Ritual und Literatur
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Ritual und Literatur
Ritual und Literatur Autor: Burckhard Dücker Kurs 34567 Inhalt 2 INHALTSVERZEICHNIS VERFASSER ...........................................................................................................3 VORWORT .............................................................................................................6 Hinweise zur Benutzung des Kurses Ritual und Literatur.............................................................6 NACHSCHLAGEWERKE ..........................................................................................7 1. EINLEITUNG: ALLGEMEINE GRUNDLAGEN ........................................................9 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 Typologie literaturbezogener ritualisierter Handlungen ......................................................9 Szenario.......................................................................................................................................16 Gründungsmythen der Literatur..............................................................................................19 Zyklizität, Repetitivität und Singularität...............................................................................22 Ritualisiertes Handeln als Ordnungsfaktor...........................................................................25 Ritualdynamik............................................................................................................................31 Dreiphasenschema der ritualisierten Handlung ...................................................................32 2. RITUALWISSENSCHAFT UND LITERATURWISSENSCHAFT .................................37 2.1 Multidisziplinarität der Ritualwissenschaft ..............................................................................37 2.2 Linguistische Ritualanalysen ......................................................................................................37 2.3 Theatralität / Fiktionalität und Ritualität...................................................................................39 2.4 Syntexte...........................................................................................................................................44 2.5 Ritualwissenschaftliche Erweiterung der Literaturwissenschaft ..........................................46 2.6 Zur Struktur ritualisierter Handlungssequenzen......................................................................48 3. LITERATURPREISE...........................................................................................53 3.1 Zur Forschungssituation ..............................................................................................................54 3.2 Mäzenatentum................................................................................................................................59 3.3 Dichterkrönung..............................................................................................................................64 3.4 Petrarca-Preis .................................................................................................................................69 3.5 Christian-Wagner-Preis ................................................................................................................70 3.6 Der Nobelpreis für Literatur........................................................................................................78 4. LITERARISCHE GESELLSCHAFTEN ...................................................................83 4.1 Die Johann-Gottfried-Schnabel-Gesellschaft...........................................................................84 5. DICHTERGRUPPEN – S CHRIFTSTELLERVEREINIGUNGEN ..................................88 5.1 Die Gruppe 47................................................................................................................................88 5.2 Gruppe 61 / Werkkreis für Literatur der Arbeitswelt............................................................105 5.3 Sprachgesellschaften..................................................................................................................110 5.4 Meistersinger................................................................................................................................118 5.5 Literarisch-politischer Salon .....................................................................................................120 6. BÜCHERVERBRENNUNG.................................................................................128 7. BIBLIOGRAPHIE .............................................................................................134 8. GLOSSAR.......................................................................................................144 Verfasser Verfasser Burckhard Dücker geb. 1950 1999 Venia legendi für das Fach Deutsche Philologie: Neuere Literaturwissenschaft Privatdozent an der Universität Heidelberg seit 2002 Leiter des Forschungsprojekts Kanonbildung durch Ritualisierung: Internationale Literaturpreise Selbständige Veröffentlichungen / Edition Wolfgang Hildesheimer und die deutsche Literatur des Absurden. Rheinfelden 1976. Theorie und Praxis des Engagements. Zur Geschichte eines literarisch-politischen Begriffs. Diss. Heidelberg 1978. Peter Härtling. Eine Einführung in Leben und Werk. Reihe ›Autorenbücher‹. München 1983. Kritik und Geschichte der Intoleranz. Hrsg. von Rolf Kloepfer und Burckhard Dücker. Heidelberg 2000. Erlösung und Massenwahn. Zur literarischen Mythologie des Sezessionismus im 20. Jahrhundert: Wiedertäufer, Heilsbringer, Marsyas, Kinderkreuzzug, Rattenfänger. Heidelberg 2003. Aufsätze / Studien Der offene Brief als Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 69/1992, 32-42. »Nur eine russische Berichterstattung kann meinen guten Ruf retten.« Rußlandorientierungen deutscher Künstler und Schriftsteller im 20. Jahrhundert. In: Dietrich Harth (Hg.): Fiktion des Fremden. Erkundung kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik. Frankfurt am Main 1994, 137-158. »Es lebe der Kommunismus und die katholische Kirche«. Intellektuelle Selbstverständigung als gesellschaftliches Orientierungsangebot. Zu Franz Bleis Zeitschriften Summa und Die Rettung. In: Dietrich Harth (Hg.): Franz Blei. Mittler der Literaturen. Hamburg 1997, 47-65. »Dank an meine Freunde und Gegner - ohne sie kein Profil« (E. Jünger). Zu den Kontroversen um Ernst Jünger, Günter Grass und Annemarie Schimmel. In: Cahiers d'Etudes Germaniques 32/1997, 97-115. Reisen in die UdSSR 1933-1945. In: Peter J. Brenner (Hg): Reisekultur in Deutschland: Von der Weimarer Republik zum ›Dritten Reich‹. Tübingen 1997, 253-283. 3 Verfasser Die Bibliothek als kulturelle Begegnungsstätte. In: 175 Jahre Gymnasium Miche lstadt. Michelstadt 1998, 167-187. Krieg und Zeiterfahrung. Zur Konstruktion einer neuen Zeit in Selbstaussagen zum Ersten Weltkrieg. In: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des »modernen« Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film. Hg. von Thomas F. Schneider. Osnabrück 1999, Bd. 1, 153-172. Vorwort. In: R. Kloepfer / B. Dücker (Hg.): Kritik und Geschichte der Intoleranz. Heidelberg 2000, XV-XXIV. Intoleranz und interkulturelle Vermittlung. Anmerkungen zu Prometheus. In: R. Kloepfer / B. Dücker (Hg.): Kritik und Geschichte der Intoleranz. Heidelberg 2000, 309-328. Zur Ritualität von Reisen in die Sowjetunion und nach Rußland. In: Tourismus Journal H 3, Bd. 4 / 2000, 399-422. Zur unverbrauchten Aktualität des Kriegsthemas im offenen Brief. In: Ursula Heukenkamp (Hg.): Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961). Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik Band 50.2, Amstderdam 2001, 717-731. »Warum bin ich kein Goethe?« Formen literarischer Selbstinszenierung bei Wilhelm Waiblinger. In: Euphorion 2/2002, 171-192. Joseph Roths Reiseberichte aus Osteuropa: Sowjetunion, Albanien, Polen. In: Estudios Filologicos Alemanes (2003) 2, 143-161. Ritus und Ritual im öffentlichen Sprachgebrauch der Gegenwart. In: Dietrich Harth / Gerrit J. Schenk (Hg.): Riten und Rituale im Leben der Kulturen. Heidelberg 2003. Selbstinszenierung und Kanonisierung: Strukturmerkmale ritualisierter Öffentlichkeit. In: IABLIS Jahrbuch für europäische Prozesse. Hg. von Ulrich Schödlbauer. Öffentlichkeit als Bühne: Kontaminationen. 2. Jg. 2003, S.71-96, Heidelberg 2003. »Doch Wort und Tat muss zusammenstimmen« (Christian Wagner 1902). Kulturtransfer und Ritualisierung des Authentischen in der Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Gregor Kokorz / Helga Mitterbauer (Hg.): Übergänge und Verflechtungen. Kulturelle Transfers in Fallstudien. Bern 2003. Auflösung Wandlung Neuanfang. Aspekte des Kulturwandels in Hermann Brochs Die Schlafwandler. In: Michael Kessler (Hg.): Neue Studien. Festschrift für Paul Michael Lützeler zum 60. Geburtstag. Unter Mitarbeit von Marianne Gruber, Barbara Mahlmann-Bauer, Christine Mondon und Friedrich Vollhardt. Tübingen 2003. S. 45-66. Deutsche Gefangenenberichte aus Sibirien und Rußland. In: Sibirienbilder: Konzeptulisierungen von Rußlands Nordosten in den Kulturwissenschaften. Symposionsband zur Kieler Konferenz von 2002. (In Vorbereitung). Lexikonartikel Absurde Literatur, Brief, Rede in:Walter Killy (Hg): Literaturlexikon Begriffe, Realien, Methoden Bde.13 (14f, 124-129), 14 (270-274), hg. von Volker Meid. München 1993. 4 Verfasser Explication de texte, Günther Anders, Literaturdidaktik in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze - Personen - Grundbegriffe, hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart 1998, 16, 139f, 320. Kultur in: Historisches Lexikon der Rhetorik, Bd. 4., hg. von Gerd Ueding. Tübingen 1998, Sp. 1384-1420. Ritual, Zeit in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart 22001, 558-559, 687-689. Gründung (245), Ritual (512/13), Ruine (510/11), Ursprung (613-615) in: Lexikon Gedächtnis und Erinnerung, hg. von Nicolas Pethes und Jens Ruchatz. Reinbek 2001. Rezensionen Kanon. Rezensionsessay zu: Maria Moog-Grünewald (Hg.): Kanon und Theorie. Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Bd. 3. Heidelberg 1997. Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. DFGSymposion 1996. Stuttgart Weimar 1998. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 1/2000, 143-159. »Die Form des ›offenen Briefes‹ entspricht meinem Geschmack durchaus«. Rezensionsessay zu: Rolf Bernhard Essig: Der offene Brief. Geschichte und Funktion einer publizistischen Form von Isokrates bis Günter Grass. (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft; 267) Würzburg 2000. In: IASLonline (http://iasl.uni-muenchen.de 2002), 12 S. Die Aktualität des Kanons. Rezensessay zu Gerhard R. Kaiser/ Stefan Matuschek (Hg.): Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literaturund Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie; Stefan Neuhaus: Revision des literarischen Kanons. Göttingen 2002. In: IASLo nline (http://iasl.unimuenchen.de 2002), 14 S. Hermeneutik als Bildungsprogramm. Rezensionsessay zu Reimund Sdzuj: Historische Studien zur Interpretationsmethodologie der frühen Neuzeit. Würzburg 1997. In: International Journal of the Classical Tradition. Boston, (Summer 2002), 96-116. (im Erscheinen). Zahlreiche Rezensionsreferate in ›Germanistik‹ Der vorliegende Studienbrief wurde angeregt durch die Mitarbeit des Verfassers in dem von der DFG bewilligten SFB 619 (›Ritualdynamik‹) der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg 5 Vorwort Vorwort Hinweise zur Benutzung des Kurses Ritual und Literatur Der Themenkomplex Ritual und Literatur verfügt noch nicht über eine lange und materialreiche Forschungsgeschichte. Weil dieser Kurs den Themenkomplex, seine Fragestellungen und Begriffe systematisch entwickelt, empfiehlt es sich, zumindest die Kapitel 1 (Einleitung) und 2 (Ritualwissenschaft und Literaturwissenschaft) in der vorliegenden Reihenfolge zu lesen. Hier werden Begriffe und grundsätzliche Zusammenhänge dargestellt, die die Literaturwissenschaft z.T. mit anderen Disziplinen teilt. Für Begriffe mit * findet sich bei ihrem erstmaligen Auftreten eine Erklärung im Glossar. In den folgenden Kapiteln geht es um Fallbeispiele für den Komplex von Ritual und Literatur, die die Kenntnis der beiden ersten Kapitel voraussetzen, aber im übrigen unabhängig voneinander gelesen werden können. Die Aufgaben beziehen sich z.T. auf die Teilnahme an literaturfundierten ritualisierten Handlungen und deren Beschreibung. Des weiteren erfordern die Aufgaben selbständige Materialrecherche im Internet, was z.T. durch die Angabe von Adressen erleichtert und vorbereitet wird. Literarische Texte, auf die sich einige Aufgaben beziehen, können Sie ggf. im Internet unter www.projektgutenberg.de finden. Für die Suche nach gedrucktem Material und Definitionen von Fachbegriffen sowie für die Information über Biographie und Werk von Autoren werden hier in den Hinweisen einige Standardnachschlagewerke genannt. Zahlreiche Universitäten haben auf der Basis einiger Fachlexika entsprechende Datenbanken eingerichtet, deren kostenlose Nutzung allerdings in der Regel die Immatrikulation an dieser Universität voraussetzt. Selbstverständlich sind die Aufgaben in angemessener schriftlicher Form anzufertigen. Für zahlreiche Fachbegriffe gibt es Erklärungen im Glossar. Das Literaturverzeichnis umfaßt alle zitierten Bücher und Aufsätze. Texte, auf die nur zum Vergleich oder zur weiteren Information hingewiesen wird, werden in der Regel in den Fußnoten vollständig bibliographisch nachgewiesen. Dies gilt auch für Zeitungsartikel; deren reichliche Nutzung liegt in der Aktualität und besonderen Qualität des hier behandelten Themenkomplexes begründet. Zugleich sollten Sie sich als Leser des Kurses anregen lassen, vor allem Tages- und Wochenzeitungen in bezug auf die Kursthematik gründlich zu lesen und passende Artikel auszuschneiden und zu sammeln, um sich auf diese Weise selbst eine Dokumentation der wirklich aktuellen Literaturgeschichte - oder angemessener – der literarischen und kulturellen Ereignisse zusammenzustellen. Noch ein Hinweis: In den abgedruckten älteren Texten findet sich häufig ›v‹ für ›u‹ im Schriftbild, was beim Lesen zu beachten ist. 6 Nachschlagewerke Nachschlagewerke Nicht fachgebundene Nachschlagewerke Brockhaus Enzyklopädie. Neueste Auflage Der Große Meier. Neueste Auflage Duden Enzyklopädie Autorenlexika Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), hg. durch die Historische Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften. 56 Bde. Leipzig 1875-1912. Neue Deutsche Biographie (NDB), hg. von der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenscha ften. Bd. 1-16. Berlin 1953-1990. Wörterbuch Grimm, Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. 