Ritual und Literatur

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Ritual und Literatur
Ritual und Literatur
Autor:
Burckhard Dücker
Kurs 34567
Inhalt
2
INHALTSVERZEICHNIS
VERFASSER ...........................................................................................................3
VORWORT .............................................................................................................6
Hinweise zur Benutzung des Kurses Ritual und Literatur.............................................................6
NACHSCHLAGEWERKE ..........................................................................................7
1. EINLEITUNG: ALLGEMEINE GRUNDLAGEN ........................................................9
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
1.6
1.7
Typologie literaturbezogener ritualisierter Handlungen ......................................................9
Szenario.......................................................................................................................................16
Gründungsmythen der Literatur..............................................................................................19
Zyklizität, Repetitivität und Singularität...............................................................................22
Ritualisiertes Handeln als Ordnungsfaktor...........................................................................25
Ritualdynamik............................................................................................................................31
Dreiphasenschema der ritualisierten Handlung ...................................................................32
2. RITUALWISSENSCHAFT UND LITERATURWISSENSCHAFT .................................37
2.1 Multidisziplinarität der Ritualwissenschaft ..............................................................................37
2.2 Linguistische Ritualanalysen ......................................................................................................37
2.3 Theatralität / Fiktionalität und Ritualität...................................................................................39
2.4 Syntexte...........................................................................................................................................44
2.5 Ritualwissenschaftliche Erweiterung der Literaturwissenschaft ..........................................46
2.6 Zur Struktur ritualisierter Handlungssequenzen......................................................................48
3. LITERATURPREISE...........................................................................................53
3.1 Zur Forschungssituation ..............................................................................................................54
3.2 Mäzenatentum................................................................................................................................59
3.3 Dichterkrönung..............................................................................................................................64
3.4 Petrarca-Preis .................................................................................................................................69
3.5 Christian-Wagner-Preis ................................................................................................................70
3.6 Der Nobelpreis für Literatur........................................................................................................78
4. LITERARISCHE GESELLSCHAFTEN ...................................................................83
4.1 Die Johann-Gottfried-Schnabel-Gesellschaft...........................................................................84
5. DICHTERGRUPPEN – S CHRIFTSTELLERVEREINIGUNGEN ..................................88
5.1 Die Gruppe 47................................................................................................................................88
5.2 Gruppe 61 / Werkkreis für Literatur der Arbeitswelt............................................................105
5.3 Sprachgesellschaften..................................................................................................................110
5.4 Meistersinger................................................................................................................................118
5.5 Literarisch-politischer Salon .....................................................................................................120
6. BÜCHERVERBRENNUNG.................................................................................128
7. BIBLIOGRAPHIE .............................................................................................134
8. GLOSSAR.......................................................................................................144
Verfasser
Verfasser
Burckhard Dücker
geb. 1950
1999 Venia legendi für das Fach Deutsche Philologie: Neuere Literaturwissenschaft
Privatdozent an der Universität Heidelberg
seit 2002 Leiter des Forschungsprojekts Kanonbildung durch Ritualisierung: Internationale Literaturpreise
Selbständige Veröffentlichungen / Edition
Wolfgang Hildesheimer und die deutsche Literatur des Absurden. Rheinfelden
1976.
Theorie und Praxis des Engagements. Zur Geschichte eines literarisch-politischen
Begriffs. Diss. Heidelberg 1978.
Peter Härtling. Eine Einführung in Leben und Werk. Reihe ›Autorenbücher‹.
München 1983.
Kritik und Geschichte der Intoleranz. Hrsg. von Rolf Kloepfer und Burckhard
Dücker. Heidelberg 2000.
Erlösung und Massenwahn. Zur literarischen Mythologie des Sezessionismus im
20. Jahrhundert: Wiedertäufer, Heilsbringer, Marsyas, Kinderkreuzzug, Rattenfänger. Heidelberg 2003.
Aufsätze / Studien
Der offene Brief als Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung. In: Sprache
und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 69/1992, 32-42.
»Nur eine russische Berichterstattung kann meinen guten Ruf retten.« Rußlandorientierungen deutscher Künstler und Schriftsteller im 20. Jahrhundert. In:
Dietrich Harth (Hg.): Fiktion des Fremden. Erkundung kultureller Grenzen in
Literatur und Publizistik. Frankfurt am Main 1994, 137-158.
»Es lebe der Kommunismus und die katholische Kirche«. Intellektuelle Selbstverständigung als gesellschaftliches Orientierungsangebot. Zu Franz Bleis Zeitschriften Summa und Die Rettung. In: Dietrich Harth (Hg.): Franz Blei. Mittler
der Literaturen. Hamburg 1997, 47-65.
»Dank an meine Freunde und Gegner - ohne sie kein Profil« (E. Jünger). Zu den
Kontroversen um Ernst Jünger, Günter Grass und Annemarie Schimmel. In:
Cahiers d'Etudes Germaniques 32/1997, 97-115.
Reisen in die UdSSR 1933-1945. In: Peter J. Brenner (Hg): Reisekultur in
Deutschland: Von der Weimarer Republik zum ›Dritten Reich‹. Tübingen
1997, 253-283.
3
Verfasser
Die Bibliothek als kulturelle Begegnungsstätte. In: 175 Jahre Gymnasium Miche lstadt. Michelstadt 1998, 167-187.
Krieg und Zeiterfahrung. Zur Konstruktion einer neuen Zeit in Selbstaussagen
zum Ersten Weltkrieg. In: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des
»modernen« Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film. Hg. von
Thomas F. Schneider. Osnabrück 1999, Bd. 1, 153-172.
Vorwort. In: R. Kloepfer / B. Dücker (Hg.): Kritik und Geschichte der Intoleranz.
Heidelberg 2000, XV-XXIV.
Intoleranz und interkulturelle Vermittlung. Anmerkungen zu Prometheus. In:
R. Kloepfer / B. Dücker (Hg.): Kritik und Geschichte der Intoleranz. Heidelberg
2000, 309-328.
Zur Ritualität von Reisen in die Sowjetunion und nach Rußland. In: Tourismus
Journal H 3, Bd. 4 / 2000, 399-422.
Zur unverbrauchten Aktualität des Kriegsthemas im offenen Brief. In: Ursula
Heukenkamp (Hg.): Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in
deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961). Amsterdamer Beiträge zur
neueren Germanistik Band 50.2, Amstderdam 2001, 717-731.
»Warum bin ich kein Goethe?« Formen literarischer Selbstinszenierung bei Wilhelm Waiblinger. In: Euphorion 2/2002, 171-192.
Joseph Roths Reiseberichte aus Osteuropa: Sowjetunion, Albanien, Polen. In:
Estudios Filologicos Alemanes (2003) 2, 143-161.
Ritus und Ritual im öffentlichen Sprachgebrauch der Gegenwart. In: Dietrich
Harth / Gerrit J. Schenk (Hg.): Riten und Rituale im Leben der Kulturen. Heidelberg 2003.
Selbstinszenierung und Kanonisierung: Strukturmerkmale ritualisierter Öffentlichkeit. In: IABLIS Jahrbuch für europäische Prozesse. Hg. von Ulrich
Schödlbauer. Öffentlichkeit als Bühne: Kontaminationen. 2. Jg. 2003, S.71-96,
Heidelberg 2003.
»Doch Wort und Tat muss zusammenstimmen« (Christian Wagner 1902). Kulturtransfer und Ritualisierung des Authentischen in der Literatur zu Beginn des
20. Jahrhunderts. In: Gregor Kokorz / Helga Mitterbauer (Hg.): Übergänge und
Verflechtungen. Kulturelle Transfers in Fallstudien. Bern 2003.
Auflösung Wandlung Neuanfang. Aspekte des Kulturwandels in Hermann Brochs
Die Schlafwandler. In: Michael Kessler (Hg.): Neue Studien. Festschrift für
Paul Michael Lützeler zum 60. Geburtstag. Unter Mitarbeit von Marianne Gruber, Barbara Mahlmann-Bauer, Christine Mondon und Friedrich Vollhardt. Tübingen 2003. S. 45-66.
Deutsche Gefangenenberichte aus Sibirien und Rußland. In: Sibirienbilder: Konzeptulisierungen von Rußlands Nordosten in den Kulturwissenschaften. Symposionsband zur Kieler Konferenz von 2002. (In Vorbereitung).
Lexikonartikel
Absurde Literatur, Brief, Rede in:Walter Killy (Hg): Literaturlexikon Begriffe,
Realien, Methoden Bde.13 (14f, 124-129), 14 (270-274), hg. von Volker Meid.
München 1993.
4
Verfasser
Explication de texte, Günther Anders, Literaturdidaktik in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze - Personen - Grundbegriffe, hg. von Ansgar
Nünning. Stuttgart 1998, 16, 139f, 320.
Kultur in: Historisches Lexikon der Rhetorik, Bd. 4., hg. von Gerd Ueding. Tübingen 1998, Sp. 1384-1420.
Ritual, Zeit in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von Ansgar
Nünning. Stuttgart 22001, 558-559, 687-689.
Gründung (245), Ritual (512/13), Ruine (510/11), Ursprung (613-615) in: Lexikon Gedächtnis und Erinnerung, hg. von Nicolas Pethes und Jens Ruchatz.
Reinbek 2001.
Rezensionen
Kanon. Rezensionsessay zu: Maria Moog-Grünewald (Hg.): Kanon und Theorie.
Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Bd. 3.
Heidelberg 1997. Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. DFGSymposion 1996. Stuttgart Weimar 1998. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 1/2000, 143-159.
»Die Form des ›offenen Briefes‹ entspricht meinem Geschmack durchaus«. Rezensionsessay zu: Rolf Bernhard Essig: Der offene Brief. Geschichte und
Funktion einer publizistischen Form von Isokrates bis Günter Grass. (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft;
267) Würzburg 2000. In: IASLonline (http://iasl.uni-muenchen.de 2002), 12 S.
Die Aktualität des Kanons. Rezensessay zu Gerhard R. Kaiser/ Stefan Matuschek
(Hg.): Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literaturund Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie; Stefan Neuhaus: Revision
des literarischen Kanons. Göttingen 2002. In: IASLo nline (http://iasl.unimuenchen.de 2002), 14 S.
Hermeneutik als Bildungsprogramm. Rezensionsessay zu Reimund Sdzuj: Historische Studien zur Interpretationsmethodologie der frühen Neuzeit. Würzburg
1997. In: International Journal of the Classical Tradition. Boston, (Summer
2002), 96-116. (im Erscheinen).
Zahlreiche Rezensionsreferate in ›Germanistik‹
Der vorliegende Studienbrief wurde angeregt durch die Mitarbeit des Verfassers
in dem von der DFG bewilligten SFB 619 (›Ritualdynamik‹) der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg
5
Vorwort
Vorwort
Hinweise zur Benutzung des Kurses Ritual und Literatur
Der Themenkomplex Ritual und Literatur verfügt noch nicht über eine lange und
materialreiche Forschungsgeschichte. Weil dieser Kurs den Themenkomplex, seine Fragestellungen und Begriffe systematisch entwickelt, empfiehlt es sich, zumindest die Kapitel 1 (Einleitung) und 2 (Ritualwissenschaft und Literaturwissenschaft) in der vorliegenden Reihenfolge zu lesen. Hier werden Begriffe und
grundsätzliche Zusammenhänge dargestellt, die die Literaturwissenschaft z.T. mit
anderen Disziplinen teilt. Für Begriffe mit * findet sich bei ihrem erstmaligen
Auftreten eine Erklärung im Glossar.
In den folgenden Kapiteln geht es um Fallbeispiele für den Komplex von Ritual und Literatur, die die Kenntnis der beiden ersten Kapitel voraussetzen, aber
im übrigen unabhängig voneinander gelesen werden können.
Die Aufgaben beziehen sich z.T. auf die Teilnahme an literaturfundierten
ritualisierten Handlungen und deren Beschreibung. Des weiteren erfordern die
Aufgaben selbständige Materialrecherche im Internet, was z.T. durch die Angabe
von Adressen erleichtert und vorbereitet wird. Literarische Texte, auf die sich
einige Aufgaben beziehen, können Sie ggf. im Internet unter www.projektgutenberg.de finden. Für die Suche nach gedrucktem Material und Definitionen
von Fachbegriffen sowie für die Information über Biographie und Werk von Autoren werden hier in den Hinweisen einige Standardnachschlagewerke genannt.
Zahlreiche Universitäten haben auf der Basis einiger Fachlexika entsprechende
Datenbanken eingerichtet, deren kostenlose Nutzung allerdings in der Regel die
Immatrikulation an dieser Universität voraussetzt. Selbstverständlich sind die
Aufgaben in angemessener schriftlicher Form anzufertigen.
Für zahlreiche Fachbegriffe gibt es Erklärungen im Glossar. Das Literaturverzeichnis umfaßt alle zitierten Bücher und Aufsätze. Texte, auf die nur zum
Vergleich oder zur weiteren Information hingewiesen wird, werden in der Regel
in den Fußnoten vollständig bibliographisch nachgewiesen. Dies gilt auch für
Zeitungsartikel; deren reichliche Nutzung liegt in der Aktualität und besonderen
Qualität des hier behandelten Themenkomplexes begründet. Zugleich sollten Sie
sich als Leser des Kurses anregen lassen, vor allem Tages- und Wochenzeitungen
in bezug auf die Kursthematik gründlich zu lesen und passende Artikel auszuschneiden und zu sammeln, um sich auf diese Weise selbst eine Dokumentation
der wirklich aktuellen Literaturgeschichte - oder angemessener – der literarischen
und kulturellen Ereignisse zusammenzustellen.
Noch ein Hinweis: In den abgedruckten älteren Texten findet sich häufig ›v‹
für ›u‹ im Schriftbild, was beim Lesen zu beachten ist.
6
Nachschlagewerke
Nachschlagewerke
Nicht fachgebundene Nachschlagewerke
Brockhaus Enzyklopädie. Neueste Auflage
Der Große Meier. Neueste Auflage
Duden Enzyklopädie
Autorenlexika
Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), hg. durch die Historische Kommission
bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften. 56 Bde. Leipzig 1875-1912.
Neue Deutsche Biographie (NDB), hg. von der Historischen Kommission bei der
Bayrischen Akademie der Wissenscha ften. Bd. 1-16. Berlin 1953-1990.
Wörterbuch
Grimm, Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, hg. von der Deutschen
Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. 1-32. Leipzig 1854-1960.
Literatur- und kulturwissenschaftliche Nachschlagewerke Autorenlexikon
Killy, Walther u.a. (Hg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. 13 (15) Bde. Gütersloh / München (Bertelsmann Lexikon Verlag) 19881993.
Werklexikon
Kindlers neues Literatur Lexikon (KLL), hg. von Walter Jens. 20 Bde. München
(Kindler) 1988ff.
Sachlexika
Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart (Kröner) neueste
Auflage.
Killy, Walther u.a. (Hg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Begriffe: Bd. 13 u. 14. Gütersloh / München (Bertelsmann Lexikon Verlag) 1992/93.
Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von Ansgar Nünning. 2. Aufl.
Stuttgart (Metzler) 2001.
Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, hg. von Nicolas Pethes u. Jens Ruchatz. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt Taschenbuch Verlag)
2001.
Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker,
Wolfgang Stammler, hg. von Werner Kohlschmidt. Berlin (de Gruyter) 1958ff.
7
Nachschlagewerke
Literaturgeschichten
Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur
Gegenwart, hg. von Rolf Grimminger. 12 Bde. München (Hanser) 1980ff. (zugleich als dtv-TB).
