Predigtdatei ansehen/herunterladen

Transcrição

Predigtdatei ansehen/herunterladen
Lukas 15,11-31
28.6.09
Genau hinsehen, damit wir das Beste nicht übersehen
Ich möchte heute mit ihnen ein Gemälde von
Rembrandt betrachten. Rembrandt hat in eindrücklicher Weise das Gleichnis vom verlorenen Sohn
dargestellt. „Die Rückkehr des verlorenen Sohnes“
gehört zu den Meisterwerken des Malers. Wahrscheinlich ist es eines seiner letzten Werke. Henri
Nouwen, Professor für Psychologie und Theologie,
hat dieses Bild in einem jahrelangen Prozess betrachtet und mit dem Gleichnis in Verbindung gebracht. Er hat sich mit dem Leben Rembrands beschäftigt und dabei entdeckt, dass Rembrandt sein
eigenes Leben in dieses Bild gelegt hat. Es scheint
so, als ob Rembrandt sich selbst als den verlorenen
Sohn darstellt, der am Ende eines bewegten Lebens
zum Vater heimkehrt. Henri Nouwen hat dieses Bild
und das Gleichnis aus Lukas 15 gründlich studiert
und meditiert und sich selbst dabei entdeckt.
Herausgekommen ist bewegendes seelsorgerliches
Buch, „Nimm sein Bild in dein Herz – Geistliche
Deutung eines Gemäldes von Rembrandt“
Dieses Buch hat mich für diese Predigt stark
inspiriert und ich möchte einige Gedanken davon
aufgreifen.
Wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn – wir hörten
das Gleichnis bereits in der Lesung – steht der verlorene Sohn im Mittelpunkt, genau genommen kniet
der Sohn im Mittelpunkt des Gleichnisses. Vater und
Sohn sind wieder vereinigt. Diese Vereinigung gibt
dem Bild einen tiefen inneren Frieden. Das Gesicht
des Vaters strahlt diesen Frieden aus. Der Vater ist
zufrieden, weil er den Sohn wieder bei sich hat. Eine jahrelange schmerzliche Sehnsucht ist erfüllt
worden. Er drückt den heruntergekommenen Sohn liebevoll an sein sehnsüchtiges Herz. Die Augen sind fast geschlossen. Man kann an ihnen noch den Schmerz über den Verlust des Sohnes
erkennen. Hier treffen sich zwei Gegensätze, wie sie größer nicht sein können: Der Vater trägt
einen weiten roten Umhang, das ist ein Zeichen für Würde, eine Königswürde, ein Zeichen für
Wohlstand. Der Bart und das graue Haar drücken Weisheit und Lebenserfahrung aus. Im Hintergrund sehen wir Diener. Der Sohn kniet. Er demütigt sich vor dem Vater. Die Kleider sind zerrissen, sie bedecken einen ausgezehrten Körper. Seine Fußsohlen und die kaputten Schuhe erzählen die Geschichte eines langen Weges. Es muss ein demütigender Weg gewesen sein.
Der Kopf des Sohnes ist kahlgeschoren. Gefangenen werden häufig die Haare geschoren, z.B. in
KZ’s. Damit raubt man ihnen ihr letztes Stück Identität. Henri Nouwen sieht in diesem kahlen Kopf
aber auch etwas ganz anders: Es könnte auch der Kopf eines Neugeborenen sein. In der Tat, die
Züge des Gesichtes haben etwas kindliches, etwas babyhaftes. Das passt zu der Aussage des
Vaters im Gleichnis: „Mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden.“ Vielleicht dachte Rembrandt an Johannes 3, an die Begegnung mit Nikodemus, wo Jesus sagt: „Wenn jemand nicht von
neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Der verlorene Sohn ist neu geboren.
Er ist zum Vater umgekehrt. Der Vater hat den Sohn angenommen und an sein Herz gedrückt.
Das ist die Neugeburt, von der Jesus in Johannes 3 spricht.
