Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege

Transcrição

Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Inhaltsverzeichnis
Seite
1.
Einleitung
3
2.
Vorstellung der Einrichtung
4
3.
Umsetzung des Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege 4
4.
Sturzassessment der Einrichtung
5
5.
Risikofaktoren
7
6.
Maßnahmen zur Risikominimierung Anfang 2006, Tabelle 1
7-8
7.0
Umsetzung der Interventionen aus dem Expertenstandard
8
7.1
Gymnastische Übungen
9
7.2
Unangemessenes Schuhwerk
11
7.3
Hüftprotektoren
12
7.4
Medikamentenüberprüfungen
13
7.5
Überprüfung der Brille und Sehfähigkeit
14
7.6
Anpassungen der Umgebung
15
7.7
Hilfsmittel zur Gangstabilisierung
16
8.
Ergebnisse der Evaluation
17
9.
Maßnahmen zur Risikominimierung Ende 2006, Tabelle 2
18
© Frank Lorenz
1
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Inhaltsverzeichnis
Seite
10.
Auswertungen der Stürze im Zeitraum 2006 – 2008, Tabelle 3
19
11.
Vergleiche Sturzgeschehen mit Bewohnerklientel, Tabelle 4
21
12.
Haftung
21
13.
Fixierungen
23
14.0
Schlussbetrachtung
25
14.1
Evaluation der Einführung
26
14.2
Verminderung des Sturzgeschehens durch die Umsetzung des
Expertenstandards in der Einrichtung
14.3
15.
26
Maßnahmen wodurch sich eventuell das Sturzgeschehen
in der Einrichtung seit Einführung des Standards vermindert hat
27
Anmerkung des Autors
27
Literaturverzeichnis
29
Anhang: Sturzrisikoassessment
© Frank Lorenz
2
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
1.
Einleitung
In der folgenden Arbeit geht es um die Umsetzung des „Expertenstandard
Sturzprophylaxe in der Pflege“. Welche Beweggründe dafür vorlagen, welche
Erwartungen gestellt worden sind und welche Maßnahmen dafür notwendig waren.
Nach der Vorstellung der Einrichtung erfolgt die Risikoerfassung, welche
Risikofaktoren erkennbar sind und wie diese minimiert werden können.
Weiter stellte sich die Frage, ob sich durch die Umsetzung des Expertenstandards
Sturzprophylaxe, das Sturzgeschehen in einer stationären Einrichtung vermindert und
wenn, durch welche Maßnahmen dieses geschehen ist.
Nach Erscheinen des Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege im Jahre 2006,
wurde dieser zeitnah in der Einrichtung in welcher der Autor tätig ist angewandt. Die
Beweggründe dafür waren ein wissenschaftlich anerkanntes Assessment zu
benutzen, und die Verantwortung, die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse
umzusetzen. Es kam zu der Erwartung, dass sich dadurch das Sturzgeschehen in
den folgenden Jahren reduzieren würde.
Als Leitliteratur griff der Autor größtenteils auf Inhalte des „Expertenstandards
Sturzprophylaxe in der Pflege“ zurück, aber auch andere Literatur wurde
berücksichtigt.
Da erst nach dem Erscheinen des Expertenstandards eine Erfassung aller Stürze
erfolgte, lassen sich keine genaueren Vergleiche zum Sturzgeschehen vor Einführung
heranziehen. Nach der anfänglichen Umsetzung, wurden wie im Standard gefordert,
auch Bagatellstürze dokumentiert. Die Art von Stürzen, die keine weiteren
Verletzungen aufwiesen, wurden dann gesondert erfasst und in die
Dokumentationspflicht aufgenommen. Deshalb, sind Vergleiche zu den Vorjahren
ungenau und würden die Statistiken verfälschen. Selbst wenn genaue Zahlen zum
Sturzgeschehen vor 2006 vorliegen würden, wären diese unterschiedlich zu
© Frank Lorenz
3
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
bewerten, da sich das Bewohnerklientel, wie später noch genauer beschrieben wird,
geändert hat.
Die Arbeit soll einen Einblick ermöglichen wie der Standard umgesetzt worden ist und
welche Mittel und Assesstments dazu erforderlich gewesen sind. Weiter wird auf die
Schwierigkeiten hingewiesen die sich bei der Umsetzung der empfohlenen
Maßnahmen in der Praxis ergaben. Explizit wird hier auf die Erschwernisse mit dem
steigenden Anteil der demenziell erkrankten Bewohnern eingegangen. Einen weiteren
Aspekt finden rechtliche Auseinandersetzungen und die praktischen Handhabungen.
2.
Vorstellung der Einrichtung
Die Einrichtung ist ein Alten und Pflegeheim mit 42 stationären Plätzen. Diese werden
im Jahr 2008 durch Bewohner der Pflegestufen II und III mit 71 Prozent belegt. Eine
Zunahme von Bewohner mit dementieller Entwicklung ist seit dem Jahr 2001
wesentlich gestiegen (vgl. Tabelle 4). Im Jahr 2008 lag der Anteil der Demenzkranken
bei 75 Prozent. Des Weiteren muss erwähnt werden, dass bei 90 Prozent der
Bewohner des Hauses mittel bis starke Mobilitätseinschränkungen festzustellen sind.
Dieses lässt sich mit den hohen Pflegestufen vereinbaren. Es ist anzumerken, dass
sich in dieser Pflegeeinrichtung Bewohner mit verschiedenen Charakteren und
ebenso verschiedenen Stufen und Arten demenzieller Erkrankungen in Betreuung
befinden.
3.
Umsetzung des Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Theoretisch geht aus dem Expertenstandard hervor, wie Sturzrisiken erkannt werden,
welche Maßnahmen ergriffen werden können um Sturzrisiken zu mindern, um das
Sturzgeschehen nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu reduzieren. Festgelegt ist
dadurch ein Verfahren, Risiken zu erkennen und Risiken durch Maßnahmen zu
© Frank Lorenz
4
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
minimieren um ein Sturzgeschehen insgesamt reduzieren zu können. Die auf den
ersten Blick komplizierten Inhalte des Standards, mussten vorerst in der Theorie
vermittelt werden. Dazu wurde an einer außerbetrieblichen Fortbildung über die
Vorstellung und Umsetzung des Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
durch den BPA (Bundesverband privater Altenheime) mit zwei Personen der
Pflegedienstleitung teilgenommen. Die daraus erworbenen Erkenntnisse sind in einer
internen Fortbildung an die Pflegefachkräfte weitergeleitet worden.
