Themenpredigt Rituale – Gal 5,1 1 Im Brief des Apostels Paulus an

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Themenpredigt Rituale – Gal 5,1 1 Im Brief des Apostels Paulus an
Themenpredigt Rituale – Gal 5,1
Im Brief des Apostels Paulus an die Galater findet sich ein fundamentaler Vers, wenn es
um das Christenleben im Allgemeinen und seine Riten im Besonderen geht. Ich meine
den ersten aus dem fünften Kapitel. Dort lesen wir: „Zur Freiheit hat Christus uns befreit“
(Gal 5,1).
Wie sind sie, liebe Gottesdienstbesucherin, heute morgen aufgestanden? Oder mussten
sie gar nicht wie gewöhnlich aufstehen. Das Frühstück wurde ihnen vom Mann am Bett
serviert – wie jeden Sonntag? Und was haben sie, lieber Predigthörer, heute Morgen als
erstes gemacht. Noch im Schlafrock die Sonntagszeitung aus dem Briefkasten geholt wie
jeden Sonntag – Und wehe, wenn sie nicht dort war!...
Es gibt die kleinen Rituale in unserem Leben. Sie sagen uns, dass heute eben Sonntag ist
und nicht Montag und die Dinge anders liegen respektive vonstatten gehen als unter der
Woche. Der Alltag hat andere Rituale: Morgens der starke Kaffee mit viel Zucker bevor’s
zur Arbeit geht. Abends um 19.30 Uhr die Tagesschau. Vor dem Zubettgehen der
Schlummertrunk – wenn es auch nicht gleich das berüchtigte Glas Gin der Queen Mum
sein muss. Und vieles anderes mehr. Es fehlt uns etwas, wenn wir diese lieben
Gewohnheiten auslassen müssen.
Gewohnheiten verdichten sich zu Ritualen. Diese strukturieren uns Raum und Zeit. Sie
sind Bojen im steten Lauf der Zeit, an denen unser Lebensboot gerne festmacht, und wir
einen Moment innehalten und uns darüber vergewissern, wie der Weg weitergehen
kann.
„Rituale“ – ein gutes Stichwort. Mit ihm kann man machen, was heute gerne getan wird,
wenn man Bescheid wissen will über eine Sache. Sie haben es erraten, ich meine das
Wort wird „gegoogelt“ – ein unmöglicher Ausdruck, der aber bereits seit zehn Jahren im
Duden aufgeführt ist.
Also was findet einer da unter diesem Stichwort? Die Website „lichtspirale.ch“
verspricht: „Ich gestalte mit Ihnen und für Sie ein Ritual, das Ihrem religiösen und
weltanschaulichen Hintergrund und ihren Bedürfnissen entspricht.“ Die Sache kostet „CHF
120.- “ in der Stunde. „ritual.ch“ bietet das gleiche an, ist aber mit 97 Franken in der
Stunde günstiger. Und „rituale.ch“ – man beachte den Plural – weiss, dass „Immer schon
Menschen mit Hilfe von Ritualen ihr Leben geordnet und Übergänge gefeiert haben“. Auf
dem Netz werden Rituale für alle Lebenslagen angeboten. Schuleintritt und Pubertät,
Wechseljahre und Pensionierung, aber auch Geburt und Tod, werden von Ritualberatern
begleitet und gestaltet. Der den Kirchen entfremdete Mensch, der sich seine religiösen –
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oder wie man heute sagt spirituellen – Bedürfnisse befriedigen lassen will, schöpft aus
einem überreichen Angebot, das für ihn passende. So viel zu den Anbietern auf dem
Internet. Was kann man weiter zum Stichwort Ritual herausfinden?
Das Ritual hat eine helle und eine dunkle Seite. Die dunkle steht für den Zwang, dem
Menschen unterliegen. Wenn sie gewisse rituelle Handlungen nicht vollziehen, erleben
sie tiefste Verunsicherung und Angst. So kennt jeder Therapeut Patienten, die an einem
mehr oder weniger ausgeprägten Waschzwang leiden. Vielleicht haben sie den Film „The
Aviator“ gesehen. Leonardo di Caprio spielt den Milliardär Howard Hughes, der nach
jeder Berührung einen unüberwindlichen Drang verspürte, sich die Hände zu waschen –
so lange bis sie blutig gerieben sind. Der Weg vom Hellen in das Dunkel, vom
befreienden und ermutigenden Ritual zum krankhaften Zwang, ist recht lang und kennt
viele Übergänge. Ist der Fussballspieler, der auf gar keinen Fall, ohne seine Glücksocke
auf das Feld geht, schon zwanghaft? Oder wie soll man das verstehen, wenn einer keinen
Schritt aus dem Haus geht, ohne seine Gebete verrichtet zu haben? Oder der Autofahrer,
der nie einen Meter fährt, wenn sein Talisman nicht mit an Bord ist? Es gibt hier wohl
keine eindeutigen Antworten und keine klaren Grenzen, die zu setzen sind. Aber wenn
die Lebensfreude durch ritualisierte Handlungen zu stark eingeschränkt ist, wird es
wohl schwierig.
