Wissen 13 Public Sector
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McK www.mckinsey.de McK Wissen 13 4. Jahrgang Juni 2005 15 Euro C 59113 www.mckinsey.de McK Wissen 13 4. Jahrgang Juni 2005 15 Euro C 59113 McK Das Magazin von McKinsey Public Sector „Siehe, voll Hoffnung vertraust du der Erde den goldenen Samen und erwartest im Lenz fröhlich die keimende Saat.“* Wissen 13 PUBLIC SECTOR Wissen 13 Arbeitslosengeld Nutzenmaximierung Kundenmonitor Dritthose Zwangsverwaltung Meilensteine Strafvollzug Wohnimmobilien Blinddarm Delivery Unit Gemeinwohl „Servus, Hansi Hinterseer“ Beamtenkinder E-Government Dorfschönheit Verwaltungs-Oscar Wasser Privatisierungskodex Personalvertretung Straßenkriminalität Public Private Partnership Bewegte Zeiten In der Wirtschaft würde man es Turnaround nennen, in der Politik heißt es Reform. Beides geht nicht ohne Schmerzen, beides braucht Zeit. Und beides geschieht in der Regel nicht freiwillig. Wer eingetretene Pfade verlassen und neue Wege gehen soll, tut dies, weil er muss. Am nötigen Druck mangelt es Deutschland nicht. Die Bürger beklagen den Verlust von Fürsorge, die Wirtschaft leidet unter der Bürokratie. Und auch der Staatsapparat selbst ächzt unter den Strukturen, die er sich geschaffen hat in Zeiten, in denen es ums Verteilen ging. Inzwischen geht es um die Existenz. Die Einnahmen sinken, die Bedürftigkeit wächst. Der Staat soll immer mehr leisten und hat immer weniger Geld. Was also tun? Wo anfangen? Das haben wir uns auch gefragt – und erst gar nicht nach der einen Antwort gesucht. Die richtige Strategie, das funktionierende Konzept gibt es ohnehin nicht, das gilt für Behörden wie Unternehmen. Aber auch die Großorganisation, die nicht dem Kunden, sondern dem Bürger dienen soll, kann besser und effizienter werden. Sie kann Ziele verfolgen und den Weg dorthin professionell managen. Sie kann für Transparenz und überschaubare Strukturen sorgen. Das System von Weisung und Obrigkeit durch Führung und Eigenverantwortung ersetzen. Und sparen, ohne schlechter zu werden. Und sie kann sich an einer Vielzahl von Vorbildern orientieren. In der Wirtschaft, aber auch im öffentlichen Sektor selbst. Wir haben eine Reihe von Beispielen gefunden, die manchmal vielleicht nur ein Anfang sind, aber zeigen, dass viel geht, wenn man will und sich bewegt. Das Land Berlin beispielsweise hat ein Amt geschaffen, das nur eine einzige Aufgabe hat: die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, deren angestammte Funktionen es nicht mehr gibt, dort einzusetzen, wo sie gebraucht werden. Seit Anfang 2004 steuert das Zentrale Personalüberhangmanagement die rund 3500 Beschäftigten der neuen Behörde. Das hat dem Land im vergangenen Jahr eine Ersparnis von gut vier Millionen Euro gebracht (S. 52). Auch von der britischen Delivery Unit könnte Deutschland lernen. Premierminister Tony Blair hat sie eingesetzt, um sicherzustellen, dass die Visionen der Politik auch wahr werden. Überall da, wo es klemmt, greift die StabsEditorial Text: Susanne Risch abteilung ein. Sie sucht nach Ursachen für Probleme. Und entwickelt gemeinsam mit den Ministerien brauchbare Lösungen (S. 8). Der Landkreis Osnabrück macht vor, wie moderne Organisation, Effizienz und Bürgerglück zusammenpassen (S. 84); das Bundesland Hessen wagt sich an ein Tabu und wird bald das erste teilprivatisierte Gefängnis in Deutschland betreiben (S. 32). Auch die stets als Inbegriff der Bürokratie verunglimpfte Bundesagentur für Arbeit (BA) haben wir besucht. Und in Halle eine Niederlassung gefunden, in der die Mitarbeiter zwar auch keine Arbeitsplätze schaffen können. Durch eine neue Organisation können sie ihre Kunden heute aber schneller vermitteln und besser bedienen (S. 68). Ob das reicht, haben wir BA-Chef Frank-Jürgen Weise gefragt, wohl wissend, dass er weder auf die Wirtschafts- noch auf die Arbeitsmarktpolitik Einfluss hat. Stattdessen verantwortet der einstige Unternehmer eine Reform, die mit dem Kompromiss zu Hartz IV gegen seinen Willen extrem erschwert wurde – und dennoch besser vorankommt, als so mancher zugeben mag (S. 60). Die BA ist auf dem Weg zu einer wirtschaftlichen Behörde. Weil sie eine klare Strategie verfolgt. Sich auf ihre Kernkompetenzen konzentriert. Vorschriften durch Verantwortung ersetzt. Und weil sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten agiert, statt zu reagieren. Wer den Wandel treibt, hat bessere Chancen als der Getriebene. Beim Turnaround? Der Reform? Egal, da unterscheidet sich die Behörde nicht vom klassischen Unternehmen. McK Wissen 13 Seiten: 2.3 Susanne Risch, Chefredakteurin [email protected] * Das Zitat auf der Titelseite stammt von Friedrich Schiller. Inhaltsverzeichnis McK Wissen 13 Seiten: 4.5 1 Definitionen & Zitate Bürokratie, Verwaltung, Dienst nach Vorschrift: Alle menschlichen Einrichtungen sind unvollkommen. Seite: 6 2 Die Lieferanten von No. 10 Ehrgeizige Ziele verfolgen viele Politiker. Der britische Premierminister Tony Blair kümmert sich auch darum, sie zu erreichen. Seine Stabsabteilung Delivery Unit kontrolliert, ob die Realität dem Soll entspricht – und greift notfalls ein, um zu helfen. Seite: 8 3 Berlin gewinnt 2001 machten die Vivantes-Krankenhäuser noch 153 Millionen Euro Verlust. In drei Jahren will der Berliner Klinik-Betreiber zu den fünf führenden Krankenhausunternehmen in Deutschland zählen. Wie soll das gehen? Seite: 16 4 Eine Frage der Qualität Darf man Wasser privatisieren? Die Niederlande sagen Nein – als eines von zwei Ländern weltweit. Seite: 24 5 Gefängnis mit beschränkter Haftung Anfang kommenden Jahres nimmt in Hessen das erste teilprivatisierte Gefängnis seinen Betrieb auf. Wo sind die Grenzen der Privatisierung? Darf die öffentliche Hand die Verwaltung einer Haftanstalt abgeben? Geht das gut? Ein Besuch im britischen Privatknast. Seite: 32 6 Auf Schatzsuche Der Staat besitzt drei Millionen Wohnungen – ein Vermögen. Aber nur, wenn der Besitz professionell gemanagt wird. Seite: 40 7 Staatsweh Paul Nolte, Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Berliner FU, über den Staat zwischen Tradition und Moderne. Seite: 44 8 Stehen, gehen, laufen, rennen Beamte, deren Stellen gestrichen wurden, gerieten früher aufs Abstellgleis. In Berlin arbeiten sie heute in einer eigens für sie geschaffenen Behörde – zu ihrem eigenen Vorteil und zu dem des Landes. Bestandsaufnahme eines Modellprojektes. Seite: 52 9 „Der Souverän hat entschieden.“ Frank-Jürgen Weise, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, soll aus der riesigen Behörde einen Dienstleister machen. Ein Gespräch über die wohl größte Reform einer öffentlichen Institution in der Geschichte der Bundesrepublik. Seite: 60 10 Die neue Amtlichkeit Wie fühlt sich der Wandel vom Arbeitsamt zur Arbeitsagentur in der Praxis an? Und wem nützt er? Ein Tag in Halle. Seite: 68 11 Die Rätin Inge Ragaller ist seit 25 Jahren Beamtin – und liebt ihren Beruf. Ein Porträt. Seite: 74 12 Tausendmal probiert … Wie können Kommunen und öffentliche Hand Arbeitsplätze schaffen? Durch individuelle Konzepte, intelligente Kooperationen und eine konsequente Umsetzung. Eine Reise durch deutsche Cluster-Regionen. Seite: 78 13 Osnabrück im Glück Bürgernah und trotzdem sparsam. Die Landkreisverwaltung Osnabrück zeigt, wie das geht. Seite: 84 14 Schöner Schein Ein Unternehmen müsste Insolvenz anmelden. Aber was passiert mit einer Stadt, die jahrelang über ihre Verhältnisse lebt? Die traurige Geschichte der Kurstadt Bad Münster am Stein-Ebernburg. Seite: 90 15 Bildstrecke – Wie bitte? Wann ist ein Flugzeug ein Militärflugzeug? Und ein Arbeitsplatz ein Bildschirmarbeitsplatz? Amüsantes aus Gesetzen und Verordnungen. Seite: 96 16 Under Construction Deutschland blockiert sich beim E-Government selbst. Dabei wäre der Nutzen riesig. Für Bürger, Behörden und Unternehmen. Seite: 104 17 Der Berg ruft Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten finanzieren sich gemeinhin durch stetig steigende Gebühren. Dass man auch mit Sparen vorankommen kann, zeigt das Beispiel des Österreichischen Rundfunks. Seite: 110 18 „Die Menschen wollen vom Staat abhängig sein.“ Wirtschaftsnobelpreisträger James Buchanan erklärt, warum die Staatsquote nur wachsen kann: Der Mensch will es so. Seite: 116 19 Ein Dorf für Kinder Kein Geld, keine Arbeit – aber eine Zukunft, die in den Händen ihrer Kinder liegt. In sie investieren die Bewohner des sibirischen Taigadorfs Kejsess alles, was sie haben. Das ist vor allem Eigeninitiative. Seite: 122 Köpfe Impressum Seite: 128 Seite: 130 Inhalt McK Wissen 13 Begriffsklärung Seiten: 6.7 1 Definitionen & Zitate „Im organisatorischen Sinne ist Verwaltung die Gesamtheit der staatlichen Stellen, die im Sinne des Gewaltenteilungsgrundsatzes nicht zur Legislative und nicht zur Judikative, sondern zur Exekutive gehören. (...) Im materiellen Sinne ist Verwaltung diejenige Staatstätigkeit, die die Wahrnehmung von Verwaltungsangelegenheiten zum Gegenstand hat.“ Markus Heintzen, Professor für Öffentliches Recht und Steuerrecht an der Freien Universität Berlin (Vorlesung Allgemeines Verwaltungsrecht) „Jeder erwartet vom Staat Sparsamkeit im Allgemeinen und Freigebigkeit im Besonderen.“ Anthony Eden (1897–1977), britischer Politiker „Regierungstätigkeit ist Politik en gros – Verwaltungstätigkeit ist Politik en détail.