Tollkühne Männer in ihren fliegenden Kisten: eine

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Tollkühne Männer in ihren fliegenden Kisten: eine
DER TEUFELSPILOT
Tim Hill (58),
Oberstleutnant der Royal Air Force
Dem Engländer spannt
schimmernder Plastikstoff über dem
Bauch: „Je schneller man fährt,
desto höher wird der Gleitdruck,
deswegen tragen viele
aerodynamische Hautanzüge.“
Seine schlimmste Verletzung auf
dem Cresta Run war ein
ausgekugeltes Schultergelenk.
„Der Geschwindigkeitsrausch ist
vergleichbar mit der Beschleunigung
in einem Militärflugzeug.“
DER BLAUE REITER
Adriano Agosti (52),
Spielführer des Cartier-Poloteams
Der Schweizer ist Kopf einer
Investorengruppe und Großaktionär
verschiedener Konzerne. Nebenbei
gehört er zu den besten AmateurPolospielern der Welt. Mit dem
Cartier-Team gewann er schon
sechsmal den World Cup on
Snow. Im Winter in St. Moritz gehen
ihm dann alle Gäule durch.
Tollkühne Männer in ihren
f liegenden Kisten: eine
Probefahrt auf dem Cresta Run,
dem härtesten Eiskanal der Alpen
VON T E N Z I N G B A R S H E E – FOTOS : N O È F LU M
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AM ABGRUND
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LEUTE
DER JUNGE BLITZ
Constantin Thun-Hohenstein
(21), Fotograf
Schon während seiner Schulzeit im
Internat Lyceum Alpinum Zuoz
legte er sich aufs Eis. Angefangen
hat er mit 16. Das erste Rennen
hat er direkt gewonnen, seine
Bestzeit liegt bei 42 Sekunden. Seitdem auch sein jüngerer Bruder
dem Cresta Run verfallen ist, zittert
die Mutter um die Gesundheit
ihrer drei Liebsten. Denn eingeführt
in den Sport wurden die
beiden Jungs von ihrem Vater,
dem avantgardistischen
Architekten Matteo Thun.
DER GURU UND
DER PRINZ
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Arnold von Bohlen
und Halbach (68),
Khalid Bandar (40)
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Arnold von Bohlen und
Halbach (l.), ein Spross der
Krupp-Dynastie, wird im Club
liebevoll „Guru“ genannt. Er
unterrichtet die Anfänger. Seit
Jahrzehnten. Khalid Bandar
besuchte nach seinem Studium
in Oxford als Mitglied der
saudiarabischen Nationalgarde
den Cresta Run. Inzwischen
fährt der Nachfahr von König
Fahd seit vier Jahren Schlitten:
„Meine Bestzeit bin ich
nach einer Nacht ohne Schlaf
gefahren“, sagt der Prinz.
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LEUTE
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DER SPÄTZÜNDER
Klaus-Dieter Rauenbusch (64),
Architekt
DER EIS-ÖHI
Erst mit Mitte 50 fing der
Deutsche mit dem Extremschlittenfahren an. Seither hat er
sich einmal die Schulterbänder
gerissen, seine Finger sind
an mehreren Stellen genäht.
Die vergangene Saison hörte
für ihn vorzeitig auf. Er ließ
sich ein künstliches Hüftgelenk
einsetzen. Dieses Jahr will er
aber unbedingt wieder fahren.
Adolf Haeberli (73),
Kosmetiker
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Vergangenes Jahr gewann er den
Preis als schnellster 70-Jähriger
auf dem Cresta Run. Noch vor
vier Jahren brach er sich den
Ellbogen. „Drei Schrauben haben
das wieder hingekriegt“,
sagt Haeberli. Danach erwischte
ihn jedoch eine Angina Pectoris.
Auch das hielt den hauptberuflichen Kosmetiker nicht
davon ab, sich im darauffolgenden
Jahr erneut aufs Eis zu legen.