1-32. Leipzig 1854-1960. Literatur- und kulturwissenschaftliche Nachschlagewerke Autorenlexikon Killy, Walther u.a. (Hg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. 13 (15) Bde. Gütersloh / München (Bertelsmann Lexikon Verlag) 19881993. Werklexikon Kindlers neues Literatur Lexikon (KLL), hg. von Walter Jens. 20 Bde. München (Kindler) 1988ff. Sachlexika Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart (Kröner) neueste Auflage. Killy, Walther u.a. (Hg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Begriffe: Bd. 13 u. 14. Gütersloh / München (Bertelsmann Lexikon Verlag) 1992/93. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von Ansgar Nünning. 2. Aufl. Stuttgart (Metzler) 2001. Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, hg. von Nicolas Pethes u. Jens Ruchatz. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt Taschenbuch Verlag) 2001. Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker, Wolfgang Stammler, hg. von Werner Kohlschmidt. Berlin (de Gruyter) 1958ff. 7 Nachschlagewerke Literaturgeschichten Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. von Rolf Grimminger. 12 Bde. München (Hanser) 1980ff. (zugleich als dtv-TB). Deutsche Literatur Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Von Wolfgang Beutin u.a. Stuttgart (Metzler) Neueste Auflage. 8 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen 1.1 Typologie literaturbezogener ritualisierter Handlungen Schlägt man in einer beliebigen Ausgabe einer überregionalen Tageszeitung die Feuilleton- oder Kulturseiten auf, so stößt man mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Nachrichten, Berichte und Kommentare, in denen es um die aktuelle Verleihung eines Literaturpreises, die Lesung eines Autors in der Stadtbücherei, einer Schule oder Buchhandlung, um die Ernennung eines Autors zum Stadtschreiber oder auch um die Gedenkfeier zur Erinnerung an ein lange zurückliegendes Ereignis wie die Bücherverbrennung im Mai 1933 geht. Gemeinsam ist diesen Meldungen, daß sie sich auf literarische Texte, Autoren und kulturelle Ereignisse beziehen, die Gegenstand öffentlicher Handlungen sind. Gemeinsam ist diesen Ereignissen auch, daß im Mittelpunkt gerade kein Text, sondern eine Person oder Gruppe steht. Dabei agieren Menschen auf Bühnen, stellen sich im Licht der Öffentlichkeit dar, weil ihr Verhältnis zu Büchern gesellschaftlich und kulturell von Bedeutung ist. Literarisch Interessierte kommen zur bestimmten Zeit am bestimmten Ort zusammen, um gemeinsam an der festlichen Auszeichnung eines Autors teilzunehmen, um einen Autor scheinbar ›live‹ als Person hinter seinen Büchern zu erleben oder um im Gedenken an die Bedrohung der literarischen Kultur und Tradition gemeinsam deren Wert und die Verpflichtung für deren Kontinuität zu erfahren und zu demonstrieren. Es handelt sich um Konstellationen, die dadurch definiert sind, daß sie immer wieder in regelmäßigen Zeitabständen aktuell sind, daß sie zumeist nach dem gleichen Muster öffentlich inszeniert, aus- und aufgeführt bzw. vollzogen werden, Gemeinschaftserfahrung ermöglichen und daß die mediale Vermittlung (Ankündigung, Bericht, Kommentar, Archivierung) für ihr Zustandekommen erforderlich ist. Alle diese Veranstaltungen zielen darauf, die Publizität, Reputation, Geltung bzw. den Status eines literarischen Textes, eines Autors oder eines erinnerten kulturellen Ereignisses zu modifizieren, was in der Regel nichts anderes heißt als aufzuwerten und vor dem Vergessen zu bewahren. Das geschieht, indem Geltung bzw. Status von Text, Autor oder Ereignis öffentlich bestätigt werden, damit ihre Deutungsmacht den Prozessen öffentlicher Meinungsbildung erhalten bleibt. Letztlich geht es bei diesen Veranstaltungen um die Konstruktion kulturellen Sinns und die Produktion von Orientierungswissen. Diese und viele andere Situationen, in denen literarische Texte für soziales Handeln konstitutiv sind, werden in diesem Kurs als literaturfundierte oder -bezogene ritualisierte Handlungsabläufe oder -sequenzen bezeichnet. Um diesen thematischen Zusammenhang durch weitere Beispiele zu verdeutlichen, sei daran erinnert, daß besonders seit den Epochen der Renaissance (14.-16. Jh.) und des Barock (17. Jh.) bis in die Gegenwart häufig Widmungs- 1 und Huldigungsge_________________________________________________ 1 Vgl. Arnold Rothe: Wandlungen des Widmungsrituals, in: Wolfenbütteler Forschungen Bd. 34 Formen innerliterarischer Rezeption, hg. von Wilfried Floeck, Dieter Steland, Horst Turk. 9 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen dichte publiziert, Gedichte und kurze Prosatexte anläßlich von Eheschließungen (Hochzeitscarmen) 2 und Trauerfeiern (Leichenpredigt) 3 , Geburten und Taufen veröffentlicht werden, daß Neuerscheinungen in feierlichem Rahmen mit offiziellen Ansprachen und Signierstunde vorgestellt werden, ein Dichtermuseum oder -denkmal festlich eingeweiht und alljährlich dieser Einweihung in einer Erinnerungsfeier gedacht wird und - um die Beispielreihe abzubrechen - Schriftstellergruppen sich zu regelmäßigen Zusammenkünften treffen, die stets nach dem gleichen Schema ablaufen. Als Ritualveranstalter (Finanzierung, administrative Organisation) fungiert in der Regel eine Institution, die bei der Aufführung (Performanz*) durch einen / mehrere Repräsentanten in Erscheinung tritt. Als Akteure werden Personen bezeichnet, die die rituellen Handlungen zumeist auf einer Bühne ausführen; hinzu kommen ›Zuschauer‹ bzw. ›Publikum‹, die als Ritualteilnehmer gemeinsam mit den Akteuren die Ritualgemeinschaft bilden. Zur Minimalausstattung eines literaturfundierten Rituals gehören daher Veranstalter, Akteur, Ort (Raum, Pult, markierter Platz), Zeit (regelmäßige Wiederholung zum angekündigten gleichen Termin), Öffentlichkeit (Teilnehmer, Medien). Literarische Texte geraten nicht isoliert in den Blick, sondern stets in Verbindung mit symbolischen Praktiken. Ausgangs- oder Bezugspunkt sind performative Handlungen. Dieser Kurs behandelt ausschließlich Handlungsabläufe, die die soziokulturelle Bedeutung von Autorschaft, Literatur und kulturellem Ereignis entweder zustimmend, d.h. affirmativ oder kritisch betreffen; wer nach literarischen Ursprüngen dieser Aufführungen sucht, würde sich vergeblich bemühen. Als Auszeichnungshandlung eines Autors ist z.B. eine Literaturpreisverleihung aus sich heraus verständlich, zugleich verweist sie aber durch die Art ihres inszenierten Vollzugs auf neue Sinnbezüge, seien es solche der diachronen (Tradition, vergleichbare historische Handlungen) oder der synchronen (Gegenwart, gleichzeitige Aufführungen anderer Preisverleihungen) Koordinate. Wenn die Dotation ei- Wolfenbüttel 1987, 7-20. 2 Z.B. Johann Gottfried Schnabel: Das höchst-erfreute Stolberg [1737]. In: Jahrbuch der Johann- Gottfried-Schnabel-Gesellschaft 1996. St. Ingbert (Röhrig Universitätsverlag) 1996, 67-112. Es handelt sich um ein Hochzeitscarmen sowie um die ausführliche Beschreibung des Ve rlaufs der Hochzeitsfeier eines Grafen zu Stolberg mit Berücksichtigung sämtlicher Progra mmeinlagen. Vgl. dazu die Einführung von Wolfgang Knape im selben Band (55-66): »Mein Ammt ist, aller Welt zu sagen, was sich in Stolberg zugetragen« - Johann Gottfried Schnabel als Hochzeitschronist. 3 Seit Beginn des 17. Jahrhunderts bestehen Leichenpredigten meist aus folgenden Bestandteilen: 1. Dem Titelblatt mit der Widmung bzw. Vorrede des Geistlichen an die Hinterbliebenen sowie die Gemeinde, 2. dem eigentlichen Text der christlichen Leichenpredigt, 3. den Personalien bzw. dem Lebenslauf des Toten, 4. der vom Geistlichen oder meist einem nahestehenden Laien gehaltenen Abdankung (Parentation), d.h. einer Würdigung der Verdienste des Toten und 5. den Epicedien, d.h. den Trauer- und Trostgedichten von Verwandten und Freunden. Außerdem konnten die Leichenpredigten mit Bildern, Wappen und Noten geschmückt sein.« (Lücke 1995, VII) Leichenpredigten gehören zu den Personalschriften, für die es bei der Universität Marburg eine eigene Forschungsstelle gibt: www.uni-marburg.de/fpmr/welcome.html 10 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen nes Literaturpreises nicht einfach auf das Konto des Preisträgers überwiesen, sondern in einer öffentlichen ritualisierten Verleihungsaufführung übergeben wird, dann deshalb, weil die Ritualisierung den technischen Vorgang des Geldtransfers umwandelt zu einem Schenkungsakt, einem aus Kulturgeschichte und Ethnologie bekannten elementaren Vorgang der Interaktion*: geben und nehmen (wobei es sich zumeist um ein wiedergeben) handelt, bindet die Partner dauerhaft aneinander, weil sie durch die Gabe eine sichtbare Beziehung eingegangen sind. Ritualisierung umfaßt also den technischen Vorgang und mehr, sie verändert dessen Qualität, indem sie ihm etwas hinzu fügt: die öffentliche Bestätigung der Statusbzw. Geltungsmodifikation des Autors als Preisträger und die der mäzenatischen Funktion der verleihenden Institution, die sich durch die Verleihung eine Gelegenheit zur Selbstinszenierung verschafft. Durch ihre Einbeziehung in eine ritualisierte Handlung werden Urkunde und Scheck zu Symbolen des Prestige- und Statusgewinns. Eine so vollzogene Schenkung wertet das Ansehen des Beschenkten auf und soll die Beteiligten verpflichten, ihm in Zukunft die entsprechende Anerkennung zu erweisen, was wiederum die Geltung der schenkenden Organisation erhöht. Der Begriff der Ritualisierung wird hier im Sinne eines Handlungsmusters gebraucht, das zur Markierung bzw. Privilegierung eines literaturfundierten sozialen Handlungsvollzugs als kollektiven Sinn stiftender Prozeß bereit steht. Schon an dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, daß ritualisiertes Handeln nicht bedeutet, eine soziale Situation zu deuten; vielmehr markiert und vollzieht es die Geltung einer gegebenen Situation, zur Stiftung kollektiven Sinns privilegiert zu sein. So stehen sich eine Ebene der Ritualisierungen und eine der sozialen Situationen gegenüber. Die Formung dieser Hanslungsstruktur z.B. auch durch den Rückgriff auf historische Elemente kann unabhängig vom literaturgeschichtlichen Geschehen erfolgen. Wenn hier von Handlungsabläufen gesprochen wird, so bedeutet das zunächst, daß literarische Texte nicht als isoliert, abgeschlossen und autonom gelten, sondern daß sie soziale Handlungen auslösen, bestimmen oder als Gegenstand und Teil von Handlungen verwendet werden. Auch werden sie innerhalb eines gesellschaftlichen und kulturellen Handlungskontexts erwartet. Weiterhin verweist der Begriff Handlungsablauf oder –sequenz darauf, daß ein Wirkungszusammenhang, ein Kontinuum gemeint ist, das sich von einem Anfang als Ursache über mehrere Stationen oder Sequenzen zu einem Abschluß als Wirkung erstreckt. Weil diese Handlungsstruktur sowohl dem Aufbau einer Erzählung (Handlungsbogen von einem Ausgangsereignis zu einem bestimmten Abschluß) als auch dem eines Dramas (Handlung durch mehrere Akteure bestimmt) gleicht, wird sie narrativ-dramatisch genannt. Literarische Texte oder Kulturereignisse (cultural performances) können soziale Handlungsabläufe mit narrativ-dramatischer Struktur auslösen (z.B. Literaturpreisverleihungen, Dichtergedenkfeiern), sie können aber auch nur eine Sequenz eines solchen Ablaufs ausfüllen (Gelegenheitslyrik zu Hochzeiten, Geburten usw.). So wie literarische Texte Abschnitte umfassen, die von einer Haupthandlung ablenken, sie zumindest nicht weiterführen, um Spannung und Aufmerksamkeit der Leser zu erhöhen, kann auch eine Ritualhandlung Digressionen* (z.B. sehr 11 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen ausführliche biographische oder genealogische Berichte) enthalten. Allerdings ist es im allgemeinen schwer zu entscheiden, was bei einer Ritualhandlung unverzichtbar (obligatorisch) und was bloße Zugabe (fakultativ) ist. Neben dem Literaturbezug haben die erwähnten Handlungsabläufe eine ritualisierte Struktur. Der Begriff Ritual ist aus dem lateinischen Wort ›rituale‹ gebildet worden, das seinerseits von›ritus‹ stammt; übersetzt bedeutet ›ritus‹ »festgeschriebene Form, Gebrauch, Sitte« (Dücker Ritual 2001b, 502) häufig mit religiösem Bezug. In allgemeinen Nachschlagewerken wird Ritual erläutert als »in immer gleicher Form ablaufendes, an bestimmte Anlässe gebundenes Verhalten« (Brockhaus Wahrig 1983, 401), als »wiederholtes, immer gleichbleibendes, regelmäßiges Vorgehen nach einer festgelegten Ordnung: Zeremoniell« (Duden 1994, 2794), andere Lexika unterscheiden eine allgemeine Bedeutung (»gleic hbleibendes, regelmäßiges Vorgehen nach einer festgelegten Ordnung, Zeremoniell«), eine psychologische (»stereotypes, starres Verhalten, eine feste Abfolge von Handlungsschritten, die meist an bestimmte Anlässe gebunden sind«) und eine religiöse (»kultischer Handlungsablauf – Worte, Gesten, Handlungen – der mit religiöser Zielsetzung – Umgang mit dem