“ Richard Wiggins, amerikanischer Politologe „Als Beamtendeutsch, auch Behördendeutsch, bezeichnet man eine umständliche, für Mitarbeiter in Behörden typische Form, mit der deutschen Sprache umzugehen. Kennzeichnend sind die Anhäufung von Hauptwörtern und die Substantivierung von Verben.“ Freie Enzyklopädie Wikipedia „Der Lohn eines Amtes ist das Amt selbst.“ Lucius Annaeus Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.), römischer Philosoph und Dichter „Alle menschlichen Einrichtungen sind unvollkommen – am allermeisten staatliche.“ Otto Fürst von Bismarck (1815–1898), erster deutscher Reichskanzler „Eine Regierung muss sparsam sein, weil das Geld, das sie erhält, aus dem Blut und Schweiß ihres Volkes stammt. Es ist gerecht, dass jeder Einzelne dazu beiträgt, die Ausgaben des Staates tragen zu helfen. Aber es ist nicht gerecht, dass er die Hälfte seines jährlichen Einkommens mit dem Staate teilen muss.“ Friedrich II. der Große (1712–1786) „Wer sagt, dass ein Beamter kein Beschäftigungsrisiko hat? Jeden Augenblick kann die Tür aufgehen und ein Antragsteller hereinkommen.“ Helmar Nahr, Mathematiker und Ökonom „Das Ziel ist klar. Der öffentliche und der private Sektor müssen durch Zusammenarbeit das erreichen, was sie allein nicht erreichen können.“ Michael Gerrard, stellvertretender Vorstandsvorsitzender von Partnerships UK „Dass man mit Dienst nach Vorschrift die Urheber der Vorschriften lächerlich machen kann, ist eine herrliche Pointe der Bürokratie.“ Cyril Northcote Parkinson, britischer Historiker (1909–1993) „Verwaltungshandeln: Behörden können sowohl öffentlich-rechtlich als auch privatrechtlich handeln. Im Zweifel wird die Behörde öffentlich-rechtlich tätig. Öffentlich-rechtlich handeln kann die Behörde entweder durch Rechtsakt oder durch nichtregelndes Verwaltungshandeln.“ rechtswoerterbuch.de „Bürg du für dich und deinen eignen Leib! Wir tun, was unsers Amtes.“ Friedrich von Schiller (1759–1805), deutscher Dichter (Wilhelm Tell) Politisches Controlling Text / Foto: Kerstin Friemel McK Wissen 13 Seiten: 8.9 2 Die Lieferanten von No. 10 Die britische Regierung will, dass ihre öffentliche Verwaltung Leistung bringt. Darum setzt sie ihr konkrete Ziele. Und gründete eine Abteilung, die den Weg dahin Schritt für Schritt überprüft: Die Delivery Unit sucht Vorzeigebeispiele und greift ein, wenn ein Ministerium sein Ziel zu verfehlen droht. Das britische Finanzministerium ist Heimat der Delivery Unit. Politisches Controlling Text / Foto: Kerstin Friemel Manchmal, sagt Michael Barber und schüttelt den Kopf, seien die Lösungsvorschläge seiner Abteilung fast komisch. Da sei zum Beispiel die Sache mit den fallenden Blättern in den Herbstmonaten. Die Briten hätten es geschafft, 1830 den ersten Zug der Welt von Liverpool nach Manchester auf den Weg zu bringen. Aber jedes Jahr im Herbst seien die Züge plötzlich unpünktlich gewesen. Es dauerte 170 Jahre, bis das Problem angepackt wurde. Barbers Team traf sich mit Bahnmanagern und erfuhr, dass matschiges Laub auf den Gleisen die Verspätungen verursachte. Das war allgemein bekannt, doch nie hatte jemand etwas unternommen. „Als ob es den Herbst immer wieder zum ersten Mal gäbe“, sagt Barber. Neuerdings präparieren Bahnmitarbeiter jedes Jahr die Gleise rechtzeitig mit einer Speziallösung, und der Pünktlichkeits-Herbstknick fällt kleiner aus. Eine gewöhnliche Geschichte aus einer ungewöhnlichen Behörde. Michael Barber leitet die Delivery Unit – die „Liefer-Abteilung“ der britischen Regierung, eine Stabsabteilung von Premierminister Tony Blair. Ihre Aufgabe: sicherstellen, dass vor allem jene Teile der öffentlichen Verwaltung gute Dienste leisten, die der Bürger als besonders wichtig empfindet. Das Gesundheitssystem etwa, aber auch die Verbrechensbekämpfung und die Asylvergabe, der Bildungssektor und das Transportwesen. Eine Herausforderung, die die britische Regierung innovativ angeht: Alle zwei Jahre handeln Finanzministerium und Premierminister gemeinsam mit den einzelnen Ministerien neue Vereinbarungen aus. Darin knüpft der britische Oberkämmerer seine Gelder an Zielvorgaben des jeweiligen Ministeriums. McK Wissen 13 Seiten: 10.11 Geld gibt es gegen Leistung. Für Lippenbekenntnisse bleibt kein Platz. So der politische Wille. Und die Mission der Delivery Unit. Sie prüft regelmäßig vor allem, ob die für die Kernaufgaben der öffentlichen Verwaltung verantwortlichen Ministerien auf dem richtigen Weg sind, ihre Vorgaben zu erfüllen. Sieht es nicht danach aus, greift die Unit ein. Sucht nach den Ursachen für die Probleme. Und entwickelt gemeinsam mit den Ministerien Lösungen. Bevor es zu spät ist. Eine langfristige Strategie und kurzfristige Ergebnisse Der bemerkenswerte Prozess beginnt bereits bei der Formulierung der Ziele. Sie sollen das richtige Leben abbilden und sind erstaunlich konkret. So muss das Gesundheitsministerium beispielsweise bis spätestens Ende Dezember 2005 sicherstellen, dass kein Kranker länger als sechs Monate auf seine Operation wartet. Oder bis 2010, dass die Rate der unter 75-Jährigen, die an Herzinfarkten oder anderen Herzkrankheiten sterben, um mindestens 40 Prozent gesunken ist. Unter die Ziele des Bildungsministeriums fällt etwa, bis 2010 den Anteil der 18- bis 30-Jährigen, die eine höhere Bildung in Angriff nehmen, auf 50 Prozent zu steigern, aber auch die Vorgabe, bis zum selben Zeitpunkt die Schwangerschaften von Mädchen unter 18 um die Hälfte zu reduzieren. „So konkrete Ziele waren früher undenkbar“, sagt Michael Barber. Aber früher war die Richtung auch nicht so deutlich vorgegeben. Die öffentliche Verwaltung soll sich grundlegend ändern, schlank werden, wendig, schnell. Und das auch im Reformprozess: „Moderne Politiker stecken in einem Dilemma“, sagt Barber und schaut aus dem Fenster seines Büros mitten im Londoner Regierungsbezirk Westminster. „Sie brauchen eine langfristige Strategie, doch nur wenn sie auch kurzfristige Ergebnisse liefern, wird man ihnen glauben.“ Fünf Minuten Fußweg trennen den Chef der Delivery Unit von der Downing Street No. 10, dem Regierungssitz des britischen Premierministers. Soeben ist Barber von dort zurückgekommen. Er und seine 35 Kollegen der Delivery Unit – ein buntes Team aus Beamten, ehemaligen Unternehmensberatern, Statistikern und Volkswirten – arbeiten als Stabsabteilung für No. 10, sitzen aber im Finanzministerium. Fast ein Symbol für die Herausforderung der Einheit: Sie muss ständig den Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen und Empfindlichkeiten meistern – zwischen Fach- Dank der Arbeit der Delivery Unit verkehren britische Züge jetzt im Herbst pünktlicher. Michael Barber ist Chef der Einheit. Früher lehrte er als Professor für Pädagogik. Ohne Daten keine Taten Drohen wichtige Meilensteine nicht erreicht zu werden, greift die Delivery Unit ein. Manchmal nur mit einem Hinweis, manchmal aber auch mit dem Vorschlag, gemeinsam mit dem Ministerium eine Lösung zu entwickeln und umzusetzen. Michael Barber hat die öffentliche Verwaltung von mehreren Seiten kennen gelernt. Anfangs als Lehrer, später als Gewerkschafter, dann als Professor für Pädagogik. „Ich kenne nicht nur die Perspektive des Bürokraten, das hilft“, sagt der 49-Jährige. 1994 rief ihn ein Mitarbeiter aus dem Blair-Team an. Ob er Interesse habe, an einer Rede über Bildung mitzuarbeiten, die Blair halten wolle? Barber, damals selbst in der Labour-Partei aktiv, sagte zu. Und blieb beim Blair-Team. Drei Jahre später wählten die Briten Tony Blair mit seinem Regierungsprogramm „Bildung, Bildung, Bildung“ erstmals zum Premierminister. Barber wurde Leiter der „Standard and Effectiveness Unit“ im Bildungsministerium. Im Auftrag der Regierung ordnete er an, alle elfjährigen Schüler täglich eine Stunde in Schreiben und Lesen zu unterrichten, und ergänzte diesen Pflichtunterricht ein Jahr später um eine tägliche Stunde Rechnen. Ein Erfolg: Die Testergebnisse der Kinder in Englisch und Mathematik verbesserten sich dramatisch. 2001 schaffte England bei der ersten PIRLS-Studie den dritten Platz in der Rangliste der Lesefertigsten. Grund genug für Regierungschef Blair, nach seiner ersten Wiederwahl im Juni 2001 zu verkünden, man habe ihm die Anweisung gegeben zu „liefern“, „an instruction to deliver“. Er rief die Delivery Unit ins Leben und machte Barber zu ihrem Chef. Ein Projekt als politisches Signal. An dessen Erfolg Blair nicht zuletzt seine politische Karriere knüpfte: Sollten sich die avisierten Verbesserungen in den Kernbereichen der öffentlichen Verwaltung nicht einstellen, verkündete der Regierungschef im ersten Jahr seiner zweiten Amtsperiode, werde er „die Sache ausbaden“. So weit kam es nicht, Anfang Mai gewann Blairs Labour-Partei zum dritten Mal in Folge die britischen Unterhauswahlen – wenn auch mit hohen Verlusten im Vergleich zu früheren Wahlergebnissen. Blairs Delivery Unit hat weltweit Aufsehen erregt. Während in Deutschland ein großer Teil des politischen Reformeifers im Parteien-Gerangel verebbt, dürfen sich die Briten zur Innovations-Avantgarde rechnen. Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds sind von der Arbeit der Einheit begeistert. Etliche EU-Länder schickten bereits Delegationen, selbst der Michael Barber kennt die Verwaltung lange und gut – seit er Chef der Delivery Unit ist, legt er deshalb großen Wert auf Transparenz. „Nur mithilfe aktueller Daten können wir erkennen, wann es brennt, und rechtzeitig eingreifen.