Nun geht es in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn aber nicht nur um den verlorenen Sohn. Genau genommen müsste das Gleichnis ganz anders heißen. Die Überschrift in den meisten Bibeln
1
ist irreführend, sie lassen uns das Gleichnis sehr einseitig sehen. Die eigentliche Aussage dieses
Gleichnisses geht in eine ganz andere Richtung. Das Gleichnis ist zunächst kein Aufruf an verlorene Sünder. Es will nicht in erster Linie Sünder zur Umkehr rufen. Als Jesus dieses Gleichnis erzählt hat, da waren bereits viele Sünder umgekehrt und zu ihm gekommen. Die Sünder brauchte
er nicht zur Umkehr rufen, sie waren schon bei ihm. Das Gleichnis richtet sich in erster Linie an die
Frommen. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten waren aufgebracht, weil Jesus sich mit diesen
schlechten Leuten abgegeben hat. In der Einleitung zu diesem Gleichnis schreibt Lukas: Jesus
war ständig umgeben von Zolleinnehmern und anderen Leuten, die als Sünder galten; sie
wollten ihn alle hören. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten waren darüber empört. »Dieser Mensch gibt sich mit Sündern ab und isst sogar mit ihnen!«, sagten sie. Darauf folgt eine
Trilogie in der die Freude über das Verlorene ein gemeinsamer Grundgedanke ist. Es sind die drei
Gleichnisse vom verlornen Schaf, vom verlorenen Geldstück und vom verlorenen Sohn. Die Zielgruppe für diese drei Gleichnisse sind treue, tiefgläubige Leute, die sich daran stören, dass Jesus
sich mit Sündern abgibt. Jesus wirbt um die Liebe derer, die schon lange gläubig sind, die sich treu
an die Gebote halten und ihren Glauben sehr ernst nehmen. Im Gleichnis vom verlornen Sohn,
das eigentlich ganz anders heißen muss, bekommen diese Leute ihren Platz. Der ältere Sohn in
dem Gleichnis übernimmt die Rolle der Gläubigen. So wie Jesus um die Liebe der Pharisäer zu
den Sündern wirbt, so wirbt im Gleichnis der Vater um die Liebe des älteren Sohnes. Der ältere
Bruder ist die tragische Figur in diesem Gleichnis. Rembrandt hat ihn an den rechten Rand seines
Bildes gestellt.
Wenn wir das Gleichnis vom verlorenen
Sohn betrachten, dann müssen wir beide
Söhne sehen. Eigentlich sind beide
„verlorene Söhne“. Richtigerweise müssten
wir vom Gleichnis von den verlorenen
Söhnen sprechen. Jeder ist auf seine
Weise
verloren.
Der
Jüngere
ist
heimgekehrt, wieder lebendig geworden.
Der ältere Sohn steht noch abseits. Er
steht außerhalb der hellen Fläche in dem
Bild. Obwohl er immer beim Vater war,
ist er doch distanziert – er ist im Dunkeln.
Was geht in dem Kopf dieses älteren
Bruders vor? Daniela Hast hat sich in die
Figur der älteren Sohnes hineingedacht.
Sie wird uns jetzt in seine Gedanken
hineinschauen lassen. Wir hören auf die
Gedanken des älteren verlorenen Sohnes:
Das Kind, das blieb
Jeden Tag stehst du am Tor und wartest
auf ihn. Auf ihn, der dich verlassen hat,
fröhlich von dannen zog, mit der Hälfte
deines Geldes. Du guckst dir die Augen
aus. Von Ferne sehe ich, wie du bebst.
Weil du weinst, um ihn weinst. Der dich
verließ um zu huren um zu saufen, um
sonst was zu tun. Jeden Tag seh ich nur
deinen Rücken. Deine tränenverquollenen
Augen. Du hast mich aus dem Blick verloren Weil du nur nach ihm schaust, nach ihm, der dir so
weh tat. Wenn ich dich am Tor stehen seh Deine Tränen, deinen Schmerz sehe Dann zerreißt es
mir das Herz. Dann schmerzt es so sehr. weil du mich nicht mehr siehst. Du siehst nicht, wie ich
arbeite. Wie ich mich abrackere und schwitze. In der Sonne, wenn die Hitze mich verbrennt. In der
Kälte, wenn mein Körper gefriert. Du siehst nicht, was ich für dich tue. Ich tue mein Bestes damit
2
der Hof läuft. Damit wir Nahrung haben. Doch du siehst mich nicht. Siehst nicht meinen zerschundenen Körper? Siehst nicht meine tägliche Erschöpfung? Kein Lob, kein gutes Wort bekomme ich.