Was steckt eigentlich dahinter? Was treibt Menschen dazu nach Ritualen zu suchen, die
ihnen helfen ihr Leben zu gestalten? Ich meine, es ist die Sehnsucht von uns allen nach
Orientierung, nach Trost und Geborgenheit. Und bei diesen Themen ist die Kirche
gefragt. Sie ist eine Institution mit sehr reicher Erfahrung, wenn es um Rituale geht. Nun
könnte ein kritischer Zeitgenosse fragen: Was macht sie den anders als die vielen
„weltlichen“ Anbieter auf diesem offensichtlich heiss umstrittenen Markt? Zunächst: es
geht auch in der Kirche um dieselbe Sehnsucht der Menschen nach Orientierung, Trost
und Geborgenheit. Die Kirche hat ihr Ritual aber – und das unterscheidet sie von den
anderen – in das Licht des Evangeliums zu stellen. Als Christen und Christinnen leben
wir als von Angst und Schuld befreite Menschen. Und das Ritual macht uns diese
Glaubenswahrheit immer wieder neu erfahrbar. Und da das Evangelium alle Menschen
meint, ist es eine Erfahrung, die auf Gemeinschaft angelegt ist. Das kirchliche Ritual hat
immer die Gemeinschaft mit Gott und den Menschen zum Ziel. Und diese Gemeinschaft
ist sehr umfassend zu verstehen. Auch wenn an einem Sonntag nur zwanzig oder
dreissig Leute den Weg in die Kirche finden, nehmen sie an der umfassenden weltweiten
Gemeinde teil, die Gottesdienst feiert. Der Gottesdienst ist in einem geistlichen Sinne
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eine Art globalisierter Ritus des Betens und Lobens, an den ganz viele Menschen rund
um den Globus – heute würde man vielleicht sagen: „andocken“.
Wo an welchen Wegmarken des Lebens bietet denn die Kirche ihre Rituale an? Es sind
vor allen anderen die traditionellen Kreuzungspunkte: Taufe, Konfirmation, Hochzeit
und Abdankung.
Bei uns werden für gewöhnlich Kinder getauft – selten Erwachsene. Und dies geschieht –
zumeist – in der Kirche. Das Ritual der Taufe ist für jeden Christen sofort erkennbar.
Wasser, das Kreuzzeichen, das Wort aus der Bibel gehören essentiell dazu. Die Taufe
vergewissert die Eltern der Freundschaft Jesu Christi. Ihr Kind gehört zu der
umfassenden Gemeinschaft von uns Christenmenschen. Wie auch immer das Leben des
jungen Erdenbürgers verläuft, es folgt der langen Spur Christi. Und er geht diesen Weg
nie alleine.
Und die Konfirmation? Auch sie ist als Ritual unserer Kirche sofort erkennbar – und sei
es nur darum, dass für einmal eine grosse Schar junger Menschen sich unter dem
Kirchendach versammelt. Sie versuchen mit ihrem Fest etwas davon kundzutun, wo sie
denn gerade auf ihrem Weg stehen. Und vielleicht stellen sich die meisten von ihnen
unter diejenige Wegmarke, die mit „irgendwie religiös“ umschrieben ist. Und das ist gut
so. Auch wenn heute so vieles unsicher ist, gerade für die jungen Menschen, so folgen sie
doch mit der Konfirmation einem Zeremoniell, das ihre Eltern kennen und ihre
Grosseltern. Es verbindet sie darüber hinaus mit ihren Vorfahren über viele
Generationen hinweg.
Die Hochzeit scheint sich langsam – und zu unserem Leidwesen – aus der Kirche zu
verabschieden. Ob es ein Abschied für immer ist? Wer weiss das schon? Früher war das
anders. Das Zivilstandesamt war für den formellen Teil zuständig. Die inneren Werte,
die das Paar verbinden, wurden mit der kirchlichen Hochzeit zum Ausdruck gebracht;
mit Treueformeln und Ringtausch. Vielleicht ist der Exodus der Brautpaare weniger eine
Misstrauenskundgebung der Kirche als vielmehr der Institution Ehe gegenüber. Jede
zweite Ehe wird auch wieder geschieden – lange bevor der Tod die Beziehung bricht. Ob
man sich angesichts dieser Statistik nicht mehr getraut an den Traualtar zu treten?
Die Abdankungsfeier – ich liebe das traditionelle Wort, weil das Wort „Dank“, der Dank
für ein gelebtes Leben, drin steckt – sie ist hingegen immer noch eine Domäne der
Kirche.
Anfang und Ende des Lebens scheinen die Knotenpunkte zu sein und zu bleiben, an
denen man das eigene Ergehen mit Gott verbindet. Und hier leistet das kirchliche Ritual
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ganz besonders Wichtiges. Eröffnet es doch einen Gestaltungsraum, wo man meint ins
Bodenlose zu fallen; und leiht Worte, wo wir sprachlos geworden sind.
All diese und weitere Rituale der Kirche können etwas unendlich Kostbares tun: Sie
können den Menschen Wegweiser sein, wenn die Frage sich stellt, wie es weitergehen
kann im Leben. Sie können ihnen helfen, Boden unter die Füsse zu kriegen, wenn der
Grund nicht mehr trägt. Sie vermitteln und versichern die Anteilnahme der anderen
Menschen in der Gemeinde Jesu Christi. So können mit ihrer Hilfe Geborgenheit, Trost
und Orientierung sich finden lassen.
Alle unsere Rituale sind Angebote zur Sinnfindung. Es kann keinen Zwang geben wenn
gilt: „Zur Freiheit hat Christus uns befreit“ (Gal 5,1). Das christliche Ritual schenkt uns
entsprechend „Geborgenheit in Freiheit“. Alles andere wäre nicht mit dem Evangelium zu
vereinen. Rituale leben durch ihren Vollzug. Dazu ist die Feier des Gottesdienstes da.
Und die Einladung gilt an jedem Sonntagmorgen. Für das Frühstück am Bett und die
Sonntagszeit reicht die Zeit davor allemal. Amen.
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