“ ministerien und dem geldgebenden Finanzministerium, zwischen Theorie und Praxis, Anspruch und Wirklichkeit und nicht zuletzt auch zwischen zentral ausgehandelten Zielvorgaben und der Situation an der Basis. Politisches Controlling Text / Foto: Kerstin Friemel russische Präsident Putin und das jordanische Königshaus ließen die Arbeit der Stabsabteilung untersuchen. Andere Regierungen haben sogar schon begonnen, den Briten nachzueifern, etwa die australische und die des kanadischen Bundesstaats Ontario. Damit übernahmen sie ein Werkzeug, das für einen tief greifenden Einschnitt in die Arbeitsweise von Behörden steht. Denn neben dem Ziel der Unit, den Ministerien kurz- und mittelfristig bei der Erreichung ihrer Vorgaben zu helfen, will das Barber-Team langfristig vor allem die Strukturen in den Behörden umkrempeln. „Das hat bei der Einführung von Datenerfassungs-Systemen begonnen“, sagt Barber, „und geht bis zur Änderung der Geisteshaltung.“ Als seine Abteilung vor vier Jahren ihre Arbeit aufnahm, hatte kaum ein Ministerium fundierte Informationen über die eigene Leistung. Alle paar Jahre gab es stichprobenartige Untersuchungen, um zu sehen, wie die Dinge stehen. „Und wenn die Ergebnisse ewig später veröffentlicht wurden, hatte sich die Welt schon wieder komplett geändert“, resümiert Barber. Gepflegte Datenbanken? Kaum vorhanden. Detaillierte Analysen? Fehlanzeige. „Inzwischen wissen die meisten, dass sie nur mithilfe aktueller Daten erkennen können, wann es brennt, um dann auch rechtzeitig einzugreifen.“ Heute setzt sich jedes Ministerium Zwischenziele und gleicht sie mit den aktuellen Zahlen ab. Drohen wichtige Meilensteine nicht erreicht zu werden, greift die Delivery Unit ein. Manchmal nur mit dem Hinweis, dass eine neue Ausrichtung der Politik nötig ist. Manchmal aber auch mit dem Vorschlag, gemeinsam mit dem Ministerium eine Lösung zu entwickeln und umzusetzen. Als das Gesundheitsministerium etwa befürchtete, sein für März 2003 gesetztes Zwischenziel zu verfehlen, rund 90 Prozent aller Notfallpatienten innerhalb von vier Stunden durch die Notaufnahme zu schleusen, riet Barber zu einer gemeinsamen Untersuchung. Ein Team aus Mitarbeitern der Delivery Unit und dem Ministerium interviewte Ärzte, Pflegepersonal und Manager in Krankenhäusern, deren Notfallstation überdurchschnittlich kurze oder besonders lange Wartezeiten hatten. Das Ergebnis: In vielen Krankenhäusern hatten bis dahin Patienten mit leichten Beschwerden etliche Stunden auf ihre Behandlung warten müssen, weil ständig medizinisch wichtigere Fälle zu versorgen waren. Anders in den gut organisierten Notfallstationen. Hier kümmerte sich Pflegepersonal um verstauchte Füße, Schnittwunden und Grippepatienten. Ärzte behandelten nur die schwer- McK Wissen 13 Seiten: 12.13 wiegenderen Fälle. Konsequenz: Die meisten Patienten konnten nach kurzer Zeit entlassen werden, die Betten der Stationen waren nicht unnötig blockiert. Eine einfache, aber effektvolle Organisation. Die Delivery Unit und das Ministerium kürten sie zur Best Practice und verhalfen allen Krankenhäusern des Landes zu diesem System. Im Dezember 2004 erreichte das Gesundheitsministerium wie geplant sein Ziel. Konzertierte Aktion gegen Schulschwänzer Barber beschreibt Situationen wie diese als Lernprozesse. Und betont, dass es manchmal auch akzeptabel sei, ein Ziel nicht rechtzeitig zu erreichen, „wenn klar ist, dass sich in der Verwaltung alles in die gewünschte Richtung bewegt“. Dennoch gilt das Verfehlen von Zielen intern als Schlappe. Und ein Minister unter genauer Beobachtung des Premierministers möchte Erfolge vorweisen. Tony Blair lässt sich von der Delivery Unit jeden Freitag über den aktuellen Stand informieren. Einmal im Monat konferiert Barber mit ihm. Alle zwei bis drei Monate organisiert die Delivery Unit Treffen zwischen dem Regierungschef und einzelnen Kabinettsmitgliedern, um Fortschritte und Probleme beim Erreichen der Ziele zu diskutieren und gegebenenfalls Aktionspläne zu beschließen. Im Extremfall geht es dabei um Krisenmanagement wie etwa im Jahr 2002, als die Straßenkriminalität abrupt anstieg. Viele vermuteten einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Delikte und der deutlich gestiegenen Zahl von Mobiltelefonen, einer begehrten Diebesbeute. Die Delivery Unit war jedoch skeptisch: Dies sollte der einzige Grund für den Anstieg sein? Auch in New York war die Zahl der mobilen Telefone angewachsen, die Straßenkriminalität war trotzdem zurückgegangen. Gemeinsam mit den Ministerien analysierte die Einheit deshalb Verbrechensmuster. Ihre wichtigste Erkenntnis: Vor allem Jugendliche waren für den Anstieg in der Statistik verantwortlich. Die Zahl bewaffneter Raubüberfälle junger Krimineller zwischen elf und fünfzehn Jahren war in den vorausgegangenen sieben Jahren um mehr als 400 Prozent gestiegen. Ein Teil der Jugendlichen finanzierte seinen Drogenkonsum mit Diebstählen, viele kompensierten schulische Probleme. Um zu einer Lösung zu kommen, mussten mehrere Ministerien einbezogen werden. Blair rief eine Sondersitzung ein. Nur wenige Wochen später begann die von der Delivery Unit und etlichen Ministerien gemeinsam geplante und von Tony Blair Russell Cake, Mitarbeiter der Delivery Unit, pflegt den direkten Draht zu den Verwaltungen, die die Zielvorgaben umzusetzen haben. geleitete Street-Crime-Initiative: Teams aus Polizisten und Mitarbeitern der Schulbehörde spürten gemeinsam Kinder auf, die sich während der Schulzeit auf der Straße herumdrückten, und brachten die Schulschwänzer in den Unterricht oder nach Hause. Im Sommer holte ein Ferien-Veranstaltungsprogramm tausende Jugendliche von der Straße. Zum neuen Schuljahr gab es separate Angebote für notorische Unterrichtsstörer, die bislang ohne Alternativunterricht ausgeschlossen worden waren. Statt die Initiative weitflächig zu starten, konzentrierte man sich auf soziale Brennpunkte. „Rund 80 Prozent aller Straßenkriminalitäts-Delikte wurden in nur zehn von insgesamt 42 Polizeibezirken des Landes registriert“, erklärt Barber den Fokus. Sie wurden zu Schwerpunktgebieten der Initiative. Einmal pro Woche meldeten sie ihre aktuelle Kriminalitätsstatistik. Die Delivery Unit verwandelte sie in Kurven, Stab- und Kuchendiagramme. Zwei Tage später lagen sie dem Premierminister vor, der jeweils mit entschied, wie es weitergehen sollte. Um die Lage transparent zu machen, wurden alle Daten auf einer internen Webseite veröffentlicht. „So wussten die Polizeikräfte, wo sie standen“, sagt Michael Barber. „Das spornte an.“ Nicht jede Zielvorgabe ist zielführend Auch das Bewertungssystem hat Prinzip: So wie im Fall der Polizei werden die meisten Leistungen der Verwaltung veröffentlicht, teilweise als interner Vergleich, teilweise für jedermann einsehbar. Barber glaubt, dass Zielvorgaben, die gut formuliert und gemanagt werden, die Verbesserung der Leistung beschleunigen und dazu beitragen, dass die Organisationen vor Ort die Prioritäten dort setzen, wo es den Bürgern am wichtigsten ist. Würden Ziele jedoch schlecht formuliert und gemanagt, könnten unerwünschte Nebenwirkungen die Leistung beeinträchtigen. Deshalb steuert die Delivery Unit den Prozess zwar zentral, lässt in dessen Feinsteuerung jedoch ständig die Erfahrungen der Basis einfließen. Wie haben die Zielvorgaben die Arbeit der Verwaltungen verändert? Wo gab es Probleme? Wo gibt es Verbesserungspotenzial? „Der Kontakt zu den Verwaltungen, die mit den Bürgern arbeiten, ist wichtig“, sagt Russell Cake, einer der Mitarbeiter der Delivery Unit, und blättert in seinen Unterlagen. Er ist auf dem Weg zu zwei Krankenhäusern in Birmingham. Vor dem Taxifenster zieht die Arbeiterstadt vorbei, eine Millionen-Metropole, rund 200 Kilometer nordwestlich von London. Das Queen Elizabeth Medical Centre in Birmingham ist besonders erfolgreich bei der Umsetzung von finanziellen und Service-Zielen. Politisches Controlling Text / Foto: Kerstin Friemel McK Wissen 13 Seiten: 14.15 Das Queen Elizabeth Medical Centre, eines der beiden vom University Hospital Birmingham NHS Foundation Trust betriebenen Krankenhäuser, liegt unweit der Universität. Der Trust ist eine Vorzeigeeinrichtung, die bei der Erfüllung finanzieller und service-bezogener Ziele besonders erfolgreich ist. Chief Operating Officer Julie Moore wartet bereits in ihrem mit schlichten Holzmöbeln ausgestatteten Büro. Vor ihrem Fenster stapfen Bauarbeiter über eine Großbaustelle. Eine Flut von Vorgaben Auch innerhalb der beiden Krankenhäuser gab es für Julie Moore eine Menge aufzubauen. Sie managt das Tagesgeschäft und damit den Alltag von rund 6500 Mitarbeitern, die im Jahr mehr als 553 000 Patienten versorgen. „Die Zielvorgaben der Regierung hatten enorme Auswirkungen auf unsere Arbeit“, sagt sie. Und obwohl die Leistung gesteigert wurde, führten die Ziele mitunter zu unvorhersehbaren Begleiterscheinungen. Um die strengen Planvorgaben der Regierung zu erreichen, hätten die Verwaltungen ihre Arbeitsabläufe mitunter drastisch ändern müssen. „Da gibt es Zielkonflikte zwischen dem, was praktisch Sinn macht und was zur Erreichung der Zielvorgaben nötig ist“, sagt Julie Moore. In Einzelfällen sei es beispielsweise besser, Patienten nicht innerhalb von vier Stunden durch die Notaufnahme zu schleusen, sondern ihren Zustand zu stabilisieren, bevor sie in andere Abteilungen verlegt würden. „Einige Patienten erhalten unter Umständen nicht die optimale Versorgung, wenn wir die Ziele erreichen, die die Versorgung verbessern sollen.