier 'Lead Nation'. Mit General Schneiderhan fliegt auch
Brigadegeneral Volker Bescht, Kommandeur der 26. Luftlandebrigade aus Saarlouis, dessen Männer in
hartem Einsatz im Norden Afghanistans stehen - allein fünf von den bisher gefallenen 32 deutschen Soldaten
(2 im Kosovo, 3 in Afghanistan) kamen aus seiner Brigade.
Informationsgewinnung
Kriegsähnliche Zustände wie sie US und britische Truppen im Süden und Osten tagtäglich erleben,
verzeichnet die Bundeswehr im Norden zwar noch nicht in dieser Intensität, doch führen die
Taliban-Kommandos einen immer professioneller angelegten Guerillakrieg gegen die 'Provincial
Reconstruction Teams' (PRT). Da ist Aufklärung und nachrichtendienstliche Informationsgewinnung gefragt.
Die Bundeswehr stützt sich dabei auf ein klassisches und bewährtes Muster. Offene Gesprächsaufklärung
durch Soldaten in Uniform, verdeckte Info-Gewinnung durch Humint (Human Intelligence - menschliche
Quelle), Erkenntnisse durch Patrouillen, Infos durch BND und afghanischen Geheimdienst NDS.
Im Großraum Mazar-e Sharif sorgt für die offene Informationsgewinnung unter anderem die
Objektschutzgruppe der Luftwaffe. Das Kommando hat einen so genannten 'Blue Box'-Sektor von 24 x 24
Kilometern um das Marmal Camp gelegt. In diesem Segment liegen 11 Gemeinden in einer Größenordnung
von 500 bis maximal 4000 Bewohnern. Betreut wird jedes Dorf durch einen 'Dorffeldwebel' aus dem Marmal
Camp. Dieser ist zugleich Patrouillenführer, wenn die schweren Dingos das Haupttor des Feldlagers
verlassen. Ansprechpartner der Bundeswehr in jedem der Dörfer ist der Malik (Bürgermeister). Während die
Bundeswehr starkes Interesse an einer vertrauensvollen Sicherheitspartnerschaft hat, geht es dem Malik um
Geld für sein Dorf. Er will Elektrizität, Wasserleitungen, Brunnen sowie möglichst viele seiner Leute als
Arbeiter im Marmal Camp unterbringen. Ruhe und Sicherheit stehen merkantilen Interessen gegenüber. Ein
Geschäft auf Gegenseitigkeit! Wer zuverlässig ist, kann lange im Marmal Camp arbeiten, für Afghanen recht
üppig, liegt der Lohn im Durchschnitt bei 240 US-Dollar monatlich; außerdem garantiert die Bundeswehr
Essen und Trinken sowie die Einhaltung der Gebetsvorschriften für Muslime.
Je häufiger der Dorffeldwebel seine Gemeinde besucht, desto eher gewinnt er ein Profil des Dorfes. Eine Art
Sicherheitsraster entsteht. Was läuft im Dorf? Gibt es Taliban-Strukturen? Wie arbeiten kriminelle Elemente?
Neben den wirtschaftlichen Interessen des Malik drängt der deutsche Kontaktmann immer wieder darauf,
Sicherheitshinweise zu erhalten. Wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Dorffeldwebel und Malik stimmt,
ruft der Afghane auch schon mal mitten in der Nacht den Deutschen an und teilt ihm mit, verdächtige
Elemente hätten sich in seinem Dorf an einem Kanaldeckel zu schaffen gemacht. Dann fährt eine Patrouille
raus und prüft den Hinweis. Jeder Hinweis muss ja ernst genommen werden. "Oft allerdings sind solche Infos
allerdings nur heiße Luft, denn der Malik hofft, durch möglichst viele Hinweise, möglichst viel Geld zu
bekommen", sagt Oberfeldwebel B., der mehrere Dörfer betreut.