Deutsche Literatur Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Von Wolfgang Beutin u.a. Stuttgart (Metzler) Neueste Auflage.
8
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
1.1 Typologie literaturbezogener ritualisierter Handlungen
Schlägt man in einer beliebigen Ausgabe einer überregionalen Tageszeitung die
Feuilleton- oder Kulturseiten auf, so stößt man mit einiger Wahrscheinlichkeit auf
Nachrichten, Berichte und Kommentare, in denen es um die aktuelle Verleihung
eines Literaturpreises, die Lesung eines Autors in der Stadtbücherei, einer Schule
oder Buchhandlung, um die Ernennung eines Autors zum Stadtschreiber oder
auch um die Gedenkfeier zur Erinnerung an ein lange zurückliegendes Ereignis
wie die Bücherverbrennung im Mai 1933 geht. Gemeinsam ist diesen Meldungen,
daß sie sich auf literarische Texte, Autoren und kulturelle Ereignisse beziehen, die
Gegenstand öffentlicher Handlungen sind. Gemeinsam ist diesen Ereignissen
auch, daß im Mittelpunkt gerade kein Text, sondern eine Person oder Gruppe
steht. Dabei agieren Menschen auf Bühnen, stellen sich im Licht der Öffentlichkeit dar, weil ihr Verhältnis zu Büchern gesellschaftlich und kulturell von Bedeutung ist.
Literarisch Interessierte kommen zur bestimmten Zeit am bestimmten Ort
zusammen, um gemeinsam an der festlichen Auszeichnung eines Autors teilzunehmen, um einen Autor scheinbar ›live‹ als Person hinter seinen Büchern zu erleben oder um im Gedenken an die Bedrohung der literarischen Kultur und Tradition gemeinsam deren Wert und die Verpflichtung für deren Kontinuität zu erfahren und zu demonstrieren. Es handelt sich um Konstellationen, die dadurch definiert sind, daß sie immer wieder in regelmäßigen Zeitabständen aktuell sind, daß
sie zumeist nach dem gleichen Muster öffentlich inszeniert, aus- und aufgeführt
bzw. vollzogen werden, Gemeinschaftserfahrung ermöglichen und daß die mediale Vermittlung (Ankündigung, Bericht, Kommentar, Archivierung) für ihr Zustandekommen erforderlich ist.
Alle diese Veranstaltungen zielen darauf, die Publizität, Reputation, Geltung
bzw. den Status eines literarischen Textes, eines Autors oder eines erinnerten
kulturellen Ereignisses zu modifizieren, was in der Regel nichts anderes heißt als
aufzuwerten und vor dem Vergessen zu bewahren. Das geschieht, indem Geltung
bzw. Status von Text, Autor oder Ereignis öffentlich bestätigt werden, damit ihre
Deutungsmacht den Prozessen öffentlicher Meinungsbildung erhalten bleibt.
Letztlich geht es bei diesen Veranstaltungen um die Konstruktion kulturellen
Sinns und die Produktion von Orientierungswissen.
Diese und viele andere Situationen, in denen literarische Texte für soziales
Handeln konstitutiv sind, werden in diesem Kurs als literaturfundierte oder -bezogene ritualisierte Handlungsabläufe oder -sequenzen bezeichnet. Um diesen
thematischen Zusammenhang durch weitere Beispiele zu verdeutlichen, sei daran
erinnert, daß besonders seit den Epochen der Renaissance (14.-16. Jh.) und des
Barock (17. Jh.) bis in die Gegenwart häufig Widmungs- 1 und Huldigungsge_________________________________________________
1 Vgl. Arnold Rothe: Wandlungen des Widmungsrituals, in: Wolfenbütteler Forschungen Bd. 34
Formen innerliterarischer Rezeption, hg. von Wilfried Floeck, Dieter Steland, Horst Turk.
9
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
dichte publiziert, Gedichte und kurze Prosatexte anläßlich von Eheschließungen
(Hochzeitscarmen) 2 und Trauerfeiern (Leichenpredigt) 3 , Geburten und Taufen
veröffentlicht werden, daß Neuerscheinungen in feierlichem Rahmen mit offiziellen Ansprachen und Signierstunde vorgestellt werden, ein Dichtermuseum oder
-denkmal festlich eingeweiht und alljährlich dieser Einweihung in einer Erinnerungsfeier gedacht wird und - um die Beispielreihe abzubrechen - Schriftstellergruppen sich zu regelmäßigen Zusammenkünften treffen, die stets nach dem gleichen Schema ablaufen.
Als Ritualveranstalter (Finanzierung, administrative Organisation) fungiert in
der Regel eine Institution, die bei der Aufführung (Performanz*) durch einen /
mehrere Repräsentanten in Erscheinung tritt. Als Akteure werden Personen bezeichnet, die die rituellen Handlungen zumeist auf einer Bühne ausführen; hinzu
kommen ›Zuschauer‹ bzw. ›Publikum‹, die als Ritualteilnehmer gemeinsam mit
den Akteuren die Ritualgemeinschaft bilden.
Zur Minimalausstattung eines literaturfundierten Rituals gehören daher Veranstalter, Akteur, Ort (Raum, Pult, markierter Platz), Zeit (regelmäßige Wiederholung zum angekündigten gleichen Termin), Öffentlichkeit (Teilnehmer, Medien). Literarische Texte geraten nicht isoliert in den Blick, sondern stets in Verbindung mit symbolischen Praktiken. Ausgangs- oder Bezugspunkt sind performative
Handlungen.
Dieser Kurs behandelt ausschließlich Handlungsabläufe, die die soziokulturelle Bedeutung von Autorschaft, Literatur und kulturellem Ereignis entweder
zustimmend, d.h. affirmativ oder kritisch betreffen; wer nach literarischen Ursprüngen dieser Aufführungen sucht, würde sich vergeblich bemühen. Als Auszeichnungshandlung eines Autors ist z.B. eine Literaturpreisverleihung aus sich
heraus verständlich, zugleich verweist sie aber durch die Art ihres inszenierten
Vollzugs auf neue Sinnbezüge, seien es solche der diachronen (Tradition, vergleichbare historische Handlungen) oder der synchronen (Gegenwart, gleichzeitige Aufführungen anderer Preisverleihungen) Koordinate. Wenn die Dotation ei-
Wolfenbüttel 1987, 7-20.
2 Z.B. Johann Gottfried Schnabel: Das höchst-erfreute Stolberg [1737]. In: Jahrbuch der Johann-
Gottfried-Schnabel-Gesellschaft 1996. St. Ingbert (Röhrig Universitätsverlag) 1996, 67-112.
Es handelt sich um ein Hochzeitscarmen sowie um die ausführliche Beschreibung des Ve rlaufs der Hochzeitsfeier eines Grafen zu Stolberg mit Berücksichtigung sämtlicher Progra mmeinlagen. Vgl. dazu die Einführung von Wolfgang Knape im selben Band (55-66): »Mein
Ammt ist, aller Welt zu sagen, was sich in Stolberg zugetragen« - Johann Gottfried Schnabel
als Hochzeitschronist.
3 Seit Beginn des 17. Jahrhunderts bestehen Leichenpredigten meist aus folgenden Bestandteilen:
1. Dem Titelblatt mit der Widmung bzw. Vorrede des Geistlichen an die Hinterbliebenen
sowie die Gemeinde, 2. dem eigentlichen Text der christlichen Leichenpredigt, 3. den
Personalien bzw. dem Lebenslauf des Toten, 4. der vom Geistlichen oder meist einem
nahestehenden Laien gehaltenen Abdankung (Parentation), d.h. einer Würdigung der
Verdienste des Toten und 5. den Epicedien, d.h. den Trauer- und Trostgedichten von
Verwandten und Freunden. Außerdem konnten die Leichenpredigten mit Bildern, Wappen
und Noten geschmückt sein.« (Lücke 1995, VII) Leichenpredigten gehören zu den
Personalschriften, für die es bei der Universität Marburg eine eigene Forschungsstelle gibt:
www.uni-marburg.de/fpmr/welcome.html
10
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
nes Literaturpreises nicht einfach auf das Konto des Preisträgers überwiesen, sondern in einer öffentlichen ritualisierten Verleihungsaufführung übergeben wird,
dann deshalb, weil die Ritualisierung den technischen Vorgang des Geldtransfers
umwandelt zu einem Schenkungsakt, einem aus Kulturgeschichte und Ethnologie
bekannten elementaren Vorgang der Interaktion*: geben und nehmen (wobei es
sich zumeist um ein wiedergeben) handelt, bindet die Partner dauerhaft aneinander, weil sie durch die Gabe eine sichtbare Beziehung eingegangen sind. Ritualisierung umfaßt also den technischen Vorgang und mehr, sie verändert dessen
Qualität, indem sie ihm etwas hinzu fügt: die öffentliche Bestätigung der Statusbzw. Geltungsmodifikation des Autors als Preisträger und die der mäzenatischen
Funktion der verleihenden Institution, die sich durch die Verleihung eine Gelegenheit zur Selbstinszenierung verschafft. Durch ihre Einbeziehung in eine ritualisierte Handlung werden Urkunde und Scheck zu Symbolen des Prestige- und
Statusgewinns. Eine so vollzogene Schenkung wertet das Ansehen des Beschenkten auf und soll die Beteiligten verpflichten, ihm in Zukunft die entsprechende Anerkennung zu erweisen, was wiederum die Geltung der schenkenden
Organisation erhöht. Der Begriff der Ritualisierung wird hier im Sinne eines
Handlungsmusters gebraucht, das zur Markierung bzw. Privilegierung eines literaturfundierten sozialen Handlungsvollzugs als kollektiven Sinn stiftender Prozeß
bereit steht. Schon an dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, daß ritualisiertes Handeln nicht bedeutet, eine soziale Situation zu deuten; vielmehr markiert und vollzieht es die Geltung einer gegebenen Situation, zur Stiftung kollektiven Sinns
privilegiert zu sein. So stehen sich eine Ebene der Ritualisierungen und eine der
sozialen Situationen gegenüber. Die Formung dieser Hanslungsstruktur z.B. auch
durch den Rückgriff auf historische Elemente kann unabhängig vom literaturgeschichtlichen Geschehen erfolgen.
Wenn hier von Handlungsabläufen gesprochen wird, so bedeutet das zunächst, daß literarische Texte nicht als isoliert, abgeschlossen und autonom gelten,
sondern daß sie soziale Handlungen auslösen, bestimmen oder als Gegenstand
und Teil von Handlungen verwendet werden. Auch werden sie innerhalb eines
gesellschaftlichen und kulturellen Handlungskontexts erwartet.
Weiterhin verweist der Begriff Handlungsablauf oder –sequenz darauf, daß
ein Wirkungszusammenhang, ein Kontinuum gemeint ist, das sich von einem Anfang als Ursache über mehrere Stationen oder Sequenzen zu einem Abschluß als
Wirkung erstreckt. Weil diese Handlungsstruktur sowohl dem Aufbau einer Erzählung (Handlungsbogen von einem Ausgangsereignis zu einem bestimmten
Abschluß) als auch dem eines Dramas (Handlung durch mehrere Akteure bestimmt) gleicht, wird sie narrativ-dramatisch genannt. Literarische Texte oder
Kulturereignisse (cultural performances) können soziale Handlungsabläufe mit
narrativ-dramatischer Struktur auslösen (z.B. Literaturpreisverleihungen, Dichtergedenkfeiern), sie können aber auch nur eine Sequenz eines solchen Ablaufs ausfüllen (Gelegenheitslyrik zu Hochzeiten, Geburten usw.).
So wie literarische Texte Abschnitte umfassen, die von einer Haupthandlung
ablenken, sie zumindest nicht weiterführen, um Spannung und Aufmerksamkeit
der Leser zu erhöhen, kann auch eine Ritualhandlung Digressionen* (z.B. sehr
11
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
ausführliche biographische oder genealogische Berichte) enthalten. Allerdings ist
es im allgemeinen schwer zu entscheiden, was bei einer Ritualhandlung unverzichtbar (obligatorisch) und was bloße Zugabe (fakultativ) ist.
Neben dem Literaturbezug haben die erwähnten Handlungsabläufe eine ritualisierte Struktur. Der Begriff Ritual ist aus dem lateinischen Wort ›rituale‹ gebildet worden, das seinerseits von›ritus‹ stammt; übersetzt bedeutet ›ritus‹ »festgeschriebene Form, Gebrauch, Sitte« (Dücker Ritual 2001b, 502) häufig mit religiösem Bezug. In allgemeinen Nachschlagewerken wird Ritual erläutert als »in
immer gleicher Form ablaufendes, an bestimmte Anlässe gebundenes Verhalten«
(Brockhaus Wahrig 1983, 401), als »wiederholtes, immer gleichbleibendes, regelmäßiges Vorgehen nach einer festgelegten Ordnung: Zeremoniell« (Duden
1994, 2794), andere Lexika unterscheiden eine allgemeine Bedeutung (»gleic hbleibendes, regelmäßiges Vorgehen nach einer festgelegten Ordnung, Zeremoniell«), eine psychologische (»stereotypes, starres Verhalten, eine feste Abfolge von
Handlungsschritten, die meist an bestimmte Anlässe gebunden sind«) und eine
religiöse (»kultischer Handlungsablauf – Worte, Gesten, Handlungen – der mit
religiöser Zielsetzung – Umgang mit dem Numinosen – in seinen Bestandteilen
genau festgelegten Regeln folgt«, Brockhaus Enzyklopädie 1992, 450).
Ritual bezeichnet demnach die immer erneute Wiederholung eines gleichen
Handlungsablaufs; so haben Eheschließungen, Herrscher- oder Politikertreffen4 ,
Literaturpreisverleihungen in der Regel eine gleiche Verlaufsstruktur, oder - mit
einem religiösen Begriff – die Liturgie ihrer Aufführung ist vorgegeben (obligatorisch), in der Ausführung (Aufwand, Zahl der Teilnehmer, Ort, Höhe des Preisgeldes usw., fakultative Elemente) können sie sich allerdings unterscheiden.
Aufgabe: Schlagen Sie in allgemeinen Konversationslexika und Enzyklopädien
die Lemmata Ritual und Ritus auf. Schreiben Sie die Definitionen heraus, ve rmerken Sie Fehlanzeigen und vergleichen Sie die Einträge hinsichtlich ihrer wortgeschichtlichen Erläuterungen, fachspezifischen Differenzierung, ihrer Präzision
der Definition und der Herkunftsbereiche ihrer Beispiele.
Zur dauernden Wiederholung eines Handlungsablaufs gehört die Erinnerung an
dessen Anfang. Konstitutiv für viele Kulturen ist die Vorstellung, Anfang und
Ursprung als ideale Ausprägungen dessen zu betrachten, woran man sich in der
_________________________________________________
4 Zum Ritual des offiziellen Staatsbesuchs gehören z.B. Straßensperrungen, rote Teppiche, Natio-
nalhymnen und -flaggen, militärische Ehrengarde, Begrüßungen, musikalische Einlagen, Reden, Abschreiten einer Ehrenformation, militärische Ehrenbezeugung, Kulturprogramm,
Kleiderordnung, Extrafahrt durch das Spalier der Bevölkerung, politische Gespräche, Pressekonferenz, Interviews, Berichterstattung in Funk, Fernsehen und Presse, Quartier in abgeschirmtem Gästehaus, Ergebnismitteilung (Verträge, allgemeine zwischenstaatliche Klimaverbesserung). Vgl. auch Thomas Mergel: Einmarsch der Matadore. Symbole und Rituale:
Die neue Politikgeschichte macht sich ethnologische Perspektiven zueigen. In: FR Nr. 55,
06.03.01. Mergel weist auf die Erscheinung der Politiker (»Körperlichkeit, Sprache, Assoziationen, die sie wecken«) als Spiegelbild der Gesellschaft hin. So seien korpulente Politiker
ein Hinweis auf gesellschaftliche Zufriedenheit.