“ Moore ist auch besorgt über die Vielzahl von Zielen, die der Trust erfüllen muss. Denn nicht nur London setzt welche – etliche nachgeordnete Behörden fügen eigene Vorgaben hinzu. „Es sind einfach zu viele, und die sind auch noch unstrukturiert“, sagt die Krankenhaus-Managerin. „Statt alle Planziele auf einer Web-Seite gesammelt aufzulisten, sind sie über etliche Web-Seiten verstreut.“ Allgemeine Verwirrung sei die Folge. Manchmal verbringe sie eine halbe Stunde allein mit der Suche nach einer konkreten Vorgabe. „Es ist nicht gerade effizient, so viel Zeit mit der Recherche im Internet zu verbringen.“ Russell Cake nickt, murmelt zustimmend und schreibt Notizen in seinen Block. Die Kritik ist ihm nicht neu. Von der Basis kommen immer wieder Klagen über eine allgemeine Zielschwemme. Die britischen Medien mokieren sich seit Monaten „über Lieferziele, die wie Konfetti“ über Um die Planvorgaben der Regierung zu erreichen, mussten im Queen Elizabeth Medical Centre die Arbeitsabläufe drastisch geändert werden. „Die Richtung stimmt. Auch wenn mir die Geschwindigkeit dieser Reform manchmal Kopfschmerzen bereitet.“ Julie Moore, Krankenhaus-Managerin die öffentliche Verwaltung gestreut würden. Schuld daran, so die weit verbreitete Meinung, seien die Zielsetzungen der Regierung und damit die Delivery Unit. Tatsächlich ist die Einheit des Premierministers nur für einen geringen Teil der Vorgaben verantwortlich. So ergab eine Untersuchung des Finanzministeriums, dass die Zielsetzungen der Regierung nur einen Bruchteil der externen Kontrollvorgaben ausmachen, mit denen sich Manager und Pflegepersonal in Krankenhäusern oder Direktoren und Lehrer in Schulen auseinander setzen müssen. Aber auf dem Weg von der Regierungsspitze bis zur Basis werden die nationalen Ziele von anderen Regierungsabteilungen, lokalen politischen Einrichtungen und außenstehenden Institutionen mit zusätzlichen Unterzielen und Kontrollen ausgeschmückt – ohne Absprache. Dazu kommen Verpflichtungen, die mit den von der Delivery Unit überwachten Vorgaben überhaupt nichts zu tun haben. Der schlechte Beigeschmack über die Arbeit der Einheit bleibt dennoch. Das Spiel mit der Karotte Auch mit der Kritik, dass einige der landesweit geltenden Ziele an den Bedürfnissen der Bürger vorbeigehen, muss sich die Unit immer wieder auseinander setzen. Für Unmut sorgten etwa die detaillierten Vorgaben zur Verringerung der Kriminalität aus der Anfangszeit der Delivery Unit. Mit Prozentzahlen beziffert, wurde da beispielsweise die Reduzierung der Anzahl von Wohnungseinbrüchen und Raubüberfällen angeordnet. Die Ziele wurden zwar erfüllt, doch nicht jede Region hatte mit denselben Verbrechensarten zu kämpfen. Wo Wohnungseinbrüche kein großes Problem waren, musste die Polizei die ohnehin niedrigen Zahlen weiter drücken. Für drängendere Probleme, die nicht im Zielkatalog aufgelistet waren, blieb dagegen keine Zeit. Wir haben verstanden, signalisierte inzwischen die Regierung. In ihrem jüngsten Ziele-Katalog verallgemeinerte sie ihre Vorgabe und fordert seitdem eine Reduzierung der Kriminalität um mindestens 15 Prozent bis 2007/2008. Die lokale Ebene kann jetzt selbst entscheiden, wo sie aktiv wird. Auch die Kritik über die Zielschwemme zeigte Wirkung: Die anfangs mehr als 300 nationalen Vorgaben sind heute auf gut 100 geschmolzen. Von einigen, deren Erfüllung sich als nicht realisierbar herausstellte, verabschiedete man sich ganz. Andere, inzwischen erreichte Ziele, wurden nicht durch neue ersetzt. Stattdessen will man das Erreichte halten. Auf dieser Plattform will die Regierung die zweite Stufe ihrer Reformen starten. Denn Ziele und die Hilfestellung zu ihrer Erreichung, so die Erkenntnis, können nur erste Schritte sein, um die öffentliche Verwaltung dauerhaft zu verändern. Systemanreize sollen den Fortschritt weiter vorantreiben. Und das unwiderruflich. Zwar ist das Spiel mit der Karotte nicht ganz neu. Auch in den vergangenen vier Jahren hat die Regierung mitunter finanzielle Anreize gesetzt, um den öffentlichen Dienst zu motivieren. Als die Krankenhäuser beispielsweise bei den Wartezeiten in der Notaufnahme erneut unter ihre Zielvorgabe fielen, stellte die Regierung kurzfristig zusätzliche Gelder für jene Krankenhäuser in Aussicht, die die Meilensteine wie geplant erreichten. Künftig geht es um Langfristigkeit; Anreize sollen fest im System verankert werden. Vorreiter ist das Gesundheitswesen. Und da kommen erneut Russell Cake und sein Besuch bei der Krankenhaus-Managerin Julie Moore ins Spiel. Der von ihr gemanagte University Hospital Birmingham NHS Foundation Trust nimmt seit vergangenem Sommer an einem Experiment teil: Statt fester Budgets wie bisher erhält der Trust für jede Operation und jede Behandlung einen vertraglich vereinbarten Satz vom Staat. Die Idee dahinter ist klar, sagt Russell Cake: „Die Krankenhäuser werden nach Leistung bezahlt. Wer viele Patienten behandelt, verdient viel, wer den Betrieb schlecht organisiert, kommt in finanzielle Schwierigkeiten.“ Und hat einen Ansporn, sich zu verbessern. Zeitgleich mit der Bezahlung pro Behandlung führt die Regierung mehr Wahlfreiheit für die Patienten ein. Ab diesem Dezember sollen Patienten zwischen vier oder fünf Krankenhäusern entscheiden dürfen – vorausgesetzt, sie müssen nicht notoperiert werden. Ab 2008 können Kranke uneingeschränkt wählen. Für Julie Moore ist die leistungsabhängige Bezahlung der beste Anreiz für bessere Qualität. Zwar gebe es noch Probleme bei der genauen Ausgestaltung. Die Operationssätze seien teilweise nicht richtig kalkuliert. Und der Konflikt zwischen kurzen Wartezeiten und dem Andrang bei guten Krankenhäusern sei noch ungeklärt. „Doch die Richtung stimmt“, sagt Julie Moore. „Auch wenn mir die Geschwindigkeit dieser Reform manchmal Kopfschmerzen bereitet.“ Delivery-Unit-Chef Michael Barber kann derartige Bedenken verstehen, „aber etwas langsamer zu tun bedeutet nicht, es besser zu machen“, meint er. Für ihn gehört Angst vor Geschwindigkeit vielmehr zu einem großen Reformprogramm, da hält er es mit dem Rennfahrer Mario Andretti: „Wenn alles unter Kontrolle scheint, dann bist du nicht schnell genug.“ Britische Polizisten wissen genau, um wie viel Prozent sie die Kriminalität zu senken haben. Vivantes Text: Christian Weymayr McK Wissen 13 Seiten: 16.17 3 Berlin gewinnt Öffentliche Krankenhäuser profitabel machen? Das geht. Die vor zwei Jahren noch defizitäre Vivantes GmbH in Berlin macht es vor. Vivantes Text / Foto: Christian Weymayr Das soll die Zukunft sein? Leere Klinikflure, mit Plastikfolie abgedeckte Betten, verwaiste Pflegezimmer, geschlossene Stationen. In der Berliner Humboldt-Klinik sind ganze Gebäudeteile geräumt. Doch was auf den ersten Blick nach Pleite aussieht, markiert tatsächlich die Zukunft: Die Menschen sind nicht seltener krank als früher – aber sie liegen nicht mehr so lange. Die Leerstände im Norden Berlins sind ein Symbol für die größte Umstrukturierung, die einige Berliner Krankenhäuser je erlebt haben. Ihr Ziel: aus eigener Kraft überleben. In drei Jahren, 2008, soll die Krankenhausreform der Hauptstadt abgeschlossen sein. Dann will die Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH, einer der größten Klinik-Betreiber in öffentlichem Besitz, zu den fünf führenden Krankenhausunternehmen zählen. Vivantes wird in Zukunft mehr Patienten betreuen – und mit Gewinn arbeiten. Die Reform, die aus defizitären Kliniken profitable Wirtschaftsunternehmen machen soll, lässt keinen Bereich innerhalb des Klinikums aus. Im Verwaltungstrakt wird sie mitgestaltet. Hier grübelt Andreas Schmitt, der stellvertretende Vivantes-Regionaldirektor Nord im Humboldt-Klinikum, über Balken- und Kurvendiagrammen. Wie entwickeln sich Leistungen und Kosten? Wie lange dauert es, bis die Dokumentation einer Behandlungsleistung in der Rechnungsstelle eintrudelt? Welche der Kliniken, die zum Standort gehören, sind beim Abrechnen auf Zack? Wie lassen sich auch die anderen motivieren, abgeschlossene Fälle umgehend weiterzuleiten? Auf Schmitts Schreibtisch steht eine kleine Pyramide aus Karton: „Unser Ziel ist der größtmögliche Unternehmenserfolg“ steht da ganz an der Spitze der Verhaltensregeln. Im Grunde eine Selbstverständlichkeit: Schon bei der Eröffnung des Humboldt-Klinikums im Jahr 1985 bemühte der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen – wohl nichts Gutes ahnend – die Parole: „Menschlichkeit, medizinische Spitzenleistung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen sind keine Gegensätze“. Dass die finanziellen Ressourcen endlich sind und ein guter Planer damit auskommen sollte, war im Grunde immer klar. Und doch: Die Medizin machte große Fortschritte und gerade in den Boomzeiten der sechziger und siebziger Jahre wuchsen die Behandlungskosten von Patienten angesichts modernerer aber teurerer Verfahren. Auch die Ansprüche von Ärzten, Schwestern, Labor- und Verwaltungsangestellten stiegen beständig. Besonders West-Berlin, das als Leuchtturm im sozialistischen Meer seine McK Wissen 13 Seiten: 18.19 Strahlkraft nicht einbüßen sollte, wurde von der Politik üppig mit Ausstattungen und noblen Salärs befeuert. Doch spätestens mit dem Fall der Mauer, als die Stadt ihren Sonderstatus verlor, war die gesamtdeutsche Bevölkerung nicht mehr willens, den jetzt nutzlosen Turm weiter zu hegen. Mit Lippenbekenntnissen zur Sparsamkeit war es nicht mehr getan. Bündeln, neu strukturieren, sanieren Erste Maßnahme: Bei zuletzt 80 Millionen Euro Verlust vereinigte