Nur deine Tränen, die ich sehe. Keine Umarmung die zu lässt, dass ich mich ausweinen kann.
Keine Zeit die du mir schenkst. Deine Zeit gilt dem Fortgelaufenen. Hast du mich je gesehen?
Hast du mich je geliebt? Bist du stolz auf meine Arbeit? Froh, dass ich da bin? Abends möchte ich
meinen Kopf in deinen Schoß legen. Nur für eine Weile. Möchte deine Hände spüren, die mich
streicheln. Eine feste, liebevolle Umarmung, in die ich mich fallen lassen kann. Ein Lob für meine
Arbeit. Ein Lächeln, ein Gedanke, Zeit allein für mich. Doch alles gehört ihm – selbst deine Tränen.
Es schmerzt zu sehen, wie sehr du ihn liebst. Deine Sehnsucht nach ihm zerreißt mich! Manchmal
möchte ich weglaufen. Aber was, wenn ich dich dann nie wiedersehe? Fiele es dir überhaupt auf?
Weißt du, dass du noch ein Kind hast? Ich spüre deine Liebe nicht. Fühle mich mehr als Knecht
denn als Kind. Bezahle mich, vielleicht endet mein Schmerz. Dein Kind ist weggelaufen – du hattest nur eins. Doch meine Liebe zu dir. Ist größer als mein Schmerz, der mir täglich das Herz
durchbohrt. Ist größer als mein Hass, auf ihn und deine Liebe zu ihm. Ich versuchte dich zu trösten, doch du trauerst weiter. Spät abends ruf ich nach dir, damit du nicht am Tor schläfst. Es tut so
weh! Meine Tränen in der Nacht siehst du nicht. Meine Sehnsucht nach Nähe, bemerkst du nicht.
Mein Verlangen nach deiner Zärtlichkeit, spürst du nicht. Nichts bekomme ich von dir. Keine Anerkennung für meine Taten. Kein Streicheln für meinen Körper. Kein lieber Blick für meine Seele.
Keine Liebe für mein Herz. Keine Zeit, die nur mir gilt. Er bekommt alles und schätzt es nicht.
Deine Sehnsucht nach ihm. Deine Gedanken für ihn. Deine Zeit im Warten auf ihn. Deine Liebe für
ihn. Er verließ und verletzte dich. Und wird dafür belohnt. Ich blieb und arbeite .Und werde bestraft
Mit deiner Nichtbeachtung, deinem Liebesentzug. Mit meinem Hass auf ihn, auf dich, auf mich!
Hören wir jetzt auf den zweiten Teil des Gleichnisses. Die tragische Geschichte des älteren Sohnes und wie der Vater ihn gewinnen möchte.
25 Der ältere Sohn war auf dem Feld gewesen. Als er jetzt zurückkam, hörte er schon von
weitem den Lärm von Musik und Tanz. 26 Er rief einen Knecht und erkundigte sich, was
das zu bedeuten habe. 27 ›Dein Bruder ist zurückgekommen‹, lautete die Antwort, ›und
dein Vater hat das Mastkalb schlachten lassen, weil er ihn wohlbehalten wiederhat.‹ 28 Der
ältere Bruder wurde zornig und wollte nicht ins Haus hineingehen. Da kam sein Vater heraus und redete ihm gut zu. 29 Aber er hielt seinem Vater vor: ›So viele Jahre diene ich dir
jetzt schon und habe mich nie deinen Anordnungen widersetzt. Und doch hast du mir nie
auch nur einen Ziegenbock gegeben, sodass ich mit meinen Freunden hätte feiern können!