12
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
eigenen Gegenwart orientiert, so wie es am Anfang war, soll es wieder werden. 5
Die Normen des Ursprungs, deren Erfüllung man historischen Epochen zuschreibt, sollen auch die eigene Alltagsnormalität wieder bestimmen. Daher kennen wohl alle Kulturen, aber auch Gesellschaften, Organisationen und Vereine
ritualisierte Abläufe von Fest- und Feiertagen, die dazu dienen, die eigene Tradition und Herkunftsgeschichte als verbindlich zu bestätigen. Alles, was - z.B. während einer ritualiserten Gedenkveranstaltung - diesem Ziel dient, stärkt die Ritua lgemeinschaft; da gerade die Gemeinschaftserfahrung Ziel eines Rituals ist, gehört
dessen Selbstbezüglichkeit oder Autoreferentialität zu seinen Konstitutionselementen. Die durch Tradition und Konvention festgelegten ritualisierten Handlungsschemata, die die Angehörigen einer bestimmten Kultur für viele Situationen
erlernen, erleichtert ihnen ihr Verhalten, zugleich können die vorgegebenen Abläufe aber auch als Hindernis für Neuerungen und Dynamik erscheinen.
Gerade mit Blick auf die Literatur könnte eingewendet werden, daß Eige nschaften wie Kreativität, Innovation und Originalität, die einem literarischen Text
spätestens seit der Genieperiode* im 18. Jahrhundert als Qualitätskriterien zugeschrieben bzw. von ihm erwartet werden, mit standardisierten überindividuellen
Strukturen normierter Präsentationssituationen nicht vereinbar sein können. Darauf ist zu erwidern, daß das Szenario nicht die literarischen Texte betrifft, sondern
deren Geltung bzw. die des Autors als Verfasser literarischer Texte; seine Auszeichnung oder »Konsekration«* (Bourdieu 2001) durch das Verleihungsritual
bedeutet, daß seine Texte dadurch bessere Chancen haben, als Orientierung für
soziales Handeln und im Kampf um die Deutungsmacht öffentlicher Begriffe
verwendet zu werden.
Durch ein Ritual kann die Beziehung zum Transzendenten, Göttlichen oder
auch zu einem anderen höchsten Wert hergestellt werden; die Ritualveranstalter
wollen auf eine gegebene Situation verändernd einwirken. So soll die Geltung
eines Autors durch einen Literaturpreis erhöht, 6 die Erinnerung und Gegenwärtigkeit eines Dichters durch regelmäßige Gedenkfeiern erhalten bzw. intensiviert
werden usw. Ritualisierte Handlungsabläufe umfassen sprachliche (Reden, Gebete, Ansprachen usw.) und nichtsprachliche Komponenten (Zeigen von Symbolen,
Körperkommunikation wie Gestik, Mimik, Bewegungsabläufe usw.).
Die Beispiele haben deutlich gemacht, daß literaturfundierte ritualisierte
Handlungsabläufe in aller Regel nicht spontan durchgeführt werden können, sondern vorbereitet und inszeniert werden müssen. Es sind Situationen, die für die
Beteiligten den Charakter des Besonderen, Nichtalltäglichen, häufig wohl auch
Festlich-Feierlichen haben können, die aber ebenso als ungezwungene Gesellig_________________________________________________
5 In Schöpfungs- und Kulturentstehungsmythen repräsentiert der Ursprung »die Vorstellung von
Reinheit, Einheit, Möglichkeitsfülle und Konfliktlosigkeit der eigenkulturellen Normativität
und erhält deshalb Orientierungsfunktion für die Gegenwart.« (Dücker Ursprung 2001b, 614)
6 So ist der ›aspekte‹-Literaturpreis ausdrücklich auf die Kanonisierung der ausgezeichneten Auto-
ren angelegt. Es wird erwartet, daß die Autoren, »die zwischen 1979 und 1988 mit dem
›aspekte‹-Literaturpreis ausgezeichnet wurden, um die Wende des Jahrtausends zu den allgemein anerkannten Repräsentanten der deutschen Gegenwartsliteratur zählen werden.«
(›aspekte‹-Literaturpreis 1988, 4)
13
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
keit inszeniert sein können. 7 Je nach den soziokulturellen Voraussetzungen der
beteiligten Personen und Institutionen kann die Gestaltung der ritualisierten
Handlung unterschiedlich ausfallen. Für das Ensemble eines literaturfundierten
ritualisierten Handlungsablaufs wird in diesem Kurs der Begriff Szenario verwendet. Um dessen Anfang und Ende zu bestimmen, wird von einem konstruktiven
Kontextbegriff ausgegangen; weil Kontext nichts Natürliches bezeichnet, das man
unmittelbar wahrnehmen kann, sind für jeden Einzelfall eines Szenarios die Grenzen seines Kontexts zu definieren, Kontext ist also Ergebnis eines Deutungsvorgangs. 8
Von Szenarios ist grundsätzlich die Gestaltung von Ritualen in literarischen
Texten zu unterscheiden. Im ersten Fall geht es um reale historische, soziale und
kulturelle ritualisierte Handlungssequenzen, um die Beteiligung realer Personen
wie Autoren, Leser, Politiker, Repräsentanten literarischer Gesellschaften usw.,
im zweiten um Rituale als Motive und Gegenstände einer erfundenen, fiktionalen
Welt. Für Autoren, deren Bücher dem Szenario der Bücherverbrennung der Nationalsozialisten zum Opfer fallen, verändert sich dadurch die konkrete Lebenssituation; wenn Hermann Broch in seinem 1935 konzipierten Roman Die Verzauberung (veröffentlicht erst postum 1953) an mehreren Beispielen das Motiv des
mythisch-religiösen Rituals ausführlich gestaltet, löst das keine Veränderung der
bestehenden Wirklichkeitsstruktur aus. Allerdings könnten die Leser durch die
verdichtet dargestellte politisch-manipulative Strategie des Romanhelden Ratti
aufmerksam werden auf Phänomene ihrer realen politisch-gesellschaftlichen Lebenswelt.
In der gesamten europäischen Überlieferung sind seit der griechischen Antike
literaturfundierte ritualisierte Handlungsabläufe nachweisbar, die auf zwei Grundformen basieren, deren Struktur im Laufe der Geschichte kaum verändert wurde,
für die sich allerdings zahlreiche Handlungstypen ausdifferenziert haben. Es handelt sich um das Grundmuster Dichterkrönung (poeta laureatus), zu dem alle diejenigen Szenarios gehören, die der Verehrung, Ehrung, Kritik und Verurteilung
einzelner Autoren gewidmet sind; das zweite Grundmuster bildet das Symposion,
zu dem alle Formen literaturbezogener und -fundierter Gruppenbildung gehören.
In der Regel bestehen Ausprägungen beider Grundmuster nebeneinander im gleichen soziokulturellen und historischen Kontext. Forschungstheoretisch und –
praktisch ist nicht von einem einzelnen Ritual auszugehen, sondern von einem je
gruppen- bzw. kollektiv- oder kulturspezifischen Ritualsystem. So verdichten sich
in den verschiedenen Literaturpreisverleihungen jeweils unterschiedliche Kultur_________________________________________________
7 Wolfgang Braungart (1992, 4), der mehrere Veröffentlichungen zum Thema Ritual und Literatur
vorgelegt hat, definiert Ritual durch fünf Elemente: »a) durch die Wiederholung einer Handlung; b) durch Festlichkeit und Feierlichkeit; c) durch Selbstbezüglichkeit; d) durch Akteure
und Zuschauer, die sich der Bedeutsamkeit des Rituals bewußt sind; e) durch eine ästhetischsymbolische Ausgestaltung, die das Ritual heraushebt und unterscheidet.«
8 »The difficulties of specifying precisely what constitutes the relevant context and of marking the
context’s boudary, arise from the fact that the specification of the context is itself the result of
interpretation. In this sense, meaning is as much context-dependent as context is meaningdependent.« (50) Ladislav Holy: Contextualisation and Paradigm Shifts. In: Roy Dilley
(Hg.): The problem of context. New York (Berghahn Books) 1999, 47-60.
14
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
15
den verschiedenen Literaturpreisverleihungen jeweils unterschiedliche Kultursegmente, weil die Preise nach unterschiedlichen Wertvorstellungen gestiftet und
vergeben werden. Will man z.B. typische Merkmale eines bestimmten historischen Zeitabschnitts benennen, um einen stimmigen und plausiblen Begriff der
Epoche zu entwickeln, so müßte systematisch und methodisch auch die Vielheit
der Szenarios und Kulturereignisse sowie die Frequenz ihrer Aufführungen berücksichtigt werden. Von den beiden literaturbezogenen ritualisierten Grundfo rmen Dichterkrönung und Symposion ist als dritte Gruppe die der biographischzivilgesellschaftlichen Rituale zu unterscheiden. Hinzu kommen historischgesellschaftliche Rituale wie z.B. das Duell, 9 die Grundsteinlegung und der erste
Spatenstich, das Richtfest, akademische Rituale. 10
Dichterkrönung
Symposion
biographische Rituale
Preisverleihung
Schriftsteller-/Dichtergruppe /-kreis
Geburt / Taufe
Lesung mit Diskussion
literarische Gesellschaft
Hochzeit/Eheschließung / Scheidung
Poetikdozentur
literarischer Salon
Prüfungen / Examina
Interview
Akademie
Vereidigungen / Gelöbnis
Bücherverbrennung
Bücherverbrennung
Initiation / Investitur / Jubiläen
Stadtschreiber
Jour fixe
Trauerfeier / Beerdigung / Sterberitual
Signierstunde
Dichterfeier
Heilung
Besuch beim Dichter
(peregrinatio poetica)
Begegnung Schriftsteller – Politiker
Neuerscheinung
Aufgabe: Prüfen Sie mindestens eine Woche lang die Feuilleton- und Kulturseiten einer überregionalen Tageszeitung: Berücksichtigen Sie alle Meldungen, die
sich auf literaturfundierte ritualisierte Handlungssequenzen beziehen (s. o. Tabelle). Notieren Sie, was Sie aus diesen Meldungen über die konkreten Abläufe, die
Geschichte, Zielsetzungen der Literaturpreisstiftungen usw. und die Intervalle der
Wiederholungsaufführungen erfahren. Ergänzen Sie diese Informationen durch
entsprechende Klicks bei den Stichworten im Internet!
_________________________________________________
9 Zum Krieg als Ritual vgl. Barbara Ehrenreich: Blutrituale. Ursprung und Geschichte der Lust am
Krieg. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1999. (Orig.: Blood Rites. Origins and History of the
Passions of War. 1997)
10 Vgl. Falk Bretschneider / Peer Pasternack: Rituale der Akademiker. In: hochschule ost H. 3-4 /
99, 9-46.
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
1.2 Szenario
Geht man von Szenarios als literaturwissenschaftlichem Forschungsgegenstand
aus, so hat dies für konkrete Untersuchungen eine Reihe von Konsequenzen, die
in den folgenden Kapiteln dargestellt werden. Wissenschaftliche Aufmerksamkeit
kann – salopp formuliert - mit der Zeitungslektüre am Frühstückstisch beginnen;
wenn die Wissenschaft ihre Gegenstände im Feuilleton finden kann, so folgt daraus die systematische Berücksichtigung der Massenmedien als Materialquelle.
Dies mag zugleich auf offene Grenzen zwischen literarischen Ereignissen und
dem politisch-gesellschaftlichen Bereich hinweisen. Es leuchtet ein, daß in jedem
Szenario nur jeweils bestimmte Handlungen und Erfahrungen mit Literatur und
kulturellen Ereignissen möglich sind. Wer an einer Literaturpreisverleihung teilnimmt, erwartet zumeist die feierliche Auszeichnung eines Autors, deren Ablauf
unabhängig vom Preis in der Regel stets das gleiche Schema aufweist: Begrüßungsrede, Laudatio* (Lobrede) auf den Autor mit der Begründung, warum gerade dieser Autor den Preis erhalten hat, Überreichung des Preises als Urkunde oder
Medaille mit einem Scheck, Dankrede des Autors, vielleicht eine musikalische
Umrahmung und als Abschluß ein zwangloser Stehempfang, bei dem die Möglichkeit zum Gespräch mit dem Autor besteht. Kein Teilnehmer rechnet mit
Streitgesprächen z.B. über literarische Richtungen, mit offenen Konflikten zwischen den Beteiligten z.B. über die politische Funktion der Literatur oder mit der
öffentlichen Ankündigung des vorgesehenen Preisträgers, den Preis nicht anzunehmen.
Wer dagegen an einer Autorenlesung mit anschließender Diskussion zw ischen Autor, Spezialisten und anderen Gästen teilnimmt, wird nicht überrascht
sein, wenn kontroverse Positionen formuliert werden und ein annähernder Konsens nur durch eine harmonisierende Zusammenfassung des Moderators gefunden
wird. Dieser Teilnehmer wäre wahrscheinlich enttäuscht, würde er nur übereinstimmende Statements und Konsensformeln hören. Hätte er doch in diesem Fall
nur eine sehr einseitige, perspektivenarme Präsentation des Autors erfahren.
Szenario bezeichnet also einen be- und umgrenzten sozialen Handlungsraum,
wobei Vorbereitung, Vollzug oder Aufführung und Wirkung stets zum Kontext
gehören. So sind Konflikt, Konkurrenz und Kontroverse einer Preisverleihung in
die vorbereitende Auswahlarbeit der Jury verlagert, wovon in der Regel nichts in
die Öffentlichkeit dringt. Die Jury hat die Kandidaten gleichsam einer Prüfung
unterzogen und entschieden, wer am besten der Intention der Preisstiftung entspricht. Daher verdichten sich im Szenario bestimmte kulturelle Wert- und Normativitätsbestände einer Gemeinschaft, Gesellschaft, eines Kollektivs usw., die in
regelmäßig wiederholten Handlungsabläufen (Preisverleihung in jährlichem,
zweijährigem usw. Rhythmus) zwischen den Beteiligten bestätigt werden.
Ein ritualisiertes Handlungsszenario ist deshalb auch ein Beziehungssystem,
das z.B. Differenz und Konsens, Ferne und Nähe, Fremdes und Eigenes definiert.