das Berliner Abgeordnetenhaus im Jahr 2000 seine damals noch zehn, heute neun landeseigenen Krankenhäuser unter dem Dach der Vivantes GmbH. Eigentümer ist Berlin. Es entstand ein Unternehmen mit rund 13 500 Mitarbeitern, das jährlich fast 200 000 Patienten, und damit jeden dritten Berliner Kranken, stationär behandelt. Zweite Maßnahme: Vivantes gewann Wolfgang Schäfer als Geschäftsführer, der bereits das Klinikum Kassel neu aufgestellt hatte. Schäfer wollte „Vivantes eine Vision geben“, sagt er. Und das ging nur über grundlegende Reformen. Die Strukturen, die Kleinstaaterei aus Aufnahme, Anästhesie, Chirurgie, Labor und allen anderen Bereichen, die über Jahrzehnte gewachsen und mehr oder weniger schlecht aufeinander abgestimmt waren, mussten von Grund auf umgekrempelt werden. Dritte Maßnahme: Der Senat billigte ein Sanierungskonzept, das Schäfer anfangs mit seinem eigenen Team, später unterstützt durch McKinseyBerater entwickelte. Für anderthalb Jahre sind derzeit rund 15 Unternehmensberater in der zentralen Verwaltung und in den einzelnen Häusern unterwegs, um mit Management und Klinik-Mitarbeitern in elf Teilprojekten viele Reformideen, die Schäfers Team bereits entwickelt hatte, umsetzbar zu machen. Ihre Herangehensweise ist dabei so simpel wie neu: Es geht darum, die Erwartungen des Patienten einzubeziehen, seinen Weg im Krankenhaus nachzugehen und dabei ständig zu fragen, wo es hakt. Die erste Zwischenbilanz: Vivantes ist auf einem guten Weg und hat noch jede Menge vor. Nach einem Verlust von 70 Millionen Euro in 2003 schrieb das Unternehmen im vergangenen Jahr erstmals seit seiner Gründung ein positives Ergebnis von 4,9 Millionen Euro – deutlich mehr als die eigene Prognose von 1,6 Millionen Euro Überschuss. „Wir liegen im Augenblick im Sanierungszeitplan sogar voraus“, sagt Vivantes-Chef Schäfer. Bis 2008 soll der „gewaltige Restrukturierungsprozess“, so Finanzgeschäftsführer Vivantes-Zentrale in Berlin Reinickendorf (oben), Stationszimmer im Humboldt-Klinikum Jörg-Olaf Liebetrau, abgeschlossen sein. Dann will sich Vivantes als öffentlich geführtes Unternehmen gegen die private Konkurrenz behaupten und aus eigener Kraft zu einem der führenden Anbieter im Gesundheitswesen werden. Überall sonst gibt es dafür naturgemäß zwei Möglichkeiten: die Ausgaben senken oder die Einnahmen erhöhen, am besten beides. Zumindest was die Einnahmen betrifft, folgt das Gesundheitswesen jedoch seinen eigenen Regeln, insbesondere in Berlin. Innovationen wie der Carving-Ski, der Family Van oder der digitale Fotoapparat mögen neue Kunden anlocken und ihren Branchen Auftrieb geben – das Krankenhauswesen spürt bestenfalls demografische Langzeitbewegungen. Selbst die modernste Operationstechnik lockt keinen in die Klinik, der nicht unbedingt muss. Und mehr Kunden durch Angebote wie Schönheits-Operationen oder Vorsorgechecks zu gewinnen ist nur in engen Grenzen möglich. muss das Unternehmen sein Kassenbudget um 100 Millionen Euro reduzieren. So einigte man sich mit den örtlichen Kassen, die selbst finanziell unter Druck stehen. Fest vereinbarte, tarifliche Gehaltsaufstockungen kosten insgesamt weitere 60 Millionen Euro. Aber Lamentieren sei müßig, meint Finanzgeschäftsführer Jörg-Olaf Liebetrau. Es nütze nichts, zu fragen, ob die Einnahmen angemessen seien. „Man muss eben gute Medizin so effizient machen, dass das Geld reicht.“ Wie man doch etwas für die Haben-Seite tun kann, haben Schäfer und seine Experten in den vergangenen Monaten an unterschiedlichen Stellen erprobt. Je früher Ärzte die erbrachten Leistungen an die Rechnungsstelle melden, desto reibungsloser und schneller kann auch mit den Kassen Keine weiteren öffentlichen Zuschüsse, keine Preiserhöhungen Solange die Gelder aus dem Westen flossen, konnten die Berliner Häuser sich ihre Löcher in der Kasse von der Stadt oder dem Land stopfen lassen. Heute ist die Forderung nach weiteren Zuschüssen illusorisch, Berlin muss eisern sparen. Und selbst wenn sie wollten: Wie sollten die Senatoren beispielsweise den Anwohnern im Märkischen Viertel vermitteln, dass das Geld für die Sanierung ihres verjauchten Anlagenteichs fehlt, während sie die benachbarten Kliniken mit Millionenbeträgen bezuschussen? Noch dazu, wenn die private Konkurrenz ohne derartige Zuwendungen Gewinne einfährt. Auch Preiserhöhungen als Strategie verbieten sich im Gesundheitswesen. Die Vergütungen werden von den Kassen diktiert, und das rigider denn je. Während in der Vergangenheit noch für die Zeit bezahlt wurde, die ein Patient im Krankenhaus lag, regeln heute Pauschalen, wie viel die Klinik für einen Fall, etwa einen Blinddarm, abrechnen darf. Liegt ein Patient, weil es zum Beispiel Komplikationen gab, deutlich länger als vorgesehen, gibt es kleine Aufschläge; liegt er kürzer, deutliche Abzüge. Noch gelten in Berlin zwar höhere Pauschalen als in anderen Bundesländern. Ab 1. Januar 2008 sollen jedoch bundeseinheitliche Vergütungen eingeführt werden. Wenn die Vivantes-Macher also anstreben, für die Behandlung eines Falls nicht mehr auszugeben als sie dafür einnehmen, heißt das, dass die heute kaum erreichbaren Ziele morgen schon viel weiter gesteckt werden müssen. Vivantes kämpft mit zusätzlichen Handicaps: Bis 2006 Vivantes-Geschäftsführer Wolfgang Schäfer (links) will mit der Reform bis 2008 fertig sein. Andreas Schmitt, stellvertretender Vivantes-Regionaldirektor Nord im Humboldt-Klinikum, hilft dabei. Vivantes Text / Foto: Christian Weymayr abgerechnet werden. Ein zweites Projekt zielt darauf ab, den Service für die niedergelassenen Ärzte zu verbessern. Schließlich entscheiden sie zumeist, in welcher Klinik die Patienten landen. Wohlgesinnte Ärzte sorgen demnach für Kundschaft – wenn sie informiert sind. Laminierte, DIN-A5-große Bögen mit allen wichtigen Klinik-Telefonnummern sollen es den niedergelassenen Kollegen so bequem wie möglich machen, schnell den richtigen Ansprechpartner in der Klinik am Hörer zu haben. Seit neuestem bietet eine Hotline-Nummer einen ständigen Draht zum Klinikarzt. Wo auf der Habenseite nicht viel zu holen ist, muss das Soll gedrückt werden, damit am Ende die Balance stimmt. Und so paradox es klingt: Es geht dabei nicht eigentlich ums Sparen, denn nicht Rationierung ist das Ziel, sondern Rationalisierung, wie Wolfgang Schäfer betont. Also gleiche oder bessere Qualität bei angepassten Kapazitäten und besserer Organisation. Dabei ergeben sich manche Einsparungen praktisch von selbst. Beispiel Bettenabbau: Der Trend zur ambulanten Behandlung macht viele Betten überflüssig. Lagen Frauen bislang für eine Gewebeentnahme aus dem Gebärmutterhals obligatorisch zwei Tage in der Klinik, können die meist jungen Frauen heute, wenn sie fit genug sind, das Haus nach einer Stunde wieder verlassen. Vor allem die Fallpauschalen zwangen zum Umdenken. So lange es sich rechnete, musste ein Patient in jedem Krankenhaus der Republik möglichst lange stationär betreut werden. Seit Einführung der Diagnosis Related Groups oder DRGs für alle Bereiche der Somatik soll der Patient nicht länger bleiben als nötig – nötig für ihn und nicht für die Klinik, wohlgemerkt. Die Folgen sind dramatisch: Lagen die Vivantes-Patienten im Jahr 2001 noch durchschnittlich zehn Tage auf Station, so reichen heute 7,8 Tage für die Behandlung. 2010 sollen es 5,1 Tage sein. Eine deutliche Reduktion, aber selbst gemessen an dieser kurzen Zeit sei die Situation im Ausland immer noch besser, sagt Franziska Mecke, Direktorin für Pflege- und Betreuungsmanagement bei Vivantes. Je kürzer der Aufenthalt in der Klinik, desto geringer ist auch der Bettenbedarf. In Schweden beispielsweise hat sich seit der Einführung der DRGs im Jahr 1992 die Zahl der Betten von 58 000 auf 32 000, also um 45 Prozent, reduziert. Vivantes belegte 2001 noch 6135 Betten, 2004 waren es rund 5300 – bei sogar leicht gestiegenen Fallzahlen. Aber wie lassen sich die Behandlungszeiten so stark verkürzen? „Jedenfalls nicht, weil wir die Patienten blutig nach Hause schicken“, sagt Franziska McK Wissen 13 Seiten: 20.21 Mecke, nach eigenem Bekunden leidenschaftliche Optimiererin von Strukturen. Es geht eleganter: Zum einen müssen die Abläufe in den verschiedenen Abteilungen aufeinander abgestimmt sein. Personelle, räumliche und materielle Ressourcen müssen optimal genutzt werden. Während die Schwestern früher durchaus häufiger auf Patienten trafen, die in ihrem Zimmer seit Stunden vergebens darauf gewartet hatten, zur Operation abgeholt zu werden, sind die Prozesse heute aufeinander abgestimmt. Einer der Hotspots ist der Operationssaal. Dort müssen Teams verschiedener Disziplinen, von Chirurgen über Anästhesisten bis hin zu den OP-Schwestern Hand in Hand arbeiten. Um die Prozesse erst einmal analysieren und dann Verbesserungsvorschläge erarbeiten zu können, hat Andrea Grebe, Vivantes-Direktorin für Medizin und Qualitätsmanagement, Klinik-Teams mit besonders motivierten Mitarbeitern gebildet. Für Operationssaal, Radiologie, Intensivstation und Rettungsstelle ist jeweils ein Zentralteam plus ein Team in jedem Krankenhaus verantwortlich. Jede Zentralmannschaft, zusammengesetzt aus zwei Betriebsräten, einem Anästhesisten, einem Personalmanager und einem McKinsey-Berater trifft sich einmal im Monat in Grebes Büro. Die Zentralteams wiederum beraten sich mit den Mannschaften vor Ort. Jeweils zwei Häuser zur gleichen Zeit werden auf diese Weise umstrukturiert. Optimal ist nicht gleich ideal Nach