Sicherheit und Terrorabwehr
Vieles dreht sich im Bereich des Regionalkommando Nord unter deutscher Führung eben nicht nur um
wirtschaftliche und politische Aufbauhilfe für die dort lebende afghanische Bevölkerung. Für die Bundeswehr
und ihre Soldaten ist Sicherheit und Abwehr terroristischer Aktivitäten der Taliban-Guerilla zunehmend von
immenser Bedeutung. Der jüngste Vorfall: Kurz nach meinem Besuch in Nordafghanistan wurde am 23. Juni
um 11.59 Uhr Ortszeit wiederum eine deutsche Patrouille im Rahmen einer gemeinsamen Operation
deutscher und afghanischer Sicherheitskräfte circa sechs Kilometer südwestlich des Regionalen
Wiederaufbauteams (PRT) Kunduz durch Handwaffen und Panzerabwehrhandwaffen beschossen. Die
Soldaten erwiderten das Feuer. Im Rahmen der Gefechtshandlungen kam beim Rückwärtsfahren ein
Transportpanzer Fuchs von der Fahrbahn ab und überschlug sich. Drei deutsche Soldaten wurden getötet,
drei weitere schwer verletzt. Die Taliban bekannten sich zu dem Anschlag.
'Taktikwandel der Taliban' lauten seit einiger Zeit die Schlagzeilen; wie zum Beispiel am 29. April 2009. Eine
Patrouille des Regionalen Wiederaufbauteams geriet in der Nähe des Feldlagers Kunduz in einen doppelten
Hinterhalt der Taliban. Bei einem mehrminütigen Feuergefecht fiel ein deutscher Hauptgefreiter durch den
Treffer einer Panzerabwehrgranate (RPG). General Schneiderhan sprach damals von einer "militärisch
geplanten Aktion". Die Angreifer hatten nämlich die Patrouillentaktik der Bundeswehr exakt aufgeklärt. Sie
wussten, nach Beschuss versuchen die Deutschen zum Lager durchzustoßen, wenn sie nicht massiv
getroffen werden. Da auch die besagte Patrouille sich nach diesem Muster verhielt, bauten die Taliban einen
zweiten Hinterhalt fünf Kilometer nach dem ersten auf. Perfekte Guerilla-Taktik! Erstmals hatten die
Talibankommandos die bis dahin weitgehend praktizierte Taktik des 'Hit and Run' verlassen. Sie hatten sich
getroffen werden. Da auch die besagte Patrouille sich nach diesem Muster verhielt, bauten die Taliban einen
zweiten Hinterhalt fünf Kilometer nach dem ersten auf. Perfekte Guerilla-Taktik! Erstmals hatten die
Talibankommandos die bis dahin weitgehend praktizierte Taktik des 'Hit and Run' verlassen. Sie hatten sich
dem offenen Gefecht gestellt!
Der Angriff Ende April führte zu einem schnellen Umsetzen neuer taktischer Verhaltensregeln bei den
deutschen Truppen. Verstärkt wird jetzt immer wieder auf das Vermeiden von Routine hingewiesen. "Unser
größter Feind" sagen Experten in den Feldlagern. Die Soldaten wissen, jede Bewegung im Camp wird von
der Gegenseite observiert. Besonders beobachtet der Gegner das Verhalten der deutschen Patrouillen, wenn
diese ein IED (Improvised Explosive Device = Sprengfalle) entdeckt haben. Im Verhalten der Soldaten
werden jetzt Konzepte von noch größerer Flexibilität eingesetzt.
Am 7. Mai 2009 stellte sich dann eine Patrouille bei Kunduz dem offenen Kampf, bezog Feuerposition - die
Taliban hatten mehrere Tote und Verwundete und zogen sich zurück. Die psychologische Wirkung saß tief
bei den Angreifern. General Schneiderhan: "Die langfristige Wirkung müssen wir noch abwarten." Noch einen
weiteren Schlag erlitten die Taliban-Strukturen Anfang Mai. Abdul Razeq, Taliban-Kommandeur und für
zahlreiche Bombenattentate verantwortlich, wurde 60 Kilometer südöstlich von Fayzabad von einer
Kommandoeinheit des KSK (Kommando Spezialkräfte) festgenommen und sofort mit der Transall nach Kabul
geflogen. Unterstützt wurde das KSK durch Agenten des afghanischen Geheimdienstes NDS. Inzwischen hat
die Bundeswehr weitere Top-Terroristen der Taliban im Norden aufgeklärt und im Visier. Razeq wurde in
Kabul den dortigen Strafverfolgungsbehörden übergeben. Das weitere Prozedere in diesem Fall ist nun
Sache der afghanischen Behörden.