So stellt etwa eine literarische Gesellschaft, die einen Literaturpreis vergibt, durch
das Verleihungsritual eine Konsensbeziehung mit dem Preisträger her, der nach
der ritualisierten Verleihung, nach Statusänderung und Geltungszuwachs durch
die Auszeichnung gleichsam die den Preis verleihende Institution und deren nor-
16
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
mative Zielsetzung repräsentiert. In der Regel bestätigt der Preisträger diese Konsensbeziehung durch seine Dankrede grundsätzlich, wobei er aber zumeist nicht
versäumt, um nicht allzu sehr von der Institution vereinnahmt oder instrumentalisiert zu werden, sich durch mehr oder weniger deutliche Differenzmarkierungen
davon abzusetzen und auf eine Position zu orientieren, die außerhalb des instit utionellen Szenarios liegt. Denn als öffentliche Repräsentationsfigur wird er auch
in anderen »Feldern« als dem »literarischen« wahrgenommen, vor allem im soziokulturellen und »politischen« (Pierre Bourdieu) 11 , was sich z.B. in Interviews
mit Literaturpreisträgern zu allgemeinen öffentlichen Themen zeigt. Szenarios
markieren Schnittstellen bzw. Übergänge zwischen unterschiedlichen Erfahrungsbereichen. Daher sind mit dem Szenario als Untersuchungsgegenstand neben literarischen Texten / Textsorten auch nichtliterarische Texte / Textsorten systematisch zu berücksichtigen.
Weiterhin ist demnach für das Szenario der Literaturpreisverleihung ein System von normierten Konsensbeziehungen zwischen der Organisation und sämtlichen Preisträgern zu erwarten, weil diese alle der gleichen Norm der Preisstiftung
entsprechen (vgl. Kap. 1.5). Hinzu kommt ein Feld von unterschiedlichen Differenzkonstruktionen der Preisträger in bezug auf die Organisation, so daß jede
Wiederholung des Verleihungsrituals sowohl die Gemeinschaftserfahrung der
Organisation selbst stabilisiert, weil diese eine Gelegenheit zur öffentlichen
Selbstdarstellung erhält, als auch zugleich ein singuläres historisches Ereignis
darstellt.
Begrenzung bzw. Restriktion der Struktur des jeweiligen Handlungsszenarios
und die Dynamik und Weite seiner Wirkung machen gemeinsam das Besondere
der Szenarios aus. Zwar läuft z.B. jede Verleihung eines bestimmten Preises in
der Regel nach dem gleichen Muster ab, die Wirkungen durch Laudatio und Dankrede z.B. auf den politischen Bereich können allerdings sehr unterschiedlich
sein. Weil die Grenzüberschreitung zum politischen oder einem anderen gesell_________________________________________________
11 Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (19-2002) entwickelt eine Theorie vom sozialen
Raum, der sich in unterschiedliche gesellschaftliche Felder (Politik, Ökonomie, Kultur, Literatur) aufspaltet. Diese konkurrieren aufgrund ihrer spezifischen Möglichkeiten um Gestaltung und begriffliche Besetzung des sozialen Raums. Bourdieu teilt ihnen Kapitalformen zu,
neben ökonomischem Kapital symbolisches, politisches, kulturelles. Wie im herkömmlichen
Kapitalsystem entscheidet der Besitz an feldspezifischem Kapital und dessen Tauschwert
über die Chancen, im Konkurrenzkampf gehört zu werden und mitbestimmen zu können. Das
zum literarischen Feld gehörende symbolische Kapital besteht z.B. aus dem Image, Ruf, Prestige eines Autors, den ihm zur Verfügung stehenden öffentlichen Foren wie Presse, Funk,
Fernsehen, Veröffentlichungsmöglichkeiten in Verlagen mit hoher Reputation, der Frequenz
seiner Auftritte, Lesereisen, der Geltung, Akzeptanz und Beachtung seiner öffentlichen Äußerungen (Reaktion? von wem?), der Qualität und dem Rang seiner Gesprächspartner wie der
seiner Auszeichnungen (Preise, Stadtschreiber, Poetikdozentur usw.). Jeder Literaturpreis bedeutet eine »Konsekration«, d.h. einen Akt der Verklärung, Weihe, Apotheose und erhöht das
symbolische Kapital des Autors, in der Regel auch das ökonomische, verschafft Zugang zu
weiteren Konsekrationen. Die Organisation, die die Konsekration vollzieht, das symbolische
Kapital vergibt, erhält als Gegengabe die Anwesenheit des Autors und die vorübergehende
Medienpräsenz. Weil auch die Organisation vom Rang des konsekrierten Autors profitiert,
kann hier in Erweiterung Bourdieus von einer reziproken Konsekration gesprochen werden.
So sind Rituale zugleich Machtäußerungen und –verteilungen.
17
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
schaftlichen Handlungsfeld zur literaturbezogenen Ritualhandlung gehört, sind
aus der Beobachtung, Beschreibung und Analyse von Szenarios Erkenntnisse über
die soziokulturelle Situation einer Gesellschaft zu gewinnen. Diese synekdochische* Bedeutung des Szenarios, das als partikulares Phänomen gesamtgesellschaftliche Strukturen zu erkennen gibt, ermöglicht und erfordert zugleich die
Aufmerksamkeit der Medien.
Diese lösen Homogenität und Verdichtung12 z.B. durch Informationen über
die Stiftung und Geschichte eines Preises, die Hintergründe der Auswahl des
Preisträgers oder durch Kommentare dazu wieder auf, sie erweitern den öffentlichen Wahrnehmungshorizont. Da die deskriptiven und interpretativen Medienberichte über ein literaturbezogenes Szenario vor allem von den Beteiligten selbst
bzw. von Interessenten zur Kenntnis genommen und archiviert werden, die nicht
teilnehmen konnten, unterstützen diese Berichte den Zusammenhalt bzw. die Kohäsion der Gruppe, so daß auch von einer gruppenkonstitutiven Funktion dieser
Berichte gesprochen werden kann. Stammt der Bericht in einer Lokal- oder Regionalzeitung von einem Gruppenmitglied, so kommt ihm sogar tendenziell eine
selbstbezügliche Funktion zu.
Weiterhin unterstützen die Medienberichte wie auch alle anderen Texte, die
zu einer bestimmten Aufführung des Szenarios geschrieben werden, deren Geschichtlichkeit, indem sie die konstitutiven Elemente und beteiligten Personen
verzeichnen. W. E. Mühlmann (1973, 66) hat den Begriff der »Konselektion des
Belanglosen« gebildet und versteht darunter, daß literarische Meisterwerke die
weniger bedeutenden Texte ihres Autors vor dem Vergessenwerden bewahren. In
bezug auf Szenarios kann von der Konselektion aller Beteiligten, Faktoren und
Gegenstände gesprochen werden, auch wenn sie in anderen Kontexten fast ve rgessen sind. So wird die Schriftstellerin Ilse Schneider-Lengyel stets im Zusammenhang mit der Gründungstagung der Gruppe 47 erwähnt, weil sie ihr Haus als
Tagungsort zur Verfügung stellte. Während ihr Name und ihre Werke literaturgeschichtlich kaum präsent sind, hat sie einen festen Platz in der Ritualgeschichte
der Gruppe 47. Ähnlich ist Robert Neumann (vgl. Lettau 1967, 412ff.) als ›Gegner‹ der Gruppe 47 von der Geschichte ihrer ritualisierten Tagungen konselektiert.
Dies verweist auf die Möglichkeit einer von der traditionellen Literaturgeschichte
unterschiedenen Ritualgeschichte literaturbezogener Handlungen.
_________________________________________________
12 Graevenitz (1999, bes. 49ff) analysiert am Beispiel der ›Zeitschrift für Völkerpsychologie und
Sprachwissenschaft‹ Verdichtung im Zusammenhang verschiedener Theorie- und Kulturkon zeptionen des 19. Jahrhunderts. »›Verdichtung‹ ist eine Theorie des kulturellen Gedächtnisses in der modernen Alltagskommunikation und der modernen Lebenswelt.« (Graevenitz
1999, 54) Verdichtete Situationen erinnern nur die Elemente einer Tradition, die für die dynamische Lösung je aktueller Probleme funktional sind, anderes wird ausgelassen, daher gilt
Verdichtung als Beitrag zur Modernisierung.
18
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
1.3 Gründungsmythen der Literatur
Geltungsanspruch und –zuschreibung der Literatur als Institution der Weltdeutung, wie sie in ritualisierten Handlungssituationen zum Ausdruck kommen, ergeben sich aus ihren Gründungsmythen. Literatur scheint aus Vergegenwärtigungen
kultisch-ritueller Begegnungen mit dem Numinosen oder Göttlichen, der Trennung von Transzendenz und Diesseits, des Verlusts vorkultureller Einheit als säkulares Erinnerungsmedium entstanden zu sein. Diese Verlusterfahrungen werden
immer wieder neu gestaltet, um so die Erinnerung an das Erklärungsmuster der
Kulturentstehung aus einer Urkatastrophe aktuell zu halten und womöglich den
verlorenen ›idealen‹ Ursprung als Einheit aus Diesseits und Jenseits, Mensch und
Gott, Vielheit und Einheit (Babel-Projekt) wiederherzustellen. Daß es sich bei den
im Mythos* erzählten Ursprungskonstruktionen um jeweils historische Projektionen zu seiner Wiederherstellung handelt, folgt schon daraus, daß über die Kulturentstehung keine Zeugnisse vorliegen können.
Zentral für den Zusammenhang von Ritual und Literatur ist die Einsicht, daß
Anfang stets Reproduktion, Wiederholung, Wiedererinnerung (vgl. Balke 2001)
meint, daß diese intellektuellen Vorgänge selbst also der Anfang sind, d.h. die
Aufführung einer ritualisierten Handlung, die eine Erinnerung an einen Anfang
erzählt, ist ein singuläres Ereignis einer historischen Gegenwart. 13 Wenn also der
›eigentliche‹ Ursprung nicht wahrnehmbar ist, wenn alle Erinnerungen nur Annäherungen und Konstruktionen eines bestimmten Vorgangs sind, dann weisen ritualisierte Handlungen, die sich um den Anfang bemühen, stets über sich hinaus
auf das, was sie ›nur‹ symbolisch gestalten können, d.h. sie stehen unter dem
Vorbehalt des ›als ob‹. Zugleich laufen ritualisierte Handlungen in der historischen Zeit ab, füllen die Gegenwart der Beteiligten aus und haben Auswirkungen,
die nicht zu revidieren sind.
Autoren, deren Bücher bei der nationalsozialistischen Bücherverbrennung
1933 verbrannt worden sind, befinden sich daraufhin selbst in höchster Gefahr.
Dennoch handelt es sich bei den ritualisierten Bücherverbrennungen in verschiedenen Städten um symbolische Handlungen, die auf einen im Sinne der Nationa lsozialisten ›idealen‹ Zustand verweisen, den sie nicht erreichen können (die Vernichtung »undeutschen Geistes« durch Vernichtung aller Exemplare der verbrannten Bücher). Weil die ritualisierten Handlungen stets nur symbolisch einen
höchsten Wert bzw. das Wünschenswerte vergegenwärtigen können, folgt daraus
die Notwendigkeit regelmäßiger Wiederholung. Die ritualisierte Handlung
schließt den Appell zur Kontinuität ein. Nach dem Ritual ist vor den Ritualen. Zu
berücksichtigen ist die zeitliche Ambivalenz ritualisierter Handlungen: Sie laufen
in der historischen Zeit ab, indem sie etwas repräsentieren, das sie nicht sind und
_________________________________________________
13 »Wenn Erinnern immer auch einhergeht mit Neu-Einschreiben, dann muß die Möglichkeit in
Betracht gezogen werden, daß bei diesem erneuten Konsolidierungsprozeß auch der Kontext,
in dem das Erinnern stattfand, mitgeschrieben und der ursprünglichen Erinnerung beigefügt
wird. Es ist dann nicht auszuschließen, daß die alte Erinnerung dabei in neue Zusammenhänge eingebettet und damit aktiv verändert wird.« (Singer FAZ 28.09.2000)
19
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
das einer anderen Zeit angehört. Als Vermittlungsinstanz markieren Szenarios
Schnittstellen unterschiedlicher Erfahrungsbereiche und -formen.
Für Burkert (Kap. 1.7.) ist der Augenblick der Begegnung mit dem Göttlichen
durch den »Opferschrei« als Ausdruck des Erschreckens markiert, für Mowinckel
erwachsen griechisches Drama und mittelalterliches christliches Mysterienspiel
direkt aus dem jeweiligen Kultus, den er definiert
als die sichtbaren, von der Gesellschaft aus festgesetzten und geordneten Formen, durch die das
religiöse (›fromme‹) Erleben und die Gemeinschaft zwischen ›Gottheit‹ und ›Gemeinde‹ - der
Umgang mit dem Göttlichen und seine Verehrung – stattfinden, d.h. ihren Anfang nehmen, zum
Ausdruck kommen und ihr Ziel erreichen. Und wir können auch gleich hinzufügen: Er umfaßt alle
die wahrnehmbaren, zu bestimmten Zeiten und möglichst an bestimmten Orten wiederholten und
von einer heiligen Tradition gefestigten heiligen Handlungen, die in Riten und Worten im Auftrage der Gemeinschaft und von deren dazu berufenen und ausgerüsteten Stellvertretern ausgeführt
werden. Ihre Absicht ist es, auf diese Weise in Verbindung mit den heiligen Mächten zu kommen
und damit die Lebenswerte zu schaffen, zu stärken und zu erneuern, von denen das Leben und
Gedeihen der Gemeinschaft abhängt. Im Kultus kommt dann auch zum Ausdruck, daß diese Ve rbindung erreicht ist und wirkt.
(Mowinckel 1953, 13)
Auch Bierl (2001, 11) kommt in seiner Untersuchung des Chors in der antiken
Komödie zu dem Befund: »Soweit in dem unlösbaren Streit um den Ursprung des
Dramas überhaupt Einigkeit erzielt werden kann, steht doch allgemein so viel fest,
daß sich sowohl die Tragödie als auch die Komödie aus chorischen, meist kultischen Begehungen entwickelt haben. Schon allein aus diesem Grund ist der Chor
das zentrale Element im Gesamtkunstwerk des antiken Dramas.« Theorien der
Ausdifferenzierung eines literarischen aus dem religiös-kultischen Bereich gehen
von der Gemeinsamkeit von Kultus und literarischen Chor- und Tanzgestaltungen
hinsichtlich einer Befriedigung ästhetisch-kultureller Bedürfnisse 14 und der rituellen Ausprägung der Aufführung aus.
_________________________________________________
14 »Der Chor ist im antiken Drama weitgehend Ritual. Komische wie auch satyrhafte Chortanzlie-
der stehen einem Ritual sehr viel näher als tragische. [...] Wir kehren also zu einer [...] Theorie zurück, daß der Ursprung des Dramas im Ritual liege.« (Bierl 2001, 21f.) Bierl (2001, 34)
sieht den Chor in Verbindung mit einem Initiationsritual athenischer Jugendlicher (Epheben).