30 Und nun kommt dieser Mensch da zurück, dein Sohn, der dein Vermögen mit Huren
durchgebracht hat, und du lässt das Mastkalb für ihn schlachten!‹ –
31 ›Kind‹, sagte der Vater zu ihm, ›du bist immer bei mir, und alles, was mir gehört, gehört
auch dir. 32 Aber jetzt mussten wir doch feiern und uns freuen13; denn dieser hier, dein
Bruder, war tot, und nun lebt er wieder; er war verloren, und nun ist er wiedergefunden.‹«
Der Vater und der ältere Sohn sind sich sehr ähnlich auf diesem Bild. Rembrandt war es wohl
wichtig zu zeigen, dass der Vater und der ältere Sohn sehr viel gemeinsam haben. So wie es der
Vater in dem Gleichnis ja auch sagt: Du bist immer bei mir und alles war mir gehört, gehört
auch dir. Beide haben einen Bart, beide tragen einen großen roten Umhang, ein königliches Zeichen von Würde und Reichtum. Vater und älterer Sohn haben viel gemeinsam. Rembrandt unterstreicht das auch mit dem Licht. Das Gesicht des Sohnes strahlt so wie das Gesicht des Vaters.
Nur die Blicke der beiden sind sehr verschieden. Auch sonst werden wesentliche Unterschiede
deutlich: Der Vater beugt sich über den heimgekehrten Sohn. Der Ältere steht steif und starr, der
Stock in seiner Hand, betont die starre, geradlinige Haltung. Seine Hände sind verschlossen. Die
Hände des Vaters dagegen sind ausgestreckt, sie liegen wie segnende Hände auf dem Heimkehrer. Der Mantel des Vaters fällt weit. Der gleiche Mantel am Sohn liegt eng am Körper. Auf beiden
Gesichtern ist Licht. Das helle Gesicht des Vaters strahlt Wärme und Liebe aus. Obwohl das Gesicht des Älteren hell ist, wirkt es doch kalt und erstarrt. Obwohl er mit dem Vater viel gemeinsam
hat, steht er doch im Dunkeln. Obwohl er zum Vater gehört ist er nicht beim Vater, sondern verloren – anders verloren.
Der jüngere Sohn war verloren in der Gier, verloren in der Gier nach Freiheit, nach Genuss, nach
Selbstverwirklichung, nach Sex. Der ältere Sohn ist verloren in seinem Groll und in seiner Bitter-
3
keit. Jesus berührt mit diesem Gleichnis die vielen älteren Söhne und Töchter in seiner Gemeinde.
In der Gemeinde gibt es ältere Söhne und Töchter, die immer lieb zu Hause waren und trotzdem
verloren sind. Ihre Verlorenheit zeigt sich darin, dass sie verärgert sind, sie fühlen sich zurückgesetzt. „Für den da wird ein Kalb geschlachtet!“ Er kommt von weitem und hört die Musik. „Was ist
da los? – Habe ich was verpasst? Warum hat man mir nichts davon gesagt, dass da ein Fest stattfindet?“ Verlorene ältere Söhne und Töchter fühlen sich vernachlässigt, übergangen, gekränkt, sie
nörgeln, sind neidisch und ihr Herz ist bitter geworden. Die Bibel nennt das eindeutig Sünde. Die
Sünde des jüngeren Sohnes kann man leicht feststellen. Er hat sein Geld, seine Zeit und seinen
Körper eigensüchtig missbraucht. Er hat offensichtlich gegen Gottes gute Ordnungen verstoßen
und wusste dabei genau, dass das nicht gut war. Statt nach Gottes Willen zu fragen, ließ er sich
von seiner Gier und seiner Lust treiben. Als er merkte, dass dieses Leben nicht zum Erfolg führt,
sondern ins Elend, als er merkte, dass er so, ohne den Vater kaputt geht kehrt er um. Er kehrte
um, bat um Vergebung und durfte neu anfangen.
Das Verlorensein des älteren ist schwerer zu fassen. Er hat ja Dinge getan, die richtig waren. Er
war gehorsam, pflichtbewusst, gesetzestreu und fleißig. Nach außen sah sein Leben richtig heilig
aus, ein vorbildlicher Christ, ein treuer Mitarbeiter in der Gemeinde. Als er aber erlebt, wie ausgelassen und froh der Vater ist, weil der jüngere Sohn wieder da ist, da bricht in ihm das Böse auf.
Plötzlich zeigt sich hinter dieser makellosen Fassade ein stolzes, herzloses egoistisches Wesen.