Bei seiner schlimmsten Verletzung
holte er sich „eine ungewisse
Anzahl an Rippenbrüchen“.
Er fährt seit 1970.
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inzwischen höher. Von hier oben können
sie die Sportwagen sehen, die sich auf der
Dorfstraße gegenseitig überholen. Auf
dem Autolack funkelt das Licht in entzückenden Farben. An der Eisbahn ist es
kalt, bitterkalt, sie liegt in einem Schattenloch. Ein paar Schritte weiter geht es in
die warme Umkleide. Auf dem Schild an
der Tür steht: „Nur für Mitglieder, Frauen
nicht erlaubt“.
Es ist acht Uhr. Die Männer in der Umkleide spüren noch nichts von der Freiheit. Sie stülpen metallverstärkte Schutzhandschuhe über die Finger. Abgenutzte
Lederriemen polstern Knie und Ellbogen.
Die Füße frieren in Laufschuhen, an deren
Spitzen primitive Metallzacken angebracht sind – die Bremsen. Mit ihren Helmen sehen die Männer aus wie mittelalterlicher Krieger. Ungeschickt nesteln sie
an den Verschlüssen herum. Es gibt kein
Zurück mehr, gleich werden sie bäuchlings eine enge Eisrinne hinunterrasen.
der Schlitten den Augen folgen, so fühlt
sich das an, und so wunderbar ist das.
Aber da ist schon die Ziellinie, die Muskeln flattern, das Adrenalin, das den Körper durchflutet, betäubt den Schmerz der
Prellungen, die man sich bei der Abfahrt
geholt hat.
Im Kopf laufen die Bilder einfach weiter. „Das ganze glitzernde Tal und all die
Lichter in den großen Hotels liegen dir für
einen Moment lang zu Füßen“, so beschrieb es Robert Louis Stevenson, der
Autor der „Schatzinsel“, der in den 1880erJahren öfter in der Schweiz weilte, um ein
Lungenleiden auszukurieren.
Der erste Cresta Run wurde 1885 erbaut, bis heute wird er in Handarbeit gemacht. Saisonarbeiter klopfen die Eisbahn
mit Plastikschaufeln aus Pulverschnee.
Dieser wird von einem Bagger aus der
ganzen Umgebung hierher gekarrt.
Nach neun Uhr drängeln viele Mitglieder des St. Moritz Tobagganing Club
in die Umkleide. Die Spinde klappern,
ie Mikrofonstimme aus dem Kevlarhelme werden geschlossen. ManTower ruft den ersten Fahrer che Männer sind traditionell in Kniehosen
auf. Ab mit dem Schlitten in aus Tweed und dicke Wollsocken gekleidie Startbox, hinlegen, mit det. Andere sehen aus wie futuristische
dem Kinn direkt übers Eis – Raumfahrer in Lycra. Auch die Anfänger
in Rennposition. Noch blockiert ein stäm- wollen heute noch einmal aufs Eis, in die
miger Mann den Schlitten mit seinem zweite Runde.
Schuh, aber dann: Die Abfahrt ist freiMit Übermut im Kopf geht es in die ersgegeben. Der Mann zieht den Fuß zurück, te Kurve, weg mit den Bremsen, es kann
der Schlitten rutscht, kommt in Fahrt – nicht schnell genug sein. Der Schlitten
nach wenigen Metern nimmt er Tempo schießt hinunter in die schwierigste Kurauf, die Eiswände, links, rechts, ziehen ve, schlingert, eigentlich müsste er sich
rasend schnell vorbei. Jede Pore des Kör- jetzt drehen. Aber der Moment ist verpers konzentriert sich auf den Eiskanal, passt, die Schuhspitzen raspeln an der
die Hände, steif und verkrampft, klam- Eisoberfläche, vergeblich. Der Schlitten
mern sich an den Schlitten.
