„Von einem Tsunami überrollt“

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„Von einem Tsunami überrollt“
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Politik · Gesellschaft
GrenzEcho
Freitag, 22. November 2013
Verkehrssicherheit: Wie die Mutter und die Freundin den Unfalltod eines 23-Jährigen verarbeitet haben
Empörung
„Von einem Tsunami überrollt“
Lehrerschelte:
CSP attackiert
Lambertz
„Ich fühle den Aufprall, die
Schreie und die Schmerzen“, sagt Anne-Françoise
Jardon, als sie mal wieder
Blumen an der Stelle niederlegt, wo ihr 23-jähriger
Sohn Maxime bei einem
Autounfall ums Leben
kam. „Hier ist es, wo ich
ihn in meinen Armen hätte halten müssen.“
AUS B RÜSSEL BERICHTET
G ERD Z EIMERS
Das Schicksal der Familie von
Maxime, der vor fast genau
drei Jahren in Overijse bei
Brüssel ums Leben kam, ist
Teil der neuesten Kampagne
des Instituts für Verkehrssicherheit (IBSR), die dieses Mal
nicht mit Statistiken und Plakaten sensibilisieren möchte,
sondern mit einem Lied von
Ozark Henry und einem Video
emotional das Problem der
Verkehrsunfälle mit Jugendlichen anpacken will. Im Mittelpunkt stehen die Folgen eines
Unfalltodes für Familie und
Freunde (siehe u.). Offenherzig
erzählt uns Maximes Mutter,
wie sie den Tod ihres Sohnes
verarbeitet hat.
Um halb acht morgens an
jenem 28. Oktober 2010 brach
für die Familie Jardon in Rixensart die Welt zusammen,
als die Polizei ihr die schreckliche Nachricht überbrachte,
dass Maxime, mit 23 der älteste von vier Kindern, in der
Nacht bei einem Autounfall
sein Leben verloren hatte.
Mutter Anne-Françoise wollte
es nicht wahrhaben: „Hunderte Male habe ich mir gesagt: Es
kann nicht wahr sein, dass ich
mein Kind verliere“, erinnert
sie sich. „Erst nach 48 Stunden
durften wir seinen Leichnam
sehen. Dass ich ihn nicht in
meinen Armen halten konnte,
als er im Sterben lag, und
dann dieses Warten, all dies
war schrecklich.“
Maxime befand sich in jener
Mittwochnacht
mit
drei
Freunden auf dem Rückweg
Anne-Françoise Jardon an der Stelle, wo ihr Sohn bei einem Autounfall ums Leben kam. „Hier ist es, wo ich ihn in meinen
Armen hätte halten müssen.“ Das Bild stammt aus einem ergreifendem Video, das auf www.goforzero.be abrufbar ist.
von einer Feier in Neu-Löwen.
Er saß angeschnallt auf der
Rückbank. Gegen 2 Uhr in
Overijse prallte das Auto mit
überhöhter Geschwindigkeit
auf einen Mast. Der 23-Jährige
überlebte den Unfall nicht,
seine drei Freunde kamen mit
Verletzungen davon.
„Sein Verlust ist eine
180-Grad-Kurve. Das ist
etwas, worauf niemand
vorbereitet ist.“
„Es war, als ob ich von einem Tsunami überrollt worden wäre, der alles auf seinem
Weg zerstörte“, erzählt Maximes Mutter. „Alle Überzeugungen und Lebensauffassungen, die man bis dahin hatte,
werden plötzlich über einen
Haufen geworfen. Man hat
sein Kind mit viel Liebe und
Hingabe aufgezogen, und als
es an der Schwelle eines eigenständigen Leben steht und
ihm alle Tore offen stehen,
wird es einem weggenommen. Da wird der Glaube auf
eine harte Probe gestellt. Warum er? Warum so früh? Ein
Kind, das den Eltern weggerissen wird, das ist so schrecklich. Er hatte das ganze Leben
noch vor sich.“
Maxime hatte gerade sein
Studium abgeschlossen und
war seit vier Jahren mit der
ein Jahr jüngeren Astrid zusammen. „Wir hatten große
Pläne, wollten ein gemeinsames Leben in Australien aufbauen“, vertraut uns die 25Jährige an, deren Welt vor drei
Jahren ebenfalls innerhalb einer Sekunde zusammenbrach.
„Sein Verlust ist eine 180Grad-Kurve. Das ist etwas, worauf niemand vorbereitet ist.