Numinosen – in seinen Bestandteilen genau festgelegten Regeln folgt«, Brockhaus Enzyklopädie 1992, 450). Ritual bezeichnet demnach die immer erneute Wiederholung eines gleichen Handlungsablaufs; so haben Eheschließungen, Herrscher- oder Politikertreffen4 , Literaturpreisverleihungen in der Regel eine gleiche Verlaufsstruktur, oder - mit einem religiösen Begriff – die Liturgie ihrer Aufführung ist vorgegeben (obligatorisch), in der Ausführung (Aufwand, Zahl der Teilnehmer, Ort, Höhe des Preisgeldes usw., fakultative Elemente) können sie sich allerdings unterscheiden. Aufgabe: Schlagen Sie in allgemeinen Konversationslexika und Enzyklopädien die Lemmata Ritual und Ritus auf. Schreiben Sie die Definitionen heraus, ve rmerken Sie Fehlanzeigen und vergleichen Sie die Einträge hinsichtlich ihrer wortgeschichtlichen Erläuterungen, fachspezifischen Differenzierung, ihrer Präzision der Definition und der Herkunftsbereiche ihrer Beispiele. Zur dauernden Wiederholung eines Handlungsablaufs gehört die Erinnerung an dessen Anfang. Konstitutiv für viele Kulturen ist die Vorstellung, Anfang und Ursprung als ideale Ausprägungen dessen zu betrachten, woran man sich in der _________________________________________________ 4 Zum Ritual des offiziellen Staatsbesuchs gehören z.B. Straßensperrungen, rote Teppiche, Natio- nalhymnen und -flaggen, militärische Ehrengarde, Begrüßungen, musikalische Einlagen, Reden, Abschreiten einer Ehrenformation, militärische Ehrenbezeugung, Kulturprogramm, Kleiderordnung, Extrafahrt durch das Spalier der Bevölkerung, politische Gespräche, Pressekonferenz, Interviews, Berichterstattung in Funk, Fernsehen und Presse, Quartier in abgeschirmtem Gästehaus, Ergebnismitteilung (Verträge, allgemeine zwischenstaatliche Klimaverbesserung). Vgl. auch Thomas Mergel: Einmarsch der Matadore. Symbole und Rituale: Die neue Politikgeschichte macht sich ethnologische Perspektiven zueigen. In: FR Nr. 55, 06.03.01. Mergel weist auf die Erscheinung der Politiker (»Körperlichkeit, Sprache, Assoziationen, die sie wecken«) als Spiegelbild der Gesellschaft hin. So seien korpulente Politiker ein Hinweis auf gesellschaftliche Zufriedenheit. 12 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen eigenen Gegenwart orientiert, so wie es am Anfang war, soll es wieder werden. 5 Die Normen des Ursprungs, deren Erfüllung man historischen Epochen zuschreibt, sollen auch die eigene Alltagsnormalität wieder bestimmen. Daher kennen wohl alle Kulturen, aber auch Gesellschaften, Organisationen und Vereine ritualisierte Abläufe von Fest- und Feiertagen, die dazu dienen, die eigene Tradition und Herkunftsgeschichte als verbindlich zu bestätigen. Alles, was - z.B. während einer ritualiserten Gedenkveranstaltung - diesem Ziel dient, stärkt die Ritua lgemeinschaft; da gerade die Gemeinschaftserfahrung Ziel eines Rituals ist, gehört dessen Selbstbezüglichkeit oder Autoreferentialität zu seinen Konstitutionselementen. Die durch Tradition und Konvention festgelegten ritualisierten Handlungsschemata, die die Angehörigen einer bestimmten Kultur für viele Situationen erlernen, erleichtert ihnen ihr Verhalten, zugleich können die vorgegebenen Abläufe aber auch als Hindernis für Neuerungen und Dynamik erscheinen. Gerade mit Blick auf die Literatur könnte eingewendet werden, daß Eige nschaften wie Kreativität, Innovation und Originalität, die einem literarischen Text spätestens seit der Genieperiode* im 18. Jahrhundert als Qualitätskriterien zugeschrieben bzw. von ihm erwartet werden, mit standardisierten überindividuellen Strukturen normierter Präsentationssituationen nicht vereinbar sein können. Darauf ist zu erwidern, daß das Szenario nicht die literarischen Texte betrifft, sondern deren Geltung bzw. die des Autors als Verfasser literarischer Texte; seine Auszeichnung oder »Konsekration«* (Bourdieu 2001) durch das Verleihungsritual bedeutet, daß seine Texte dadurch bessere Chancen haben, als Orientierung für soziales Handeln und im Kampf um die Deutungsmacht öffentlicher Begriffe verwendet zu werden. Durch ein Ritual kann die Beziehung zum Transzendenten, Göttlichen oder auch zu einem anderen höchsten Wert hergestellt werden; die Ritualveranstalter wollen auf eine gegebene Situation verändernd einwirken. So soll die Geltung eines Autors durch einen Literaturpreis erhöht, 6 die Erinnerung und Gegenwärtigkeit eines Dichters durch regelmäßige Gedenkfeiern erhalten bzw. intensiviert werden usw. Ritualisierte Handlungsabläufe umfassen sprachliche (Reden, Gebete, Ansprachen usw.) und nichtsprachliche Komponenten (Zeigen von Symbolen, Körperkommunikation wie Gestik, Mimik, Bewegungsabläufe usw.). Die Beispiele haben deutlich gemacht, daß literaturfundierte ritualisierte Handlungsabläufe in aller Regel nicht spontan durchgeführt werden können, sondern vorbereitet und inszeniert werden müssen. Es sind Situationen, die für die Beteiligten den Charakter des Besonderen, Nichtalltäglichen, häufig wohl auch Festlich-Feierlichen haben können, die aber ebenso als ungezwungene Gesellig_________________________________________________ 5 In Schöpfungs- und Kulturentstehungsmythen repräsentiert der Ursprung »die Vorstellung von Reinheit, Einheit, Möglichkeitsfülle und Konfliktlosigkeit der eigenkulturellen Normativität und erhält deshalb Orientierungsfunktion für die Gegenwart.« (Dücker Ursprung 2001b, 614) 6 So ist der ›aspekte‹-Literaturpreis ausdrücklich auf die Kanonisierung der ausgezeichneten Auto- ren angelegt. Es wird erwartet, daß die Autoren, »die zwischen 1979 und 1988 mit dem ›aspekte‹-Literaturpreis ausgezeichnet wurden, um die Wende des Jahrtausends zu den allgemein anerkannten Repräsentanten der deutschen Gegenwartsliteratur zählen werden.« (›aspekte‹-Literaturpreis 1988, 4) 13 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen keit inszeniert sein können. 7 Je nach den soziokulturellen Voraussetzungen der beteiligten Personen und Institutionen kann die Gestaltung der ritualisierten Handlung unterschiedlich ausfallen. Für das Ensemble eines literaturfundierten ritualisierten Handlungsablaufs wird in diesem Kurs der Begriff Szenario verwendet. Um dessen Anfang und Ende zu bestimmen, wird von einem konstruktiven Kontextbegriff ausgegangen; weil Kontext nichts Natürliches bezeichnet, das man unmittelbar wahrnehmen kann, sind für jeden Einzelfall eines Szenarios die Grenzen seines Kontexts zu definieren, Kontext ist also Ergebnis eines Deutungsvorgangs. 8 Von Szenarios ist grundsätzlich die Gestaltung von Ritualen in literarischen Texten zu unterscheiden. Im ersten Fall geht es um reale historische, soziale und kulturelle ritualisierte Handlungssequenzen, um die Beteiligung realer Personen wie Autoren, Leser, Politiker, Repräsentanten literarischer Gesellschaften usw., im zweiten um Rituale als Motive und Gegenstände einer erfundenen, fiktionalen Welt. Für Autoren, deren Bücher dem Szenario der Bücherverbrennung der Nationalsozialisten zum Opfer fallen, verändert sich dadurch die konkrete Lebenssituation; wenn Hermann Broch in seinem 1935 konzipierten Roman Die Verzauberung (veröffentlicht erst postum 1953) an mehreren Beispielen das Motiv des mythisch-religiösen Rituals ausführlich gestaltet, löst das keine Veränderung der bestehenden Wirklichkeitsstruktur aus. Allerdings könnten die Leser durch die verdichtet dargestellte politisch-manipulative Strategie des Romanhelden Ratti aufmerksam werden auf Phänomene ihrer realen politisch-gesellschaftlichen Lebenswelt. In der gesamten europäischen Überlieferung sind seit der griechischen Antike literaturfundierte ritualisierte Handlungsabläufe nachweisbar, die auf zwei Grundformen basieren, deren Struktur im Laufe der Geschichte kaum verändert wurde, für die sich allerdings zahlreiche Handlungstypen ausdifferenziert haben. Es handelt sich um das Grundmuster Dichterkrönung (poeta laureatus), zu dem alle diejenigen Szenarios gehören, die der Verehrung, Ehrung, Kritik und Verurteilung einzelner Autoren gewidmet sind; das zweite Grundmuster bildet das Symposion, zu dem alle Formen literaturbezogener und -fundierter Gruppenbildung gehören. In der Regel bestehen Ausprägungen beider Grundmuster nebeneinander im gleichen soziokulturellen und historischen Kontext. Forschungstheoretisch und – praktisch ist nicht von einem einzelnen Ritual auszugehen, sondern von einem je gruppen- bzw. kollektiv- oder kulturspezifischen Ritualsystem. So verdichten sich in den verschiedenen Literaturpreisverleihungen jeweils unterschiedliche Kultur_________________________________________________ 7 Wolfgang Braungart (1992, 4), der mehrere Veröffentlichungen zum Thema Ritual und Literatur vorgelegt hat, definiert Ritual durch fünf Elemente: »a) durch die Wiederholung einer Handlung; b) durch Festlichkeit und Feierlichkeit; c) durch Selbstbezüglichkeit; d) durch Akteure und Zuschauer, die sich der Bedeutsamkeit des Rituals bewußt sind; e) durch eine ästhetischsymbolische Ausgestaltung, die das Ritual heraushebt und unterscheidet.« 8 »The difficulties of specifying precisely what constitutes the relevant context and of marking the context’s boudary, arise from the fact that the specification of the context is itself the result of interpretation. In this sense, meaning is as much context-dependent as context is meaningdependent.« (50) Ladislav Holy: Contextualisation and Paradigm Shifts. In: Roy Dilley (Hg.): The problem of context. New York (Berghahn Books) 1999, 47-60. 14 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen 15 den verschiedenen Literaturpreisverleihungen jeweils unterschiedliche Kultursegmente, weil die Preise nach unterschiedlichen Wertvorstellungen gestiftet und vergeben werden. Will man z.B. typische Merkmale eines bestimmten historischen Zeitabschnitts benennen, um einen stimmigen und plausiblen Begriff der Epoche zu entwickeln, so müßte systematisch und methodisch auch die Vielheit der Szenarios und Kulturereignisse sowie die Frequenz ihrer Aufführungen berücksichtigt werden. Von den beiden literaturbezogenen ritualisierten Grundfo rmen Dichterkrönung und Symposion ist als dritte Gruppe die der biographischzivilgesellschaftlichen Rituale zu unterscheiden. Hinzu kommen historischgesellschaftliche Rituale wie z.B. das Duell, 9 die Grundsteinlegung und der erste Spatenstich, das Richtfest, akademische Rituale. 10 Dichterkrönung Symposion biographische Rituale Preisverleihung Schriftsteller-/Dichtergruppe /-kreis Geburt / Taufe Lesung mit Diskussion literarische Gesellschaft Hochzeit/Eheschließung / Scheidung Poetikdozentur literarischer Salon Prüfungen / Examina Interview Akademie Vereidigungen / Gelöbnis Bücherverbrennung Bücherverbrennung Initiation / Investitur / Jubiläen Stadtschreiber Jour fixe Trauerfeier / Beerdigung / Sterberitual Signierstunde Dichterfeier Heilung Besuch beim Dichter (peregrinatio poetica) Begegnung Schriftsteller – Politiker Neuerscheinung Aufgabe: Prüfen Sie mindestens eine Woche lang die Feuilleton- und Kulturseiten einer überregionalen Tageszeitung: Berücksichtigen Sie alle Meldungen, die sich auf literaturfundierte ritualisierte Handlungssequenzen beziehen (s. o. Tabelle). Notieren Sie, was Sie aus diesen Meldungen über die konkreten Abläufe, die Geschichte, Zielsetzungen der Literaturpreisstiftungen usw. und die Intervalle der Wiederholungsaufführungen erfahren. Ergänzen Sie diese Informationen durch entsprechende Klicks bei den Stichworten im Internet! _________________________________________________ 9 Zum Krieg als Ritual vgl. Barbara Ehrenreich: Blutrituale. Ursprung und Geschichte der Lust am Krieg. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1999. (Orig.: Blood Rites. Origins and History of the Passions of War. 1997) 10 Vgl. Falk Bretschneider / Peer Pasternack: Rituale der Akademiker. In: hochschule ost H. 3-4 / 99, 9-46. 