Was ist schlimmer? Was richtet den größeren Schaden an? Die Gier, die Gottes gute Gaben eigensüchtig verbraucht? Oder die Bitterkeit, die ein Leben nach und nach innerlich vergiftet? Was
richtet größeren Schaden in einer Gemeinde an? Hemmungslose Genussmenschen, die unbefriedigt umkehren und ihre Sünden bereuen? Oder scheinheilige Heilige, perfekt, selbstgerecht, hartherzig und kalt. In welcher Umgebung fühlen sie sich wohler? Links auf dem Bild beim schmutzigen Sohn, der penetrant nach Schwein stinkt? Oder rechts bei dem geradlinigen älteren Sohn? Bei
ihm ist es hygienisch rein aber eiskalt. Die grenzenlose Güte des Vaters lässt beim Älteren die
fromme Maske fallen. Er greift den Vater an, macht ihm massive Vorwürfe. Damit verdreht er die
Wahrheit: „Du hast mir nie auch nur einen Ziegenbock gegeben!“ Die Wahrheit lautet: „Alles was
du hier siehst, gehört dir!“ Der ältere Sohn ist blind für den Reichtum. Der ältere Sohn ist blind für
die Güte des Vaters. Er sieht im Vater einen, der immer nur fordert. Jetzt, wo sich dieser fordernde
Gott so grenzenlos barmherzig zeigt, gerät er völlig aus der Fassung.
Wie kann der ältere Sohn heimkommen? Der Jüngere kehrte um, als er merkte, wohin die Gier
führt. Der Jüngere ist an seiner Gier gescheitert. Muss der Ältere an seiner Selbstgerechtigkeit und
Bitterkeit scheitern? Wie kann der Ältere aus seinem Neid befreit werden? Jesus sagte damals
dem Nikodemus: „Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes
nicht sehen.“ Um das Reich Gottes sehen zu können, muss etwas mit uns passieren. Da muss
etwas von außen, wörtlich von oben kommen, damit wir das Reich Gottes sehen können. Du älterer Sohn kannst nicht erkennen, was der Vater für dich bereit hält, wenn er dir nicht eine neue
Sicht dazu schenkt. Aus eigener Kraft kommst du nicht zu dieser Einsicht. Im Gleichnis geht der
Vater hinaus zu seinem älteren Sohn. Der Vater bewegt sich auf den Sohn zu. Es ist nicht so, dass
der Vater nur Sehnsucht nach dem Jüngeren hat. Der Vater möchte auch den Älteren bei sich haben. Da kam sein Vater heraus und redete ihm gut zu. … ›Kind‹, sagte der Vater zu ihm, ›du
bist immer bei mir, und alles, was mir gehört, gehört auch dir. Aber jetzt mussten wir doch
feiern und uns freuen; denn dieser hier, dein Bruder, war tot, und nun lebt er wieder; er war
verloren, und nun ist er wiedergefunden.‹« Der Vater geht zu seinem verlorenen älteren Sohn
hinaus in den kalten Abend in die Dunkelheit. Der Vater spricht den Sohn an, er geht auf ihn zu,
während der zornig in seiner Schmollecke steht.
Wir müssen genau hinhören, wie der Vater den älteren Sohn anspricht: „Mein Kind!“ Das hat er
zum Jüngeren nicht gesagt. Der Vater sagt nicht „Mein Sohn!“ In „mein Sohn“ klingt bereits eine
Erwartung an. Ich erwarte von dir, dass du dich eines Sohnes würdig benimmst usw. Mein Kind
heißt, du bist mein Kind, du darfst einfach Kind sein. Der Vater sieht nicht den Leistungsträger, der
würdevoll mit Sohn angesprochen wird. Nein der Vater sieht einfach das Kind im älteren Sohn. Wie
sehe ich mich beim Vater? Bin ich der ältere Sohn, von dem etwas erwartet wird? Oder fühle ich
mich als das geliebte Kind. Ein Kind wird einfach geliebt, ohne dass es irgendwelche Leistungen
4
bringt. Im Kind wird auch nicht die potentielle Haushaltshilfe gesehen, sondern eben nur das Kind,
das um seiner selbst willen geliebt wird.