Die Verbringung des Taliban-Führers entpuppte sich als geschickter Schachzug psychologischer
Terrorbekämpfung! Razeq wurde aus seiner vertrauten Umgebung herausgebrochen! Lokale Hilfe durch ihm
bekannte Polizeiführer fiel weg. In der Vergangenheit hatte dies oft über finstere Kanäle zur Freilassung
inhaftierter Terroristen geführt. In Kabul existiert für ihn kein Netzwerk, das ihn auffängt, sagen Insider in
Mazar-e Sharif. Denn Netzwerkstrukturen in Afghanistan, besonders im engeren Umfeld eines Betroffenen,
sind in Afghanistan verzwickt und von unschätzbarem Wert. Verrat, Korruption, Geld, ethnische Zugehörigkeit
und der bei den Paschtunen (woher die meisten der Taliban kommen) eingemeißelte Ehrenkodex
'Paschtuwali' sind dabei bestimmende Faktoren. Von der Familie ausgehend, über den Clan, das Dorf, die
Stadt bis zur Regierung laufen manchmal die Stränge der Beziehung. Zudem schwebt ein ethnischer
Brudergeist über allem und bestimmt häufig das Handeln.
Aktuelle Entwicklungen und die Rolle Pakistans
Wenn der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Schneiderhan, bewusst zwischen einzelnen
Talibangruppen, Kriminellen und anderen "dunklen Existenzen" unterscheidet, so hängt dies auch mit
qualitativer Unterscheidung der verschiedenen Gruppen zusammen. Während Taliban-Kommandos
'militärisch' wohl den höchsten Grad einnehmen, ist das Profil der Kriminellen anders einzustufen. Sie wollen
sich in ihrem Dorf frei bewegen können, ungestört Drogen und Schmuggelaktivitäten entfalten können. Wer
sie dabei stört, wird angegriffen. Ein Grund, so wissen Fachleute der Bundeswehr, warum sich die
afghanische Polizei nicht selten zurückhält, denn staatliche Macht ist oft nicht gewollt.
Wie andere Dschihad-Terrorkommandos sind auch die Taliban eine lernende Terror- und
Guerillaorganisation. Herstellung von IEDs und neue Kampftaktiken werden umgehend untereinander
ausgetauscht. Ein reger Knowhow-Transfer findet statt. Jüngste Entwicklungen sind einfache 'Home Made
Explosives', wobei Kanister mit Dünger und Benzin gefüllt und schließlich zu einem primitiven IED benutzt
werden. "Wird eine bestimmte Technik und Taktik irgendwo erfolgreich angewandt, wird sie in zwei Wochen
mit Sicherheit anderswo hin transferiert", so ein Sprengstoffexperte in Mazar-e Sharif gegenüber IFTUS.
Die Talibankämpfer im Norden Afghanistans, im so genannten Paschtunengürtel um die Provinzhauptstadt
Kunduz, sind stark mit pakistanischen Glaubensbrüdern und deren Ethnie vernetzt und von daher vom
Einfluss pakistanischer Taliban geprägt. Neben Angriffen mit der Kalaschnikow, der Panzerabwehrwaffe
RPG, Selbstmordattentaten tragen besonders IED-Anschläge auf Bundeswehr-Patrouillen die Handschrift
von in Pakistan geschulten IED-Experten. Im Nachbarland Pakistan werden afghanische
Sprengstoffspezialisten gedrillt und anschließend wieder in den Norden Afghanistans geschleust. Im
afghanischen/pakistanischen Grenzgebiet gibt es außerdem geheime Trainingscamps für die Fort- und
Weiterbildung afghanischer Ausbilder. "Die IED-Ausbildung in Pakistan ist verdammt gut", räumt ein Experte
der Bundeswehr ein.