anfänglicher Skepsis eilt Grebe inzwischen der Ruf voraus, die Mitarbeiter mit einzubeziehen. Viele begrüßen sogar, dass endlich etwas passiert. Allerdings, so Grebe, müsse sie immer wieder klarstellen, dass an den Rahmenbedingungen nicht zu rütteln ist. Es geht nicht um den idealen Prozess, sondern um den optimalen. Ideal wäre es beispielsweise, wenn selbst im Falle eines Erdbebens genügend OP-Plätze vorhanden sind. Optimal ist der Prozess dann, wenn man durchkalkuliert, wie oft tatsächlich ein Notfall zu versorgen und wie viel Kapazität dafür freizuhalten gerechtfertigt ist. Die zweite Maßnahme, die helfen soll, die Zeitvorgaben pro Fall zu erfüllen, geht mit der Prozessoptimierung Hand in Hand. Weil die beste Organisation nichts nützt, wenn man nicht weiß, was als Nächstes kommt. Zwar müssen 60 Prozent aller Patienten nach individuellem Muster behandelt werden, etwa Patienten aus der Psychiatrie oder Kranke, die an Vivantes-Direktorinnen Franziska Mecke (oben) und Andrea Grebe beziehen die Mitarbeiter bei der Umstrukturierung der Abläufe mit ein. vielen Gebrechen gleichzeitig leiden. Die anderen 40 Prozent aller Vivantes-Patienten lassen sich jedoch zukünftig nach einheitlichen Schemata behandeln. Denn wie ein Leistenbruch oder selbst ein Brusttumor zu behandeln oder was bei einem Verdacht auf Herzinfarkt zu tun ist, lässt sich relativ gut festschreiben. Das passiert ohnehin, und zwar in den Empfehlungen der jeweiligen medizinischen Fachgesellschaften. Folgt ein Arzt diesen Leitlinien, die ständig an die neuesten internationalen Erkenntnisse angepasst werden, kann er sicher sein, seinen Patienten bestmöglich zu behandeln. Um die Berücksichtigung dieser Empfehlungen jedoch zu automatisieren, gossen Unternehmensberater und Klinikmanager die Leitlinien in so genannte medizinische Pfade. Als Checkliste zeichnen sie heute den Weg des Patienten vor. Verantwortlich für die Checkliste sind die 183 Stationspflegeleiterinnen, die früheren Oberschwestern, die in jeweils zehntägigen Kursen auf ihre neue Aufgabe vorbereitet wurden. Mehr Voraussicht durch medizinische Pfade – auch für Patienten Von den rund 40 verschiedenen Pfaden von Vivantes sind bereits 28 im Einsatz. Bei einem Leistenbruch etwa sieht die Stationsleiterin auf einen Blick, dass sich der Patient am zweiten Tag nach der Operation bereits selbstständig versorgen können sollte und am dritten Tag, wenn er jünger als 56 und seine Wunde nicht entzündet ist, das Haus verlassen darf. Aus anderen Pfaden kann sie ablesen, dass ein Termin in der Röntgenabteilung gebucht und der Transport dorthin organisiert werden muss. Auf diese Weise können die Abteilungen wesentlich effektiver arbeiten. Auch der Patient profitiert von den medizinischen Pfaden – sie machen ihn zum Kunden auf Augenhöhe. Im Klinikalltag bedeutet die Prozessoptimierung beispielsweise: keine grotesk frühen Weckzeiten mehr, um in den dicht gedrängten Vormittagsstunden einen Platz im Labor oder der Röntgenabteilung zu ergattern, kein endloses Warten auf die Chefarzt-Visite. Auch die heikle Frage nach dem Entlassungstermin, früher eher abhängig von der Bettenauslastung als vom Genesungsfortschritt und daher nur kurzfristig beantwortbar, wird nun schon bei der Aufnahme gestellt. Sobald die Diagnose feststeht, kann der Patient seiner Familie und seinem Arbeitgeber Bescheid geben, wann sie ihn zurückerwarten dürfen. Die Transparenz und Planbarkeit sind keine Nettigkeiten am Rande. Eine Umfrage des Hamburger Picker Instituts ergab, dass Patienten die „Koordination der einzelnen Versorgungsleistungen“ sowie die „Kontinuität beim Wechsel der Versorgungssektoren“ als wesentliche Qualitätskategorien betrachten. Hier liegen bislang auch die größten Defizite: Die Vorbereitung auf die Entlassung nennen die Befragten als das häufigste Problem. Straffer in der Organisation sein heißt bei Vivantes heute auch, nach Möglichkeiten zu suchen, Dienstleistungen zu bündeln, sich zu spezialisieren. Nicht jede Klinik muss auf alle Eventualitäten vorbereitet sein – bei immer größerem Fachwissen in den einzelnen Disziplinen ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit. Die Strategie für Vivantes lautet deshalb: Nur die Grundversorgung wird in jeder Klinik angeboten, Spezialdisziplinen werden in einzelnen Häusern gebündelt. Es gibt ein Brustzentrum und zwei Zentren für Endoprothetik, eine Altersklinik sowie weitere Spezialeinrichtungen. Insgesamt sind es mehr als 120 medizinische Kliniken. Auch die Nacht- und Notdienste lassen sich rationeller organisieren – ohne Abstriche an die bestmögliche Versorgung. Das zu später Stunde gemachte Computertomogramm beispielsweise muss nicht vor Ort ausgewertet werden. Eine dicke Leitung wird in Zukunft die Daten des HumboldtKlinikums an ein benachbartes Krankenhaus schicken, so dass ein Experte in Bereitschaft für zwei Häuser ausreicht. Zudem müssen alte Überzeugungen weichen. Während kleine Stationen mit ihrem vermeintlich hohen Kuschelfaktor lange als vorbildlich galten, fragt die Klinikleitung heute zu Recht danach, ob ein Nachtdienst in der Pflege eigentlich ausgelastet ist. „Eine Station mit 15 Betten ist nicht tragbar“, weiß Franziska Mecke, die vor ihrem Wirtschaftsstudium als gelernte Krankenschwester den Stationsalltag hautnah miterlebt hat. Erst Stationen mit mindestens 30 Betten gelten als rentabel. Spezialisierung geht auch einher mit Zentralisierung. Vor einigen Jahren musste noch jedes selbstständig arbeitende Krankenhaus seine eigene Infrastruktur aufbauen: eigenes Zentrallabor, eigene Notfallaufnahme, eigene Verwaltung, eigene Küche mit eigenem Einkauf – eine wahre Fundgrube für Prozessoptimierer. Finanzgeschäftsführer Jörg-Olaf Liebetrau Beispiel Labor: „Es ist nicht einzusehen“, sagt Wolfgang Schäfer, „dass sagt: „Man muss eben gute Medizin jede Klinik in ihrem Labor dieselben Verfahren anbietet.“ Bald werden die so effizient machen, dass das Geld reicht.“ aufwändigen Analysen an ein großes zentrales Labor geschickt, vor Ort werden nur noch halb so große Notfall-Labors unterhalten. Beispiel Verwaltung: Früher hatte jede Klinik ihre eigene Buchhaltung. „Ich brauche nur eine“, sagt Finanzgeschäftsführer Jörg-Olaf Liebetrau. Auch Vivantes Text / Foto: Christian Weymayr die Lizenzen für die SAP-Software lassen sich so von neun auf eine reduzieren. Für den jetzt zentralen Einkauf in Händen der Vivantes-Tochter ChronoMedic bedeutet das: Von 3300 Lieferanten sind noch 1600 übrig geblieben, die dafür größere Mengen liefern. Diese „Sortimentsoptimierung“ lässt größere Rabatte zu. Der Preis für einen Herzschrittmacher sank in den vergangenen zwei Jahren von 1400 auf 1100 Euro. Beispiel Küche: In seine Versorgungsstellen müsste Vivantes in den nächsten Jahren rund 70 Millionen Euro investieren. Grund genug, über Alternativen nachzudenken. Service-Geschäftsführer Harry Düngel setzt jetzt auf das Sous-Vide-System, das, wie so viele der Optimierungsmaßnahmen, letztlich auch dem Patienten zugute kommt. Das neue Verfahren wird die traditionelle Zubereitung des Essens in den Küchen ablösen. Stattdessen wird die Verteilung der Speisen an die Patienten und Mitarbeiter in den Kliniken und Pflegeeinrichtungen des Unternehmens auf vier neue Verteilzentren konzentriert. Dazu werden etwa 27 Millionen Euro investiert, statt den 70 Millionen, die langfristig für die Sanierung der bisherigen Küchenbetriebe erforderlich wären. In Zukunft kauft eine Zentralstelle im Vakuumbehälter schonend vorgegarte, schockgekühlte Essenskomponenten in großen Mengen ein. In den Verteilstationen kommen sie bei wenigen Plusgraden portionsgerecht auf die Teller, die ein Lieferservice dann an die einzelnen Stationen in den neun Kliniken austeilt. Erst dort wird das Essen erhitzt. Das heißt für den Patienten: Statt lauwarm und verkocht bekommt er seine Mahlzeit heiß und frisch auf den Tisch. Ein weiterer Vorteil der Zentralisierung: tägliche Auswahl unter 50 frei wählbaren Menükomponenten, die für Abwechslung sorgen und Sonderwünsche und Spezialdiäten problemlos ermöglichen. Eine Computerüberwachung sorgt dafür, dass jeder Patient auch wirklich das bekommt, was er bestellt hat. Mehr Optimierung, flachere Hierarchien, weniger Personal All die Sanierungsmaßnahmen wie Bettenanpassung, Prozessoptimierung, Zentralisierung und Spezialisierung bedeuten zwangsläufig, dass auch weniger Personal nötig ist. Von 2000 bis 2004 sank die Zahl der Vollzeitkräfte unter den Ärzten, Pflegern und anderen Beschäftigten in den Vivantes-Krankenhäusern von 13 499 auf 10 581. Auch im Management wurden Positionen gestrichen, im Pflegedienst etwa fielen zwei komplette Hierarchieebenen weg. In den nächsten Jahren wird die Zahl der Mitarbeiter McK Wissen 13 Seiten: 22.23 Stationen und Daten 1999 Die Stadt Berlin ist Träger von zehn über das Stadtgebiet verteilten Krankenhäusern. Zusammen betreiben die Häuser 7038 Betten und erwirtschaften bei einem Umsatz von 921 Millionen Euro einen Verlust von 29 Millionen Euro. 14 603 Vollkräfte versorgen 183 579 Patienten. Ein Patient liegt im Schnitt 11,3 Tage. 2000 Der Berliner Senat überführt die zehn Krankenhäuser in die Vivantes GmbH. Dadurch entsteht eine der größten Klinikgruppen in Deutschland. Umsatz: 913 Millionen Euro; Verlust: 80 Millionen Euro; Betten: 6634; Vollkräfte: 13 499; Patienten: 186 680; Verweildauer: 10,8 Tage. 2001 Hauptgeschäftsführer Wolfgang Schäfer, Jörg-Olaf Liebetrau, Geschäftsführer Finanzen