Ebenso stellt Schulze in ihrem wichtigen Aufsatz über ›Formen der Repraesentatio im Geis tlichen Spiel‹ fest: »Die Geburt des geistlichen Spiels aus der christlichen Liturgie ist wie die
Geburt der antiken Tragödie aus dem Dionysoskult heute unbestritten. [...] Am Anfang der
Entwicklung [...] steht die liturgische Feier, speziell die Osterfeier. Sie gestaltet die Erinnerung an das Ostergeschehen mit liturgischen Mitteln und besitzt rituellen Charakter, denn sie
ist in den Gottesdienst der Ostermatutin eingebunden und damit Teil der Interaktion von
Geistlichen und Gläubigen. In Worten, Gebärden und Handlungen werden Gott und sein
Heilswirken in feierlichem Vollzug vergegenwärtigt mit dem Ziel der Anbetung, der Gemeinschaftsvergewisserung und der Ausstrahlung auf die Lebenspraxis. Die Geistlichen stehen für die heiligen Figuren und vermitteln ein Stück Heilsgeschichte in die Gegenwart. Dieser Vorgang läßt sich [...] als repraesentatio begreifen.« (Schulze 1999, 312) Zu Friedrich
Schlegels »Herleitung der griechischen Bühne« aus dem »Fest-Chor« vgl. Pross 2001, 91ff.,
bes. 100. Vgl. Krummen (1998, 299 u. 325): »Die rituellen Handlungen sind – so meine These – wie ein Bild, sozusagen als ein Zeichensystem zu verstehen. Sie sind Teil einer ausgearbeiteten religiösen und rituellen Bildersprache der Tragödie, die ihr eine Art sakrale Kraft
verleiht. Für die Interpretation bedeutet dies, daß sie stets in der ihnen eigenen Aussage sowie
im Gesamtzusammenhang des Stücks zu verstehen sind. [...] Doch während das Ritual im re-
20
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
21
Rituale können nicht in einem ästhetischen oder formalen Vakuum bestehen. Sie verlangen nach
einem sozialen Kontext. Die grossen Zeremonien unserer Kultur werden nicht von uns erfunden,
sondern sie sind schon als Teile eines Ganzen da. Obwohl Ritual und Kunst die gleiche symbolische Natur haben, vermitteln Rituale allein das Gefühl der Befriedigung, das durch eine gesteigerte
Erfahrung von Gemeinschaft entsteht, eine Erfahrung, die die raison d’être des Rituals ausmacht.
(Hardin in Belliger / Krieger 340)
Auch eine literatur- und kulturgeschichtliche Tradition hält die Entstehung der
Literatur aus Kultformen aktuell. Hier ist die Tradition der Geistlichen Spiele mit
ihren Ausformungen der Passions- und Mysterienspiele zu nennen wie auch ihre
Inversionsformen der Fastnachtsspiele als Ausdruck der verkehrten Welt. Martin
Opitz beginnt das zweite Kapitel seines Buch[es] von der Deutschen Poeterey
(1624): »Die Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene
Theologie /vnd vnterricht von Göttlichen sachen». Die neuere Diskussion bezieht
besondere Anregungen aus Friedrich Nietzsches Schrift Die Geburt der Tragödie
aus dem Geist der Musik (1872).
So gilt Literatur als Institution, die dazu legitimiert ist, das Wissen von den
erinnerungswürdigen ersten Dingen in immer neuen Gestaltungsvariationen als
Entwürfe der letzten Dinge bzw. der Wege dorthin vorzustellen. 15 Sie vermittelt
zwischen dem, was ist und dem, was wieder so sein soll, wie es am Anfang
scheinbar gewesen ist. Daraus folgt, daß die Distanz literaturfundierter Ritualisierungen als Erfahrungsorte von Normativität (Sollen) zum Alltag als Ort der zugehörigen Normalität (Sein) nur relativ, nicht grundsätzlich ist. Diese Situationen
programmatischen Sprechens werden in der Absicht inszeniert, den Teilnehmern
nicht nur die Erfahrung tendenziell homogener Gemeinschaft - in der Regel kein
Alltagsphänomen – zu ermöglichen, sondern auch relational zur Gemeinschaftserfahrung ein Sinn- und Orientierungsangebot zu vermitteln.
ligiösen Alltag im 5. Jahrhundert problematisch geworden ist und die gemeinschaftsstiftende
Funktion der rituellen Tötung in der Opferhandlung in Frage gestellt wird (Empedokles),
kann anstelle dieser rituellen Handlungen das Theater treten, das seinerseits Gemeinschaftsgefühl erwirkt und der rituellen Handlung immerhin so viel Ernst beläßt, daß ihr Zeichencharakter vielleicht die religiöse Dimension und Erfahrung wiederum neu vermitteln kann. Und
in manchen Stücken scheint es, daß das Obsiegen der guten Kräfte zum Schluß eine fast
schon beschwörende Wirkung für die Gemeinschaft der Athener über das Stück hinaus haben
soll. Das Theater ersetzt das Ritual.« Vgl. auch Eggert (2002, 22) zum Tabu: »Mit Tabus sind
immer Darstellungsprobleme und deren Thematisierung verbunden: Tabus weisen eine genuin ästhetische Komponente auf, die von den nicht-sprachlichen Symbolisierungen bis hin
zu einer Normierung der Ästhetik reicht.«
15 Braungart (1992, 8) formuliert die These, »daß Literatur auf all ihren Ebenen – der ihrer ästheti-
schen Struktur, der ihrer thematischen Bezugnahme und der ihrer sozialen Einbindung und
ihrer sozialen ›Inszenierung‹ - vom Ritual zehrt bzw. Analogien zum Ritual aufweist. Was
verspricht eine solche literaturtheoretische Perspektive? Vielleicht läßt sich so genauer fassen, inwiefern Literatur auf elementare Bedürfnisse des Menschen ›antworten‹ und ähnliche
elementare Funktionen übernehmen kann wie Rituale im sozialen Leben überhaupt.»
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
1.4 Zyklizität, Repetitivität und Singularität
Über das Treffen der Gruppe 47 in Göhrde (1961) schreibt Fritz J. Raddatz:
Keine Akademie und keine PEN-Veranstaltung wird mit so viel Takt und Noblesse, mit so viel
echter Kollegialität und so wenig Prätention geleitet. Kommt man etwa aus dem Hexenkessel der
Frankfurter Buchmesse, dem Höhepunkt des kirchlichen Jahres der Verlegerwelt, wo sich aus
Geschäftigkeit, Eitelkeit und Prozentkalkulation ein unentwirrbarer Filz verwebt und zwischen
Nerz und Broschur oft nur ein kleiner Raum für den Geist bleibt, dann ist eine solche Zusammenkunft wie eine Selbstreinigung. Hier wird noch ein Adjektiv gewogen, ein Satz auf seinen Feingoldgehalt hin geprüft, hier wird noch gesagt, daß Hans Magnus Enzensbergers szenischer Ve rsuch oder Rühmkorfs zu verwinkelte Schlupfpoesie nicht gelungen sind – es gibt weder Tabus
noch Privilegien. Wie gut, wie wichtig ist das für die Autoren, wie extrem wichtig auch für die
Kritiker.
(Raddatz in: Lettau 1967, 165)
Durch die Metapher »des kirchlichen Jahres der Verlegerwelt« versucht Raddatz,
die Bedeutung, Funktion und Ausführung der buch- bzw. literaturbezogenen Ereignisse von der der Feier- und Gedenktage des kirchlichen Kalenders her zu erschließen. Was le istet dieser Vergleich?
Das Kirchenjahr 16 ist nicht identisch mit dem staatlich festgelegten Kale nderjahr, die Fest- und Feiertage des kirchlichen Festkalenders sind zumeist – wie
alle staatlichen Feiertage - durch die rechtsgeschützte Form des arbeitsfreien Feiertags aus dem Alltag herausgehoben. Gesetzliche Feiertage betreffen alle Staatsbürger, während der Festanlaß nur für die Mitglieder der Kirche als Institution
verbindlich sein kann. Jahr und Kirchenjahr sind zyklische und repetitive Einheiten, weil die regelmäßige Wiederholung der herausgehobenen Festtage institutionell garantiert und bei den Menschen als Erfahrungserwartung internalisiert, d.h.
verinnerlicht ist.
Kirchenfeste, deren Teilnahme freiwillig ist, werden regelmäßig zum gleichen Zeitpunkt und zumeist auch am gleichen Ort nach dem gleichen Verlaufsmuster (Liturgie) wiederholt, sie erinnern an Personen, Ereignisse und Traditionen, die für den Glauben, die Anfänge und die Geschichte der Kirche konstitutiv
sind und versuchen, den Beteiligten ein Gemeinschaftserlebnis dadurch zu vermitteln, daß sie in der je aktuellen Feier die gemeinsame Erfahrungserwartung der
wieder-geholten Anwesenheit der Transzendenz bestätigen. Durch diese ritualisierte Handlungsform, für deren Gelingen die Dimension der Erinnerung als
»kultisches Gedächtnis« (Jörns / Bieritz 1989, 577) konstitutiv ist, soll die Akzeptanz der Glaubenslehren als Orientierung für die Bewältigung des Alltags intensiviert werden. Daher kommt den Festen die Aufgabe zu, auf die Teilnehmer in
dem Sinne einzuwirken, daß sie sich im Alltag weiterhin an den kirchlichen Sinnangeboten orientieren und damit auch den Interessen der Kirche als Institution
_________________________________________________
16 Jörns / Bieritz (1989, 576) unterscheiden fünf Zeitkreise für das Kirchenjahr: a) Sonntage b)
Osterfeier und Osterkreis c) Weihnachten und Epiphanie d) das Jahr der Heiligen e) Feiertage
vorchristlichen Ursprungs wie Erntetage usw.
22
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
dienen. So gilt eine ritualisierte Handlung mit ihrer Aufführung nicht als abgeschlossen, sondern bedarf der Ausführung ihres Entwurfs. Insofern ist mit der
Teilnahme am Ritual eine Verpflichtung verbunden. 17 Erreicht werden soll diese
Erhaltung der Kontinuität durch das Mittel der Sprechhandlungen (vgl. Kap. 2.2)
wie Gebete, Segnungen, Anrufungen und andere gemeinsam ausgeführte symbolische Handlungen (z.B. Knien, Aufstehen, Sich Bekreuzigen, Prozession). So sind
Religion und Kirche einerseits als ›autonomes‹ Segment der gesellschaftlichen
Wirklichkeit markiert, das seine Geschichte und seinen Geltungsanspruch in seinen Festen inszeniert, andererseits besteht durch diese Grenzmarkierung zwischen
Religion / Kirche und Gesellschaft ein Interdependenz*- und Interaktionsverhältnis* zwischen beiden, die ›Autonomie‹ erweist sich als relativ.
Durch die Evokation* eines literaturbezogenen Festkalenders, dessen Einträge (Tagungen, Messen, Preisverleihungen, Einführungen der Stadtschreiber usw.)
den Alltag unterbrechen, erhebt Raddatz‘ Vergleich den Anspruch, daß auch die
Literatur ein relativ autonomes gesellschaftliches Segment sei, dessen Orientierungsangebote aber die gesamte Gesellschaft betreffen. Den kirchlichen Feiertagen und ihrer ritualisierten Gestaltung entsprechen literaturbezogene bzw. fundierte Ereignisse, die auch regelmäßig wiederholt werden, nach stets gleichen
Mustern ablaufen und an eine Institution (Raddatz‘ Beispiele weisen hin auf Akademie, PEN, Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Gruppe 47) gebunden
sind, für deren Mitglieder ihre Sinnbestätigungen verbindlich sind, obwohl die
Teilnahme freiwillig ist. Weil die Buchmesse als »Höhepunkt« im Festkalender
sich dem Alltag besonders weitgehend anpaßt, weil sie ökonomischer Konkurrenz
und Prestigesteigerung besonderen Raum gewährt, kann sie die Erinnerung an
Ursprung und Kontinuität des literarischen Segments nur unzureichend erfüllen.
Aufgabe: Stellen Sie einen literaturbezogenen Festtagskalender zusammen.
Dies leisten dagegen – so Raddatz - die ritualisierten Treffen der Gruppe 47, bei
denen die Normen des literarischen Feldes dominieren. Mit der Formulierung
»hier wird noch« evoziert Raddatz eine Ursprungsvorstellung, die durch die
Sprechhandlungen ›ein Adjektiv / Wort wiegen, einen Satz prüfen, ungeschminkt
sagen, daß ein Text mißlungen ist‹ vergegenwärtigt wird. Textform und –bedeutung erscheinen so als Ergebnis eines kollektiven ritualisierten Handlungsprozesses, dessen Verlauf die »Selbstreinigung« der Teilnehmer, also ihre Veränderung
durch die Erinnerung an den Gründungsmythos der Gruppe und die von diesem
gestiftete Normativität bewirkt. Weil jedes Gruppentreffen als Aufführung des
Gründungsmythos unter veränderten historischen und sozialen Gegebenheiten
_________________________________________________
17 »Rituale beziehen sich aus retrospektiver Perspektive auf etwas, das immer schon verloren und
nur als utopische Zielprojektion zu haben ist. Gerade aus dieser Konstellation bezieht das
Ritual seine Unverzichtbarkeit: Es dient der Orientierung bzw. Disziplinierung der Gemeinschaft, indem es deren kollektives Konstrukt eines konfliktfreien Anfangs mit der Identität
von Normativität und Normalität sowie unverbrauchter Möglichkeitsfülle als Anspruch an
die Gegenwart wieder-holt.« (Dücker, 2001, 559)
23
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
stattfindet, handelt es sich jeweils um ein singuläres Ereignis; dessen Erinnerungskonstruktion vom Anfang wie auch dessen Umsetzung fallen jedesmal mehr
oder weniger unterschiedlich aus.
Nicht zuletzt wegen der »Selbstreinigung« gerät die Teilnahme an den Treffen zu einem Initiationsritual* für die Zugehörigkeit zur Gruppe, was sich auch in
der besonderen Gemeinschaftserfahrung zeigt. »Es gibt weder Tabus 18 noch Privilegien«, schreibt Raddatz, d.h. die Geltung aller sozialen Unterschiede zwischen
den Teilnehmern wie Titel, Publizität, Prestige, Einkommen, Wohnverhältnisse,
Beziehungen usw., die im Alltag existieren mögen, soll für die Dauer des Treffens
zugunsten einer gruppenspezifischen Gleichheit aufgehoben sein, damit die Anwesenheit der kollektiven Ursprungsvorstellung erlebt werden kann. Wie für
sonntägliche Gottesdienstbesucher Unterschiede der Alltagsexistenz mit dem Betreten der Kirche suspendiert sind, weil während der Messe alle die gleichen
Handlungen verrichten und vom Pfarrer gleich behandelt werden, so stirbt mit
dem Eintreffen am Tagungsort die ›normale‹ Alltagsexistenz der Schriftsteller
symbolisch ab; ihre Wiedergeburt als Mitglied der Gruppe 47 erfolgt, indem sie
die Schwelle des Tagungshotels überschreiten, womit zugleich symbolisch die
Grenze zwischen Alltag und Szenario markiert ist. Die von vornherein begrenzte
Dauer des Gemeinschaftserlebnisses zwischen einem Vorher (Verlassen des Alltags) und einem Nachher (Wiedereintritt in den Alltag) wird zur Übergangsphase,
in deren ritualisiertem Handeln sich das Sollen, die Normativität der Gruppe verkörpert. Das Ritual unterbricht den Alltagsablauf und gibt - wie ein kirchliches
Fest – den Beteiligten Kontinuitätsimpulse mit, d.h. sie sollen in ihrem Alltag die
Grundsätze der Gruppe 47 vertreten und bereit sein, zum nächsten Treffen wieder
zu erscheinen. Weil ritualisiertes Handeln die Integration und Kontinuität der
Gruppe betrifft, ist es selbstreferentiell. Es hat eine narrativ-dramatische Struktur
und wirkt geschichtsbildend, indem es Ereignisse und Personen, die mit ihm in
Beziehung treten, in seinen Erzähl- und Erinnerungszusammenhang aufnimmt
(vgl. Konselektion).