Für alle Bewohner wurde eine Risikoanamnese erstellt. Als Instrument dafür dient ein
dafür eigens entwickeltes Assesstment mit einer Auflistung der im Expertenstandard
Sturzprophylaxe in der Pflege benannten Risikofaktoren. Myers und Nikoletti belegen,
„…dass das Expertentum von Pflegefachkräften in der Genauigkeit der
Sturzrisikobeurteilung eine herausragende Rolle spielt.“1
4.
Sturzassessment der Einrichtung
Das Sturzassesstment (vgl. Anhang) setzt sich durch eine Vielzahl von
wissenschaftlich erwiesenen Faktoren aus dem Expertenstandard zusammen. Hier
werden Funktionsbeeinträchtigungen, Medikamente, Sehbeeinträchtigungen,
Beeinträchtigung der Kognition und Stimmung, Erkrankungen die zu kurzzeitiger
Ohnmacht führen, Ausscheidungsverhalten, Verwendung von Hilfsmitteln, Schuhe
und Kleidung, Angst vor Stürzen und die Sturzvorgeschichte, sofern bekannt, durch
die Pflegefachkraft bewertet. Da kein Punktesystem verwendet wird, kommt es hier
ausschließlich auf Erfahrungswerte der Pflegefachkraft an.
1
DNQP (2006): S. 70
© Frank Lorenz
5
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Sturzrisiken werden erstellt, individuell durch die Pflegefachkraft, ohne
Sturzrisikoskala nach wissenschaftlichen erwiesenen Faktoren. Hierbei wird
unterschieden in:
Intrinsische Risikofaktoren:
o
Funktionseinbußen
o
Kognition und Stimmung z. B. Demenz
o
Gleichgewichtsstörungen
o
Ohnmacht
und
Extrinsische Risikofaktoren
o
z.B. Hilfsmittel
o
Medikamente
o
Gefahren der Umgebung
o
falsches Schuhwerk 2
Auffällig wurde bei der Ermittlung der Risikofaktoren bei allen Bewohnern, dass die
Bewohner mit einer bestehenden Demenz als Risikogruppe herausragen. Um dieses
näher zu bezeichnen erscheint nicht die Erkrankung Demenz als Problematik,
sondern die daraus entstehenden kognitiven Beeinträchtigungen sich Hilfe
anzufordern zu können, Gefahren einzuschätzen und eine einhergehende
medikamentöse Therapie durch Psychopharmaka. Wie bereits erwähnt, stieg die
Anzahl der demenzkranken Bewohner, damit auch die Risikofaktoren der Sturzgefahr.
2
Vgl. DNQP (2006) S.49 ff.
© Frank Lorenz
6
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Der zeitliche Rahmen für eine Evaluierung der Risikofaktoren und der Maßnahmen
wurde auf einmal pro Monat festgesetzt. Bei stattgefundenen Stürzen findet eine
Bewertung sofort statt.
5.
Risikofaktoren
Die Risikofaktoren belaufen sich auf: Falsches Schuhwerk, sedierende Medikation,
unangepasste Sehfähigkeit durch fehlende oder veraltete Sehhilfen und eine
unangepasste Umgebung durch evtl. Stolperfallen. Nach den dort benannten
Risikofaktoren wurde für jeden Bewohner eine Risikoanamnese mit dem eigens
hergestellten Assessement erstellt und den Bewohnern gegenübergestellt. Weiter
wurden die aus dem Standard entnommenen Maßnahmen zur Besserung des
Bewegungsbildes und Schutzmaßnahmen mit den Bewohnern für eine mögliche
Durchführung verglichen.
Nach der Risikoanamnese jedes Bewohners, wurde in einem Qualitätszirkel
besprochen, was bei den entsprechenden Bewohnern unternommen werden kann,
um die Risikofaktoren zu mindern um mögliche Stürze mit schwerwiegenden Folgen
zu verhindern.
6.
Maßnahmen zur Risikominimierung Anfang 2006
Anfang 2006 standen nach dem Qualitätszirkel die Maßnahmen zur
Risikominimierung für einige Bewohner fest. In der nachfolgenden aufgeführten
Tabelle sollen diese Maßnahmen verdeutlicht werden:
© Frank Lorenz
7
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Tabelle 1, Maßnahmen zur Risikominimierung Anfang 2006
Gymnastische
Anpassung des
Ärztliche
Überprüfung der
Anpassung der
Übungen
Schuhwerks/
Rücksprache der
Brille/
Umgebung
Stoppersocken
Medikation
Sehfähigkeit
3 Bewohner
7 Bewohner
Hüftprotektoren
Erschienen sinnvoll für:
8 Bewohner
6 Bewohner
6 Bewohner
2 Bewohner
Quelle: Alten und Pflegeheim Hilaris
Die in Tabelle 1 genannten Maßnahmen wurden von den Pflegefachkräften bewertet,
und für die entsprechenden Bewohner nach Einschätzung der Sinnmäßigkeit
eingeleitet. Hierbei kamen die Erfahrungen der Bezugspflegekräfte besonders zum
Ausdruck. Um dieses genauer zu erläutern dienen nachfolgende Kapitel, in denen die
einzelnen Maßnahmen den Bewohnern der Einrichtung gegenübergestellt werden.
7.0
Umsetzung der Interventionen aus dem Expertenstandard
Die im Kapitel fünf beschriebenen Risikofaktoren aus dem Expertenstandard, werden
aus dem theoretischen Teil des Standards mit dem Praktischen verglichen. Hierbei
wird im Expertenstandard auf eine Zusammenarbeit der Betroffenen hingewiesen.
„Die Planung und Durchführung von Maßnahmen kann nur effektiv sein, wenn
Bewohner auch vom Nutzen überzeugt sind und sich aktiv daran beteiligen.“ 3
3
DNQP (2006)
© Frank Lorenz
8
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
7.1
Gymnastische Übungen
Theoretische Einführung
Nach Aussage des Expertenstandards und aus anderer Literatur tragen gymnastische
Übungen zu einer Verbesserung des Bewegungsbildes bei und stabilisieren durch die
Verlangsamung des Muskelabbaus die Geh- und Stehfähigkeit. „Ohne körperliches
Training ist bei Heimbewohnern dagegen nach wenigen Monaten mit einer
erheblichen Verschlechterung der körperlichen Leistungsfähigkeit zu rechnen.4 Die
Häufigkeit und Anzahl der Maßnahmen, zur Stabilisierung der Gehfähigkeit, wird in
der Literatur folgendermaßen beschrieben: „Es besteht höchste Evidenz darüber,
dass ein regelmäßiges Kraft- und Balancetraining, welches mindestens einmal
wöchentlich durchgeführt wird, bei zu Hause lebenden Personen die Sturzrate senkt.