und Controlling, und Ernst-Otto Kock, Geschäftsführer Personal und Soziales, nehmen ihre Arbeit auf. Der Aufsichtsrat billigt das von der neuen Geschäftsführung vorgelegte Umstrukturierungs-Konzept. Die zehn Kliniken werden in die Regionen Süd, Nord und Mitte zusammengefasst. Die Bereiche Versorgung, Finanzen, Personal und Krankenhausmanagement werden zentralisiert. Ein Fünf-Jahres-Plan sieht bereits kleine Gewinne im Jahr 2003 vor. Geschäftsführung und Betriebrat beschließen, bis 2006 keine betriebsbedingten Kündigungen zuzulassen. Bei der Gründung von Tochtergesellschaften, die Dienstleistungen für Vivantes erbringen, bleiben die dorthin wechselnden Mitarbeiter bei Vivantes. Mit den Krankenkassen wird eine Reduzierung des Budgets um 20 Millionen Euro jährlich bis 2006 vereinbart, was zwar weitere Belastungen von 100 Millionen Euro, aber auch langfristig finanzielle Sicherheit mit sich bringt. Umsatz: 795 Millionen Euro; Verlust: 153 Millionen Euro; Betten: 6135; Vollkräfte: 12 443; Patienten: 180 854; Verweildauer: zehn Tage. 2002 Erste Erfolge der Reorganisation werden deutlich: Einsparungen beim Einkauf werden erzielt, Leitlinien für die rationelle Behandlung erarbeitet und Kompetenzzentren etabliert. Der Aufsichtsrat spricht sich dafür aus, das Unternehmen in seiner Größe zu erhalten. Langfristig wird ein Verkauf jedoch nicht ausgeschlossen. auf der Grundlage von Strukturabbau und Prozessoptimierung weiter sinken. Wird das zu schaffen sein, wo Ärzte und Pflegepersonal doch schon heute keine geringe Arbeitsbelastung haben? „Gute Medizin geht nicht unbedingt einher mit vielen Medizinern“, meint Wolfgang Schäfer. Allerdings räumt er ein: „Wir fordern Ärzten schon viel ab.“ Diesbezüglich ist Vivantes keineswegs Vorreiter. Während 2003 in privat geführten Kliniken ein Arzt 146 Fälle versorgte, musste sich der Kollege in den Häusern der öffentlichen Hand nur um 83 kümmern. Wird eine Stelle gestrichen, muss der Mitarbeiter nicht gehen. Er kann mit einer Abfindung das Haus verlassen oder in andere Bereiche wechseln. Derzeit gibt es einen Pool von knapp 100 Mitarbeitern, die verfügbar sind. Auch die technischen Angestellten bleiben unter dem Dach von Vivantes. Ein Großteil der Dienstleistungen der nicht medizinischen Bereiche übernehmen nun Vivantes-Töchter. Um Sauberkeit und die Anlagen kümmert sich etwa VivaClean. Wo nötig, so Service-Direktor Harry Düngel, holt sich das Unternehmen externes Know-how dazu – und damit oft auch die in der Wirtschaft straffere Arbeitsmoral. Das war nötig, meint Düngel, denn Schlendrian kann sich Vivantes nicht mehr leisten. Eine Befragung ergibt, dass 93 Prozent der Patienten die Vivantes-Kliniken weiterempfehlen würden, damit liegt Vivantes 20 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Die Zahl der Vivantes-Krankenhäuser sinkt nach einer Zusammenlegung auf neun. Der Aufsichtsrat billigt einen neuen Strategieplan. Bis 2010 soll die Bettenzahl auf 4200 reduziert werden. Mit Neuinvestitionen von 270 Millionen Euro wird gerechnet, die zu 78 Prozent aus Fördermitteln des Landes und zu 32 Prozent selbst erbracht werden sollen. Umsatz: 805 Millionen Euro; Verlust: 19 Millionen Euro; Betten: 6073; Vollkräfte: 11 581; Patienten: 180 329; Verweildauer: 9,4 Tage. 2003 Die Mitte 2002 gegründete Tochterfirma ChronoMedic, die unter anderem den gesamten Einkauf abwickelt, agiert jetzt selbstständig. Die Geschäftsführung hat bislang 180 Millionen Euro Kosten abgebaut. Dennoch wird das ursprüngliche Sanierungsziel, bereits 2003 Gewinne zu erwirtschaften, nicht erreicht. Umsatz: 771 Millionen Euro; Verlust: 70 Millionen Euro; Betten: 5414; Vollkräfte: 10 860; Patienten: 177 739; Verweildauer: 8,9 Tage. 2004 Bundesweit werden Fallpauschalen (DRGs) eingeführt. Mit Unterstützung von McKinsey erarbeitet die Geschäftsführung ein Sanierungsprogramm bis 2008, das der Aufsichtsrat bestätigt. Es sieht unter anderem kürzere Verweildauern der Patienten durch verbesserte Behandlungsabläufe, eine höhere Auslastung der Vivantes-Häuser und eine bessere Ausnutzung von OP-Sälen, Laboren und Intensivstationen vor. Zehn Projektgruppen mit insgesamt 150 Mitarbeitern sollen Maßnahmen zur Umsetzung des Konzeptes erarbeiten. Der Senat wandelt das Gesellschafterdarlehen von 230 Millionen Euro in Eigenkapital um, womit eine solide Finanzgrundlage geschaffen wird. Zinsforderungen in Höhe von 5,3 Millionen Euro entfallen. Zudem verzichten alle Mitarbeiter bis 2008 auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld, das spart weitere 32 Millionen Euro ein. Umsatz: 746 Millionen Euro; Gewinn: 4,9 Millionen Euro; Betten: rund 5300; Vollkräfte: 10 581; Patienten: 185 903; Verweildauer: 8,3 Tage. Wichtige Klinik-Telefonnummern auf einen Blick, damit Ärzte schnell richtige Ansprechpartner am Hörer haben. 2005 Ein Team von 15 McKinsey-Beratern unterstützt die Geschäftsführung für anderthalb Jahre bei der Umsetzung des Sanierungsplanes. Weitere Kliniken werden umstrukturiert. Plan: Umsatz: 730 Millionen Euro; Gewinn: vier Millionen Euro; Betten: weniger als 5000; Vollkräfte: 10 590; Patienten: 187 247; Verweildauer: 7,8 Tage. Text: Florian Sievers Foto: DZH McK Wissen 13 Seiten: 24.25 © Fotoarchiv Duinwaterbedrijf Zuid-Holland Privatisierung I: Wasser-Industrie Holländische Dünenlandschaft. Der natürliche Wasserfilter macht aus Flusswasser gutes Trinkwasser. Eine Frage der Qualität Während die Welt heftig das Für und Wider debattiert, trafen die Niederlande eine einsame Entscheidung. Sie haben per Gesetz verboten, dass sich Privatunternehmen an ihrer Trinkwasser-Industrie beteiligen dürfen. Eine Privatisierung, befürchtet die Regierung, treibt die Wasserpreise in die Höhe und die Wasserqualität in den Keller. Irgendwann mitten im Idyll tritt Marijke Poppelier kurz auf die Bremse. „Das“, sagt sie und deutet nach rechts aus dem Auto, „sind meine Kollegen.“ Ringsum zieht sich das Dünenfeld Meijendel zum Horizont. Und direkt neben der Straße grasen dort Schafe, Pferde und Rinder im Sonnenlicht. Malerisch. Findet auch Poppelier. Sie ist gern hier draußen, in den Dünen nahe dem holländischen Städtchen Scheveningen, und zeigt Besuchern eine der drei Produktionsstätten ihres Arbeitgebers. Denn der beschäftigt dort – neben rund 500 Menschen – auch 35 Fjordpferde, 32 Galloway-Rinder, 52 Heideschafe sowie seit Frühlingsbeginn zusätzlich noch 40 Lämmer. Die tierischen Kollegen kümmern sich darum, dass das Gras in den Dünenfeldern kurz bleibt. Umweltverträglich und ressourcenschonend. Poppeliers Arbeitgeber ist der Duinwaterbedrijf Zuid-Holland (DZH). Das Trinkwasser-Unternehmen nutzt die Dünen zwischen den holländischen Küstenorten Monster und Katwijk, um Flusswasser in trinkbares Leitungswasser zu verwandeln. Dafür transportiert DZH zunächst Wasser aus dem Fluss Maas durch zwei fast mannshohe Pipelines in das 80 Kilometer entfernte Dünengebiet an der Nordseeküste. Dort versickert das Nass zwei Monate lang im Sand, bis es in rund 60 Meter Tiefe angekommen ist. Danach pumpen die DZH-Ingenieure das Wasser wieder nach oben, entfernen Kalk, Eisen und Mangan – und fertig ist ein besonders mild schmeckendes Trinkwasser für rund 1,2 Millionen Holländer. „Das alles geschieht vollkommen ohne Chemikalien“, erklärt Piet Jonker, Managing Director des DZH. „Die Dünen sind unser natürlicher Wasserfilter.“ Geschlossen für ein Gesetz gegen die Privatisierung Jonkers Unternehmen ist einer von drei niederländischen Anbietern, die auf diese Weise Trinkwasser produzieren. Ihre Methode ist einzigartig auf der Welt. Wasser-Märkte: Die Wahl zwischen drei Übeln Das Einführen von Wettbewerb bei der Trinkwasser-Versorgung ist nicht einfach. Denn anders als etwa bei Strom oder Gas lässt sich das Wasser unterschiedlicher Anbieter mit unterschiedlicher Qualität nicht einfach in einem Rohr mischen. Zudem sind große Mengen nur schlecht über weite Strecken zu transportieren, Wasser ist immer eine regionale Ressource. Meist lohnt es sich auch nur für einen Anbieter, ein Versorgungsnetz inklusive Anlagen zur Wasseraufbereitung, Pumpstationen, Speicherbecken, Kanälen und Leitungen zu errichten und zu betreiben. Denn das ist nicht nur extrem teuer, in der Regel gibt für ein zweites Netzwerk auch schlicht keinen Platz. Wasser ist also immer mit einem lokalen Monopol verbunden. „Wir können nur zwischen drei Übeln wählen“, lautet deshalb das Fazit, das der Nobelpreisträger Milton Friedman bei der Betrachtung der Wasser-Märkte zog: „ein privates, unreguliertes Monopol, ein privates Monopol, das vom Staat reguliert wird, und ein öffentliches Monopol.