Die Struktur der ritualisierten Handlung erscheint unhistorisch und kulturell
unspezifisch, aufführungspraktisch ist sie in den jeweiligen historischen, kult urellen und gesellschaftlichen Kontext eingebettet. Vor diesem Hintergrund erfolgt
die Inszenierung des symbolischen Transformationsprozesses* von Unordnung
(Sein) in Ordnung (Sollen, Ideal). Die Symbolfunktion der ritualisierten Handlung
weist darauf hin, daß deren vorab definierte Wirkung stets die Überschreitung des
Feldes voraussetzt, in dem das Ritual aufgeführt wird. Neben der Zielangabe gehört zur Aufführung auch das Register der zugelassenen Mittel, um das Ziel zu
erreichen.
_________________________________________________
18 »Das Tabu weist die Aura des Sakralen auf, auch dort, wo es rein weltlich (säkular, profan) ist.
In einem Tabu ist ein Schutzraum gegeben, der nicht ins Alltagshandeln einbezogen werden
darf bzw. dem eine ausgegrenzte Ausnahmestellung zugesprochen ist. Das Tabu hat die Aura
des Unberührbaren und die Berührung wird bestraft.« (Eggert 2002, 20) Die Übergangsphase
der ritualisierten Handlung zeichnet sich gerade durch die Aufhebung (Inversion des Tabus)
des im Alltag berührungsgeschützten Tabubereichs zugunsten einer Tabuisierung der Geund Verbote des ritualisierten Szenarios aus.
24
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
Ein durch Tradition bestätigter, vorgeprägter struktureller Rahmen steht für je
historisch besondere Aufführungen zur Verfügung. Daher ist jede Aufführung,
z.B. einer Literaturpreisverleihung oder einer Dichterkrönung, ein singuläres Ereignis, auch wenn sie Mimesis*, d.h. Wiederholung einer als ursprünglich gesetzten Form ist. Sie muß nach den jeweiligen historischen Bedingungen und
Funktionen analysiert werden: Welche je historischen Tendenzen erfordern und
ermöglichen eine Dichterkrönung (Kap. 3.3), die Gründung einer literarischen
Gesellschaft (Kap. 4.), das Verfassen und die Veröffentlichung (öffentlicher Vo rtrag) eines Hochzeits- oder Trauergedichts usw.? Denn mit einer Dichterkrönung
usw. wird eine je bestimmte, historisch einmalige Gegenwart gestaltet, es ist je weils ein anderer Autor, der die Auszeichnung erhält und sie strategisch anders
einsetzt als seine Vorgänger. Daher ist auch für jede einzelne Ritualaufführung
von einem singulären Vorher und Nachher, einer eben solchen Krisen- und Konfliktkonstellation und damit auch von einem je besonderen Referenzbezug auszugehen.
1.5 Ritualisiertes Handeln als Ordnungsfaktor
Damit die normalen Abläufe und Gewohnheiten des Alltagslebens am Arbeitsplatz, in Verein und Familie usw. funktionieren, Krisen und Konflikte vermieden
werden, ist es umfassend durch Rituale definiert, strukturiert, geordnet, geschützt
und berechenbar gemacht. Die »im Alltag beinahe allgegenwärtigen habitualisierten Kleinformen rituellen Handelns« (Wiedenmann 1992, 177) wie »Begrüßung, Verabschiedung, Austausch von Geschenken, Gestaltung der Mahlzeiten in
der Familie usw.« (Dücker Ritual 2001b, 503) erleichtern seinen Ablauf, es sind
alltagsakzessorische* Rituale. Ihre Wertorientierung bezieht sich auf die Erha ltung konfliktfreien Zusammenlebens in einer Kleingruppe.
Neben diesen in den Alltag eingelassenen Ritualen gibt es die große Gruppe
jener, die die Alltagsabläufe überschreiten bzw. unterbrechen, um Gelegenheit zur
Erfahrung und Reflexion dessen zu geben, was der Alltagsnormalität ihren Sinn
und ihre Richtung unterlegt. Mit diesen alltagstranszendierenden* Ritualen kann
die normative Grundlage im ritualisierten Gemeinschaftserlebnis erfahren werden.
Ein Kollektiv vergegenwärtigt sich seine Gründung und deren Geschichte z.B.
durch Grußworte, Festreden, Eröffnungsansprachen usw. im Rahmen von Festen
und Gedenkveranstaltungen, um die Gegenwart zu feiern und die Zukunft im Sinne der Tradition zu gestalten (Kontinuitätssicherung). Leopold von Wiese beginnt
seine »Fest-Rede« zur gesellschaftlichen »Funktion des Mäzens« anläßlich »der
Gründungsfeier der Universität Köln am 4. Mai 1929« mit folgender Erinnerung:
Zehn Jahre sind vergangen, seit wir an dieser erinnerungsreichen Stätte versammelt waren, um die
Gründung unserer Universität zu feiern. Es ist ein sinnvoller und geradezu notwendiger Brauch,
daß wir in arithmetisch geordneten Zeitabständen den uns von Tag zu Tag, Jahr zu Jahr weiter
tragenden Strom der Arbeit ein paar Stunden lang unterbrechen, um zurückzuschauen, zu vergle ichen und frische Kraft zu sammeln für Kommendes. Wenn wir heute nach Vollendung des ersten
Dezenniums zurückblicken auf die Geburtsstunde unserer hohen Schule, so werden wir gepackt
25
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
und überwältigt von Gefühlen und Gedanken, die zu reich strömen, als daß wir ihnen allen in einer
kurzen Rede Ausdruck geben könnten. [...]
Es hat schon seinen guten Grund und seine innere Berechtigung, wenn wir an solchen Erinnerungstagen wie heute jenes Testaments von Gustav v. Mevissen gedenken, [...] das [...] den Ausgangspunkt, die nachwirkende Anregung und einen Teil der Geldmittel gewährte, die die Handelshochschule und mittelbar die Universität möglich gemacht haben. Es war die Tat eines Mäzens!
[...], indem ich als Soziologe versuche, der Bedeutung und dem sozialen Werte des Mäzenatentums nachzuspüren und damit auch Mevissens Tat in einen allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenhang hineinzustellen.
(von Wiese 1929, 3f.)
So dienen Rituale der Wiederherstellung bzw. Erhaltung oder – allerdings seltener
– der Veränderung der eigenen Ordnung und deren tendenziell monolithischer
bzw. kanalisierter Tradition; sie sichern Stabilität, Kontinuität und Dynamik, sie
betreffen die existentiellen und sozialen Gegebenheiten von Dauer und Wandel, 19
Altem und Neuem.
Ritualisiertes Handeln soll Schaden (z.B. durch Naturgewalten oder Krankheit) abwenden, eine gute Ernte sichern, Reinheit wiederherstellen, soziale Verle tzungen heilen, Benachteiligungen kompensieren, für begrenzte Zeit etabliert es
Rangordnungen und reduziert Konkurrenzverhalten, es markiert Übergangssituationen wie Initiationen, geschlechtliche und soziale Reife, Eheschließung und Begräbnis, Ankunft und Abschied, hebt Situationen wie Jubiläen, Gedenk- und Erinnerungstage, Ehrungen, Begrüßungen und Trauer hervor. Interaktionsrituale ebenso wie institutionell eingebettete Rituale erleichtern soziale Beziehungen, weil sie
für das Verhalten der beteiligten Personen und Institutionen vorgeprägte Ablaufschemata bereithalten.
Grundsätzlich haben Rituale die regulative, apotropäische* Funktion, Unordnung in Ordnung zu verwandeln, was als Komplexitäts- und Krisenreduktion bzw.
als Handlungserleichterung durch den Abbau oder Aufweis von Perspektiven, die
Kompensation von Defiziten durch Sinnangebote, die Transformation von Unlust
in Lust geschehen kann, aber auch die Kontinuitätssicherung einer schon bestehenden gesellschaftlichen Ordnung gehört dazu. Wegen seiner Distinktions- und
Normierungsfunktion* ist ritualisiertes Handeln unverzichtbar für Modernisierungsprozesse und zieht zugleich die Zuschreibung einer affirmativen und konservativen Qualität auf sich. Als Normierung der Geltung von Autoren und ihren
Texten kann sich z.B. deren Ausstattung mit dem Attribut Nobelpreisträger auswirken, weil es für die verschiedenen Preisträger auf der einheitlich geltenden
Norm dieses Preises fundiert ist. Als normativ für die Zuerkennung des Litera_________________________________________________
19 Für die Gegenwart, in der die Erfahrungsmöglichkeit der Dauer - nach Singer - immer unwahr-
scheinlicher wird, empfiehlt er, »die Kunst der Improvisation [...] zum Ritual zu erheben und
den Akt der Improvisation selbst als das einzig Beständige, das einzig Wiederkehrende zu
zelebrieren. Das erlöst von dem mühseligen und immer wieder enttäuschten Versuch, dem
Wandel Riten entgegenzusetzen, die selbst, wie alles Verwirklichte, der Zeit verfallen sind.
Die Improvisation hingegen unterwirft sich die Zeit. Sie bekennt sich klug zum Wandel, weiß
um die Unwiederholbarkeit und freut sich an der Überraschung. Gelingt es, die Improvisation
zu ritualisieren, sie allmorgendlich als Vertraute gegen das Unvorhersehbare zu setzen, dann
versöhnen sich unverhofft zwei antithetische Sehnsüchte, die eine, die ihre Lust im Neuen
sucht, und die andere, die nach Geborgenheit strebt.« (Singer, 2002, 26)
26
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
turnobelpreises gilt die Passage im Testament Alfred Nobels, daß der »Autor des
am deutlichsten idealistisch inspirierten Werkes der Literatur« (Nobelpreisträger
o.J., 8) ausgezeichnet werden soll. Die Norm des Georg-Büchner-Preises in der
Fassung vom 21. März 1958 lautet: »Zur Verleihung können Schriftsteller und
Dichter vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre
Arbeiten und Werke in besonderem Maße hervortreten und die an der Gestaltung
des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.«
(www.deutscheakademie.de/PREISE/buechner.html Stand 18.05.01) Diese Te ndenz zur Gruppenbildung kann sich auch als Mittel der Kanonisierung* auswirken. Die andere Seite dieser Binnenintegration bezeichnet der Begriff der Distinktion als Abgrenzung und Unterscheidung nach außen, von anderen preisverleihenden Organisationen, der zumeist ein Konkurrenzve rhältnis einschließt. 20
Aufgabe: Sammeln Sie mindestens fünf normative Definitionen von Literaturpreisen, nach denen die Preisträger auszuwählen sind. Welche literarischen Ric htungen sind abgedeckt? Wählen Sie zwei Preisträger des gleichen Preises und
vergleichen Sie deren preisgekrönte Texte hinsichtlich der Preisnorm. Erläutern
Sie, ob / ob nicht die Texte der Preisnorm entsprechen. Als Hilfestellung und
Ausgangspunkt kann folgende Internetadresse dienen, unter der Sie wichtige Literaturpreise Österreichs, Deutschlands und der Schweiz kurz vorgestellt finden:
www.new-books-in-german.com/info5.htm
Als Kombination aus Handlungszielen und -mitteln betrifft ritualisiertes Handeln
in jedem Fall den normativen Bereich einer Gesellschaft (Gruppe, Gemeinschaft,
Kollektiv, Formation, Familie usw.), den es aktualisieren und bestätigen soll. Es
handelt sich generell um sprachlich und nicht sprachlich vollzogene symbolische
Handlungen, deren regelgerechte Durchführung als Konflikt- und Problemlösungsstrategie sozial akzeptiert ist.
Wenn Antos (1987, 13) »Informationsleere« rituellen Sprechens diagnostiziert, so ist dies zumindest zu differenzieren. Es mag zutreffen, daß Rituale wegen
ihrer Wiederholungsfunktion keine neuen sach- oder materialbezogenen Informationen liefern, dagegen scheint ihre räumliche und historische Allgegenwärtigkeit
gerade durch eine andere Art von Informationsvermittlung begründet zu sein,
nämlich durch die in der Regel stets gleiche Mitteilung, daß sich strukturell nichts
geändert habe, daß eine bestehende Ordnung in ihrer Kontinuität erhalten bleibe.
Das Alte gewinnt Wert, aber nicht um seiner selbst willen, sondern als Grundlage
der Kontinuität, als Sprungbrett zum Neuen. Dadurch daß ritualisierte Handlungen vollzogen werden, informieren sie die Beteiligten als die Adressaten über die
_________________________________________________
20 So heißt es in der Vorstellung des Joseph-Breitbach-Preises durch die Mainzer Akademie der
Wissenschaften und der Literatur: »Nicht schielt die Akademie auf andere renommierte Preise, um in Konkurrenz zu treten.« (www.adwmainz.de/joseph-breitbach/stiftung/jbp.htm) In
einer anderen Erklärung heißt es, daß der Breitbach-Preis mit 255.000 DM »etwa viermal so
hoch [ist] wie der renommierteste deutsche Literaturpreis, der Büchner-Preis.«
(www.literaturhaus.at Stand 14.01.03)
27
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
unbedrohte Geltung des Identischen, über die Möglichkeit, auch weiterhin das zu
erleben und wiederzuerkennen, dessen Kenntnis man internalisiert hat, d.h. ritualisiertes Handeln gehört zum Erfahrungs- und Vermittlungskontext von Heimat
und Geborgenheit, allerdings nicht in einem räumlichen, sondern einem zeitlichen
und gesellschaftlichen Sinn von kultureller Tradition. Demnach vollzieht sich
Heimaterfahrung, wenn eine ritualisierte Handlung sanktionsfrei ausgeführt und
wiedererkannt werden kann. Literarisch gestaltet Sophokles in seiner Tragödie
Antigone diese Situation, wenn Antigone aus Machtgründen verwehrt wird, ihrer
religiösen Pflicht zur rituellen Bestattung ihres Bruders nachzukommen. Sie reagiert mit Widerstand und der Diagnose des Heimatverlusts. Der Antigone-Stoff ist
häufig literarisch gestaltet worden, um den Konflikt von vorübergehender Macht
und ewiger Verpflichtung zu den Ritualen der Religion jeweils zu aktualisieren.
Insgesamt transportiert dieser Stoff die Geschichte der machtpolitisch bedingten
Eingriffe in ritualisierte öffentliche Handlungsabfolgen politischer und religiöser
Gemeinschaften (z.B. Verbot von SPD und KPD im ›Dritten Reich‹; Hugenottenverfolgung in Frankreich im 17. Jahrhundert, Kirchenschließungen in der Sowjetunion im 20. Jahrhundert). Auf Szenarios bezogen handelt es sich um Eingriffe
der Zensur, die die öffentliche Präsentation literarischer Texte und den Vollzug
von Kulturereignissen verhindern. In allen diesen Fällen reagieren die Betroffenen
zunächst häufig mit Widerstand, aber vor allem mit der Emigration. Der ritualwissenschaftliche Ansatz eröffnet eine gemeinsame Forschungsperspektive auf politische, religiöse, literarische Ereignisse.
Nicht zuletzt, weil Wiedererkennen in der Regel eine krisenentlastende, he ilende Erfahrung des Aufgehobenseins vermittelt, entsteht ein Eindruck von Feierlichkeit, Festlichkeit und Bedeutsamkeit, der Autor, Text, Akteure und Teilnehmer einschließt. Dazu gehört das Gefühl, während des Szenarios einer besonderen, erfüllten Zeit anzugehören, bzw. - in gängiger Formulierung - für begrenzte
Dauer wie aus der Zeit zu sein, seine Zeit mit ihren häufig belastenden Anforderungen zu vergessen. Wer an einem Szenario teilnimmt, kann die Erfahrung des
Identischen machen, wenn etwa bei jeder Literaturpreisverleihung der Preisträger
unproblematisch konsekriert, d.h. durch die Geltung von Preis und Institution privilegiert wird, wenn der Laudator diese Entscheidung jedesmal strukturaffirmativ
begründet und kommentiert, wenn der Preisträger sich in gleicher Weise mit einer
Rede bedankt, wenn jedesmal bei einer Lesung deren Bedeutsamkeit, die des Lesenden, seiner Texte sowie deren Lektüre und des Lesens im allgemeinen hervo rgehoben werden, wenn der einzelne Leser / Teilnehmer sich also in seinem Tun
durch diese Szenarios bestätigt sehen kann.