Aus der Tatsache, dass solche Übungen in Altenheimen und Krankenhäusern noch
kaum untersucht sind, sollte nicht geschlossen werden, dass sie dort nicht zu einer
Reduktion der Stürze führen.“5 Auch die Praktikabilität geht aus der Theorie hervor.
So wird darauf hingewiesen das die Übungen in Bestandteile von
Beschäftigungsangeboten des Hauses mit eingearbeitet werden können. „Aus
Gründen der Praktikabilität kann vor allem in Pflegeheimen überlegt werden, dies in
bereits vorhandenen Aktivitäten zu integrieren, bzw. diese teilweise durch
Trainingsmaßnahmen zu ersetzen.“6
Praktische Erfahrung:
4
Möllenhoff/ Weiß/ Heseker 2005
5
DNQP (2006): S.82
6
DNQP (2006): S.36
© Frank Lorenz
9
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Die Beschäftigungstherapeuten im Hause wurden auf gymnastischen Übungen
geschult und durch eine erfahrene Krankengymnastin angeleitet. Nach
vierzehntägiger Vorbereitungszeit konnte das erste Muskeltraining mit Balance-,
Kräftigungs- und Koordinationsübungen mit den Bewohnern durchgeführt werden.
Die Teilnahme wurde von den Bewohnern mit keinen oder mit geringen geistigen
Einschränkungen gut angenommen, so dass mehr Zulauf als erwartet stattgefunden
hat. Letztendlich wird das Muskeltraining PATRAS, Paderborner Trainingsprogramm
für Senioren, nach Möllenhoff/ Weiß/ Heseker 2005 umgesetzt und für angemessen
gehalten. Im weiteren Verlauf gehören die Übungen zum festen Bestandteil des
Tagesgeschehens und werden zweimal wöchentlich für die Dauer von 15 Minuten
angewandt. Die zuvor durchgeführte Seniorengymnastik aus dem
Beschäftigungsangebot, wurde in das Muskeltraining integriert. Dadurch konnte ein
zusätzlicher Aufwand vermieden werden.
Ein besonderes Augenmerk wurde auf die gymnastischen Übungen gesetzt, da diese
in der Literatur wiederholend für große Wirksamkeit zur Gangverbesserung stehen.
Eine Verbesserung der Gang- und Stehfähigkeit durch gymnastische Übungen gezielt
auf demente Bewohner ist eher unwahrscheinlich. Es ließ sich in der Einrichtung
beobachten, dass dementielle Entwicklungen, oft schnell voranschreiten, eine
Besserung durch gymnastische Übungen jedoch nur sehr langsam zu erzielen ist.
Selbst der Erfolg durch zusätzliche krankengymnastische Übungen blieb bei den
fortgeschrittenen dementen Bewohnern mit Mobilitätseinschränkungen aus. In der
Einrichtung des Autors stellte sich als größtes Problem die dementen Bewohner zur
gezielten Teilnahme am Muskeltraining zu überzeugen. So lässt sich aus den
Teilnahmeberichten einzelner Bewohner lesen, dass diejenigen oft nur sehr bedingt in
der Lage sind aufgrund ihrer dementiellen Erkrankung Anweisungen der Übungen
zum Muskeltraining umzusetzen. Teilweise ist es ihnen nicht möglich Fassübungen
zur Kräftigung der Muskulatur durchzuführen, die Bewohner setzen die vorgemachten
Übungen nicht um oder schauen durch die Gegend. Oft wird die Teilnahme
abgebrochen um anderen Dingen nachzukommen die nicht entsprechend sind.
© Frank Lorenz
10
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Gezielte Übungen oder Vorgehensweisen für Bewohner, die fortgeschritten an
Demenz erkrankt sind, lassen sich in der Literatur schwer finden. In den geläufigen
Trainingseinheiten ist immer die Voraussetzung gegeben, das die Übungen
verstanden und umgesetzt werden können. Hier ist weiterer Forschungsbedarf
erforderlich.
In einem Kooperationsprojekt des Geriatrischen Zentrums Ulm/ Alb-Donau und der
AOK Baden Württemberg wurden diese Probleme ebenfalls erwähnt. Das
Sturzgeschehen konnte durch Bewegungstraining mit muskel- und
gleichgewichtsstärkenden Übungen um nahezu 40 Prozent gesenkt werden, jedoch
wurden dort auch nur wenig deutlich kognitiv eingeschränkte Bewohner ausgewählt.
Weiter wird dort die fehlende Akzeptanz zu Hüftprotektoren erwähnt.7
7.2
Unangemessenes Schuhwerk
Theoretische Einführung
Im Expertenstandard ist ein Sturzrisikofaktor durch das Tragen von unangemessenem
Schuhwerk beschrieben. Nachvollziehbar ist, dass Schuhe mit hohen Absätzen bei
altersbedingten Bewegungs- und Koordinationsstörungen ein Sturzrisiko erhöhen.
Diese Form der Sturzprävention war für ein Bewohnerklientel erforderlich, welches
kognitiv so beeinträchtigt ist, dass die Fähigkeit zum Tragen von angemessenem
Schuhwerk, nach dem Verlassen des Bettes nicht in der Lage zu sein scheint. Mit
dem Tragen von Slippern oder Schuhen ohne Halteriemen geht ein erhöhtes Risiko
zu stolpern vor.8
7
Vgl. Kooperationsprojekt des Geriatrischen Zentrums Ulm/ Alb-Donau und der AOK
Baden Württemberg
8
Vgl. Sherington und Menz (2003) DNQP (2006): S. 63
© Frank Lorenz
11
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Praktische Erfahrung
Nach unserer Erfahrung stellen Nylonstrümpfe die zur Mittagsruhe nicht ausgezogen
werden sollten, auf glatter Ebene ein erhöhtes Sturzrisiko dar. Stoppersocken wurden
von den Bewohnern gut angenommen und nicht selbständig entfernt. Dieses
preisgünstige Hilfsmittel konnte problemlos angeschafft und eingesetzt werden.
7.3
Hüftprotektoren
Theoretische Einführung
Die Empfehlung aus dem Standard Hüftprotektoren zum Einsatz zu bringen, erscheint
logisch, da bei einem Sturz das Verletzungsrisiko durch Abpolsterung abgesenkt wird.
