Fall 15 - Lösungshinweise - strafrecht

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Fall 15 - Lösungshinweise - strafrecht
Arbeitsgemeinschaft im Strafrecht für AnfängerInnen (WS 12/13)
Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg
Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht
Dr. Jens Puschke LL.M.
[email protected] / http://www.strafecht-online.org
Fall 15
Lösungshinweise
1. Handlungskomplex: Die Alkoholfahrt des Al
Strafbarkeit des Al wegen fährlässiger Tötung gem. § 222 StGB durch Erfassen des
Mopeds
I.
Tatbestand
1. Erfolg (+), der Mopedfahrer ist tot.
2. Handlung (+), Al erfasste den Mopedfahrer mit seinem Pkw.
3. Kausalität (+), wäre Al nicht gefahren, hätte er den Mopedfahrer nicht erfasst.
4. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges
-
-
Sorgfaltspflichtverletzung

Fahren unter Alkoholeinfluss, sogar in absolut fahruntüchtigem Zustand, vgl. § 24a
StVG (+)

oder Fahren mit unangepasster Geschwindigkeit aufgrund der absoluten
Fahruntüchtigkeit, vgl. § 3 StVO
Vorhersehbarkeit (+), Fahren unter Alkoholeinfluss oder mit unangemessener
Geschwindigkeit kann zu Zusammenstößen führen.
5. Objektive Zurechenbarkeit: Die durch die Sorgfaltspflichtverletzung entstandene Gefahr
muss sich im konkreten Erfolg realisiert haben.
-
Pflichtwidrigkeitszusammenhang:
Entfällt
nach
Alternativverhalten gleichen Erfolg verursacht hätte.
h.M.,
wenn
rechtmäßiges
Zu fragen ist, ob der tödliche Unfall bei verkehrsgerechtem Verhalten vermieden
worden wäre. Dafür ist zu klären, welches das verkehrsgerechte Verhalten wäre, das
als Vergleichsbasis (in Anlehnung an die verletzte Sorgfaltspflicht) herangezogen
werden kann.
e.A. (BGH): Stellt darauf ab, dass der Verkehrsteilnehmer in trunkenem Zustand
entsprechend langsamer zu fahren hätte. Der Fahrzeugführer habe seine
Geschwindigkeit so einzurichten, dass er jederzeit in der Lage sei, unter
Berücksichtigung seiner durch den erheblichen Alkoholgenuss verminderten
Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit seinen Verpflichtungen im Verkehr noch
nachkommen und das Fahrzeug rechtzeitig anhalten zu können. Dementsprechend
hätte Al nicht mit einer Geschwindigkeit fahren dürfen, die für ihn im nüchternen
Zustand angemessen gewesen wäre. Danach wäre der Unfall zu vermeiden gewesen,
wenn Al langsamer gefahren wäre.
-
Risikoerhöhungslehre: Es muss zugerechnet werden, da der fahruntüchtige Fahrer das
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Arbeitsgemeinschaft im Strafrecht für AnfängerInnen (WS 12/13)
Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg
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Fall 15
an sich erlaubte Risiko, in nüchternem Zustand 100 km/h zu fahren, gerade durch
seine Trunkenheit erheblich erhöht hat.
-
a.A.: Es ist auf ein Fahren im nüchternen Zustand als Alternativverhalten abzustellen.
Entscheidend ist somit, ob Al den Mopedfahrer auch angefahren hätte, wenn er bei der
Einhaltung der für einen nüchternen Fahrer nicht zu beanstandenden Geschwindigkeit
von 100 km/h selbst nüchtern gewesen wäre. Mit dieser Ansicht entfällt der
Pflichtwidrigkeitszusammenhang.
-
Stellungnahme: Für letztere Ansicht spricht, dass die Pflichtwidrigkeit bei wertender
Betrachtung nicht in der Überschreitung von Geschwindigkeitsvorschriften lag, sondern
in dem Fahren in betrunkenem Zustand. Also muss auch genau diese Pflichtwidrigkeit
hinweggedacht werden, um das rechtmäßige Alternativverhalten zu ermitteln. Auch
kann das Alternativverhalten nur in einem rechtmäßigen Verhalten liegen – hier also
das Fahren in fahrtüchtigem Zustand. Eine angemessene Geschwindigkeit für einen
absolut Fahruntüchtigen existiert gerade nicht. Zur Auseinandersetzung mit der
Risikoerhöhungslehre s.u.