schleudert nach vorn, der Körper landet
Aber bald schon passiert etwas Merk- irgendwo auf einem Strohbett. Überall
würdiges: Das Tal faltet sich hinter dem schmerzt es ein bisschen, kurzes Signal
Kanal auf, und die Angst weicht einem zum Turm: „Alles okay!“
flirrenden Rauschgefühl. Der Blick löst
Frauen wurde 1929 verboten, auf dem
sich von den Eiswänden und erfasst das Cresta Run zu fahren, mit einer etwas
weite Panorama, und eigentlich könnte seltsamen Begründung: Die vibrierenden
Schläge würden die Brustkrebsgefahr erhöhen, hieß es
Mit mehr als 130km/h
damals. Inzwischen behauprasen die Amateurtet das zwar niemand mehr,
sportler das Eis hinab
aber auch heutzutage dürfen
zum Ende der Saison lediglich ein paar handverlesene Damen einmal mitfahren.
Es ist zehn Uhr morgens – die Männer
der Anfängergruppe lassen sich auf die
Holzbänke in der Umkleidekabine fallen.
Man muss nicht alles im Leben vollbracht
haben, um in den Himmel zu kommen.
Aber den Cresta Run zu bezwingen, das
denken diese Männer, das gehört schon
irgendwie dazu.
D
F O T O : R YA N L A R R M A N
S
ie werfen sich mit einem
Schlitten in einen Eiskanal, das Gesicht knapp
über dem Boden. Sie
preschen durch schmale
Kurven hinter zum Ziel,
rund 1 200 Meter in weniger als einer Minute,
das Ganze mit einer Geschwindigkeit von 130
Stundenkilometern und mehr: Geschäftsmänner, Familienväter, Verrückte, die für
eine Minute Angstkitzel einen Knochenbruch riskieren, Männer, die in den
Schweizer Alpen einem Sport nachgehen,
der mehr verlangt als das übliche Skilaufen: Sie fahren den Cresta Run.
Jedes Jahr im Dezember eröffnet der St.
Moritz Tobagganing Club (SMTC) seine
Natureisbahn: Circa neun Wochen dient
sie als Bühne für eines der letzten Menschheitsabenteuer. Neben den Cracks, die
hier in rund 30 Rennen um Ruhm und Rekorde kämpfen, versuchen sich in jedem
Jahr auch eine Handvoll Anfänger im härtesten Eiskanal der Alpen.
An diesem Tag geht eine Gruppe von
sechs jungen Männern an den Start. Für
300 Euro haben sie sich im Internet
(www.cresta-run.com) einen Einführungskurs und fünf Fahrten gekauft. Sie
wollen wissen, wie er ist, dieser Ritt in
den Abgrund, den aus Eis und auch den
eigenen. Und was dran ist am Mythos
Cresta Run.
Wenn die Mitglieder hier ihre Rennen
fahren, ist die Bahn allein ihnen vorbehalten. Einer der wichtigsten Wettkämpfe,
der Curzon Cup, beginnt am 12. Januar.
Vor zehn Jahren war Dominik von Ribbentrop, ein Enkel von Hitlers Außenminister,
der erste Deutsche, der den Cup holte.
„Mein Leben in zehn Worten? Cresta
wäre eines davon“, sagt von Ribbentrop.
Der Münchner Unternehmer führt sonst
die Stockinger AG, eine Firma, die maßgefertigte Tresore herstellt. „Es ist tatsächlich das wahre Freiheitsgefühl“, sagt er.
Als das erste Sonnenlicht über das Tal
fächert, steigen die sechs Männer die Stufen hoch zum Clubhaus. Mit seinem Tower sieht das Gelände aus wie ein kleiner
Privatflughafen. Es liegt auf dem Areal
des Kulm-Hotels, das 1968 von dem verstorbenen Reeder Stavros Niarchos übernommen wurde. Sein Enkel Stavros III.
wurde voriges Jahr durch die Liaison mit
der notorischen Hotelerbin Paris Hilton
bekannt. Auch die Niarchos-Familie fährt
begeistert Cresta.
Die Männer starren in einen glänzenden
Schlund: den Cresta Run. Die Sonne steht

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