Es bleibt festzuhalten, dass Protektoren nicht am Stürzen hindern, sondern die
daraus entstehenden Verletzungen verringern können. Bei dieser Maßnahme geht die
Theorie von einem ständigen Einsatz aus. „Ein großes Problem stellt die Compliance
beim regelmäßigen Tragen der Hüftprotektoren dar. Da der Hüftprotektor nur wirken
kann wenn er getragen wird, gegebenenfalls 24 Stunden am Tag, ist die Erhöhung
der Tragehäufigkeit der Schlüssel für seinen Nutzen.“9
Praktische Erfahrung:
Das Hilfsmittel wurde für alle in Frage kommenden Bewohner angeschafft. Einige
Bewohner waren zum Tragen von Hüftprotektoren uneinsichtig da diese als
unbequem empfunden worden sind, aber auch von außen sichtbar waren durch
auftragen. Ebenso wurden die Protektoren von dementen Bewohnern oft ausgezogen
und in den Müll geworfen, da diese nicht erkannten, welchen Sinn die Protektoren
erfüllen sollten. Aufgrund mangelnder Umsetzungsfähigkeiten bei den dementen
9
DNQP (2006): S.36
© Frank Lorenz
12
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Bewohnern, wurde der Entschluss getroffen, dass die Protektoren nicht bei jedem als
sinnvolles Instrument einzusetzen sind. Weiter sind die Protektoren beim Aufenthalt
im Bett nicht zu empfehlen weil dies als unangenehm empfunden worden ist. Zu
berücksichtigen bleibt in jedem Fall die Dekubitusprophylaxe. Gerade weil das
Sturzgeschehen zur Nacht in unserer Einrichtung bei den dementen Bewohnern
erhöht ist, wurde der Sinn der Hüftprotektoren in Frage gestellt.
Aufgrund der oben genannten Umstände und Problematiken mit den Hüftprotektoren
kamen diese für vier Bewohner zum Einsatz. Zwei der Bewohner mit Hüftprotektoren
sind gestürzt und haben sich keine schwerwiegenden Verletzungen zugezogen. Dies
lässt den Verdacht aufkommen das sich der Einsatz, zumindest bei den wenigen
Probanden, bewährt hatte.
7.4
Medikamentenüberprüfungen
Theoretische Einführung:
Medikamente, überwiegend die mit sedierender Wirkung, verschlechtern die
Gangsicherheit. Diese Aussage ist nachvollziehbar. Eine Einschränkung der
Reaktionsfähigkeit lässt sich nahezu auf jeder Packungsbeilage solcher Medikamente
nachlesen. Weiter wird bei Einnahme solcher Medikamente vor einer Gefährdung im
Straßenverkehr gewarnt, was auf eine Wahrnehmung, bzw. eine
Reaktionszeitverminderung schließen lässt. Da bis zum heutigen Tag keine
empirischen Erhebungen darüber gemacht worden sind, welcher Wirkstoff zu
welchen Sturzrisiken führt, ist hier dringend weiterer Forschungsbedarf erforderlich.10
Praktische Erfahrung:
10
Vgl. DNQP (2006): S.64 ff
© Frank Lorenz
13
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Da etliche Medikamente, die in der Altenpflege eingesetzt werden, als Nebenwirkung
ein erhöhtes Sturzrisiko darstellen, wurden die behandelnden Ärzte auf die Gefahren
hingewiesen. Aus den meisten Packungsbeilagen lassen sich zwar Hinweise auf
Schwindel, Übelkeit und Fahruntauglichkeit herauslesen, aber keine direkten
Warnungen auf eine Sturzgefahr. Tatsächlich konnten nach Rücksprache mit dem Arzt
in Bezug zur Sturzprävention einige Medikamente reduziert werden bzw. auf ein
anderes, mit geringeren Nebenwirkungen, umgestellt werden. Jedoch wurde nicht
ganz auf den Einsatz von Psychopharmaka verzichtet, da einige Bewohner unter
massiven Unruhezuständen leiden, aggressives Potential gegen das Personal und
den Mitbewohnern zeigten oder unter starken Depressionen leiden. Ein kompletter
Verzicht auf starke Analgetika war ebenfalls nicht möglich um den Expertenstandard
Schmerzmanagement nicht ganz außer Acht zu lassen.
7.5
Überprüfung der Brille und Sehfähigkeit
Theoretische Einführung:
„Sehbeeinträchtigungen stellen einen bedeutenden Sturzrisikofaktor dar.“11 Diese
Aussage aus dem Expertenstandart Sturzprophylaxe ist folglich richtig. Wenn
Hindernisse, egal welcher Art, nicht entsprechend erkannt werden, erhöht sich
dadurch das Sturzrisiko. Nun mussten Sehbeeinträchtigungen auch bei dementen
Bewohnern erkannt werden.
Praktische Erfahrung:
11
DNQP (2006) S.56
© Frank Lorenz
14
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Begonnen wurde damit Bewohner zu befragen, ob sie das Kleingedruckte in der
Zeitung noch lesen können. Sehtests stellten sich bei den fortgeschritten dementen
Bewohnern als schwierig heraus. Bei einigen Bewohnern wurde eine OP zur Katarakt
Entfernung durchgeführt. Brillen wurden durch einen Optiker überprüft und
angepasst. Auch hier ließ sich beobachten das Bewohner mit dementieller
Erkrankung ihre Brillen ablegen weil diese als störend empfunden wurden. Einige
Brillen wurden von den dementen Bewohnern weggeworfen aber auch verloren und
beschädigt. Die Angehörigen vom Kauf weiterer Brillen und Reparaturen zu
überzeugen wurde als nicht angemessen bewertet.
7.6
Anpassungen der Umgebung
Theoretische Einführung:
Jede Barriere die sich einem Menschen in den Weg stellt muss über- bzw. umgangen
werden. Dies erfordert eine Koordinationsfähigkeit die bei einigen Bewohnern nicht
mehr vorhanden ist. Rutschige Fußböden, Läufer, Türschwellen und fehlende
Haltegriffe tragen deshalb nicht zu einer Risikominimierung bei. Die Flure und Türen
wurden in einer großzügigen Breite gestaltet. Die Klingel ist erreichbar und das
Mobiliar entsprechend. Die technischen Voraussetzungen und die Verfügbarkeit von
Hilfsmittelen sind erfüllt .12
Die Gestaltung der Bewohnerzimmer liegt immer im Ermessen der Angehörigen und
der Bewohner selbst. Dabei lassen sich oftmals Risikofaktoren ermitteln, welche mit
der ambulanten Pflege überein stimmen. Bettvorleger und Teppiche die als
Stolperfalle dienen könnten werden in der Theorie beschrieben. „Die Pflegefachkraft
in der ambulanten Pflege muss den Patienten über mögliche Sturzrisiken in seiner
12
Vgl. DNQP (2006): S.37
© Frank Lorenz
15
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Umgebung informieren und möglicherweise mit seinem Einverständnis Änderungen
herbeiführen.“13
Praktische Erfahrung:
Da die Einrichtung im Jahr 2000 neu gebaut bzw. umgebaut wurde, sind großflächige
bauliche Anpassungen um Sturzgefahren zu mindern nicht von Nöten. Die DIN
Normen zu barrierefreien Bauen wurden erfüllt. Handläufe sind durchgängig auf den
Fluren vorhanden, die Bäder sind mit den entsprechenden Haltegriffen ausgestattet
und Seniorengerecht gestaltet worden. Türschwellen wie in vielen Altbauten sind nicht
aufzufinden. Eine durchgängig helle Beleuchtung mit Bewegungssensoren ist
vorhanden.