II. Ergebnis: Strafbarkeit des Al wegen fährlässiger Tötung gem. § 222 StGB (-)
2. Handlungskomplex: Die Hühnchenschenkeltour des M
Strafbarkeit des M wegen fährlässiger Tötung gem. § 222 StGB durch Erfassen des
Radfahrers
I.
Tatbestand
1. Erfolg, Handlung, Kausalität (+), Durch das zu nahe Vorbeifahren geriet der Radfahrer
unter den Lkw des M und wurde getötet.
2. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges
-
Objektive Sorgfaltspflichtverletzung
M könnte die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen haben, die ein
sorgfältiger und gewissenhafter Mensch in der gleichen Situation hätte walten lassen
müssen. Im Straßenverkehr ist es geboten, Rücksicht gegenüber den anderen
Verkehrsteilnehmern zu nehmen, § 1 StVO. Zwischen Kraftfahrzeugen und Radfahrern
ist beim Überholen ein Sicherheitsabstand von mindestens 1,5 m einzuhalten, § 5 Abs.
4 S. 2 StVO. Mit nur 75 cm Abstand unterschritt M diesen Wert deutlich. Er handelte
somit objektiv sorgfaltswidrig.
-
Objektive Vorhersehbarkeit
Der Tod des Radfahrers in seiner konkreten Form und der wesentliche Kausalverlauf
waren objektiv voraussehbar, da ein zu geringer Seitenabstand einen Unfall
hervorrufen kann.
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Arbeitsgemeinschaft im Strafrecht für AnfängerInnen (WS 12/13)
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Fall 15
3. Objektive Zurechenbarkeit
Fraglich ist, ob dem M der Tod des Radfahrers objektiv zugerechnet werden kann.
-
E.A. (BGH): Zwar war die Fahrweise des M kausal für den Erfolg. M müsste aber eine
rechtlich relevante Gefahr geschaffen haben, die sich im konkreten Erfolg (Tod des
Radfahrers) realisiert hat. Die objektive Zurechnung des Erfolges muss daher
entfallen, wenn der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Handeln mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit eingetreten wäre (rechtmäßiges Alternativverhalten).
Im Zweifel muss zugunsten des Angeklagten entschieden werden, also immer dann,
wenn die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass der Erfolg auch bei sorgfaltsgemäßem
Verhalten eingetreten wäre. Selbst wenn M den Radfahrer in genügendem
Sicherheitsabstand überholt hätte, wäre der Radfahrer mit hoher Wahrscheinlichkeit
unter den Lkw geraten und getötet worden. Zugunsten des M muss daher davon
ausgegangen werden, dass der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten des M
eingetreten wäre. Die objektive Zurechnung muss daher verneint werden.
-
Risikoerhöhungslehre: Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang liegt schon dann vor,
wenn die sorgfaltswidrige Handlung das Risiko der Rechtsgutsverletzung erhöht hat.
Denn erst dann, wenn der Erfolg mit Sicherheit bei sorgfaltsgemäßem Verhalten
eingetreten wäre, sei die Zurechnung zu verneinen, weil dann sicher sei, dass sich die
Gefahrerhöhung nicht im konkreten Erfolg realisiert habe. Nur wenn Zweifel bestehen,
ob sich das Risiko erhöht hat, ist auch nach dieser Lehre in dubio pro reo die
Zurechnung zu verneinen.
Hier ist danach die Zurechnung zu bejahen, weil M durch sein Verhalten zumindest
das Risiko des Erfolgseintritts erhöht hat.
-
Stellungnahme: Gegen die Risikoerhöhungslehre soll sprechen, dass sie contra legem
Verletzungsdelikte in konkrete Gefährdungsdelikte umdeutet. Außerdem missachte sie
den für die richterliche Überzeugungsbildung maßgeblichen Grundsatz „in dubio pro
reo“.
Dafür soll sprechen, dass wenn der Täter das erlaubte Risiko überschreitet, schafft er
ein schlechthin verbotenes Risiko. Dieses insgesamt verbotene Risiko verwirklicht sich
auch, wenn der Erfolg eintritt. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ hat kein
Anwendungsgebiet. Da der Verletzungserfolg zum Tatbestand aufgrund des
verbotenen Risikos zugerechnet wird, soll auch keine Umwandlung in ein
Gefährdungsdelikt vorliegen.