Und einen herum stürzt alles
ein.“ Psychologische Hilfe hatte sie damals nicht in Anspruch genommen, sie konnte
voll auf die Unterstützung ihrer Eltern, der Familie von Maxime und ihrer Freunde zählen. Trost fand Astrid auch
im... Studium. „Obwohl ich
mein Biotechnologie-Studium
in Brüssel schon abgeschlossen hatte, hing ich noch einen
Master dran. Auch das hat mir
über den Schmerz hinweggeholfen.“
Im Haus Jardon ist seit drei
Jahren ein Stuhl leer. „Bei allem, was wir als Familie erleben und unternehmen, fehlt
Maxime, und das wird ewig so
bleiben. Aber er ist immer präsent, wir sind nach wie vor eine sechsköpfige Familie“, so
Anne-Françoise, die ihre Trauer ebenfalls ohne professionelle Hilfe verarbeitete. „Ich
habe viel gelesen und geschrieben, das Leid und die
Schmerzen mit Freunden und
im Familienkreis geteilt.“ Auch
nahm die Mutter über die Vereinigung von Eltern verunglückter Kinder Kontakt mit
anderen Eltern auf, die das
gleiche Schicksal teilen. „Es ist
eine wertvolle Hilfe, wenn
man darüber sprechen kann
und Freunde einem ihr offenes Ohr schenken. Sonst wür-
de Maxime ein zweites Mal
sterben.“ Wie seine Mutter
schrieb auch Maxime gerne.
Seine Gedichte und Kurzgeschichten hat die Familie in
Buchform veröffentlicht.
Die Jardons haben gerne an
der neuen Kampagne des IBSR
mitgewirkt. In dem Song ist
Maximes Originalstimme zu
hören, der Videoclip enthält
Filmaufnahmen aus seinem
jungen Leben. „Wir haben es
getan für Maxime und alle anderen Verkehrsopfer. Wenn
dadurch ein Leben gerettet
werden kann, war es die Mühe
wert. Maxime hätte als Filmfan sicher auch Spaß an diesem Projekt gehabt.“
Zum Abschluss unseres Gesprächs hat Anne-Françoise
Jardon noch eine Botschaft an
alle Jugendlichen: „Spielt nicht
mit eurem Leben und denkt
auch an diejenigen, die ihr
liebt. Denkt an eure Verantwortung, wenn ihr euch ans
Steuer setzt, und wählt aus eurem Kreis einen Bob, der euch
sicher nach Hause bringt.“
STAT I ST I K
128
Jugendliche zwischen 18 und
Verkehrsunfälle verwickelt werden.
24 Jahren haben im vergangenen Jahr auf den Straßen unseres Landes ihr Leben lassen
müssen.
48,7
Prozent der 18- bis 29-Jährigen
7.345
Jugendliche zwischen 18 und
24 Jahren wurden im vergangenen Jahr als Fahrer oder Mitfahrer eines Autos getötet oder
verletzt. 93 verloren ihr Leben.
Ozark Henry (l.) mit den Eltern der tödlichen verunglückten Maxime (r.) und Kevin.
Kampagne: Emotionales Lied von Ozark Henry und Videoclip
Song soll Jugendliche ansprechen
Der bekannte flämische Musiker Ozark Henry ist vom Institut für Verkehrssicherheit
(IBSR) gefragt worden, ein Lied
zu schreiben, das Jugendliche
zum Nachdenken über die Folgen eines tödlichen Verkehrsunfalls für Angehörige und
Freunde anregen soll. Der sehr
gefühlvolle Song „21 grams
short“ - benannt nach dem
Film „21 Gramm“ (das angebliche „Gewicht der Seele“) und
der dazu gehörige Clip enthalten Bilder und Stimmen von
Maxime und Kevin, zwei Ju-
gendliche, die bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen
sind. „21Gramm“ war der Lieblingsfilm von Maxime. Gleichzeitig ist das Lied eine Ode an
alle Jugendliche, die verunglückt sind, eine „letzte Botschaft“.
„Das ist die direkteste Manier, um mit der schrecklichen
Wirklichkeit konfrontiert zu
werden“, sagt Ozark Henry.
„nachdem das IBSR mich gefragt hatte, lag mir viel daran,
diese große und schwere Verantwortung zu übernehmen,
um den Opfern zu huldigen.“
Mit dieser neuen Kampagne
will das IBSR das Problem der
Verkehrsunfälle mit Jugendlichen nicht mehr rational, sondern emotional anpacken. Da
Institut arbeitete zusammen
mit der Vereinigung von Eltern verunglückter Kinder, der
der Erlös aus den Downloads
des Songs zugute kommt.