Anpassungen waren nur im privaten Bereich einzelner Bewohnerzimmer angebracht,
in dem eigene Teppiche oder Badvorleger ein gewisses Sturzrisiko darstellten.
Betreuende Angehörige wurden über dieses Risiko aufgeklärt und haben sich gegen
eine Entwendung dieser Gegenstände ausgesprochen da ein „wohnlicher“ Charakter
des Zimmers eine höhere Priorität darstellte. Eine Dokumentierung der Entscheidung
erfolgte umgehend.
7.7
Hilfsmittel zur Gangstabilisierung
Theoretische Einführung
Jedes Hilfsmittel, das entsprechend zur Verbesserung der Gehfähigkeit genutzt
werden kann, minimiert folglich die Gefahr eines Sturzes. Hierbei ist nicht allein die
Art des Hilfsmittels entscheidend, sondern der richtige Einsatz, die Beschaffenheit
13
DNQP (2006): S.37
© Frank Lorenz
16
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
und die Regelmäßigkeit der Anwendung in Bezug zu den körperlichen und geistigen
Einschränkungen.14
Praktische Erfahrung:
Rollatoren und andere Gehhilfen stehen im Hause in großen Mengen zur Verfügung.
Weiter werden Rollatoren noch problemlos von den Ärzten verschrieben und von den
Kassen finanziert. Jedoch auch in diesem Fall haben wieder die Bewohner mit
dementiellen Erkrankungen Schwierigkeiten das Hilfsmittel selbst und korrekt
einzusetzen. Selbst wenn dieses unmittelbar bereit steht wird dieses zur Seite gerollt
und ohne losgegangen weil das Hilfsmittel nicht als solches erkannt wird. Ein
besonderes Vorkommnis war, dass eine demente Bewohnerin mit einem Rollator
versuchte die Treppen hinunter zu steigen. Unter Anleitung kommt es meist zum
korrekten Einsatz, jedoch ist eine ständige Anwesenheit einer Pflegekraft beim
Bewohner nicht zu leisten.
8.
Ergebnisse der Evaluation
Hieraus wird ersichtlich, dass alle Maßnahmen die getroffen werden ein Verständnis
der Bewohner voraussetzen damit diese erfolgreich sind. Zusammenfassend lässt
sich beurteilen, dass alle Maßnahmen zur Risikominimierung sinnvoll erscheinen,
jedoch nicht immer umsetzbar sind. Gerade in Bezug auf Bewohner mit dementieller
Entwicklung sind die Maßnahmen nicht evident passend. Jedes Individuum benötigt
eigens erfasste Maßnahmen zur Risikominimierung. Dieser Prozess war
langanhaltend und setzte eine gute Kenntnis der Bewohner voraus. Zum Ende des
Jahres 2006 konnten für alle betreffenden Bewohner, die für sinnvoll gehaltenen
Maßnahmen zur Sturzprävention erfasst werden. Mit dieser Erkenntnis wurden die
Maßnahmen erneut angepasst und müssen monatlich neu evaluiert werden.
14
Vgl. DNQP (2006) S.85
© Frank Lorenz
17
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
9.
Maßnahmen zur Risikominimierung Ende 2006, Tabelle 2
Gymnastische
Unangemessenes
Ärztliche
Überprüfung der
Anpassung der
Übungen
Schuhwerk/
Rücksprache
Brille/
Umgebung
Stoppersocken
der Medikation
Sehfähigkeit
0 Bewohner
2 Bewohner
Hüftprotektoren
Erschienen sinnvoll
8 Bewohner
6 Bewohner
4 Bewohner
0 Bewohner
Quelle: Alten- und Pflegeheim Hilaris
Nach der Einführung des Expertenstandards wurden alle stattgefundenen Stürze in
der Einrichtung dokumentiert. Wie in der Einleitung erwähnt, lassen sich keine
Rückschlüsse auf die Jahre zuvor schließen. Ab dem Jahr 2006 wurden jedoch
Maßnahmen getroffen die das Sturzgeschehen hätten senken müssen. Dieser Fall ist
jedoch nicht eingetreten. Es lässt darauf schließen, dass mit der Zunahme von
dementiell erkrankten Bewohnern, das Sturzgeschehen leicht angestiegen ist, jedoch
sich in den folgenden Jahren nicht weiter verändert hat. Hier könnte der Entschluss
getroffen werden, dass durch die Maßnahmen das Sturzgeschehen nicht weiter
angestiegen ist.
© Frank Lorenz
18
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Auswertungen der Stürze im Zeitraum 2006 – 2008, Tabelle 3
10.
Jahr
Sturz I
Sturz II
Sturz III
Sturz IV
Sturz V
Sturz VI
Sturz VII
(fort-
(Überschätzung
(Krampf)
(Unklare
(Alkohol)
(Fremd-
(Hypotonie)
geschrittene
der
Demenz)
Fähigkeiten)
2006
17
23
3
2
0
0
0
45
2007
39
12
1
1
3
0
0
56
2008
22
14
3
3
3
2
3
50
Ursache)
Gesamt
verschulden)
Quelle: Alten und Pflegeheim Hilaris
Legende zur Tabelle:
Sturz I
Stürze von fortgeschritten dementen Bewohnern mit der Unfähigkeit
Gefahren und ihre Defizite zu erkennen, bei teilweiser
Gangunfähigkeit und der Unfähigkeit sich Hilfe anzufordern
Sturz II
Stürze von Bewohnern mit geringer oder keiner dementieller
Erkrankung die ihre Fähigkeiten überschätzen und keinen Bedarf der
Hilfeanforderung erkannt haben
Sturz III
Stürze aufgrund intrinsischer Ursache wegen eines Krampfanfalles
bei ein und derselben Person.