Insgesamt wird hier der Ansicht des BGH gefolgt.
II. Ergebnis: Strafbarkeit des M wegen fährlässiger Tötung gem. § 222 StGB § (-)
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3. Handlungskomplex: Das Autosurfen
Strafbarkeit der A wegen fahrlässiger Körperverletzung gem. § 229 durch Fahren einer
Rechtskurve
I.
Tatbestand
1. Erfolg, Handlung, Kausalität (+), A hat durch schnelles Fahren in einer Rechtskurve die
Verletzung des M verursacht.
2. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges
-
Objektive Sorgfaltspflichtverletzung (+), Schnelles Fahren mit Al und M auf dem Dach.
-
Objektive Vorhersehbarkeit (+), Die Möglichkeit, sich nicht mehr festhalten zu können,
ist gerade Bestandteil des Nervenkitzels.
3. Objektive Zurechnung:
-
Schutzzweck der Norm
Entfällt dann, wenn es sich um einen Fall der Mitwirkung an eigenverantwortlicher
Selbstgefährdung handelt. Problematisch, wenn es sich um Fall der einverständlichen
Fremdgefährdung.
 Abgrenzung
einverständliche Fremdgefährdung
Wenn der sich Beteiligende kraft überlegenen Sachwissens das Risiko besser
erfasst, als der sich Gefährdende.
„Täter“ hat Tatherrschaft über das Geschehen und „Opfer“ setzt sich lediglich den
Wirkungen aus.
Merksatz: „Das Opfer steigt in das noch stehende Fahrzeug ein“.
eigenverantwortliche Selbstgefährdung
Jemand nimmt selbst eine gefährliche Handlung vor oder kann die gefährliche
Situation jedenfalls teilweise beherrschen.
Jemand begibt sich in eine schon bestehende Gefahr hinein.
Merksatz: „Das Opfer springt auf das schon fahrende Fahrzeug auf“.
Auf subjektiver Seite muss Wissen und Wollen um Eigenverantwortlichkeit vorliegen.
 Schlussfolgerungen für objektive Zurechenbarkeit
Im Fall der Mitwirkung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung entfällt objektive
Zurechnung immer.
Arg: wenn schon die vorsätzliche Beteiligung an Selbsttötung bzw. Selbstverletzung
nicht strafbar (mangels strafbarer Haupttat), dann kann die fahrlässige Ermöglichung
erst recht nicht strafbar sein. Der Schutzbereich der Norm endet dort, wo der
Verantwortungsbereich des einzelnen beginnt.
Im Fall der einverständlichen Fremdgefährdung kann die objektive Zurechnung unter
dem Aspekt des fehlenden Schutzzweckzusammenhangs ausgeschlossen sein;
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Fall 15
jedenfalls dann, wenn der Schaden eine Folge des eingegangenen Risikos und nicht
hinzukommender anderer Fehler ist und der Gefährdete für sein Tun dieselbe
Verantwortung trägt, wie der Gefährdende; in dieser Situation besteht kein
nennenswerter Unterschied zur Mitwirkung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung.
Im Fall:
Für Fall der Mitwirkung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung spricht, dass M sich
nicht lediglich den Wirkungen der gefährlichen Handlung der A aussetzte. Er konnte
selbst agieren (Festhalten, Abspringen) und konnte außerdem durch Klopfen aufs
Dach, die Fahrt beeinflussen.
Selbst wenn man von überlegener Tatherrschaft der A ausgeht und damit einem Fall
der einverständlichen Fremdgefährdung, so hatte M doch gleichberechtigte
Mitverantwortung für das Geschehen, so dass aus diesem Grund der
Schutzzweckzusammenhang zu verneinen ist.
[Beachte: Wer auch hier die objektive Zurechnung bejaht, muss sich mit dem Vorliegen
einer rechtfertigenden Einwilligung und der Frage der Sittenwidrigkeit i.S.v. § 228 StGB
auseinandersetzen. Die Rspr. verneint hier die Einwilligung aufgrund Sittenwidrigkeit.]
II. Ergebnis: Strafbarkeit der A wegen fahrlässiger Körperverletzung gem. § 229 durch
Fahren einer Rechtskurve (-)
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