Videoclip, Making of,
Download,... auf
www.goforzero.be
24,4
In 24,4% der 36.809 Unfälle mit
Körperschäden im vergangenen Jahr waren Jugendliche
zwischen 18 und 24 verwickelt.
Dabei macht diese Alterskategorie nur 8,7 Prozent der Bevölkerung aus.
39
Die überproportionale Betroffenheit von Jugendlichen bei
Verkehrsunfällen ist noch prägnanter bei den Wochenendunfällen. Während nur 21 Prozent
aller an den Wochenendnächten zurückgelegten Kilometer
von 18- bis 25-Jährigen gefahren werden, stellen diese 39
Prozent aller Autofahrer, die in
diesem Zeitraum in schwere
finden, dass Tempo 140 auf der
Autobahn akzeptabel ist. 25%
akzeptieren 50 km/h in einer
Tempo-30-Zone, elf Prozent haben kein Problem mit Tempo 70
in einer geschlossenen Ortschaft.
50,3
Die Autofahrer im Alter zwischen 18 und 29 Jahren glauben, dass überhöhte Geschwindigkeit in 50,3% der Autounfälle ein entscheidender Faktor ist.
Die CSP, Oppositionsfraktion
im PDG, hat am Donnerstag in
einer Mitteilung die Schelte
von Ministerpräsident KarlHeinz Lambertz (SP) an den
Französischlehrern der DG
(siehe GrenzEcho vom 20. November) kritisiert. „Die CSPFraktion (...) zeigt sich empört
über diese kurz greifende
Schuldzuweisung, die sich gegen den Lehrkörper richtet,
aber auf das intensive Hinterfragen der eigenen Politik verzichtet. Es ist unfair, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die nicht zuletzt regelmäßig durch die Schulinspektion
beurteilt werden und die Rahmenpläne ihres Faches mit
sehr viel Engagement erfüllen“, erklärte Patricia Creutz,
bildungspolitische Sprecherin
der CSP-Fraktion. Die CSP, so
Creutz, weise seit fast zehn
Jahren darauf hin, dass drei
Wochenstunden Französisch
in den technischen und beruflichen Abteilungen der hiesigen Sekundarschulen zu wenig sind und insgesamt mehr
Fachunterricht in Französisch
unterrichtet werden müsse.
Louis Michel
Privatschutz-Gesetz
Louis Michel
im Fadenkreuz
Der EU-Abgeordnete Louis Michel (MR) ist in ein unruhiges
Fahrwasser geraten. Gestern
Abend enthüllte das VRT-Dokumentationsprogramm Panorama in einer Reportage
über den Lobby-Krieg im EUParlament über das PrivacyGesetz, dass der liberale Parlamentarier versucht habe, die
europäische
Gesetzgebung
zum Schutz des Privatlebens
versucht hatte abzuschwächen. Ein Mitarbeiter hatte
Dutzende Abänderungsvorschläge in diese Richtung eingereicht. Michel beteuerte,
dass dies ohne sein Wissen
passiert sei, und zog die Abänderungsvorschläge
zurück.
Der Mitarbeiter reichte inzwischen seinen Rücktritt ein.
Die sozialistische EU-Abgeordnete Kathleen Van Brempt
findet, dass Michel zumindest
politisch verantwortlich ist.
„Abänderungsvorschläge
muss man selbst mit der eigenen Unterschrift einreichen.“
Im Krankenhaus
De Wever leidet
55,5
Prozent der 18- bis 29-Jährigen
gaben bei einer Umfrage an,
dass ihre Freunde das Fahren
unter Alkoholeinfluss inakzeptabel finden. Bei älteren Autofahrern ist dieser Anteil geringer.
80
Prozent der 18- bis 24-jährigen
Autofahrer, die bei einem Wochenendunfall getötet oder
verletzt werden, sind Männer.
(gz)
an Infektion
der Atemwege
N-VA-Parteichef Bart De Wever
ist an einer schweren Infektion der Atemwege erkrankt.
Am Mittwoch war er ins
Krankenhaus von Wilrijk gebracht worden, nachdem ihm
im flämischen Parlament unwohl geworden war. Er klagte
über Schmerzen in der Brust.
Die Intensivstation konnte er
gestern verlassen. Er bleibt bis
auf Weiteres in der Klinik.