Sturz IV
Stürze aufgrund nicht näher nachvollziehbarer Ursachen ebenfalls bei
einer Person.
Sturz V
Stürze aufgrund starker Alkoholisierung bei ein und derselben Person.
Sturz VI
Stürze von verschiedenen Personen die auf Fremdverschulden
zurückzuführen sind, bzw. sich die Ursache nicht näher
nachvollziehen lässt.
© Frank Lorenz
19
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Sturz VII
Stürze aufgrund intrinsischer Ursache wegen Hypotonie auch bei
einer Person
Hieraus lässt sich beobachten, dass die Anzahl der Stürze bei den dementen Klientel
um mehr als das Doppelte im Jahr 2007 angestiegen ist. Die Zahl der Bewohner die
sich keine Hilfen angefordert haben ist im Jahr 2007 um fast die Hälfte gesunken. Der
starke Rückgang der Sturzhäufigkeit bei der Sturzgruppe II im Jahr 2007, lässt sich
nur teilweise auf die Ergebnisse der Sturzpräventionen beziehen. Zwölf Stürze waren
auf nur vier Bewohner zurückzuführen, die Anfang 2008 verstorben sind. Durch das
Ausscheiden dieser Bewohner wurde die Statistik nicht weiter beeinträchtigt. Als
Neuzugang dafür, stieg der Anteil der dementen Bewohner. 34 der 39 Stürze der
fortgeschritten dementen Personen der Sturzgruppe II im Jahr 2008 (vgl. Tabelle 3),
sind auf eine vollständige bis annähernd vollständige Gangunfähigkeit
zurückzuführen. Nicht nur aus haftungsrechtlichen Gründen, sondern auch um die
potentiellen Gefahren weiterer Stürze abzuwenden, wurden Fixierungen in Betracht
gezogen.
„90 % der Fixierungen aber werden als Sturzprävention verordnet- zum Beispiel, weil
man Haftungsfragen fürchtet- und auch von den Vormundschaftsgerichten
genehmigt.“15
Im Jahr 2008 ist die Anzahl des Sturzgeschehens bei den dementiell erkrankten
Bewohnern rückläufig gewesen (Vgl. Tabelle 3), da immer mehr Fixierungen
angeordnet worden sind. Die Anzahl der Fixierungen ist im Jahr 2008 auf neun
gestiegen. Alle Fixierungen wurden durch das Vormundschaftsgericht geprüft und mit
Zustimmung der Betreuer genehmigt.
15
Süddeutsche Zeitung, 11.07.07
© Frank Lorenz
20
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Verdeutlicht werden soll dieses weiterhin durch die Veränderung des
Bewohnerklientels in den letzten Jahren. Durch die Zunahme von Bewohnern mit
hohen Pflegestufen, dementieller Entwicklung und Mobilitätseinschränkungen (vgl.
Tabelle 4). Durch diese Veränderung, lassen sich Rückschlüsse auf das
Sturzgeschehen schließen. Umso höher der Anteil der Bewohner mit Sturzrisiken,
desto höher die Anzahl der Stürze.
11.
Jahr
Vergleiche Sturzgeschehen mit Bewohnerklientel, Tabelle 4
Stürze
Bewohner mit
Bewohner mit
Bewohner mit
Bettlägerige
gesamt
Pflegestufe I +
dementieller
Mobilitäts-
Bewohner*
II*
Entwicklung*
einschränkungen
*
2001
-
50
28
27
26
2006
45
61
75
57
21
2007
57
66
76
53
30
2008
50
71
78
87
30
*Angaben in Prozent zu 42 Pflegeplätzen
Quelle: Alten- und Pflegeheim Hilaris
12.
Haftung
Der Bundesgerichtshof spricht sich in einem Grundsatzurteil gegen Fixierungen aus.
So urteilte er einen zuvor geschehenen Fall am 28. April 2005 das Fixierungen ein
ungeeignetes Mittel zur Sturzprophylaxe seien. Jedoch sind einige gesetzliche
Krankenkassen anderer Auffassung wenn durch einen Sturz Kosten entstehen.
Dieses soll in einem Fallbeispiel erläutert werden.
© Frank Lorenz
21
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Die AOK Westfalen- Lippe versuchte nach einem Sturzgeschehen in der Einrichtung
in der der Autor tätig ist, eine Kostenrückerstattung für einen ihrer Versicherten
zurückzufordern. Der Bewohner ist dementiell Erkrankt und nicht in der Lage seine
Defizite adäquat einzuschätzen. Der Bewohner hatte einen gestörten Tag- und
Nachtrhythmus und einen nicht übermäßigen Bewegungsdrang. Der Versicherte war
mit Hüftprotektoren versorgt und ein Rollator stand ihm zur Verfügung. Die Medikation
wurde durch den behandelnden Neurologen angepasst um diese auf ein geringes
erforderliches Maß zu halten. Gangunsicherheiten waren bekannt, jedoch konnte kein
vermehrtes Sturzgeschehen des Bewohners dokumentiert werden. Der Betreffende
trug angepasstes Schuhwerk und in der Umgebung gab es keine Hindernisse. Trotz
der Minimierung der Risiken zog sich der AOK Versicherte am 3.02.08 eine
Humerusfraktur nach einem Sturz zu.
Die AOK Westfalen- Lippe argumentierte, wenn sich ein Sturzrisiko erkennbar zeigt,
muss diesem Abhilfe geschaffen werden. Bei hochgradig dementen Personen die
nicht in der Lage sind Gefahren zu erkennen und einen ausgeprägten
Bewegungsdrang haben, welches sich durch nächtliche Unruhen erkenntlich zeigt,
müssen entsprechende Sicherungsmaßnahmen durchgeführt werden um Gefahren
abzuwenden.