Besonderer Stellenwert für einen derartigen Aufbau von Bedeutsamkeit
kommt der Teilnahme von politischen Funktionsträgern als Festredner, Schirmherr oder Übermittler von Grußworten zu. Sie verschaffen einer Veranstaltung
Glaubwürdigkeit, unterstreichen ihre Unverzichtbarkeit für den Gang der öffentlichen Dinge, geben ihr die Aura des Offiziellen. Was Antos (1987, 18) für die
Grußworte feststellt, gilt analog für andere Formen der Teilnahme von Funktio nsträgern. »Bei Grußworten geht es primär nicht ums Grüßen, sondern um die Zuschreibung von Offizialität.« Fraglos haben aber auch diese Repräsentanten selbst
28
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
einen Vorteil von ihrem Auftritt; ob es sich um wählbare Politiker oder um Monarchen handelt, die Teilnahme wird zur Selbstwerbung und sichert die Erwähnung
im ritualgeschichtlichen Erinnerungssystem.
Hinzu kommt, daß im gemeinsamen Wiederholungshandeln die Erfahrung
von dessen überindividueller und überzeitlicher Bedeutsamkeit - Zeitliches wird
durch Wiederholung überzeitlich - produziert wird, worin sich nach Durkheim die
Begegnung mit dem »Heiligen« (Belliger / Krieger 15) als Ausdruck des höchsten
Wertes eines Kollektivs vorbereitet. Unterstützt wird die Ordnungserfahrung als
Heilungsprozess durch dessen ästhetisch-kulturelle Organisation; stellen doch
gerade Unterhaltung und Entspannung ein Differenzkriterium zum Alltag dar.
Zusätzlich hervorgehoben wird die Markierung der Heil(ung)sgrenze zwischen
Alltag und Szenario durch den Ausschluß von Melancholie und Pessimismus aus
dem Szenario. Deren ritualauflösender Wirkung steht schon das vorgegebene
Ablaufschema (Programm) mit Ziel und Mitteln des Szenarios entgegen, das der
individuellen Entfaltung intellektueller und emotionaler Energien nur wenig
Raum läßt. Weil die Teilnahme an einer ritualisierten Handlung in der Regel mit
dem Wissen um die bloß vorübergehende Erfahrungsmöglichkeit dieser anderen,
heilenden Zeit verbunden ist, kann der Wunsch nach Wiederholung als Indiz eines
gelungenen Rituals angesehen werden.
Exkurs Melancholie
Der Begriff stammt aus der antiken Medizin, speziell der hippokratischen Lehre
von den vier Körpersäften (Humoralmedizin): Blut/Sanguis, Schleim/Phlegma,
Galle/Chole, schwarze Galle/Melanchole. Danach ist Gesundheit definiert als
Gleichgewicht zwischen ihnen. Wird eine Überproduktion an schwarzer Galle
festgestellt, deutet man diesen Befund der Melancholie entweder als pathologisch
oder als Hinweis auf göttliche Inspiration. Einerseits gilt Melancholie in antiker,
mittelalterlicher und noch frühneuzeitlicher Tradition also als Voraussetzung für
Kreativität und intellektuelle Leistung, andererseits als pathologische Handlungsund Leistungshemmung sowie Abwendung von Aufgaben und Interessen der
Gemeinschaft (lat. acedia), wovon besonders diejenigen betroffen sind, die sich
intensiv den wissenschaftlichen und literarischen Studien widmen, d.h. im Mittelalter vor allem auch die Mönche. Überdies gilt Melancholie als Beeinträchtigung
ungezwungener, offener Geselligkeit, dafür als Disposition zu Indifferenz, Apathie, Streit, Machtansprüchen und Gewaltanwendung. So wird im programmatischen Text der Fruchtbringenden Gesellschaft von 1622 (Kap. 5.3.1) von den
Mitgliedern verlangt, »bey Zusammenkuenfften guetig / froelig / lustig und ertraeglich in worten und wercken« zu sein und Streit zu vermeiden. Beide traditionellen Geltungsmerkmale der Studien als Auszeichnung (Charisma) und als Gefährdung (Stigma) durch die Sünde des Strebens nach Gottgleichheit durch übermäßigen Erkenntnisdrang (curiositas) kennzeichnen ebenso auch die Mela ncholie.
Diese Ambivalenz begründet ihre Verwerfung durch die Programmatik ritualisierten Handelns. Melancholie unterläuft die tendenziell spannungsfreie und auf
29
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
Optimismus angelegte Konstruktivität der ritualisierten Handlung, sei es als
Handlungshemmung, sei es als übermäßige Selbstverwirklichung. Sie stiftet Unordnung und steht daher der grundlegenden Funktion ritualisierten Handelns als
Transformation von Unordnung in Ordnung entgegen. Daß deren Gefahr bzw.
Vermeidung in der Renaissance bis in die Architektur von Wohnhäusern ernst
genommen wird, zeigt sich in Empfehlungen für die Lage von Wohnräumen, Bibliotheks- und Studierzimmern (studiolo). »Die Wohnung des Melancholikers
solle nach Osten hin gelegen sein. Diese Disposition stimmt mit der von Vitruv
für Bibliotheken geforderten überein, wo Morgensonne und trockene Winde die
Bücher vor Feuchtigkeit schützen sollten.« (Liebenwein 1977, 28)
Das »moderne Melancholiegefühl ist im wesentlichen ein gesteigertes IchGefühl, da das Ich die Achse ist, um die sich jene Kugel von Lust und Wehmut
dreht« (Klibansky / Panofsky / Saxl 1990, 338). Im 19. Jahrhundert steht Melancholie »für das Gefühl der Gottesferne des Menschen; die daraus resultierende
Schwermut [...] bezeichnet also einen grundlegenden Aspekt der menschlichen
Existenz, der nichts mit der physischen Konstitution des Menschen zu tun hat: den
Abstand zwischen dem Menschen und Gott« (Klibansky 2001, 152). Lepenies
verwendet den Begriff zur Bezeichnung einer gesellschaftlich verursachten
Handlungshemmung bei Intellektuellen. »Innerlichkeit und Naturflucht bieten
sich als Auswege an, wenn eine Gesellschaft verlassen werden soll, die einem
nichts mehr sagt, weil man in ihr nichts mehr zu sagen hat« (Lepenies 1969, 102).
R. K. Merton (Social Theory and Social Structure) benutzt im Kontext von
Melancholie den Begriff Ritualismus (ritualism). Er bezeichnet damit eine »Spielart abweichenden Verhaltens, in welcher die Absage an die kulturell vorgeschriebenen Ziele sich mit der Aufrechterhaltung der zu ihrem Erreichen gesellschaftlich sanktionierten Mittel verbindet- die gleichsam ›leerlaufen‹« (Lepenies 1969,
15). Gegen den häufig erhobenen Vorwurf rituellen ›Leerlaufs‹ ist einzuwenden,
daß die Ritualteilnehmer durch ihren Entschluß zur Teilnahme an der Ritualaufführung auch deren Ziele akzeptiert, ihnen zumindest nicht widersprochen haben.
Ob ihre Teilnahme innerem Bedürfnis oder gesellschaftlicher Konvention entspringt, kann kaum mit Gewißheit beurteilt werden. Festzuhalten bleibt, daß die
Teilnahme in der Regel vorteilhaft ist. Daher ist auch die Position von Humphrey
/ Laidlaw zumindest zu relativieren, daß »nicht-ritualisierte Handlungen« die Intentionen der Akteure ausdrückten, während für ritualisiertes Handeln gelten soll:
Es »wird nicht von den Intentionen der Akteure geleitet und strukturiert, sondern
es wird von Vorschriften konstituiert. Dies bedeutet nicht nur, dass Menschen
Regeln folgen, sondern viel eher, dass eine Reklassifikation stattfindet, so dass
nur das Regelfolgen als Handeln gilt. Dennoch ist es der Akteur, der als selbstbewusst Handelnder die Handlungen ausführt« (Humphrey / Laidlaw 153f.). Für
ritualisiertes Handeln ist von einem gewissen Spielraum auszugehen, auch nichtritualisiertes Handeln ist an Regeln gebunden. Beide Handlungsformen umfassen
je singuläre Ereignisse.
30
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
1.6 Ritualdynamik
Wenn Rituale gerade die Erfahrung des Identischen ermöglichen, wenn sie wegen
ihrer Berechenbarkeit geschätzt werden, wie steht es dann mit der Möglichkeit
und der Notwendigkeit von Veränderungen? Können, sollen oder müssen Rituale
dynamisch sein?
Rituale sind als kollektiv-intentionale Handlungsprozesse für bestimmte soziale Kontexte vorgesehen; der einzelne Ritualteilnehmer erkennt diese vorgegebene Intention an, zumindest behindert er ihren Vollzug und damit ihre Geltung
nicht, indem er sich etwa abweichend von den normbestätigenden Regelanweisungen verhält. Wenn er freiwillig an einem Ritual teilnimmt, hat er dessen Regeln intentional akzeptiert. Dennoch sind Konflikte zwischen dem durch Tradition
und Konvention bestätigten Ablauf des Rituals und der Intention einzelner Beteiligter oder Gruppen möglich und können Ritualdynamik, d.h. Modifizierungen
oder sogar die Abschaffung eines Rituals bewirken.
Gesellschaftlicher Systemwandel oder gar -wechsel geht in der Regel mit
einer Veränderung des bisher praktizierten Ritualsystems (Anlässe, Inszenierungen) einher. So werden nach dem Ersten Weltkrieg mit der Abschaffung der
Monarchie auch deren ritualisierte Gedenkfeiern Sedantag, Kaisers Geburtstag,
Reichsgründungstag, Bismarckfeiern aufgehoben. Die ›Machtergreifung› der Nationalsozialisten (30. Jan. 1933) ersetzt die demokratischen Feiertage durch eigene, die wiederum nach 1945 alle abgeschafft werden. Die deutsche Wiedervereinigung (3. Okt. 1990) läßt die Feiertage der ehemaligen DDR obsolet werden; der
seit 1954 in der Bundesrepublik gefeierte 17. Juni als Tag der deutschen Einheit
wird durch den 3. Oktober als Tag der deutschen Einheit ersetzt. Seit 1923 wird
der Georg-Büchner-Preis als Staatspreis für besondere kulturelle Leistungen verliehen, im ›Dritten Reich‹ unterbleibt seine Verleihung, 1946 wird er wieder als
Kulturpreis eingesetzt und seit 1951 als Literaturpreis von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt vergeben.
Weil die Inszenierung ritualisierter Handlungen auf einem Gründungsereignis
basiert, funktionieren die aktuellen Aufführungen nach dem Prinzip der Mimesis.
Dabei wird die Gründungsaufführung durch die späteren Aufführungen nachgeahmt; daß Mimesis aber keine völlige Imitation sein kann, sondern daß stets ein
konstruktives, also historisches Moment dazu gehört, erhellt schon daraus, daß
durch die technische Entwicklung, die Renovierung und Dekoration des Ritua lraums, die veränderte Mode, die Beteiligung anderer Akteure, stimmliche Unterschiede, den Austausch eines weniger wichtigen Verses oder Satzes oder auch die
modernisierte Übersetzung usw. stets mit Abweichungen der aktuellen von der
ersten Aufführung zu rechnen ist. Aber auch die Tatsache, daß die Körperkommunikation der wechselnden Beteiligten eine wichtige Rolle spielt, sorgt für Dynamik. Daß das Verleihungsritual des Nobelpreises für Literatur (jeweils am 10.
12) zur Erinnerung an dessen Stifter Alfred Nobel (Todestag 10. Dez. 1896), das
seit 1901 in Stockholm aufgeführt wird, manche solcher Veränderungen erfahren
hat, überrascht nicht. Stärker ins Gewicht fällt eine qualitative Dynamik, wenn
z.B. die bis heute geltende programmatische Formel des Nobelpreises von den
31
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
Texten »idealistische Ausrichtung« verlangt, diese aber nicht definiert wird, so
daß zwischen Formel und ausgezeichneten Texten sich immer mehr eine Beziehung der Beliebigkeit aufbaut.
Für manche Rituale gibt es Statuten oder andere Quellentexte, die genau vorschreiben, wie es durchzuführen ist, damit es den gewünschten Erfolg hat. 21 Neben diesen präskriptiven Texten gibt es deskriptive Texte, die einen konkreten
Aufführungsablauf beschreiben. Vergleicht man beide, so stellt man in der Regel
Abweichungen der Aufführung von der ›Partitur‹ (E.W. Leach) fest. Da diese
Ritualdynamik aber nicht die Struktur oder die obligatorischen Bestandteile der
Handlungssequenz betrifft, wirkt sie sich weder auf die Gültigkeit noch die Geltung des Rituals als Fortführung der Gründungsaufführung aus.
1.7 Dreiphasenschema der ritualisierten Handlung
Grundsätzlich ist die Aufführung von Ritualen durch die Erwartung von Vorteilen
motiviert. Wer eine kultisch-rituelle Handlung durchführt und den Göttern dabei
Opfer darbringt, wer einen Besucher mit Geschenken und zahlreichem Gefolge
schon an der Stadt- oder Gemarkungsgrenze empfängt, wer einen Literaturpreis
stiftet, wer eine Hochzeits- oder Tauffeier durchführt, hofft auf ein glückliches
Leben, den vorteilhaften Verlauf und Abschluß einer Interaktion, eine Gegengabe
oder einen sonstigen Gewinn (Prinzip des ›do ut des‹, lat. ›ich gebe, damit du mir
gibst‹). Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Schlachtopfers im antiken
Griechenland; vom Opfertier erhält der Gott vor allem die ungenießbaren Teile 22 ,
so daß das Opferritual der Opfergemeinde als Gelegenheit oder sogar Vorwand
zum Fleischverzehr dient. Aufgrund der Auswertung umfangreicher Quellen gibt
Walter Burkert eine anschauliche und detaillierte Darstellung einer griechischen
Opferhandlung.
Ein verwickelter Weg führt hin zum Zentrum des Heiligen. Baden und das Anlegen reiner Kleider, Schmückung und Bekränzung gehören zur Vorbereitung, oft
auch sexuelle Abstinenz. Zu Beginn bildet sich eine wenn auch noch so kleine
Prozession (ποµπη, Pompae23 ): im gemeinsamen Rhythmus, singend entfernen
sich die Teilnehmer des Festes von der Alltäglichkeit. Mitgeführt wird das Opfertier, seinerseits geschmückt und gleichsam verwandelt, mit Binden umwunden,
die Hörner vergoldet. Man erhofft in der Regel, daß das Tier gutwillig, ja freiwillig dem Zuge folgt; gerne erzählen Legenden, wie Tiere von sich aus zum Opfer
sich anboten; denn es ist der Wille eines Höheren, der hier geschieht. Ziel ist der
_________________________________________________
21 Ihre sprachliche Form sind Anweisungen: Etwas soll geschehen / ist zu tun, jemand hat etwas
zu tun usw.