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen 1.2 Szenario Geht man von Szenarios als literaturwissenschaftlichem Forschungsgegenstand aus, so hat dies für konkrete Untersuchungen eine Reihe von Konsequenzen, die in den folgenden Kapiteln dargestellt werden. Wissenschaftliche Aufmerksamkeit kann – salopp formuliert - mit der Zeitungslektüre am Frühstückstisch beginnen; wenn die Wissenschaft ihre Gegenstände im Feuilleton finden kann, so folgt daraus die systematische Berücksichtigung der Massenmedien als Materialquelle. Dies mag zugleich auf offene Grenzen zwischen literarischen Ereignissen und dem politisch-gesellschaftlichen Bereich hinweisen. Es leuchtet ein, daß in jedem Szenario nur jeweils bestimmte Handlungen und Erfahrungen mit Literatur und kulturellen Ereignissen möglich sind. Wer an einer Literaturpreisverleihung teilnimmt, erwartet zumeist die feierliche Auszeichnung eines Autors, deren Ablauf unabhängig vom Preis in der Regel stets das gleiche Schema aufweist: Begrüßungsrede, Laudatio* (Lobrede) auf den Autor mit der Begründung, warum gerade dieser Autor den Preis erhalten hat, Überreichung des Preises als Urkunde oder Medaille mit einem Scheck, Dankrede des Autors, vielleicht eine musikalische Umrahmung und als Abschluß ein zwangloser Stehempfang, bei dem die Möglichkeit zum Gespräch mit dem Autor besteht. Kein Teilnehmer rechnet mit Streitgesprächen z.B. über literarische Richtungen, mit offenen Konflikten zwischen den Beteiligten z.B. über die politische Funktion der Literatur oder mit der öffentlichen Ankündigung des vorgesehenen Preisträgers, den Preis nicht anzunehmen. Wer dagegen an einer Autorenlesung mit anschließender Diskussion zw ischen Autor, Spezialisten und anderen Gästen teilnimmt, wird nicht überrascht sein, wenn kontroverse Positionen formuliert werden und ein annähernder Konsens nur durch eine harmonisierende Zusammenfassung des Moderators gefunden wird. Dieser Teilnehmer wäre wahrscheinlich enttäuscht, würde er nur übereinstimmende Statements und Konsensformeln hören. Hätte er doch in diesem Fall nur eine sehr einseitige, perspektivenarme Präsentation des Autors erfahren. Szenario bezeichnet also einen be- und umgrenzten sozialen Handlungsraum, wobei Vorbereitung, Vollzug oder Aufführung und Wirkung stets zum Kontext gehören. So sind Konflikt, Konkurrenz und Kontroverse einer Preisverleihung in die vorbereitende Auswahlarbeit der Jury verlagert, wovon in der Regel nichts in die Öffentlichkeit dringt. Die Jury hat die Kandidaten gleichsam einer Prüfung unterzogen und entschieden, wer am besten der Intention der Preisstiftung entspricht. Daher verdichten sich im Szenario bestimmte kulturelle Wert- und Normativitätsbestände einer Gemeinschaft, Gesellschaft, eines Kollektivs usw., die in regelmäßig wiederholten Handlungsabläufen (Preisverleihung in jährlichem, zweijährigem usw. Rhythmus) zwischen den Beteiligten bestätigt werden. Ein ritualisiertes Handlungsszenario ist deshalb auch ein Beziehungssystem, das z.B. Differenz und Konsens, Ferne und Nähe, Fremdes und Eigenes definiert. So stellt etwa eine literarische Gesellschaft, die einen Literaturpreis vergibt, durch das Verleihungsritual eine Konsensbeziehung mit dem Preisträger her, der nach der ritualisierten Verleihung, nach Statusänderung und Geltungszuwachs durch die Auszeichnung gleichsam die den Preis verleihende Institution und deren nor- 16 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen mative Zielsetzung repräsentiert. In der Regel bestätigt der Preisträger diese Konsensbeziehung durch seine Dankrede grundsätzlich, wobei er aber zumeist nicht versäumt, um nicht allzu sehr von der Institution vereinnahmt oder instrumentalisiert zu werden, sich durch mehr oder weniger deutliche Differenzmarkierungen davon abzusetzen und auf eine Position zu orientieren, die außerhalb des instit utionellen Szenarios liegt. Denn als öffentliche Repräsentationsfigur wird er auch in anderen »Feldern« als dem »literarischen« wahrgenommen, vor allem im soziokulturellen und »politischen« (Pierre Bourdieu) 11 , was sich z.B. in Interviews mit Literaturpreisträgern zu allgemeinen öffentlichen Themen zeigt. Szenarios markieren Schnittstellen bzw. Übergänge zwischen unterschiedlichen Erfahrungsbereichen. Daher sind mit dem Szenario als Untersuchungsgegenstand neben literarischen Texten / Textsorten auch nichtliterarische Texte / Textsorten systematisch zu berücksichtigen. Weiterhin ist demnach für das Szenario der Literaturpreisverleihung ein System von normierten Konsensbeziehungen zwischen der Organisation und sämtlichen Preisträgern zu erwarten, weil diese alle der gleichen Norm der Preisstiftung entsprechen (vgl. Kap. 1.5). Hinzu kommt ein Feld von unterschiedlichen Differenzkonstruktionen der Preisträger in bezug auf die Organisation, so daß jede Wiederholung des Verleihungsrituals sowohl die Gemeinschaftserfahrung der Organisation selbst stabilisiert, weil diese eine Gelegenheit zur öffentlichen Selbstdarstellung erhält, als auch zugleich ein singuläres historisches Ereignis darstellt. Begrenzung bzw. Restriktion der Struktur des jeweiligen Handlungsszenarios und die Dynamik und Weite seiner Wirkung machen gemeinsam das Besondere der Szenarios aus. Zwar läuft z.B. jede Verleihung eines bestimmten Preises in der Regel nach dem gleichen Muster ab, die Wirkungen durch Laudatio und Dankrede z.B. auf den politischen Bereich können allerdings sehr unterschiedlich sein. Weil die Grenzüberschreitung zum politischen oder einem anderen gesell_________________________________________________ 11 Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (19-2002) entwickelt eine Theorie vom sozialen Raum, der sich in unterschiedliche gesellschaftliche Felder (Politik, Ökonomie, Kultur, Literatur) aufspaltet. Diese konkurrieren aufgrund ihrer spezifischen Möglichkeiten um Gestaltung und begriffliche Besetzung des sozialen Raums. Bourdieu teilt ihnen Kapitalformen zu, neben ökonomischem Kapital symbolisches, politisches, kulturelles. Wie im herkömmlichen Kapitalsystem entscheidet der Besitz an feldspezifischem Kapital und dessen Tauschwert über die Chancen, im Konkurrenzkampf gehört zu werden und mitbestimmen zu können. Das zum literarischen Feld gehörende symbolische Kapital besteht z.B. aus dem Image, Ruf, Prestige eines Autors, den ihm zur Verfügung stehenden öffentlichen Foren wie Presse, Funk, Fernsehen, Veröffentlichungsmöglichkeiten in Verlagen mit hoher Reputation, der Frequenz seiner Auftritte, Lesereisen, der Geltung, Akzeptanz und Beachtung seiner öffentlichen Äußerungen (Reaktion? von wem?), der Qualität und dem Rang seiner Gesprächspartner wie der seiner Auszeichnungen (Preise, Stadtschreiber, Poetikdozentur usw.). Jeder Literaturpreis bedeutet eine »Konsekration«, d.h. einen Akt der Verklärung, Weihe, Apotheose und erhöht das symbolische Kapital des Autors, in der Regel auch das ökonomische, verschafft Zugang zu weiteren Konsekrationen. Die Organisation, die die Konsekration vollzieht, das symbolische Kapital vergibt, erhält als Gegengabe die Anwesenheit des Autors und die vorübergehende Medienpräsenz. Weil auch die Organisation vom Rang des konsekrierten Autors profitiert, kann hier in Erweiterung Bourdieus von einer reziproken Konsekration gesprochen werden. So sind Rituale zugleich Machtäußerungen und –verteilungen. 17 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen schaftlichen Handlungsfeld zur literaturbezogenen Ritualhandlung gehört, sind aus der Beobachtung, Beschreibung und Analyse von Szenarios Erkenntnisse über die soziokulturelle Situation einer Gesellschaft zu gewinnen. Diese synekdochische* Bedeutung des Szenarios, das als partikulares Phänomen gesamtgesellschaftliche Strukturen zu erkennen gibt, ermöglicht und erfordert zugleich die Aufmerksamkeit der Medien. Diese lösen Homogenität und Verdichtung12 z.B. durch Informationen über die Stiftung und Geschichte eines Preises, die Hintergründe der Auswahl des Preisträgers oder durch Kommentare dazu wieder auf, sie erweitern den öffentlichen Wahrnehmungshorizont. Da die deskriptiven und interpretativen Medienberichte über ein literaturbezogenes Szenario vor allem von den Beteiligten selbst bzw. von Interessenten zur Kenntnis genommen und archiviert werden, die nicht teilnehmen konnten, unterstützen diese Berichte den Zusammenhalt bzw. die Kohäsion der Gruppe, so daß auch von einer gruppenkonstitutiven Funktion dieser Berichte gesprochen werden kann. Stammt der Bericht in einer Lokal- oder Regionalzeitung von einem Gruppenmitglied, so kommt ihm sogar tendenziell eine selbstbezügliche Funktion zu. Weiterhin unterstützen die Medienberichte wie auch alle anderen Texte, die zu einer bestimmten Aufführung des Szenarios geschrieben werden, deren Geschichtlichkeit, indem sie die konstitutiven Elemente und beteiligten Personen verzeichnen. W. E. Mühlmann (1973, 66) hat den Begriff der »Konselektion des Belanglosen« gebildet und versteht darunter, daß literarische Meisterwerke die weniger bedeutenden Texte ihres Autors vor dem Vergessenwerden bewahren. In bezug auf Szenarios kann von der Konselektion aller Beteiligten, Faktoren und Gegenstände gesprochen werden, auch wenn sie in anderen Kontexten fast ve rgessen sind. So wird die Schriftstellerin Ilse Schneider-Lengyel stets im Zusammenhang mit der Gründungstagung der Gruppe 47 erwähnt, weil sie ihr Haus als Tagungsort zur Verfügung stellte. Während ihr Name und ihre Werke literaturgeschichtlich kaum präsent sind, hat sie einen festen Platz in der Ritualgeschichte der Gruppe 47. Ähnlich ist Robert Neumann (vgl. Lettau 1967, 412ff.) als ›Gegner‹ der Gruppe 47 von der Geschichte ihrer ritualisierten Tagungen konselektiert. Dies verweist auf die Möglichkeit einer von der traditionellen Literaturgeschichte unterschiedenen Ritualgeschichte literaturbezogener Handlungen. _________________________________________________ 12 Graevenitz (1999, bes. 49ff) analysiert am Beispiel der ›Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft‹ Verdichtung im Zusammenhang verschiedener Theorie- und Kulturkon zeptionen des 19. Jahrhunderts. »›Verdichtung‹ ist eine Theorie des kulturellen Gedächtnisses in der modernen Alltagskommunikation und der modernen Lebenswelt.« (Graevenitz 1999, 54) Verdichtete Situationen erinnern nur die Elemente einer Tradition, die für die dynamische Lösung je aktueller Probleme funktional sind, anderes wird ausgelassen, daher gilt Verdichtung als Beitrag zur Modernisierung. 18 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen 1.3 Gründungsmythen der Literatur Geltungsanspruch und –zuschreibung der Literatur als Institution der Weltdeutung, wie sie in ritualisierten Handlungssituationen zum Ausdruck kommen, ergeben sich aus ihren Gründungsmythen. Literatur scheint aus Vergegenwärtigungen kultisch-ritueller Begegnungen mit dem Numinosen oder Göttlichen, der Trennung von Transzendenz und Diesseits, des Verlusts vorkultureller Einheit als säkulares Erinnerungsmedium entstanden zu sein. Diese Verlusterfahrungen werden immer wieder neu gestaltet, um so die Erinnerung an das Erklärungsmuster der Kulturentstehung aus einer Urkatastrophe aktuell zu halten und womöglich den verlorenen ›idealen‹ Ursprung als Einheit aus Diesseits und Jenseits, Mensch und Gott, Vielheit und Einheit (Babel-Projekt) wiederherzustellen. Daß es sich bei den im Mythos* erzählten Ursprungskonstruktionen um jeweils historische Projektionen zu seiner Wiederherstellung handelt, folgt schon daraus, daß über die Kulturentstehung keine Zeugnisse vorliegen können. Zentral für den Zusammenhang von Ritual und Literatur ist die Einsicht, daß Anfang stets Reproduktion, Wiederholung, Wiedererinnerung (vgl. Balke 2001) meint, daß diese intellektuellen Vorgänge selbst also der Anfang sind, d.h. die Aufführung einer ritualisierten Handlung, die eine Erinnerung an einen Anfang erzählt, ist ein singuläres Ereignis einer historischen Gegenwart. 13 Wenn also der ›eigentliche‹ Ursprung nicht wahrnehmbar ist, wenn alle Erinnerungen nur Annäherungen und Konstruktionen eines bestimmten Vorgangs sind, dann weisen ritualisierte Handlungen, die sich um den Anfang bemühen, stets über sich hinaus auf das, was sie ›nur‹ symbolisch gestalten können, d.h. sie stehen unter dem Vorbehalt des ›als ob‹. Zugleich laufen ritualisierte Handlungen in der historischen Zeit ab, füllen die Gegenwart der Beteiligten aus und haben Auswirkungen, die nicht zu revidieren sind. Autoren, deren Bücher bei der nationalsozialistischen Bücherverbrennung 1933 verbrannt worden sind, befinden sich daraufhin selbst in höchster Gefahr. Dennoch handelt es sich bei den ritualisierten Bücherverbrennungen in verschiedenen Städten um symbolische Handlungen, die auf einen im Sinne der Nationa lsozialisten ›idealen‹ Zustand verweisen, den sie nicht erreichen können (die Vernichtung »undeutschen Geistes« durch Vernichtung aller Exemplare der verbrannten Bücher). Weil die ritualisierten Handlungen stets nur symbolisch einen höchsten Wert bzw. das Wünschenswerte vergegenwärtigen können, folgt daraus die Notwendigkeit regelmäßiger Wiederholung. Die ritualisierte Handlung schließt den Appell zur Kontinuität ein. Nach dem Ritual ist vor den Ritualen. Zu berücksichtigen ist die zeitliche Ambivalenz ritualisierter Handlungen: Sie laufen in der historischen Zeit ab, indem sie etwas repräsentieren, das sie nicht sind und _________________________________________________ 13 »Wenn Erinnern immer auch einhergeht mit Neu-Einschreiben, dann muß die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß bei diesem erneuten Konsolidierungsprozeß auch der Kontext, in dem das Erinnern stattfand, mitgeschrieben und der ursprünglichen Erinnerung beigefügt wird. Es ist dann nicht auszuschließen, daß die alte Erinnerung dabei in neue Zusammenhänge eingebettet und damit aktiv verändert wird.« (Singer FAZ 28.09.2000) 19 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen das einer anderen Zeit angehört. Als Vermittlungsinstanz markieren Szenarios Schnittstellen unterschiedlicher Erfahrungsbereiche und -formen. Für Burkert (Kap. 1.7.) ist der Augenblick der Begegnung mit dem Göttlichen durch den »Opferschrei« als Ausdruck des Erschreckens markiert, für Mowinckel erwachsen griechisches Drama und mittelalterliches christliches Mysterienspiel direkt aus dem jeweiligen Kultus, den er definiert als die sichtbaren, von der Gesellschaft aus festgesetzten und geordneten Formen, durch die das religiöse (›fromme‹) Erleben und die Gemeinschaft zwischen ›Gottheit‹ und ›Gemeinde‹ - der Umgang mit dem Göttlichen und seine Verehrung – stattfinden, d.h. ihren Anfang nehmen, zum Ausdruck kommen und ihr Ziel erreichen. Und wir können auch gleich hinzufügen: Er umfaßt alle die wahrnehmbaren, zu bestimmten Zeiten und möglichst an bestimmten Orten wiederholten und von einer heiligen Tradition gefestigten heiligen Handlungen, die in Riten und Worten im Auftrage der Gemeinschaft und von deren dazu berufenen und ausgerüsteten Stellvertretern ausgeführt werden. Ihre Absicht ist es, auf diese Weise in Verbindung mit den heiligen Mächten zu kommen und damit die Lebenswerte zu schaffen, zu stärken und zu erneuern, von denen das Leben und Gedeihen der Gemeinschaft abhängt. Im Kultus kommt dann auch zum Ausdruck, daß diese Ve rbindung erreicht ist und wirkt. (Mowinckel 1953, 13) Auch Bierl (2001, 11) kommt in seiner Untersuchung des Chors in der antiken Komödie zu dem Befund: »Soweit in dem unlösbaren Streit um den Ursprung des Dramas überhaupt Einigkeit erzielt werden kann, steht doch allgemein so viel fest, daß sich sowohl die Tragödie als auch die Komödie aus chorischen, meist kultischen Begehungen entwickelt haben. Schon allein aus diesem Grund ist der Chor das zentrale Element im Gesamtkunstwerk des antiken Dramas.