„Herr H. ist in Pflegestufe II eingruppiert. Unser Versicherter leidet unter
Gleichgewichtsstörungen, Schwindel und Sturzneigung. Durch seine Demenz ist er
völlig desorientiert. Dem Heim ist bekannt, dass Herr H. versucht nachts durch
fremde Zimmer zu geistern. Der Sturz hätte durch entsprechende
Sicherungsmaßnahmen verhindert werden können.“ 16
Auf Nachfrage, wie die entsprechenden Sicherungsmaßnahmen umzusetzen seien,
wurde folgende Aussage schriftlich getroffen: „…Maßnahmen gegen das
16
Anschreiben der AOK Westfalen-Lippe vom 29.02.08
© Frank Lorenz
22
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
unbegleitete, nächtliche Herumirren treffen müssen. Er hätte z.B. Herrn H. in einem
Zimmer nahe einem Raum für das Pflegepersonal unterbringen, einen Meldekontakt
für die Tür des Bewohnerzimmers, eine Sensormatratze oder ein Bettgitter
verwenden können.“17 Tinette et al. (1992) konnten nachweisen, dass der Einsatz von
Bettgittern, wenn es zu einem Sturz kommt, durch die vergrößerte Fallhöhe und durch
die Körperhaltung beim Überklettern des Bettgitters zu einer Verschlimmerung der
Sturzfolgen führen kann.18
Selbst Meldekontakte sind eine Art von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen und
bedürfen der Genehmigung. Weiter ist es nicht möglich, alle Bewohner wo eine
Sturzgefahr ersichtlich ist, in der Nähe eines Dienstzimmers unterzubringen. Hieraus
wird ersichtlich, dass die Risiken erkannt worden sind, diese minimiert wurden und
keine Fixierung durchgeführt wurde. Alle evidenten Maßnahmen konnten in diesem
Fall den Sturz nicht verhindern. Im weiteren Verlauf hat die Krankenkasse ihre
Forderungen zurückgezogen.
13.
Fixierungen
Freiheitsentziehende Maßnahmen sind grundsätzlich nicht als Sturzprävention
anzusehen19 jedoch sollen diese Thematisiert werden. Durch den zuvor
beschriebenen Fall liegt der Verdacht nahe, dass Fixierungen vor einem Regressfall
schützen können. Vom Expertenstab werden diese jedoch zur Sturzprävention für
ungeeignet gehalten. In manchen Fällen scheint eine Fixierung unumgänglich. Wie
17
Anschreiben der AOK Westfalen-Lippe vom
18
Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege (S.87)
19
Vgl. Die Schwester Der Pfleger, 48 Jahrg. 02/09, (S. 116)
© Frank Lorenz
23
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
bei einigen Bewohnern, die aufgrund fortgeschrittener Immobilität nicht in der Lage
sind zu stehen und aufgrund der Demenz keinerlei Einsicht für diese Unfähigkeit
besitzen, ist eine entsprechende Sicherung erforderlich. Nach Prüfung durch ein
gerichtliches Gutachten wird dieses dann auch oft in die Praxis umgesetzt. Eine
Fixierung bei nahezu gangunfähigen Bewohnern ist nicht unbedingt als
Sturzprävention zu Bewerten, sondern eher als Eigenschutz der Bewohner vor einem
sicheren Sturz und auch als Eigenschutz der verantwortlichen Pflegefachkräften und
Träger vor haftungsrechtlichen Auseinandersetzungen. Um sich der Problematik
haftungsrechtlicher Konsequenzen zu entziehen scheint es sinnvoll eine Fixierung in
Betracht zu ziehen. „Der Ernst der Lage hätte es geboten, unter Einschaltung eines
Arztes, der Heimleitung oder auch der Angehörigen oder anderen
Vertrauenspersonen das intensive Gespräch mit der Geschädigten zu suchen und in
diesem Zusammenhang eindringlich darauf hinzuweisen, dass sie vielleicht doch ihr
Einverständnis zum Hochziehen des Bettgitters in der Nacht erteilt…. Anlass sein
müssen, das Vormundschaftsgericht über die Situation zu informieren…Im Eilfall
hätte das Gericht die Genehmigung des Hochziehens des Bettgitters anordnen
können20
Bei Fallbesprechungen in der Einrichtung mit den Hausärzten, erklären sich nur
wenige dazu bereit eine schriftliche Stellungnahme abzugeben, wo eine Fixierung
trotz der bekannten Risikofaktoren ärztlicherseits abgelehnt wird, um somit die
entsprechende Verantwortung zu übernehmen. Nach Aussage der behandelnden
Ärzte, fürchten selbst diese eine Regressstellung der gesetzlichen Krankenkassen im
Schadensfall. Um dieses zu umgehen wird beim Hinweis auf Sturzgefahr schnell eine
Fixierung in Betracht gezogen. Diese werden durch die Vormundschaftsgerichte
umgehend zeitnah angeordnet. So wird oftmals als schnelle und sichere Lösung eine
Fixierung in Betracht gezogen, um eventuelle Regressforderungen auszuschließen.
20
Höfert, (2005) S. 263
© Frank Lorenz
24
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Von einer Ausschließung von Fixierungen, aufgrund des negativen Images, sollte
aber auch Abstand gehalten werden. So König: „Natürlich gibt es auch Situationen,
bei denen die Anschaffung und Genehmigung eines Bettgitters nicht vermeidbar ist:
Weil der Bewohner permanent seine Fähigkeit falsch einschätzt, keine Einsicht zeigt,
keine Klingel bedient und immer wieder aus dem Bett fällt.21 Diese Tatsachen führen
dann zu weiteren erforderlichen Schritten. Wird das Hochziehen der Bettgitter
angeordnet, und ist der Bewohner noch in der Lage diese zu übersteigen, ist die
Fixierung ungeeignet. In diesen Fällen kommt nach Erfahrungen der Einrichtung
oftmals der Bauchgurt zum Einsatz.
Festzuhalten bleibt, dass die Anzahl der Fixierungen angestiegen ist. Die
betreffenden Bewohner sind anschließend nicht mehr gefallen. Kein Bewohner ist in
der Fixierung zu Schaden gekommen. Letztendlich wurden alle Fixierungen von den
Bewohnern akzeptiert, so dass keine Sedierung dadurch erfolgen musste. Sicher ist
diese Maßnahmen nicht als Sturzprävention im Standard zu finden und wird durch
diesen auch abgelehnt. Der Grund für die steigenden Fixierungen ist einzig der
rechtliche Faktor sich vor Regressansprüchen gegenüber den Kassen und
Angehörigen zu schützen. Unabhängige Gutachter die vom Gericht bestellt werden
sprechen sich meist für eine Fixierung aus um den Menschen vorm Sturz zu
bewahren.
14.0
Schlussbetrachtung
In der Reihenfolge wie vom Standard gefordert, wurde eine Risikoanamese für jeden
Bewohner erhoben, eventuelle Risiken minimiert und die entsprechend sinnvollen
Maßnahmen durchgeführt. Der Expertenstandart ist somit erfolgreich in der
Einrichtung eingeführt worden.
21
König, (2005) S. 26
© Frank Lorenz
25
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
14.1
Evaluation der Einführung
Rückwirkend ließen sich die Anforderungen des Standards mit seinen Empfehlungen
einfach und schnell in der Einrichtung umsetzen. Der Aufwand dazu war von
Kostenfaktor her gering. Der Zeitfaktor bleibt innerhalb eines zumutbaren Rahmens.