22 Vgl. Burckhard Dücker: Intoleranz und interkulturelle Vermittlung. Anmerkungen zu Prome-
theus. In: Rolf Kloepfer u. Burckhard Dücker (Hg.): Kritik und Geschichte der Intoleranz.
Heidelberg (Synchron) 2000, 309-328.
23 Vgl. Jens Köhler: Pompai. Untersuchungen zur hellenistischen Festkultur. Frankfurt am Main
(Lang) 1996.
32
1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
alte Opferstein, der längst ›errichtete‹ Altar, den es mit Blut zu netzen gilt. Meist
lodert auf ihm bereits das Feuer. Oft wird ein Räuchergefäß mitgeführt, die Atmosphäre mit dem Duft des Außerordentlichen zu schwängern; dazu die Musik,
meist die des Flötenbläsers. Eine Jungfrau geht an der Spitze, die ›den Korb trägt‹
( kanhforos, Kanaephoros), die Unberührte das verdeckte Behältnis; auch ein
Wasserkrug darf nicht fehlen. Am heiligen Ort angekommen, wird zunächst ein
Kreis markiert, Opferkorb und Wassergefäß werden rings um die Versammelten
herumgetragen und grenzen so den Bereich des Heiligen aus dem Profanen aus.
Erste gemeinsame Handlung ist das Waschen der Hände, als ›Anfang‹ dessen,
was nun geschieht. Auch das Tier wird mit Wasser besprengt; ›schüttle dich‹, ruft
Trygaios bei Aristophanes. Man redet sich ein, die Bewegung des Tieres bedeutet
ein ›freiwilliges Nicken‹, ein Ja zur Opferhandlung. Der Stier wird noch einmal
getränkt – so beugt er sein Haupt. Das Tier ist damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Aus dem Korb entnehmen die Teilnehmer jetzt die ungeschroteten Gerstenkörner (oulai, Ulai), die Früchte des ältesten Ackerbaus; doch werden
sie gerade nicht zerstoßen, zur Speise bereitet: nach jähem Innehalten, dem feierlichen eufhmein und dem lauten Gebetsruf, der mehr Selbstbestätigung als Bitte
ist, werden die Gerstenkörner weggeschleudert, auf das Opfertier, den Altar, die
Erde; andere Speise ist jetzt gefragt. Gemeinsames, gleichzeitiges Werfen von
allen Seiten ist ein aggressiver Gestus, gleichsam Eröffnung eines Kampfes, auch
wenn die denkbar harmlosesten Wurfgegenstände gewählt sind; in einigen altertümlichen Ritualen warf man indessen tatsächlich mit Steinen. Unter den Körnern
im Korb aber war das Messer verborgen, das jetzt aufgedeckt ist. Mit ihm tritt der,
dem die Führungsrolle zufällt im nun beginnenden Drama, der iereus (Hiereus),
auf das Opfertier zu, das Messer noch versteckend, damit das Opfer es nicht erblickt. Ein rascher Schnitt: ein paar Stirnhaare sind dem Tier abgeschnitten, ins
Feuer geworfen worden. Dies ist wiederum und erst recht ein ›Anfangen‹, arcestai
(archestai), wie schon Wasser und Gerstenkörner einen ›Anfang‹ (arcestai, archestai) bildeten: noch ist kein Blut vergossen, nicht einmal ein Schmerz zugefügt,
und doch ist die Unberührbarkeit und die Unversehrtheit des Opfertieres aufgehoben, in nicht mehr umkehrbarer Weise. Jetzt erfolgt der tödliche Schlag. Die anwesenden Frauen schreien auf, schrill und laut: ob Schreck, ob Triumph, ob beides zugleich, der ›griechische Brauch des Opferschreis‹ markiert den emotione llen Höhepunkt des Vorgangs, indem er das Todesröcheln übertönt. Besondere
Sorgfalt gilt dem ausfließenden Blut: es darf nicht zur Erde fließen, es muß den
Altar, den Herd, die Opfergrube treffen. [...] Das Tier wird zerlegt und ausgeschlachtet. [Die inneren Organe werden] rasch im Feuer des Altars geröstet und
sofort gegessen; der engste Kreis der unmittelbar Beteiligten schließt sich zusammen im gemeinsamen Genuß, der den Schauder ins Behagen wandelt. [Galle und
Knochen sind ungenießbar und werden ›geheiligt‹, d.h. vor allem die Schenkelknochen ( mhria, Maeria) werden ›in rechter Ordnung‹ auf den Altar gelegt und
mit Wein und Kuchen verbrannt.] Dann, wenn das Feuer zusammenfällt, mag die
behagliche Festmahlzeit in den Alltag überleiten. Die Haut des Opfertieres wird in
der Regel verkauft zugunsten des Heiligtums, für Weihgeschenke und neue Opfer:
so pflanzt sich der Kult fort. Das Anstößige an diesem Ritus, das schon früh emp-
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1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
funden wurde, liegt darin, daß das ganze so eindeutig und unmittelbar den Menschen zugute kommt. Ist der Gott, ›für den‹ das Opfer fällt, mehr als ein durchsichtiger Vorwand für festliche Schmauserei?
(Burkert 1972, 10-14)
Daß es bei diesem Opferritual um einen religiösen Zweck geht, zeigt sich als
Element der ›verkehrten Welt‹. Mit diesem ritualtheoretischen Begriff 24 werden
Szenarios bezeichnet, die für eine begrenzte Zeit die gesellschaftlich zugelassene
Umkehr der normalen gesellschaftlichen Strukturen als sinnvoll fordern und regeln. In der griechischen Opferhandlung wird das Ausbringen der Gerstenkörner
auf eine Fläche, auf der sie nicht aufgehen können, also ihre Vergeudung, nur
sinnvoll unter der Maßgabe, daß es im Rahmen einer ritualisierten Handlung geschieht, deren höherer Zweck den Verlust einiger Gerstenkörner rechtfertigt.
Weiterhin belegen die umfangreichen, sehr speziellen Vorbereitungen, daß eine
ritualisierte Handlung, soll sie korrekt ausgeführt sein, nicht spontan erfolgen
kann. Vielmehr bildet ritualisiertes Handeln einen Mischtypus aus »zweck- und
wertrationalem Handeln« (Max Weber), weil es eine bestimmte Strategie zur Erreichung eines definierten Zwecks (hier Fleischmahlzeit) und zur Sicherung eines
bestimmten Werts (hier Verehrung der Götter als Schutzmacht der Menschen) zur
Verfügung stellt. Das Ritual zielt auf eine Status-, Geltungs- oder Einstellungsmodifikation.
Das in Burkerts Opferbeschreibung erkennbare Dreiphasenschema von Auszug zum Opferplatz, Vollzug des Opfers und der Mahlzeit, Rückkehr und Verkauf
der Haut als Vorbereitung des nächsten Opfers ist von Arnold van Gennep ([1909]
1999, 21) mit den Begriffen »Trennungs-, Schwellen- bzw. Umwandlungs- und
Angliederungs« -phase bezeichnet worden und gilt allgemein als Grundstruktur
eines ritualisierten Handlungsablaufs. 25 In der ersten Phase löst sich ein Individ u_________________________________________________
24 Als Beispiel für die Inszenierung einer temporären »verkehrten Welt«, in der die normalen
sozialen Statusverhältnisse und Rangbeziehungen aufgehoben sind, wird häufig die Institution des Karnevals angeführt. Maskierung und Kostümierung anonymisieren die Feiernden,
lassen eine Trennung zwischen Akteuren und Zuschauern nicht zu, sondern verstärken den
Eindruck ihrer Gleichheit, was wiederum die Möglichkeit und Bereitschaft zur simulativen
Erfahrung neuer, d.h. vom Normalen abweichender Lebens- und Sozialformen erleichtert.
Weiterhin gilt das von der politischen und kirchlichen Autorität vorübergehend zugelassene
Lachen der Unter- über die Oberschichten und deren gesellschaftliche Regeln als Ventil zur
Abfuhr von Aggression und Frustration. Nicht zuletzt aus diesem Grund der Eingrenzung
und Zähmung von Gewaltpotential wird den Ritualen eine konservative Funktion zugeschrieben. Vor allem der russische Literaturtheoretiker Michail Bachtin (1998) hat Strukturen des
Karnevalismus und einer ›Lachkultur‹ analysiert, in deren Zentrum die Ablehnung absoluter
Bedeutungen zugunsten relationaler begründet und das Prinzip der Dialogizität als Mittel der
Sinnstiftung dem der Monologizität vorgezogen wird.
25 Es bildet z.B. häufig die Struktur von Auszugsmärchen. Für viele Märchenhelden ist wegen
eines Konflikts in der Familie oder wegen eines unerfüllten Wunsches kein Platz mehr im
gewohnten Umfeld (z.B. Hänsel und Gretel; Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen;
Das Wasser des Lebens), sie ziehen aus, bestehen Prüfungen und Abenteuer, kehren schließlich zurück, wobei sie häufig eine Statusveränderung (Nachfolger des Königs, ein Armer
wird reich usw.) vollzogen haben. Auch für die Reiseliteratur stellt das Dreiphasenschema als
Erkenntnismuster neue Perspektiven und Einsichten bereit, vgl. Burckhard Dücker: Zur Ri-
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1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
um oder Kollektiv aus einer gewohnten und definierten Sozialstruktur, gibt eine
Position im Alltag auf, um in die zweite Phase einzutreten, in der sich nach vo rgegebenem Schema ein Übergangs-, Verwandlungs-, Veränderungs- oder Reifeprozeß vollzieht. Häufig geht es um eine Initiation oder einen Statuswechsel. In
dieser Übergangs- oder »Liminalitätsphase« (Victor Turner) befindet sich der
Proband in einem Zwischenzustand zwischen den Regeln des aufgegebenen und
denen des angestrebten Zustands, was häufig durch das Schema von symbolischem Tod und Wiedergeburt26 ausgedrückt wird. Kennzeichnend für diese Phase
ist ein extrem formalisiertes Handlungsprogramm (z.B. detaillierte Ge- und Verbote, Prüfungen, Reinigungen, Askese, Unterricht, Ausschluß von Melancholie
und Pessimismus), das nur geringe Abweichungen zuläßt, soll es nicht ungültig
werden. In der ›Angliederungsphase‹ soll der Akteur über die für seine neue Position erforderlichen Verhaltens- und Urteilskompetenzen verfügen.
Die Eigenschaften des Schwellenzustands (der »Liminalität«) oder von Schwellenpersonen
(»Grenzgängern«) sind notwendigerweise unbestimmt, da dieser Zustand und diese Personen
durch das Netz der Klassifikationen, die normalerweise Zustände und Positionen im kulturellen
Raum fixieren, hindurchschlüpfen. Schwellenwesen sind weder hier noch da, sie sind weder das
eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen. [...] So wird der Schwellenzustand häufig mit
dem Tod, mit dem Dasein im Mutterschoss, mit Unsichtbarkeit, Dunkelheit, Bisexualität, mit der
Wildnis und mit einer Sonnen- oder Mondfinsternis gleichgesetzt.
Schwellenwesen wie Neophyten [Neubekehrte] in Initiations- oder Pubertätsriten können symb olisch als Wesen dargestellt werden, die nichts besitzen. Sie mögen als Monsterwesen verkleidet
sein, nur ein Minimum an Kleidung tragen oder auch nackt gehen und so demonstrieren, dass sie
als Schwellenwesen keinen Status, kein Eigentum, keine Insignien [...] besitzen, [nichts] was sie
von ihren Mitneophyten oder –initianden unterscheiden könnte. Ihr Verhalten ist normalerweise
passiv und demütig; sie haben ihren Lehrern strikt zu gehorchen und willkürliche Bestrafung
klaglos hinzunehmen. Es ist, als ob sie auf einen einheitlichen Zustand reduziert würden, damit sie
neu geformt und mit zusätzlichen Kräften ausgestattet werden können, die sie in die Lage versetzen, mit ihrer neuen Station im Leben fertig zu werden. Untereinander neigen die Neophyten dazu,
intensive Kameradschaft und Egalitarismus zu entwickeln. Weltliche Status- oder Rangunterschiede verschwinden. [...]
Wir werden in solchen Riten mit einem »Augenblick in und ausserhalb der Zeit«, in und ausserhalb der weltlichen Sozialstruktur konfrontiert, der – wie flüchtig er auch sein mag – das (wenn
auch nicht immer sprachlich, so doch symbolisch zum Ausdruck gebrachte) Erkennen einer generalisierten sozialen Bindung offenbart, die aufgehört hat zu bestehen und gleichzeitig erst noch in
eine Vielzahl struktureller Beziehungen unterteilt werden muss. [...] Das [...] Modell, das in der
Schwellenphase deutlich erkennbar wird, ist das der Gesellschaft als unstrukturierte oder rudi
tualität von Reisen in die Sowjetunion und nach Rußland. In: Tourismus Journal H. 3, Bd. 4 /
2000, 399-422.
26 Hermann Hesse, in dessen Romanen sich zahlreiche ritualisierte Handlungssequenzen finden,
gestaltet in seinem Roman Demian (1919) Emil Sinclairs sozialen Abstieg in Pflichtvergessenheit und Alkoholexzesse als symbolischen Tod, von dem ihn erst die Begegnung mit dem
Zeichen und der Glaubensformel des Gottes Abraxas wieder zum Leben erweckt. Sein Äußeres verändert sich ebenso wie seine Einstellung, er erlebt eine symbolische Wiedergeburt. In
der Phase vor seinem Erweckungserlebnis, also in der Zwischen- bzw. »Liminalitätsphase«
besteht eine offene Alternative zwischen sozialer Marginalität und Neuanfang, zwischen
Ausbruch aus und Rückkehr in die alte Ordnung.
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1. Einleitung: Allgemeine Grundlagen
mentär strukturierte und relativ undifferenzierte Gemeinschaft [...] Gleicher, die sich gemeinsam
der allgemeinen Autorität der rituellen Ältesten unterwerfen.
(Turner 251f.)
Die Sozialform der Schwellenphase bezeichnet Turner als »Communitas« und
stellt sie der »Struktur« als normaler Funktionsform der Gesellschaft (hierarchisch, unterschiedlich bewertete Positionen, soziale Unter- und Oberschicht, Arbeit, Konkurrenz- und Leistungsprinzip) gegenüber. »Der Schwellenzustand impliziert, dass es kein Oben ohne das Unten gibt und dass der, der oben ist, erfahren
muss, was es bedeutet, unten zu sein.« (Turner 253) Damit fällt das Phänomen der
»verkehrten Welt« unter die Definition der Liminalitätsphase: Als vorübergehend
ist sie von der geltenden Sozialstruktur anerkannt und regelmäßig zugela ssen.
In einer Reihe bildhafter sprachlicher Wendungen wird diese nur vorübergehende Grenzüberschreitung von der Normalität zur Devianz* objektiviert, wie
z.B. über die Stränge schlagen, Gelegenheit macht Diebe, seine Stunde / Auge nblick usw. nutzen, nachts (d.h. auch unter der Maske, im Kostüm) sind alle Katzen
grau.
Grundsätzlich besteht aber auch die Möglichkeit, daß die »Liminalitätsphase«, anstatt in die gewohnte Ordnung zurückzuführen, in Formen von Rebellion
und Widerstand übergeht, um den bloß vorübergehenden »verkehrten« Zustand in
einer neuen Ordnung auf Dauer zu stellen.
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