« Theorien der Ausdifferenzierung eines literarischen aus dem religiös-kultischen Bereich gehen von der Gemeinsamkeit von Kultus und literarischen Chor- und Tanzgestaltungen hinsichtlich einer Befriedigung ästhetisch-kultureller Bedürfnisse 14 und der rituellen Ausprägung der Aufführung aus. _________________________________________________ 14 »Der Chor ist im antiken Drama weitgehend Ritual. Komische wie auch satyrhafte Chortanzlie- der stehen einem Ritual sehr viel näher als tragische. [...] Wir kehren also zu einer [...] Theorie zurück, daß der Ursprung des Dramas im Ritual liege.« (Bierl 2001, 21f.) Bierl (2001, 34) sieht den Chor in Verbindung mit einem Initiationsritual athenischer Jugendlicher (Epheben). Ebenso stellt Schulze in ihrem wichtigen Aufsatz über ›Formen der Repraesentatio im Geis tlichen Spiel‹ fest: »Die Geburt des geistlichen Spiels aus der christlichen Liturgie ist wie die Geburt der antiken Tragödie aus dem Dionysoskult heute unbestritten. [...] Am Anfang der Entwicklung [...] steht die liturgische Feier, speziell die Osterfeier. Sie gestaltet die Erinnerung an das Ostergeschehen mit liturgischen Mitteln und besitzt rituellen Charakter, denn sie ist in den Gottesdienst der Ostermatutin eingebunden und damit Teil der Interaktion von Geistlichen und Gläubigen. In Worten, Gebärden und Handlungen werden Gott und sein Heilswirken in feierlichem Vollzug vergegenwärtigt mit dem Ziel der Anbetung, der Gemeinschaftsvergewisserung und der Ausstrahlung auf die Lebenspraxis. Die Geistlichen stehen für die heiligen Figuren und vermitteln ein Stück Heilsgeschichte in die Gegenwart. Dieser Vorgang läßt sich [...] als repraesentatio begreifen.« (Schulze 1999, 312) Zu Friedrich Schlegels »Herleitung der griechischen Bühne« aus dem »Fest-Chor« vgl. Pross 2001, 91ff., bes. 100. Vgl. Krummen (1998, 299 u. 325): »Die rituellen Handlungen sind – so meine These – wie ein Bild, sozusagen als ein Zeichensystem zu verstehen. Sie sind Teil einer ausgearbeiteten religiösen und rituellen Bildersprache der Tragödie, die ihr eine Art sakrale Kraft verleiht. Für die Interpretation bedeutet dies, daß sie stets in der ihnen eigenen Aussage sowie im Gesamtzusammenhang des Stücks zu verstehen sind. [...] Doch während das Ritual im re- 20 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen 21 Rituale können nicht in einem ästhetischen oder formalen Vakuum bestehen. Sie verlangen nach einem sozialen Kontext. Die grossen Zeremonien unserer Kultur werden nicht von uns erfunden, sondern sie sind schon als Teile eines Ganzen da. Obwohl Ritual und Kunst die gleiche symbolische Natur haben, vermitteln Rituale allein das Gefühl der Befriedigung, das durch eine gesteigerte Erfahrung von Gemeinschaft entsteht, eine Erfahrung, die die raison d’être des Rituals ausmacht. (Hardin in Belliger / Krieger 340) Auch eine literatur- und kulturgeschichtliche Tradition hält die Entstehung der Literatur aus Kultformen aktuell. Hier ist die Tradition der Geistlichen Spiele mit ihren Ausformungen der Passions- und Mysterienspiele zu nennen wie auch ihre Inversionsformen der Fastnachtsspiele als Ausdruck der verkehrten Welt. Martin Opitz beginnt das zweite Kapitel seines Buch[es] von der Deutschen Poeterey (1624): »Die Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie /vnd vnterricht von Göttlichen sachen». Die neuere Diskussion bezieht besondere Anregungen aus Friedrich Nietzsches Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1872). So gilt Literatur als Institution, die dazu legitimiert ist, das Wissen von den erinnerungswürdigen ersten Dingen in immer neuen Gestaltungsvariationen als Entwürfe der letzten Dinge bzw. der Wege dorthin vorzustellen. 15 Sie vermittelt zwischen dem, was ist und dem, was wieder so sein soll, wie es am Anfang scheinbar gewesen ist. Daraus folgt, daß die Distanz literaturfundierter Ritualisierungen als Erfahrungsorte von Normativität (Sollen) zum Alltag als Ort der zugehörigen Normalität (Sein) nur relativ, nicht grundsätzlich ist. Diese Situationen programmatischen Sprechens werden in der Absicht inszeniert, den Teilnehmern nicht nur die Erfahrung tendenziell homogener Gemeinschaft - in der Regel kein Alltagsphänomen – zu ermöglichen, sondern auch relational zur Gemeinschaftserfahrung ein Sinn- und Orientierungsangebot zu vermitteln. ligiösen Alltag im 5. Jahrhundert problematisch geworden ist und die gemeinschaftsstiftende Funktion der rituellen Tötung in der Opferhandlung in Frage gestellt wird (Empedokles), kann anstelle dieser rituellen Handlungen das Theater treten, das seinerseits Gemeinschaftsgefühl erwirkt und der rituellen Handlung immerhin so viel Ernst beläßt, daß ihr Zeichencharakter vielleicht die religiöse Dimension und Erfahrung wiederum neu vermitteln kann. Und in manchen Stücken scheint es, daß das Obsiegen der guten Kräfte zum Schluß eine fast schon beschwörende Wirkung für die Gemeinschaft der Athener über das Stück hinaus haben soll. Das Theater ersetzt das Ritual.« Vgl. auch Eggert (2002, 22) zum Tabu: »Mit Tabus sind immer Darstellungsprobleme und deren Thematisierung verbunden: Tabus weisen eine genuin ästhetische Komponente auf, die von den nicht-sprachlichen Symbolisierungen bis hin zu einer Normierung der Ästhetik reicht.« 15 Braungart (1992, 8) formuliert die These, »daß Literatur auf all ihren Ebenen – der ihrer ästheti- schen Struktur, der ihrer thematischen Bezugnahme und der ihrer sozialen Einbindung und ihrer sozialen ›Inszenierung‹ - vom Ritual zehrt bzw. Analogien zum Ritual aufweist. Was verspricht eine solche literaturtheoretische Perspektive? Vielleicht läßt sich so genauer fassen, inwiefern Literatur auf elementare Bedürfnisse des Menschen ›antworten‹ und ähnliche elementare Funktionen übernehmen kann wie Rituale im sozialen Leben überhaupt.» 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen 1.4 Zyklizität, Repetitivität und Singularität Über das Treffen der Gruppe 47 in Göhrde (1961) schreibt Fritz J. Raddatz: Keine Akademie und keine PEN-Veranstaltung wird mit so viel Takt und Noblesse, mit so viel echter Kollegialität und so wenig Prätention geleitet. Kommt man etwa aus dem Hexenkessel der Frankfurter Buchmesse, dem Höhepunkt des kirchlichen Jahres der Verlegerwelt, wo sich aus Geschäftigkeit, Eitelkeit und Prozentkalkulation ein unentwirrbarer Filz verwebt und zwischen Nerz und Broschur oft nur ein kleiner Raum für den Geist bleibt, dann ist eine solche Zusammenkunft wie eine Selbstreinigung. Hier wird noch ein Adjektiv gewogen, ein Satz auf seinen Feingoldgehalt hin geprüft, hier wird noch gesagt, daß Hans Magnus Enzensbergers szenischer Ve rsuch oder Rühmkorfs zu verwinkelte Schlupfpoesie nicht gelungen sind – es gibt weder Tabus noch Privilegien. Wie gut, wie wichtig ist das für die Autoren, wie extrem wichtig auch für die Kritiker. (Raddatz in: Lettau 1967, 165) Durch die Metapher »des kirchlichen Jahres der Verlegerwelt« versucht Raddatz, die Bedeutung, Funktion und Ausführung der buch- bzw. literaturbezogenen Ereignisse von der der Feier- und Gedenktage des kirchlichen Kalenders her zu erschließen. Was le istet dieser Vergleich? Das Kirchenjahr 16 ist nicht identisch mit dem staatlich festgelegten Kale nderjahr, die Fest- und Feiertage des kirchlichen Festkalenders sind zumeist – wie alle staatlichen Feiertage - durch die rechtsgeschützte Form des arbeitsfreien Feiertags aus dem Alltag herausgehoben. Gesetzliche Feiertage betreffen alle Staatsbürger, während der Festanlaß nur für die Mitglieder der Kirche als Institution verbindlich sein kann. Jahr und Kirchenjahr sind zyklische und repetitive Einheiten, weil die regelmäßige Wiederholung der herausgehobenen Festtage institutionell garantiert und bei den Menschen als Erfahrungserwartung internalisiert, d.h. verinnerlicht ist. Kirchenfeste, deren Teilnahme freiwillig ist, werden regelmäßig zum gleichen Zeitpunkt und zumeist auch am gleichen Ort nach dem gleichen Verlaufsmuster (Liturgie) wiederholt, sie erinnern an Personen, Ereignisse und Traditionen, die für den Glauben, die Anfänge und die Geschichte der Kirche konstitutiv sind und versuchen, den Beteiligten ein Gemeinschaftserlebnis dadurch zu vermitteln, daß sie in der je aktuellen Feier die gemeinsame Erfahrungserwartung der wieder-geholten Anwesenheit der Transzendenz bestätigen. Durch diese ritualisierte Handlungsform, für deren Gelingen die Dimension der Erinnerung als »kultisches Gedächtnis« (Jörns / Bieritz 1989, 577) konstitutiv ist, soll die Akzeptanz der Glaubenslehren als Orientierung für die Bewältigung des Alltags intensiviert werden. Daher kommt den Festen die Aufgabe zu, auf die Teilnehmer in dem Sinne einzuwirken, daß sie sich im Alltag weiterhin an den kirchlichen Sinnangeboten orientieren und damit auch den Interessen der Kirche als Institution _________________________________________________ 16 Jörns / Bieritz (1989, 576) unterscheiden fünf Zeitkreise für das Kirchenjahr: a) Sonntage b) Osterfeier und Osterkreis c) Weihnachten und Epiphanie d) das Jahr der Heiligen e) Feiertage vorchristlichen Ursprungs wie Erntetage usw. 22 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen dienen. So gilt eine ritualisierte Handlung mit ihrer Aufführung nicht als abgeschlossen, sondern bedarf der Ausführung ihres Entwurfs. Insofern ist mit der Teilnahme am Ritual eine Verpflichtung verbunden. 17 Erreicht werden soll diese Erhaltung der Kontinuität durch das Mittel der Sprechhandlungen (vgl. Kap. 2.2) wie Gebete, Segnungen, Anrufungen und andere gemeinsam ausgeführte symbolische Handlungen (z.B. Knien, Aufstehen, Sich Bekreuzigen, Prozession). So sind Religion und Kirche einerseits als ›autonomes‹ Segment der gesellschaftlichen Wirklichkeit markiert, das seine Geschichte und seinen Geltungsanspruch in seinen Festen inszeniert, andererseits besteht durch diese Grenzmarkierung zwischen Religion / Kirche und Gesellschaft ein Interdependenz*- und Interaktionsverhältnis* zwischen beiden, die ›Autonomie‹ erweist sich als relativ. Durch die Evokation* eines literaturbezogenen Festkalenders, dessen Einträge (Tagungen, Messen, Preisverleihungen, Einführungen der Stadtschreiber usw.) den Alltag unterbrechen, erhebt Raddatz‘ Vergleich den Anspruch, daß auch die Literatur ein relativ autonomes gesellschaftliches Segment sei, dessen Orientierungsangebote aber die gesamte Gesellschaft betreffen. Den kirchlichen Feiertagen und ihrer ritualisierten Gestaltung entsprechen literaturbezogene bzw. fundierte Ereignisse, die auch regelmäßig wiederholt werden, nach stets gleichen Mustern ablaufen und an eine Institution (Raddatz‘ Beispiele weisen hin auf Akademie, PEN, Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Gruppe 47) gebunden sind, für deren Mitglieder ihre Sinnbestätigungen verbindlich sind, obwohl die Teilnahme freiwillig ist. Weil die Buchmesse als »Höhepunkt« im Festkalender sich dem Alltag besonders weitgehend anpaßt, weil sie ökonomischer Konkurrenz und Prestigesteigerung besonderen Raum gewährt, kann sie die Erinnerung an Ursprung und Kontinuität des literarischen Segments nur unzureichend erfüllen. Aufgabe: Stellen Sie einen literaturbezogenen Festtagskalender zusammen. Dies leisten dagegen – so Raddatz - die ritualisierten Treffen der Gruppe 47, bei denen die Normen des literarischen Feldes dominieren. Mit der Formulierung »hier wird noch« evoziert Raddatz eine Ursprungsvorstellung, die durch die Sprechhandlungen ›ein Adjektiv / Wort wiegen, einen Satz prüfen, ungeschminkt sagen, daß ein Text mißlungen ist‹ vergegenwärtigt wird. Textform und –bedeutung erscheinen so als Ergebnis eines kollektiven ritualisierten Handlungsprozesses, dessen Verlauf die »Selbstreinigung« der Teilnehmer, also ihre Veränderung durch die Erinnerung an den Gründungsmythos der Gruppe und die von diesem gestiftete Normativität bewirkt. Weil jedes Gruppentreffen als Aufführung des Gründungsmythos unter veränderten historischen und sozialen Gegebenheiten _________________________________________________ 17 »Rituale beziehen sich aus retrospektiver Perspektive auf etwas, das immer schon verloren und nur als utopische Zielprojektion zu haben ist. Gerade aus dieser Konstellation bezieht das Ritual seine Unverzichtbarkeit: Es dient der Orientierung bzw. Disziplinierung der Gemeinschaft, indem es deren kollektives Konstrukt eines konfliktfreien Anfangs mit der Identität von Normativität und Normalität sowie unverbrauchter Möglichkeitsfülle als Anspruch an die Gegenwart wieder-holt.