Ein Entwicklungsprozess zu allen beteiligten Mitarbeitern zeichnet sich positiv ab.
Eine qualitative Zunahme der erforderlichen Dokumentation und Risikoeinschätzung
durch alle Pflegefachkräfte und auch der Pflegeassistenten lässt sich beobachten.
Durch die ständige Präsenz der Inhalte des Expertenstandards bei der täglichen
Arbeit, lässt sich eine Zunahme der Sensibilisierung bei den Pflegekräften
beobachten. Sturzrisiken wurden erkannt und entsprechend weitergeleitet um diese
zu minimieren. Da der Standard umgesetzt wurde und auch damit gearbeitet wird, ist
auch die gesetzliche Verpflichtung dazu erfüllt, die aktuellen wissenschaftlich
basierenden Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen.
14.2
Verminderung des Sturzgeschehens durch die Umsetzung des
Expertenstandards in der Einrichtung
Das Sturzgeschehen hat sich nicht wesentlich verändert. Hierbei ist ein nahezu gleich
bleibendes Sturzgeschehen in den letzten drei Jahren zu beobachten. Ob das
Sturzgeschehen ohne Umsetzung des Expertenstandard Sturzprophylaxe in der
Pflege drastisch höher gewesen wäre, lässt sich nicht nachweisen. Sicherlich sind
Risiken durch einige Maßnahmen reduziert worden. In Bezug zu dem steigenden
Bewohnerklientel mit dementieller Erkrankung und einhergehenden
Mobilitätseinschränkungen, (siehe Tabelle 4) ist ein gleich bleibendes
Sturzgeschehen als positiv zu bewerten. Ob sich zukünftig das Sturzgeschehen
weiter reduzieren lässt, bleibt offen. Dieses hängt mit dem zukünftigen
Bewohnerklientel zusammen. Voraussichtlich lässt sich das Sturzgeschehen von der
Anzahl bei zunehmendem Bewohneranteil mit fortgeschrittener Demenz nicht
senken.
© Frank Lorenz
26
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
14.3
Maßnahmen wodurch sich eventuell das Sturzgeschehen in der
Einrichtung seit Einführung des Standards vermindert hat
Mit einzelnen Maßnahmen lässt sich das Sturzrisiko nicht minimieren, nur durch die
Gesamtheit von Vielen. So lässt sich festhalten, dass durch die Umsetzung aller
Maßnahmen sich das Sturzgeschehen nicht erhöht hat. Hierbei kann durch die
Unterschiedlichkeit der Bewohner keine einzige Maßnahme favorisiert werden.
Sturzrisiken lassen sich nicht alle auf den ersten Blick erkennen und niemand ist dazu
in der Lage diese sofort abzuschalten. Um eine 100- prozentige Sicherheit zu
gewähren, müssten alle Menschen so gesichert werden, dass ein Sturz unmöglich
ist. Dieser Zustand ist wahrscheinlich nicht zu erreichen.
Durch die Umsetzung des Standards und der frühzeitigen Erfassung der Sturzrisiken
hat sich das Sturzgeschehen im Verhältnis zum Bewohnerklientel absenken lassen.
Nur durch die Vielzahl der Sturzpräventionen ließ sich das Sturzgeschehen mindern.
15. Anmerkung des Autors
Das Sturzrisiko ist bei den Menschen aus Gründen der Evolution gestiegen, seitdem
er den aufrechten Gang erlernt hat. Dazu äußerte sich die Wissenschaft wie folgt: „In
der Tat ist es erstaunlich, weshalb Menschen- Vorläufer den sicheren vierbeinigen
Gang gegen die labile Zweibeinigkeit eingetauscht haben sollen: Beim aufrechten
Gang torkelt der Körper, dem britischem Anthropologen John Napier zu Folge >>
Schritt für Schritt an einer Katastrophe entlang <<. Nur ein aufwendiger, rhythmischer
Balanceakt aus sieben eng koordinierten Bewegungen, Gehen genannt, bewahrt uns
davor auf die Nase zu fallen.“22 Bei dieser wissenschaftlichen Erkenntnis wird vom
gesunden Menschen ausgegangen. Bei kognitiv beeinträchtigten Heimbewohnern ist
22
www.evolution-mensch.de/theme/bipedie/bipedie.php 11.01.09, 19:00
© Frank Lorenz
27
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
nicht davon auszugehen, dass die oben beschriebene Koordination umsetzbar ist. So
benötigt man zu der Aussage der WHO aus dem Jahre 2004, dass sich das
Sturzrisiko im fortschreitenden Alter erhöht, keiner weiteren Erklärung. Eine
„Nebenwirkung“ zur alternden Gesellschaft ist damit nicht auszuschließen. So dienen
die Maßnahmen aus dem „Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege“ der
evolutionsbedingten Problematiken der Zweibeinigkeit entgegen zu wirken.
© Frank Lorenz
28
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Literaturverzeichnis
Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (Hrsg): Expertenstandard
Sturzprophylaxe in der Pflege
Eigenverlag, Osnabrück, 2006
König, Jutta:
100 Fehler bei Stürzen im Heim
Brigitte Kunz Verlag, Hannover, 2005
Höfert, Rolf: Von Fall zu Fall- Pflege im Recht,
Springer Verlag, Heidelberg 2006
Möllenhoff, Weiß, Heseker: Muskelkräftigung für Senioren
Behr`s Verlag, Hamburg 2005
Zeitschriften:
Huhn, Siegrid, Sturzrisiken erfolgreich reduzieren, Die Schwester Der Pfleger, 48
Jahrg. 02/ 09
Graupner, Heidrun, Gefesselt und ruhig gestellt, Süddeutsche Zeitung vom
11.07.2006
Quellen:
Brief von der AOK Westfalen- Lippe an die VGH Hannover vom 29.02.2008
Brief von der AOK Westfalen- Lippe an die VGH Hannover vom 29.05.2008
Statistiken aus dem Alten- und Pflegeheim Hilaris, 31707 Bad Eilsen
Anhang Risikoerfassungsassessment (Vgl. Kapitel 4)
© Frank Lorenz
29
Erfahrungen mit dem Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege
Erklärung
Ich versichere hiermit, dass ich diese Arbeit selbständig angefertigt und keine
anderen als die von mir angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet habe. Die
den benutzten Werken wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen sind als solche
gekennzeichnet.
Rinteln, den 24.03.09
Frank Lorenz
-------------------------------------------
© Frank Lorenz
30

Documentos relacionados