Der ältere Sohn greift den Vater hart ein. Aber der Vater kontert nicht mit Gegenvorwürfen, er verteidigt sich nicht, ja er reagiert nicht einmal auf diese bitteren Vorwürfe. Der Vater verliert kein Wort
über die lieblose Art des Älteren. Stattdessen sagt er: Du bist immer bei mir. Damit macht der Vater unmissverständlich deutlich: „Ich liebe deinen jüngeren Bruder kein bisschen mehr als dich. Ich
habe mein Leben mit dir geteilt. Ich habe dir nichts vorenthalten. Der Vater liebt seine beiden Söhne, aber er liebt sie unterschiedlich. So unterschiedlich wie sie sind, so unterschiedlich begegnet
ihnen auch der Vater. Er sieht die Leidenschaft der jüngeren Sohnes, auch wenn er sich durch
seine überschwängliche Lebensfreude nicht immer im Griff hat. Und er sieht mit der gleichen Liebe
und Güte, wie der Ältere gewissenhaft und treu dem Vater dient und wie er ihm damit beeindrucken möchte.
Der Ältere möchte gerne den Vater beeindrucken. Der Jüngere hat nichts, womit der den Vater
beeindrucken kann. Henri Nouwen schreibt in seinem Buch: „Verbitterung ist die bittere Frucht des
Bedürfnisses, gefallen zu wollen.“ (S. 103) Der Ältere möchte dem Vater gefallen, ihn beeindrucken. Er möchte durch Gewissenhaftigkeit und durch Fleiß, durch seine Leistung möchte er dem
Vater gefallen. Aber der Vater liebt ihn so, wie er ist. Der Vater sieht in ihm das Kind, nicht den
Leistungsträger. Der Vater legt an keinen der Söhne irgendwelche Maßstäbe an. Das heißt, es gibt
nichts, wonach er seinen Söhne beurteilt. Keiner der beiden Söhne bekommt für sein Verhalten
irgendwelche Vorwürfe gemacht. Es gibt keinen Maßstab, an dem der das Verhalten der Söhne
prüft. Der Vater ist einfach nur gütig und er vergibt beiden, er will beide bei sich haben. Jesus hat
gesagt: „Im Haus meines Vaters sind viele Wohnungen.“ Das bedeutet, jedes Kind bekommt sein
eigenes Zimmer. Der Vater hat für jedes Kind seinen eigenen Platz im Haus. Der ältere Sohn muss
sich einfach vom Vater lieben lassen, ohne auf den Jüngeren zu schielen.
Er muss anfangen, darauf zu vertrauen, dass der Vater ihn als Kind uneingeschränkt angenommen hat und liebt. Egal, was er tut. Vertrauen ist der eine Schritt in das Haus des Vaters. Der andere Schritt ist Dankbarkeit. Wer „Danke“ sagen kann, erkennt, dass er sich die Dinge nicht verdient hat. Vielleicht konnte der Sohn keinen Ziegenbock nehmen, weil er nicht Danke sagen wollte.
Vielleicht hat er darauf gewartet, dass der Vater als Belohnung einen Bock rausrückt. Aber der
Vater möchte, dass wir dankbar seine Gaben genießen. Er möchte nicht, dass wir berechnend auf
Bonuszahlungen warten, sondern dankbar die Gaben nehmen und genießen. „Haltet fest am Gebet und wacht darin mit Danksagung“ schreibt Paulus an die Kolosser (4,2) Wenn wir aus einer
Haltung der Dankbarkeit heraus den Vater bitten, dann wird sich unsere innere Einstellung zum
Vater verändern. Wir werden nicht misstrauisch und argwöhnisch denken, dass er uns kurz halten
will. Wir werden vertrauen, dass er uns liebt und uns gerne das gibt, was wir nötig haben.
Über dem Gleichnis von den beiden verlorenen Söhnen liegt eine gewisse Spannung. Wir wissen
nicht, wie die Geschichte weitergeht, ob der ältere Sohn hereinkommt und mit feiert. Wir wissen
auch nicht, ob der jüngere Sohn jetzt immer artig zuhause bleibt und ob er sich bessert. Vielleicht
geht seine Leidenschaft wieder mit ihm durch. Wir wissen nur eines ganz sicher, der Vater hat beide uneingeschränkt liebt. Das ist das einzig sichere in diesem Gleichnis. Daher müsste eigentlich
folgende Überschrift über das Gleichnis: Das Gleichnis vom liebenden Vater. Last euch von ihm
lieben, egal ob ihr ältere oder jüngere Söhne und Töchter seid. Amen.
Reinhard Reitenspieß
5