« (Dücker, 2001, 559) 23 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen stattfindet, handelt es sich jeweils um ein singuläres Ereignis; dessen Erinnerungskonstruktion vom Anfang wie auch dessen Umsetzung fallen jedesmal mehr oder weniger unterschiedlich aus. Nicht zuletzt wegen der »Selbstreinigung« gerät die Teilnahme an den Treffen zu einem Initiationsritual* für die Zugehörigkeit zur Gruppe, was sich auch in der besonderen Gemeinschaftserfahrung zeigt. »Es gibt weder Tabus 18 noch Privilegien«, schreibt Raddatz, d.h. die Geltung aller sozialen Unterschiede zwischen den Teilnehmern wie Titel, Publizität, Prestige, Einkommen, Wohnverhältnisse, Beziehungen usw., die im Alltag existieren mögen, soll für die Dauer des Treffens zugunsten einer gruppenspezifischen Gleichheit aufgehoben sein, damit die Anwesenheit der kollektiven Ursprungsvorstellung erlebt werden kann. Wie für sonntägliche Gottesdienstbesucher Unterschiede der Alltagsexistenz mit dem Betreten der Kirche suspendiert sind, weil während der Messe alle die gleichen Handlungen verrichten und vom Pfarrer gleich behandelt werden, so stirbt mit dem Eintreffen am Tagungsort die ›normale‹ Alltagsexistenz der Schriftsteller symbolisch ab; ihre Wiedergeburt als Mitglied der Gruppe 47 erfolgt, indem sie die Schwelle des Tagungshotels überschreiten, womit zugleich symbolisch die Grenze zwischen Alltag und Szenario markiert ist. Die von vornherein begrenzte Dauer des Gemeinschaftserlebnisses zwischen einem Vorher (Verlassen des Alltags) und einem Nachher (Wiedereintritt in den Alltag) wird zur Übergangsphase, in deren ritualisiertem Handeln sich das Sollen, die Normativität der Gruppe verkörpert. Das Ritual unterbricht den Alltagsablauf und gibt - wie ein kirchliches Fest – den Beteiligten Kontinuitätsimpulse mit, d.h. sie sollen in ihrem Alltag die Grundsätze der Gruppe 47 vertreten und bereit sein, zum nächsten Treffen wieder zu erscheinen. Weil ritualisiertes Handeln die Integration und Kontinuität der Gruppe betrifft, ist es selbstreferentiell. Es hat eine narrativ-dramatische Struktur und wirkt geschichtsbildend, indem es Ereignisse und Personen, die mit ihm in Beziehung treten, in seinen Erzähl- und Erinnerungszusammenhang aufnimmt (vgl. Konselektion). Die Struktur der ritualisierten Handlung erscheint unhistorisch und kulturell unspezifisch, aufführungspraktisch ist sie in den jeweiligen historischen, kult urellen und gesellschaftlichen Kontext eingebettet. Vor diesem Hintergrund erfolgt die Inszenierung des symbolischen Transformationsprozesses* von Unordnung (Sein) in Ordnung (Sollen, Ideal). Die Symbolfunktion der ritualisierten Handlung weist darauf hin, daß deren vorab definierte Wirkung stets die Überschreitung des Feldes voraussetzt, in dem das Ritual aufgeführt wird. Neben der Zielangabe gehört zur Aufführung auch das Register der zugelassenen Mittel, um das Ziel zu erreichen. _________________________________________________ 18 »Das Tabu weist die Aura des Sakralen auf, auch dort, wo es rein weltlich (säkular, profan) ist. In einem Tabu ist ein Schutzraum gegeben, der nicht ins Alltagshandeln einbezogen werden darf bzw. dem eine ausgegrenzte Ausnahmestellung zugesprochen ist. Das Tabu hat die Aura des Unberührbaren und die Berührung wird bestraft.« (Eggert 2002, 20) Die Übergangsphase der ritualisierten Handlung zeichnet sich gerade durch die Aufhebung (Inversion des Tabus) des im Alltag berührungsgeschützten Tabubereichs zugunsten einer Tabuisierung der Geund Verbote des ritualisierten Szenarios aus. 24 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen Ein durch Tradition bestätigter, vorgeprägter struktureller Rahmen steht für je historisch besondere Aufführungen zur Verfügung. Daher ist jede Aufführung, z.B. einer Literaturpreisverleihung oder einer Dichterkrönung, ein singuläres Ereignis, auch wenn sie Mimesis*, d.h. Wiederholung einer als ursprünglich gesetzten Form ist. Sie muß nach den jeweiligen historischen Bedingungen und Funktionen analysiert werden: Welche je historischen Tendenzen erfordern und ermöglichen eine Dichterkrönung (Kap. 3.3), die Gründung einer literarischen Gesellschaft (Kap. 4.), das Verfassen und die Veröffentlichung (öffentlicher Vo rtrag) eines Hochzeits- oder Trauergedichts usw.? Denn mit einer Dichterkrönung usw. wird eine je bestimmte, historisch einmalige Gegenwart gestaltet, es ist je weils ein anderer Autor, der die Auszeichnung erhält und sie strategisch anders einsetzt als seine Vorgänger. Daher ist auch für jede einzelne Ritualaufführung von einem singulären Vorher und Nachher, einer eben solchen Krisen- und Konfliktkonstellation und damit auch von einem je besonderen Referenzbezug auszugehen. 1.5 Ritualisiertes Handeln als Ordnungsfaktor Damit die normalen Abläufe und Gewohnheiten des Alltagslebens am Arbeitsplatz, in Verein und Familie usw. funktionieren, Krisen und Konflikte vermieden werden, ist es umfassend durch Rituale definiert, strukturiert, geordnet, geschützt und berechenbar gemacht. Die »im Alltag beinahe allgegenwärtigen habitualisierten Kleinformen rituellen Handelns« (Wiedenmann 1992, 177) wie »Begrüßung, Verabschiedung, Austausch von Geschenken, Gestaltung der Mahlzeiten in der Familie usw.« (Dücker Ritual 2001b, 503) erleichtern seinen Ablauf, es sind alltagsakzessorische* Rituale. Ihre Wertorientierung bezieht sich auf die Erha ltung konfliktfreien Zusammenlebens in einer Kleingruppe. Neben diesen in den Alltag eingelassenen Ritualen gibt es die große Gruppe jener, die die Alltagsabläufe überschreiten bzw. unterbrechen, um Gelegenheit zur Erfahrung und Reflexion dessen zu geben, was der Alltagsnormalität ihren Sinn und ihre Richtung unterlegt. Mit diesen alltagstranszendierenden* Ritualen kann die normative Grundlage im ritualisierten Gemeinschaftserlebnis erfahren werden. Ein Kollektiv vergegenwärtigt sich seine Gründung und deren Geschichte z.B. durch Grußworte, Festreden, Eröffnungsansprachen usw. im Rahmen von Festen und Gedenkveranstaltungen, um die Gegenwart zu feiern und die Zukunft im Sinne der Tradition zu gestalten (Kontinuitätssicherung). Leopold von Wiese beginnt seine »Fest-Rede« zur gesellschaftlichen »Funktion des Mäzens« anläßlich »der Gründungsfeier der Universität Köln am 4. Mai 1929« mit folgender Erinnerung: Zehn Jahre sind vergangen, seit wir an dieser erinnerungsreichen Stätte versammelt waren, um die Gründung unserer Universität zu feiern. Es ist ein sinnvoller und geradezu notwendiger Brauch, daß wir in arithmetisch geordneten Zeitabständen den uns von Tag zu Tag, Jahr zu Jahr weiter tragenden Strom der Arbeit ein paar Stunden lang unterbrechen, um zurückzuschauen, zu vergle ichen und frische Kraft zu sammeln für Kommendes. Wenn wir heute nach Vollendung des ersten Dezenniums zurückblicken auf die Geburtsstunde unserer hohen Schule, so werden wir gepackt 25 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen und überwältigt von Gefühlen und Gedanken, die zu reich strömen, als daß wir ihnen allen in einer kurzen Rede Ausdruck geben könnten. [...] Es hat schon seinen guten Grund und seine innere Berechtigung, wenn wir an solchen Erinnerungstagen wie heute jenes Testaments von Gustav v. Mevissen gedenken, [...] das [...] den Ausgangspunkt, die nachwirkende Anregung und einen Teil der Geldmittel gewährte, die die Handelshochschule und mittelbar die Universität möglich gemacht haben. Es war die Tat eines Mäzens! [...], indem ich als Soziologe versuche, der Bedeutung und dem sozialen Werte des Mäzenatentums nachzuspüren und damit auch Mevissens Tat in einen allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenhang hineinzustellen. (von Wiese 1929, 3f.) So dienen Rituale der Wiederherstellung bzw. Erhaltung oder – allerdings seltener – der Veränderung der eigenen Ordnung und deren tendenziell monolithischer bzw. kanalisierter Tradition; sie sichern Stabilität, Kontinuität und Dynamik, sie betreffen die existentiellen und sozialen Gegebenheiten von Dauer und Wandel, 19 Altem und Neuem. Ritualisiertes Handeln soll Schaden (z.B. durch Naturgewalten oder Krankheit) abwenden, eine gute Ernte sichern, Reinheit wiederherstellen, soziale Verle tzungen heilen, Benachteiligungen kompensieren, für begrenzte Zeit etabliert es Rangordnungen und reduziert Konkurrenzverhalten, es markiert Übergangssituationen wie Initiationen, geschlechtliche und soziale Reife, Eheschließung und Begräbnis, Ankunft und Abschied, hebt Situationen wie Jubiläen, Gedenk- und Erinnerungstage, Ehrungen, Begrüßungen und Trauer hervor. Interaktionsrituale ebenso wie institutionell eingebettete Rituale erleichtern soziale Beziehungen, weil sie für das Verhalten der beteiligten Personen und Institutionen vorgeprägte Ablaufschemata bereithalten. Grundsätzlich haben Rituale die regulative, apotropäische* Funktion, Unordnung in Ordnung zu verwandeln, was als Komplexitäts- und Krisenreduktion bzw. als Handlungserleichterung durch den Abbau oder Aufweis von Perspektiven, die Kompensation von Defiziten durch Sinnangebote, die Transformation von Unlust in Lust geschehen kann, aber auch die Kontinuitätssicherung einer schon bestehenden gesellschaftlichen Ordnung gehört dazu. Wegen seiner Distinktions- und Normierungsfunktion* ist ritualisiertes Handeln unverzichtbar für Modernisierungsprozesse und zieht zugleich die Zuschreibung einer affirmativen und konservativen Qualität auf sich. Als Normierung der Geltung von Autoren und ihren Texten kann sich z.B. deren Ausstattung mit dem Attribut Nobelpreisträger auswirken, weil es für die verschiedenen Preisträger auf der einheitlich geltenden Norm dieses Preises fundiert ist. Als normativ für die Zuerkennung des Litera_________________________________________________ 19 Für die Gegenwart, in der die Erfahrungsmöglichkeit der Dauer - nach Singer - immer unwahr- scheinlicher wird, empfiehlt er, »die Kunst der Improvisation [...] zum Ritual zu erheben und den Akt der Improvisation selbst als das einzig Beständige, das einzig Wiederkehrende zu zelebrieren. Das erlöst von dem mühseligen und immer wieder enttäuschten Versuch, dem Wandel Riten entgegenzusetzen, die selbst, wie alles Verwirklichte, der Zeit verfallen sind. Die Improvisation hingegen unterwirft sich die Zeit. Sie bekennt sich klug zum Wandel, weiß um die Unwiederholbarkeit und freut sich an der Überraschung. Gelingt es, die Improvisation zu ritualisieren, sie allmorgendlich als Vertraute gegen das Unvorhersehbare zu setzen, dann versöhnen sich unverhofft zwei antithetische Sehnsüchte, die eine, die ihre Lust im Neuen sucht, und die andere, die nach Geborgenheit strebt.« (Singer, 2002, 26) 26 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen turnobelpreises gilt die Passage im Testament Alfred Nobels, daß der »Autor des am deutlichsten idealistisch inspirierten Werkes der Literatur« (Nobelpreisträger o.J., 8) ausgezeichnet werden soll. Die Norm des Georg-Büchner-Preises in der Fassung vom 21. März 1958 lautet: »Zur Verleihung können Schriftsteller und Dichter vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeiten und Werke in besonderem Maße hervortreten und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.« (www.deutscheakademie.de/PREISE/buechner.html Stand 18.05.01) Diese Te ndenz zur Gruppenbildung kann sich auch als Mittel der Kanonisierung* auswirken. Die andere Seite dieser Binnenintegration bezeichnet der Begriff der Distinktion als Abgrenzung und Unterscheidung nach außen, von anderen preisverleihenden Organisationen, der zumeist ein Konkurrenzve rhältnis einschließt. 20 Aufgabe: Sammeln Sie mindestens fünf normative Definitionen von Literaturpreisen, nach denen die Preisträger auszuwählen sind. Welche literarischen Ric htungen sind abgedeckt? Wählen Sie zwei Preisträger des gleichen Preises und vergleichen Sie deren preisgekrönte Texte hinsichtlich der Preisnorm. Erläutern Sie, ob / ob nicht die Texte der Preisnorm entsprechen. Als Hilfestellung und Ausgangspunkt kann folgende Internetadresse dienen, unter der Sie wichtige Literaturpreise Österreichs, Deutschlands und der Schweiz kurz vorgestellt finden: www.new-books-in-german.com/info5.htm Als Kombination aus Handlungszielen und -mitteln betrifft ritualisiertes Handeln in jedem Fall den normativen Bereich einer Gesellschaft (Gruppe, Gemeinschaft, Kollektiv, Formation, Familie usw.), den es aktualisieren und bestätigen soll. Es handelt sich generell um sprachlich und nicht sprachlich vollzogene symbolische Handlungen, deren regelgerechte Durchführung als Konflikt- und Problemlösungsstrategie sozial akzeptiert ist. Wenn Antos (1987, 13) »Informationsleere« rituellen Sprechens diagnostiziert, so ist dies zumindest zu differenzieren. Es mag zutreffen, daß Rituale wegen ihrer Wiederholungsfunktion keine neuen sach- oder materialbezogenen Informationen liefern, dagegen scheint ihre räumliche und historische Allgegenwärtigkeit gerade durch eine andere Art von Informationsvermittlung begründet zu sein, nämlich durch die in der Regel stets gleiche Mitteilung, daß sich strukturell nichts geändert habe, daß eine bestehende Ordnung in ihrer Kontinuität erhalten bleibe. Das Alte gewinnt Wert, aber nicht um seiner selbst willen, sondern als Grundlage der Kontinuität, als Sprungbrett zum Neuen. Dadurch daß ritualisierte Handlungen vollzogen werden, informieren sie die Beteiligten als die Adressaten über die _________________________________________________ 20 So heißt es in der Vorstellung des Joseph-Breitbach-Preises durch die Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur: »Nicht schielt die Akademie auf andere renommierte Preise, um in Konkurrenz zu treten.« (www.adwmainz.de/joseph-breitbach/stiftung/jbp.htm) In einer anderen Erklärung heißt es, daß der Breitbach-Preis mit 255.000 DM »etwa viermal so hoch [ist] wie der renommierteste deutsche Literaturpreis, der Büchner-Preis.