Auch bei den Führungsstrukturen wirkt pakistanischer Einfluss auf die ethnischen Brüder im Norden
Afghanistans. Taliban-Führer müssen sich im Kampf gegen die Bundeswehr und Isaf-Kontingente bewähren.
Wichtig ist daher die Dimension eines Anschlags. Sie ist geradezu das Gütesiegel eines
Taliban-Kommandeurs; denn dieser steht selbst unter Erfolgsdruck. Auch braucht er Geld für Material und
neue Kämpfer von der örtlichen oder regionalen Talibanführung.
Diese Konstellation bedingt die nach einem Angriff auf die Bundeswehr oft maßlos übertriebenen Meldungen
über gefallene und verwundete deutsche Soldaten. "Daher bemühen wir uns nach Anschlägen und
Zwischenfällen so zeitnah wie möglich aufzuklären, um die Propaganda der Taliban zu konterkarieren, bevor
deren Zahlen oft unkommentiert von deutschen Medien übernommen werden", sagt Oberstleutnant Pieta,
Pressesprecher des Regionalkommandos Nord in Mazar-e Sharif.
Schwierigkeiten der Aufklärung und Zusammenarbeit
Wie schwierig nachrichtendienstliche Aufklärung und vertrauensvolle Zusammenarbeit auch und besonders
mit den Afghanen sich gestalten, erfuhr IFTUS aus hochrangiger Quelle. Die Geschichte dokumentiert
geradezu exemplarisch jenen Biotop im Norden Afghanistans in dem die Männer und Frauen der Bundeswehr
ihre Arbeit tun:
Während des letzten Besuchs von Verteidigungsminister Jung in Kunduz wurde in der Nähe des Feldlagers
ein großes Zelt aufgebaut. Clan- und Stammesführer aus dem Norden waren zwecks Aussprache mit dem
Minister eingeladen. Irgendwann im Verlauf der Veranstaltung zeigte ein hochrangiger Clanchef auf einen
anderen Teilnehmer, ebenfalls einflussreich und sagte seinem deutschen Nachbarn: Dieser Bärtige treibe ein
Doppelspiel. Er arbeite einerseits mit der Bundeswehr und versorge diese mit Informationen, gebe
Minister eingeladen. Irgendwann im Verlauf der Veranstaltung zeigte ein hochrangiger Clanchef auf einen
anderen Teilnehmer, ebenfalls einflussreich und sagte seinem deutschen Nachbarn: Dieser Bärtige treibe ein
Doppelspiel. Er arbeite einerseits mit der Bundeswehr und versorge diese mit Informationen, gebe
andererseits aber auch den Taliban Anweisungen, wo sie ihre Raketenwerfer aufzustellen hätten, um das
Feldlager Kunduz zu beschießen. Dabei gäbe der Taliban-Sponsor genaue Anweisungen, die Raketen so
abzuschießen, damit im Lager keine allzu großen Schäden entstünden. Exakt eine Woche nach dem Besuch
von Minister Jung und seinem Treffen mit den Maliks und Ältesten schlug auf dem Platz, wo das
Veranstaltungszelt gestanden hatte, eine Rakete ein.
Konfrontiert mit dieser Geschichte, sagte Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan, er könne sich dies
durch aus so vorstellen. Der Beschuss nach der Abreise des Ministers könne Signalwirkung gehabt haben.
Eventuell hätten die Taliban signalisieren wollen, sie könnten auch anders und genauer treffen, wenn die
Bundeswehr die Spielregeln nicht mitmache. "Die Bundeswehr wird die Spielregeln aber nicht mitmachen. Wir
werden unseren Auftrag in Afghanistan erfüllen und den Afghanen weiter Hilfe zur Selbsthilfe geben. Und:
Wenn unsere Soldaten angegriffen werden, werden sie gegenhalten!" Realitäten am Hindukusch im Sommer
2009!
Quelle: Rolf Tophoven: Afghanistan: Die Bundeswehr wird gegenhalten. In: Kai Hirschmann/Rolf Tophoven:
Das Jahrzehnt des Terrorismus. Security Explorer 2010. S.243-246
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