« (www.literaturhaus.at Stand 14.01.03) 27 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen unbedrohte Geltung des Identischen, über die Möglichkeit, auch weiterhin das zu erleben und wiederzuerkennen, dessen Kenntnis man internalisiert hat, d.h. ritualisiertes Handeln gehört zum Erfahrungs- und Vermittlungskontext von Heimat und Geborgenheit, allerdings nicht in einem räumlichen, sondern einem zeitlichen und gesellschaftlichen Sinn von kultureller Tradition. Demnach vollzieht sich Heimaterfahrung, wenn eine ritualisierte Handlung sanktionsfrei ausgeführt und wiedererkannt werden kann. Literarisch gestaltet Sophokles in seiner Tragödie Antigone diese Situation, wenn Antigone aus Machtgründen verwehrt wird, ihrer religiösen Pflicht zur rituellen Bestattung ihres Bruders nachzukommen. Sie reagiert mit Widerstand und der Diagnose des Heimatverlusts. Der Antigone-Stoff ist häufig literarisch gestaltet worden, um den Konflikt von vorübergehender Macht und ewiger Verpflichtung zu den Ritualen der Religion jeweils zu aktualisieren. Insgesamt transportiert dieser Stoff die Geschichte der machtpolitisch bedingten Eingriffe in ritualisierte öffentliche Handlungsabfolgen politischer und religiöser Gemeinschaften (z.B. Verbot von SPD und KPD im ›Dritten Reich‹; Hugenottenverfolgung in Frankreich im 17. Jahrhundert, Kirchenschließungen in der Sowjetunion im 20. Jahrhundert). Auf Szenarios bezogen handelt es sich um Eingriffe der Zensur, die die öffentliche Präsentation literarischer Texte und den Vollzug von Kulturereignissen verhindern. In allen diesen Fällen reagieren die Betroffenen zunächst häufig mit Widerstand, aber vor allem mit der Emigration. Der ritualwissenschaftliche Ansatz eröffnet eine gemeinsame Forschungsperspektive auf politische, religiöse, literarische Ereignisse. Nicht zuletzt, weil Wiedererkennen in der Regel eine krisenentlastende, he ilende Erfahrung des Aufgehobenseins vermittelt, entsteht ein Eindruck von Feierlichkeit, Festlichkeit und Bedeutsamkeit, der Autor, Text, Akteure und Teilnehmer einschließt. Dazu gehört das Gefühl, während des Szenarios einer besonderen, erfüllten Zeit anzugehören, bzw. - in gängiger Formulierung - für begrenzte Dauer wie aus der Zeit zu sein, seine Zeit mit ihren häufig belastenden Anforderungen zu vergessen. Wer an einem Szenario teilnimmt, kann die Erfahrung des Identischen machen, wenn etwa bei jeder Literaturpreisverleihung der Preisträger unproblematisch konsekriert, d.h. durch die Geltung von Preis und Institution privilegiert wird, wenn der Laudator diese Entscheidung jedesmal strukturaffirmativ begründet und kommentiert, wenn der Preisträger sich in gleicher Weise mit einer Rede bedankt, wenn jedesmal bei einer Lesung deren Bedeutsamkeit, die des Lesenden, seiner Texte sowie deren Lektüre und des Lesens im allgemeinen hervo rgehoben werden, wenn der einzelne Leser / Teilnehmer sich also in seinem Tun durch diese Szenarios bestätigt sehen kann. Besonderer Stellenwert für einen derartigen Aufbau von Bedeutsamkeit kommt der Teilnahme von politischen Funktionsträgern als Festredner, Schirmherr oder Übermittler von Grußworten zu. Sie verschaffen einer Veranstaltung Glaubwürdigkeit, unterstreichen ihre Unverzichtbarkeit für den Gang der öffentlichen Dinge, geben ihr die Aura des Offiziellen. Was Antos (1987, 18) für die Grußworte feststellt, gilt analog für andere Formen der Teilnahme von Funktio nsträgern. »Bei Grußworten geht es primär nicht ums Grüßen, sondern um die Zuschreibung von Offizialität.« Fraglos haben aber auch diese Repräsentanten selbst 28 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen einen Vorteil von ihrem Auftritt; ob es sich um wählbare Politiker oder um Monarchen handelt, die Teilnahme wird zur Selbstwerbung und sichert die Erwähnung im ritualgeschichtlichen Erinnerungssystem. Hinzu kommt, daß im gemeinsamen Wiederholungshandeln die Erfahrung von dessen überindividueller und überzeitlicher Bedeutsamkeit - Zeitliches wird durch Wiederholung überzeitlich - produziert wird, worin sich nach Durkheim die Begegnung mit dem »Heiligen« (Belliger / Krieger 15) als Ausdruck des höchsten Wertes eines Kollektivs vorbereitet. Unterstützt wird die Ordnungserfahrung als Heilungsprozess durch dessen ästhetisch-kulturelle Organisation; stellen doch gerade Unterhaltung und Entspannung ein Differenzkriterium zum Alltag dar. Zusätzlich hervorgehoben wird die Markierung der Heil(ung)sgrenze zwischen Alltag und Szenario durch den Ausschluß von Melancholie und Pessimismus aus dem Szenario. Deren ritualauflösender Wirkung steht schon das vorgegebene Ablaufschema (Programm) mit Ziel und Mitteln des Szenarios entgegen, das der individuellen Entfaltung intellektueller und emotionaler Energien nur wenig Raum läßt. Weil die Teilnahme an einer ritualisierten Handlung in der Regel mit dem Wissen um die bloß vorübergehende Erfahrungsmöglichkeit dieser anderen, heilenden Zeit verbunden ist, kann der Wunsch nach Wiederholung als Indiz eines gelungenen Rituals angesehen werden. Exkurs Melancholie Der Begriff stammt aus der antiken Medizin, speziell der hippokratischen Lehre von den vier Körpersäften (Humoralmedizin): Blut/Sanguis, Schleim/Phlegma, Galle/Chole, schwarze Galle/Melanchole. Danach ist Gesundheit definiert als Gleichgewicht zwischen ihnen. Wird eine Überproduktion an schwarzer Galle festgestellt, deutet man diesen Befund der Melancholie entweder als pathologisch oder als Hinweis auf göttliche Inspiration. Einerseits gilt Melancholie in antiker, mittelalterlicher und noch frühneuzeitlicher Tradition also als Voraussetzung für Kreativität und intellektuelle Leistung, andererseits als pathologische Handlungsund Leistungshemmung sowie Abwendung von Aufgaben und Interessen der Gemeinschaft (lat. acedia), wovon besonders diejenigen betroffen sind, die sich intensiv den wissenschaftlichen und literarischen Studien widmen, d.h. im Mittelalter vor allem auch die Mönche. Überdies gilt Melancholie als Beeinträchtigung ungezwungener, offener Geselligkeit, dafür als Disposition zu Indifferenz, Apathie, Streit, Machtansprüchen und Gewaltanwendung. So wird im programmatischen Text der Fruchtbringenden Gesellschaft von 1622 (Kap. 5.3.1) von den Mitgliedern verlangt, »bey Zusammenkuenfften guetig / froelig / lustig und ertraeglich in worten und wercken« zu sein und Streit zu vermeiden. Beide traditionellen Geltungsmerkmale der Studien als Auszeichnung (Charisma) und als Gefährdung (Stigma) durch die Sünde des Strebens nach Gottgleichheit durch übermäßigen Erkenntnisdrang (curiositas) kennzeichnen ebenso auch die Mela ncholie. Diese Ambivalenz begründet ihre Verwerfung durch die Programmatik ritualisierten Handelns. Melancholie unterläuft die tendenziell spannungsfreie und auf 29 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen Optimismus angelegte Konstruktivität der ritualisierten Handlung, sei es als Handlungshemmung, sei es als übermäßige Selbstverwirklichung. Sie stiftet Unordnung und steht daher der grundlegenden Funktion ritualisierten Handelns als Transformation von Unordnung in Ordnung entgegen. Daß deren Gefahr bzw. Vermeidung in der Renaissance bis in die Architektur von Wohnhäusern ernst genommen wird, zeigt sich in Empfehlungen für die Lage von Wohnräumen, Bibliotheks- und Studierzimmern (studiolo). »Die Wohnung des Melancholikers solle nach Osten hin gelegen sein. Diese Disposition stimmt mit der von Vitruv für Bibliotheken geforderten überein, wo Morgensonne und trockene Winde die Bücher vor Feuchtigkeit schützen sollten.« (Liebenwein 1977, 28) Das »moderne Melancholiegefühl ist im wesentlichen ein gesteigertes IchGefühl, da das Ich die Achse ist, um die sich jene Kugel von Lust und Wehmut dreht« (Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, 338). Im 19. Jahrhundert steht Melancholie »für das Gefühl der Gottesferne des Menschen; die daraus resultierende Schwermut [...] bezeichnet also einen grundlegenden Aspekt der menschlichen Existenz, der nichts mit der physischen Konstitution des Menschen zu tun hat: den Abstand zwischen dem Menschen und Gott« (Klibansky 2001, 152). Lepenies verwendet den Begriff zur Bezeichnung einer gesellschaftlich verursachten Handlungshemmung bei Intellektuellen. »Innerlichkeit und Naturflucht bieten sich als Auswege an, wenn eine Gesellschaft verlassen werden soll, die einem nichts mehr sagt, weil man in ihr nichts mehr zu sagen hat« (Lepenies 1969, 102). R. K. Merton (Social Theory and Social Structure) benutzt im Kontext von Melancholie den Begriff Ritualismus (ritualism). Er bezeichnet damit eine »Spielart abweichenden Verhaltens, in welcher die Absage an die kulturell vorgeschriebenen Ziele sich mit der Aufrechterhaltung der zu ihrem Erreichen gesellschaftlich sanktionierten Mittel verbindet- die gleichsam ›leerlaufen‹« (Lepenies 1969, 15). Gegen den häufig erhobenen Vorwurf rituellen ›Leerlaufs‹ ist einzuwenden, daß die Ritualteilnehmer durch ihren Entschluß zur Teilnahme an der Ritualaufführung auch deren Ziele akzeptiert, ihnen zumindest nicht widersprochen haben. Ob ihre Teilnahme innerem Bedürfnis oder gesellschaftlicher Konvention entspringt, kann kaum mit Gewißheit beurteilt werden. Festzuhalten bleibt, daß die Teilnahme in der Regel vorteilhaft ist. Daher ist auch die Position von Humphrey / Laidlaw zumindest zu relativieren, daß »nicht-ritualisierte Handlungen« die Intentionen der Akteure ausdrückten, während für ritualisiertes Handeln gelten soll: Es »wird nicht von den Intentionen der Akteure geleitet und strukturiert, sondern es wird von Vorschriften konstituiert. Dies bedeutet nicht nur, dass Menschen Regeln folgen, sondern viel eher, dass eine Reklassifikation stattfindet, so dass nur das Regelfolgen als Handeln gilt. Dennoch ist es der Akteur, der als selbstbewusst Handelnder die Handlungen ausführt« (Humphrey / Laidlaw 153f.). Für ritualisiertes Handeln ist von einem gewissen Spielraum auszugehen, auch nichtritualisiertes Handeln ist an Regeln gebunden. Beide Handlungsformen umfassen je singuläre Ereignisse. 30 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen 1.6 Ritualdynamik Wenn Rituale gerade die Erfahrung des Identischen ermöglichen, wenn sie wegen ihrer Berechenbarkeit geschätzt werden, wie steht es dann mit der Möglichkeit und der Notwendigkeit von Veränderungen? Können, sollen oder müssen Rituale dynamisch sein? Rituale sind als kollektiv-intentionale Handlungsprozesse für bestimmte soziale Kontexte vorgesehen; der einzelne Ritualteilnehmer erkennt diese vorgegebene Intention an, zumindest behindert er ihren Vollzug und damit ihre Geltung nicht, indem er sich etwa abweichend von den normbestätigenden Regelanweisungen verhält. Wenn er freiwillig an einem Ritual teilnimmt, hat er dessen Regeln intentional akzeptiert. Dennoch sind Konflikte zwischen dem durch Tradition und Konvention bestätigten Ablauf des Rituals und der Intention einzelner Beteiligter oder Gruppen möglich und können Ritualdynamik, d.h. Modifizierungen oder sogar die Abschaffung eines Rituals bewirken. Gesellschaftlicher Systemwandel oder gar -wechsel geht in der Regel mit einer Veränderung des bisher praktizierten Ritualsystems (Anlässe, Inszenierungen) einher. So werden nach dem Ersten Weltkrieg mit der Abschaffung der Monarchie auch deren ritualisierte Gedenkfeiern Sedantag, Kaisers Geburtstag, Reichsgründungstag, Bismarckfeiern aufgehoben. Die ›Machtergreifung› der Nationalsozialisten (30. Jan. 1933) ersetzt die demokratischen Feiertage durch eigene, die wiederum nach 1945 alle abgeschafft werden. Die deutsche Wiedervereinigung (3. Okt. 1990) läßt die Feiertage der ehemaligen DDR obsolet werden; der seit 1954 in der Bundesrepublik gefeierte 17. Juni als Tag der deutschen Einheit wird durch den 3. Oktober als Tag der deutschen Einheit ersetzt. Seit 1923 wird der Georg-Büchner-Preis als Staatspreis für besondere kulturelle Leistungen verliehen, im ›Dritten Reich‹ unterbleibt seine Verleihung, 1946 wird er wieder als Kulturpreis eingesetzt und seit 1951 als Literaturpreis von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt vergeben. Weil die Inszenierung ritualisierter Handlungen auf einem Gründungsereignis basiert, funktionieren die aktuellen Aufführungen nach dem Prinzip der Mimesis. Dabei wird die Gründungsaufführung durch die späteren Aufführungen nachgeahmt; daß Mimesis aber keine völlige Imitation sein kann, sondern daß stets ein konstruktives, also historisches Moment dazu gehört, erhellt schon daraus, daß durch die technische Entwicklung, die Renovierung und Dekoration des Ritua lraums, die veränderte Mode, die Beteiligung anderer Akteure, stimmliche Unterschiede, den Austausch eines weniger wichtigen Verses oder Satzes oder auch die modernisierte Übersetzung usw. stets mit Abweichungen der aktuellen von der ersten Aufführung zu rechnen ist. Aber auch die Tatsache, daß die Körperkommunikation der wechselnden Beteiligten eine wichtige Rolle spielt, sorgt für Dynamik. Daß das Verleihungsritual des Nobelpreises für Literatur (jeweils am 10. 12) zur Erinnerung an dessen Stifter Alfred Nobel (Todestag 10. Dez. 1896), das seit 1901 in Stockholm aufgeführt wird, manche solcher Veränderungen erfahren hat, überrascht nicht. Stärker ins Gewicht fällt eine qualitative Dynamik, wenn z.B. die bis heute geltende programmatische Formel des Nobelpreises von den 31 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen Texten »idealistische Ausrichtung« verlangt, diese aber nicht definiert wird, so daß zwischen Formel und ausgezeichneten Texten sich immer mehr eine Beziehung der Beliebigkeit aufbaut. Für manche Rituale gibt es Statuten oder andere Quellentexte, die genau vorschreiben, wie es durchzuführen ist, damit es den gewünschten Erfolg hat. 21 Neben diesen präskriptiven Texten gibt es deskriptive Texte, die einen konkreten Aufführungsablauf beschreiben. Vergleicht man beide, so stellt man in der Regel Abweichungen der Aufführung von der ›Partitur‹ (E.W. Leach) fest. Da diese Ritualdynamik aber nicht die Struktur oder die obligatorischen Bestandteile der Handlungssequenz betrifft, wirkt sie sich weder auf die Gültigkeit noch die Geltung des Rituals als Fortführung der Gründungsaufführung aus. 1.7 Dreiphasenschema der ritualisierten Handlung Grundsätzlich ist die Aufführung von Ritualen durch die Erwartung von Vorteilen motiviert. Wer eine kultisch-rituelle Handlung durchführt und den Göttern dabei Opfer darbringt, wer einen Besucher mit Geschenken und zahlreichem Gefolge schon an der Stadt- oder Gemarkungsgrenze empfängt, wer einen Literaturpreis stiftet, wer eine Hochzeits- oder Tauffeier durchführt, hofft auf ein glückliches Leben, den vorteilhaften Verlauf und Abschluß einer Interaktion, eine Gegengabe oder einen sonstigen Gewinn (Prinzip des ›do ut des‹, lat. ›ich gebe, damit du mir gibst‹). Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Schlachtopfers im antiken Griechenland; vom Opfertier erhält der Gott vor allem die ungenießbaren Teile 22 , so daß das Opferritual der Opfergemeinde als Gelegenheit oder sogar Vorwand zum Fleischverzehr dient. Aufgrund der Auswertung umfangreicher Quellen gibt Walter Burkert eine anschauliche und detaillierte Darstellung einer griechischen Opferhandlung. Ein verwickelter Weg führt hin zum Zentrum des Heiligen. Baden und das Anlegen reiner Kleider, Schmückung und Bekränzung gehören zur Vorbereitung, oft auch sexuelle Abstinenz. Zu Beginn bildet sich eine wenn auch noch so kleine Prozession (ποµπη, Pompae23 ): im gemeinsamen Rhythmus, singend entfernen sich die Teilnehmer des Festes von der Alltäglichkeit. Mitgeführt wird das Opfertier, seinerseits geschmückt und gleichsam verwandelt, mit Binden umwunden, die Hörner vergoldet. Man erhofft in der Regel, daß das Tier gutwillig, ja freiwillig dem Zuge folgt; gerne erzählen Legenden, wie Tiere von sich aus zum Opfer sich anboten; denn es ist der Wille eines Höheren, der hier geschieht. Ziel ist der _________________________________________________ 21 Ihre sprachliche Form sind Anweisungen: Etwas soll geschehen / ist zu tun, jemand hat etwas zu tun usw. 22 Vgl. Burckhard Dücker: Intoleranz und interkulturelle Vermittlung. Anmerkungen zu Prome- theus. In: Rolf Kloepfer u. Burckhard Dücker (Hg.): Kritik und Geschichte der Intoleranz. Heidelberg (Synchron) 2000, 309-328. 23 Vgl. Jens Köhler: Pompai. Untersuchungen zur hellenistischen Festkultur. Frankfurt am Main (Lang) 1996. 32 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen alte Opferstein, der längst ›errichtete‹ Altar, den es mit Blut zu netzen gilt. Meist lodert auf ihm bereits das Feuer. Oft wird ein Räuchergefäß mitgeführt, die Atmosphäre mit dem Duft des Außerordentlichen zu schwängern; dazu die Musik, meist die des Flötenbläsers. Eine Jungfrau geht an der Spitze, die ›den Korb trägt‹ ( kanhforos, Kanaephoros), die Unberührte das verdeckte Behältnis; auch ein Wasserkrug darf nicht fehlen. Am heiligen Ort angekommen, wird zunächst ein Kreis markiert, Opferkorb und Wassergefäß werden rings um die Versammelten herumgetragen und grenzen so den Bereich des Heiligen aus dem Profanen aus. Erste gemeinsame Handlung ist das Waschen der Hände, als ›Anfang‹ dessen, was nun geschieht. Auch das Tier wird mit Wasser besprengt; ›schüttle dich‹, ruft Trygaios bei Aristophanes. Man redet sich ein, die Bewegung des Tieres bedeutet ein ›freiwilliges Nicken‹, ein Ja zur Opferhandlung. Der Stier wird noch einmal getränkt – so beugt er sein Haupt. Das Tier ist damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Aus dem Korb entnehmen die Teilnehmer jetzt die ungeschroteten Gerstenkörner (oulai, Ulai), die Früchte des ältesten Ackerbaus; doch werden sie gerade nicht zerstoßen, zur Speise bereitet: nach jähem Innehalten, dem feierlichen eufhmein und dem lauten Gebetsruf, der mehr Selbstbestätigung als Bitte ist, werden die Gerstenkörner weggeschleudert, auf das Opfertier, den Altar, die Erde; andere Speise ist jetzt gefragt. Gemeinsames, gleichzeitiges Werfen von allen Seiten ist ein aggressiver Gestus, gleichsam Eröffnung eines Kampfes, auch wenn die denkbar harmlosesten Wurfgegenstände gewählt sind; in einigen altertümlichen Ritualen warf man indessen tatsächlich mit Steinen. Unter den Körnern im Korb aber war das Messer verborgen, das jetzt aufgedeckt ist. Mit ihm tritt der, dem die Führungsrolle zufällt im nun beginnenden Drama, der iereus (Hiereus), auf das Opfertier zu, das Messer noch versteckend, damit das Opfer es nicht erblickt. Ein rascher Schnitt: ein paar Stirnhaare sind dem Tier abgeschnitten, ins Feuer geworfen worden. Dies ist wiederum und erst recht ein ›Anfangen‹, arcestai (archestai), wie schon Wasser und Gerstenkörner einen ›Anfang‹ (arcestai, archestai) bildeten: noch ist kein Blut vergossen, nicht einmal ein Schmerz zugefügt, und doch ist die Unberührbarkeit und die Unversehrtheit des Opfertieres aufgehoben, in nicht mehr umkehrbarer Weise. Jetzt erfolgt der tödliche Schlag. Die anwesenden Frauen schreien auf, schrill und laut: ob Schreck, ob Triumph, ob beides zugleich, der ›griechische Brauch des Opferschreis‹ markiert den emotione llen Höhepunkt des Vorgangs, indem er das Todesröcheln übertönt. Besondere Sorgfalt gilt dem ausfließenden Blut: es darf nicht zur Erde fließen, es muß den Altar, den Herd, die Opfergrube treffen. [...] Das Tier wird zerlegt und ausgeschlachtet. [Die inneren Organe werden] rasch im Feuer des Altars geröstet und sofort gegessen; der engste Kreis der unmittelbar Beteiligten schließt sich zusammen im gemeinsamen Genuß, der den Schauder ins Behagen wandelt. [Galle und Knochen sind ungenießbar und werden ›geheiligt‹, d.h. vor allem die Schenkelknochen ( mhria, Maeria) werden ›in rechter Ordnung‹ auf den Altar gelegt und mit Wein und Kuchen verbrannt.] Dann, wenn das Feuer zusammenfällt, mag die behagliche Festmahlzeit in den Alltag überleiten. Die Haut des Opfertieres wird in der Regel verkauft zugunsten des Heiligtums, für Weihgeschenke und neue Opfer: so pflanzt sich der Kult fort. Das Anstößige an diesem Ritus, das schon früh emp- 33 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen funden wurde, liegt darin, daß das ganze so eindeutig und unmittelbar den Menschen zugute kommt. Ist der Gott, ›für den‹ das Opfer fällt, mehr als ein durchsichtiger Vorwand für festliche Schmauserei? (Burkert 1972, 10-14) Daß es bei diesem Opferritual um einen religiösen Zweck geht, zeigt sich als Element der ›verkehrten Welt‹. Mit diesem ritualtheoretischen Begriff 24 werden Szenarios bezeichnet, die für eine begrenzte Zeit die gesellschaftlich zugelassene Umkehr der normalen gesellschaftlichen Strukturen als sinnvoll fordern und regeln. In der griechischen Opferhandlung wird das Ausbringen der Gerstenkörner auf eine Fläche, auf der sie nicht aufgehen können, also ihre Vergeudung, nur sinnvoll unter der Maßgabe, daß es im Rahmen einer ritualisierten Handlung geschieht, deren höherer Zweck den Verlust einiger Gerstenkörner rechtfertigt. Weiterhin belegen die umfangreichen, sehr speziellen Vorbereitungen, daß eine ritualisierte Handlung, soll sie korrekt ausgeführt sein, nicht spontan erfolgen kann. Vielmehr bildet ritualisiertes Handeln einen Mischtypus aus »zweck- und wertrationalem Handeln« (Max Weber), weil es eine bestimmte Strategie zur Erreichung eines definierten Zwecks (hier Fleischmahlzeit) und zur Sicherung eines bestimmten Werts (hier Verehrung der Götter als Schutzmacht der Menschen) zur Verfügung stellt. Das Ritual zielt auf eine Status-, Geltungs- oder Einstellungsmodifikation. Das in Burkerts Opferbeschreibung erkennbare Dreiphasenschema von Auszug zum Opferplatz, Vollzug des Opfers und der Mahlzeit, Rückkehr und Verkauf der Haut als Vorbereitung des nächsten Opfers ist von Arnold van Gennep ([1909] 1999, 21) mit den Begriffen »Trennungs-, Schwellen- bzw. Umwandlungs- und Angliederungs« -phase bezeichnet worden und gilt allgemein als Grundstruktur eines ritualisierten Handlungsablaufs. 25 In der ersten Phase löst sich ein Individ u_________________________________________________ 24 Als Beispiel für die Inszenierung einer temporären »verkehrten Welt«, in der die normalen sozialen Statusverhältnisse und Rangbeziehungen aufgehoben sind, wird häufig die Institution des Karnevals angeführt. Maskierung und Kostümierung anonymisieren die Feiernden, lassen eine Trennung zwischen Akteuren und Zuschauern nicht zu, sondern verstärken den Eindruck ihrer Gleichheit, was wiederum die Möglichkeit und Bereitschaft zur simulativen Erfahrung neuer, d.h. vom Normalen abweichender Lebens- und Sozialformen erleichtert. Weiterhin gilt das von der politischen und kirchlichen Autorität vorübergehend zugelassene Lachen der Unter- über die Oberschichten und deren gesellschaftliche Regeln als Ventil zur Abfuhr von Aggression und Frustration. Nicht zuletzt aus diesem Grund der Eingrenzung und Zähmung von Gewaltpotential wird den Ritualen eine konservative Funktion zugeschrieben. Vor allem der russische Literaturtheoretiker Michail Bachtin (1998) hat Strukturen des Karnevalismus und einer ›Lachkultur‹ analysiert, in deren Zentrum die Ablehnung absoluter Bedeutungen zugunsten relationaler begründet und das Prinzip der Dialogizität als Mittel der Sinnstiftung dem der Monologizität vorgezogen wird. 25 Es bildet z.B. häufig die Struktur von Auszugsmärchen. Für viele Märchenhelden ist wegen eines Konflikts in der Familie oder wegen eines unerfüllten Wunsches kein Platz mehr im gewohnten Umfeld (z.B. Hänsel und Gretel; Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen; Das Wasser des Lebens), sie ziehen aus, bestehen Prüfungen und Abenteuer, kehren schließlich zurück, wobei sie häufig eine Statusveränderung (Nachfolger des Königs, ein Armer wird reich usw.) vollzogen haben. Auch für die Reiseliteratur stellt das Dreiphasenschema als Erkenntnismuster neue Perspektiven und Einsichten bereit, vgl. Burckhard Dücker: Zur Ri- 34 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen um oder Kollektiv aus einer gewohnten und definierten Sozialstruktur, gibt eine Position im Alltag auf, um in die zweite Phase einzutreten, in der sich nach vo rgegebenem Schema ein Übergangs-, Verwandlungs-, Veränderungs- oder Reifeprozeß vollzieht. Häufig geht es um eine Initiation oder einen Statuswechsel. In dieser Übergangs- oder »Liminalitätsphase« (Victor Turner) befindet sich der Proband in einem Zwischenzustand zwischen den Regeln des aufgegebenen und denen des angestrebten Zustands, was häufig durch das Schema von symbolischem Tod und Wiedergeburt26 ausgedrückt wird. Kennzeichnend für diese Phase ist ein extrem formalisiertes Handlungsprogramm (z.B. detaillierte Ge- und Verbote, Prüfungen, Reinigungen, Askese, Unterricht, Ausschluß von Melancholie und Pessimismus), das nur geringe Abweichungen zuläßt, soll es nicht ungültig werden. In der ›Angliederungsphase‹ soll der Akteur über die für seine neue Position erforderlichen Verhaltens- und Urteilskompetenzen verfügen. Die Eigenschaften des Schwellenzustands (der »Liminalität«) oder von Schwellenpersonen (»Grenzgängern«) sind notwendigerweise unbestimmt, da dieser Zustand und diese Personen durch das Netz der Klassifikationen, die normalerweise Zustände und Positionen im kulturellen Raum fixieren, hindurchschlüpfen. Schwellenwesen sind weder hier noch da, sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen. [...] So wird der Schwellenzustand häufig mit dem Tod, mit dem Dasein im Mutterschoss, mit Unsichtbarkeit, Dunkelheit, Bisexualität, mit der Wildnis und mit einer Sonnen- oder Mondfinsternis gleichgesetzt. Schwellenwesen wie Neophyten [Neubekehrte] in Initiations- oder Pubertätsriten können symb olisch als Wesen dargestellt werden, die nichts besitzen. Sie mögen als Monsterwesen verkleidet sein, nur ein Minimum an Kleidung tragen oder auch nackt gehen und so demonstrieren, dass sie als Schwellenwesen keinen Status, kein Eigentum, keine Insignien [...] besitzen, [nichts] was sie von ihren Mitneophyten oder –initianden unterscheiden könnte. Ihr Verhalten ist normalerweise passiv und demütig; sie haben ihren Lehrern strikt zu gehorchen und willkürliche Bestrafung klaglos hinzunehmen. Es ist, als ob sie auf einen einheitlichen Zustand reduziert würden, damit sie neu geformt und mit zusätzlichen Kräften ausgestattet werden können, die sie in die Lage versetzen, mit ihrer neuen Station im Leben fertig zu werden. Untereinander neigen die Neophyten dazu, intensive Kameradschaft und Egalitarismus zu entwickeln. Weltliche Status- oder Rangunterschiede verschwinden. [...] Wir werden in solchen Riten mit einem »Augenblick in und ausserhalb der Zeit«, in und ausserhalb der weltlichen Sozialstruktur konfrontiert, der – wie flüchtig er auch sein mag – das (wenn auch nicht immer sprachlich, so doch symbolisch zum Ausdruck gebrachte) Erkennen einer generalisierten sozialen Bindung offenbart, die aufgehört hat zu bestehen und gleichzeitig erst noch in eine Vielzahl struktureller Beziehungen unterteilt werden muss. [...] Das [...] Modell, das in der Schwellenphase deutlich erkennbar wird, ist das der Gesellschaft als unstrukturierte oder rudi tualität von Reisen in die Sowjetunion und nach Rußland. In: Tourismus Journal H. 3, Bd. 4 / 2000, 399-422. 26 Hermann Hesse, in dessen Romanen sich zahlreiche ritualisierte Handlungssequenzen finden, gestaltet in seinem Roman Demian (1919) Emil Sinclairs sozialen Abstieg in Pflichtvergessenheit und Alkoholexzesse als symbolischen Tod, von dem ihn erst die Begegnung mit dem Zeichen und der Glaubensformel des Gottes Abraxas wieder zum Leben erweckt. Sein Äußeres verändert sich ebenso wie seine Einstellung, er erlebt eine symbolische Wiedergeburt. In der Phase vor seinem Erweckungserlebnis, also in der Zwischen- bzw. »Liminalitätsphase« besteht eine offene Alternative zwischen sozialer Marginalität und Neuanfang, zwischen Ausbruch aus und Rückkehr in die alte Ordnung. 35 1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen mentär strukturierte und relativ undifferenzierte Gemeinschaft [...] Gleicher, die sich gemeinsam der allgemeinen Autorität der rituellen Ältesten unterwerfen. (Turner 251f.) Die Sozialform der Schwellenphase bezeichnet Turner als »Communitas« und stellt sie der »Struktur« als normaler Funktionsform der Gesellschaft (hierarchisch, unterschiedlich bewertete Positionen, soziale Unter- und Oberschicht, Arbeit, Konkurrenz- und Leistungsprinzip) gegenüber. »Der Schwellenzustand impliziert, dass es kein Oben ohne das Unten gibt und dass der, der oben ist, erfahren muss, was es bedeutet, unten zu sein.« (Turner 253) Damit fällt das Phänomen der »verkehrten Welt« unter die Definition der Liminalitätsphase: Als vorübergehend ist sie von der geltenden Sozialstruktur anerkannt und regelmäßig zugela ssen. In einer Reihe bildhafter sprachlicher Wendungen wird diese nur vorübergehende Grenzüberschreitung von der Normalität zur Devianz* objektiviert, wie z.B. über die Stränge schlagen, Gelegenheit macht Diebe, seine Stunde / Auge nblick usw. nutzen, nachts (d.h. auch unter der Maske, im Kostüm) sind alle Katzen grau. Grundsätzlich besteht aber auch die Möglichkeit, daß die »Liminalitätsphase«, anstatt in die gewohnte Ordnung zurückzuführen, in Formen von Rebellion und Widerstand übergeht, um den bloß vorübergehenden »verkehrten« Zustand in einer neuen Ordnung auf Dauer zu stellen. 36