“ Privatisierung I: Wasser-Industrie Text: Florian Sievers Foto: T. Futh (laif) / DZH / Florian Sievers Poppelier, ihr Chef Jonker sowie die Schafe, Rinder und Ponys in den Dünen arbeiten im Auftrag von 27 Gemeinden, darunter der niederländische Regierungssitz Den Haag. Rein rechtlich ist der Wasserversorger DZH zwar eine Aktiengesellschaft, die Anteilsscheine gehören jedoch den Kommunen der Region. Und das soll nach dem Willen der Niederländer – trotz der weltweiten Debatten um die Privatisierung öffentlicher Unternehmen – auch so bleiben. Am 9. Dezember 2003 haben fast alle Parteien in der Tweede Kamer, der wichtigsten Kammer des nationalen Parlaments, ein neues Gesetz angenommen. Es verbietet explizit die Beteiligung privater Investoren und kleiner Unternehmen an der Trinkwasser-Versorgung von Haushalten. Am 7. September des vergangenen Jahres stimmte auch die andere Parlamentskammer, die Eerste Kamer, dem Gesetz zu. Seitdem ist das Verbot in Kraft. Mit ihrer strikten Antiprivatisierungs-Regelung stehen die Niederlande ziemlich allein da. Zwar gehört die Trinkwasser-Industrie in der Europäischen Union noch überwiegend der öffentlichen Hand. Aber Großbritannien hat den Sektor bereits komplett privatisiert, in Frankreich können Privatanbieter über Ausschreibungen langfristige Konzessionen erwerben. In Deutschland ist die Privatwirtschaft über Public Private Partnerships bislang an rund einem Drittel der gesamten Wasserproduktion beteiligt – mit steigender Tendenz. Die Kommunen, die für den Sektor zuständig sind, dürfen selbst über weitere Partnerschaften mit Privatinvestoren entscheiden, dabei sind sie allerdings verpflichtet, die Aufsicht über den Sektor zu behalten. Ein Gesetz wie das der Niederländer, das jede Privatisierung verbietet, findet sich weltweit nur noch in Uruguay. Die Debatte um das Öl dieses Jahrhunderts Die Niederländer stellen damit unmissverständlich klar, auf welcher Seite sie in der Debatte stehen, die zurzeit rund um den Globus über die Privatisierung der Wasser-Industrie geführt wird. „Trinkwasser“, fasst Anthony Muller, McKinsey-Experte für Wasserwirtschaft, die Diskussionen zusammen, „ist ein emotional extrem aufgeladenes Thema.“ Die Flüssigkeit polarisiert, weil sie ein Zwitter ist: unentbehrliche Lebensgrundlage eines jeden Menschen und zugleich eine Handelsware, deren Produktion und Vertrieb nun einmal Geld kosten. Entsprechend dieser Doppelnatur stehen sich in der Debatte zwei Lager unversöhnlich gegenüber. McK Wissen 13 Seiten: 26.27 Auf der einen Seite sind dies Menschen wie der Weltbank-Wasserspezialist John Briscoe, der rückhaltlos für eine Privatisierung der Versorger und sogar für eine völlige Abschaffung aller Regulationen eintritt. „Nur über den freien Markt“, argumentieren Briscoe und seine Mitstreiter, „können Wasserversorger das dringend benötigte Kapital aufbringen und effizient genug werden, um jeden Menschen mit frischem Trinkwasser zu versorgen.“ Natürlich haben die PrivatisierungsBefürworter auch im Hinterkopf, dass sich mit Trinkwasser Geld verdienen lässt. Die Weltbank schätzt den globalen Wassermarkt auf ein Volumen von 800 Milliarden Euro jährlich. Kein Wunder, dass das US-Magazin Fortune Wasser das Öl des 21. Jahrhunderts nannte. Momentan konkurrieren um diesen Zukunftsmarkt vor allem drei Großunternehmen: die französische Suez-Gruppe, daneben Veolia Water Systems, die Wassersparte des ebenfalls französischen Vivendi-Konzerns, und die deutsche RWE, die seit dem Kauf des britischen Versorgers Thames Water auf Platz drei liegt. Vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern, in denen klamme Regierungen dazu neigen, ihre Versorgungseinrichtungen zu verkaufen, um an Kapital zu gelangen, kämpfen die Anbieter mit harten Bandagen. Der Wasserversorger DZH setzt auf moderne Produktionsstätten und Schafe – sie halten das Dünengras kurz. Wasser – Konsumgut oder Menschenrecht? Auf der anderen Seite der Diskussion um die Trinkwasser-Privatisierung stehen zahllose Bürgerinitiativen, Globalisierungskritiker und DritteWelt-Aktionsgruppen. Aus ihrer Sicht ist Wasser mehr als nur ein Konsumgut. Letztlich sogar ein Menschenrecht. Darum dürfe es niemand als An der Aktiengesellschaft DZH, die Piet Jonker als Managing Director leitet, dürfen nur staatliche Unternehmen und Körperschaften Anteile halten. Eigentum betrachten und Kapital daraus schlagen. Die Privatisierungsgegner befürchten, dass profitorientierte Unternehmen vor allem auf kurzfristige Renditen schielen – und darüber nachhaltigen Ressourcenschutz, sozialverträgliche Preise sowie eine bestmögliche Qualität des Grundnahrungsmittels vergessen. Deshalb sollen sich ihrer Meinung nach staatliche Einrichtungen als Teil der Daseinsvorsorge darum kümmern, dass jeder Bürger immer gutes Trinkwasser zu akzeptablen Preisen erhält. Prinzipiell lässt sich die Trinkwasserversorgung durchaus privatisieren, da sind sich die Experten einig. Allerdings muss dieser Prozess auch professionell gemanagt werden – vom Unternehmer sowieso, vor allem aber von der Regierung. „Die Frage, ob privatisierte oder öffentliche Wasserunternehmen kosteneffizienter oder umweltfreundlicher sind, konnte in der Fachwelt bislang nicht abschließend geklärt werden“, meint Professor Georg Meran, Vizepräsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin und Experte für Wasserwirtschaft. Es gebe zwar empirische Untersuchungen – aber mit den unterschiedlichsten Ergebnissen. „Man weiß einfach nicht, ob solche Dinge nach einer Privatisierung besser funktionieren als vorher“, sagt Meran. Die Entscheidung dafür oder dagegen hänge deshalb in der Regel von der Kassenlage eines Staats ab – und von politisch-ideologischen Erwägungen. Zu viel Wasser und zu viel Dünger Die niederländische Regierung hat das Thema Trinkwasser ganz oben auf ihre Prioritätenliste gesetzt. Im Gegensatz zu den heiß umkämpften Schwellen- und Entwicklungsländern haben die Niederlande allerdings eher zu viel Wasser als zu wenig. So münden auf ihrem Territorium die großen Flüsse Rhein, Maas und Schelde ins Meer. Und fast ein Drittel des 16 Millionen Einwohner-Landes – das am dichtesten besiedelte Europas – liegt unter dem Meeresspiegel. Ohne zahlreiche Dämme und Deiche, Kanäle und Pumpstationen würden vor allem die Ballungsgebiete im Norden und Westen mit den Großstädten Amsterdam, Den Haag und Rotterdam überflutet. „Unser Kampf“, sagt der ehemalige niederländische Umweltminister Jan Pronk, „war eigentlich immer eher gegen das Wasser als dafür.“ Doch auch die Niederlande haben ein Wasserproblem: Die Niederländer nutzen knapp 30 Prozent ihrer Landesfläche für die Landwirtschaft, vor allem für den Anbau von Blumen und Zwiebeln. Das verunreinigt den Wasserkreislauf mit Dünger, Pestiziden und anderen Chemikalien. Zudem leiden die Wasservorräte im Boden und in Gewässern unter der niedrigen geografischen Lage des Landes: Große Mengen davon sind durch eindringendes Meerwasser versalzen. Die niederländischen Produzenten müssen das Grund-, Fluss- oder Seewasser des Landes darum besonders sorgfältig bearbeiten, um es trinkbar zu machen. Bis 1920 übernahmen das in dem damals neu entstandenen Sektor noch junge private Unternehmen. Sie engagierten sich jedoch vor allem in den dicht besiedelten Regionen des Landes, wo sich die hohen Investitionen in Wasserleitungen und -kanäle auch rechneten. Also übernahm der Staat die Kontrolle über den Sektor und sorgte bis 1970 für eine komplette Versorgung bis hin zu den abgelegensten Bauernhöfen. Heute sind lokale Wasserbehörden für die Abwasser-Aufbereitung zuständig, die Abwasserkanäle werden von den Gemeinden betrieben. Die Trinkwasser-Versorgung liegt momentan in den Händen von 15 Anbietern, die pro Jahr rund eine Milliarde Kubikmeter produzieren und damit knapp 1,5 Milliarden Euro umsetzen. Die Branche steckt mitten in einem Konzentrationsprozess: 1938 gab es noch 229 Anbieter, in den Siebzigern immerhin noch 109. In fünf Jahren, besagen Prognosen, werden es nur noch sechs oder vielleicht sogar nur noch drei Anbieter sein. Auch die Beschäftigtenzahl sinkt. Zurzeit arbeiten gut 5400 Menschen in der niederländischen Trinkwasserindustrie – 1993 waren es noch 8000, also fast anderthalb mal so viele. Wie der Den Haager Wasserversorger DZH sind auch fast alle der anderen 14 aktiven Unternehmen als Aktiengesellschaften organisiert. Ihre Anteilsscheine gehören – je nach Unternehmen in unterschiedlicher Zusammensetzung – den Arjen Frentz, Chef der Abteilung Wasser & Wirtschaft beim Branchenverband VEWIN (oben). Ger Ardon hat als Leiter der Wasserabteilung des Umeltministeriums VROM an dem Antiprivatisierungsgesetz gearbeitet. Privatisierung I: Wasser-Industrie Text: Florian Sievers Foto: McKinsey & Company jeweiligen Kommunen und den zwölf Provinzen des Landes. Der öffentliche Sektor arbeitet also mit einer Mischkonstruktion aus privatwirtschaftlicher Rechtsform und öffentlichen Eigentümern. „Dank dieser Konstruktion können die Unternehmen autonom agieren und wichtige Entscheidungen ohne eine vorige politische Debatte treffen“, erklärt Ger Ardon das Konstrukt. „Wir haben sie so vor der direkten Diskussion in der Politik geschützt.“ Ardon war bis vor 18 Jahren bei der Vereinigung der Niederländischen Wasserwerke (Vereniging van Waterbedrijven in Nederland – VEWIN) für Bedarfsplanungen zuständig. Heute sitzt er als Leiter der Wasserabteilung des niederländischen Umweltministeriums VROM in dessen Neubau in der Den Haager Innenstadt. Dort hat Ardon mit seiner Abteilung auch seit Mitte der neunziger Jahre an dem neuen Antiprivatisierungs-Gesetz gearbeitet. McK Wissen 13 Seiten: 28.29 Anthony Muller, Experte für Wasserwirtschaft bei McKinsey, hält die Debatte für zu emotional – und liefert deshalb sachliche Argumente. Nur der Staat darf Anteile halten Damals war auch in den Niederlanden eine Diskussion um die Privatisierung von staatlichen Versorgungsunternehmen entbrannt. Dabei hatte sich die Regierung jedoch vor allem auf die Anbieter von Gas und Elektrizität konzentriert und den Wassersektor explizit ausgenommen. Trinkwasser, so die Überlegung damals wie heute, ist zu wichtig, um es den Kräften des freien Marktes zu überlassen. 2000 stellte der damalige sozialdemokratische Umweltminister Jan Pronk erstmals ein Positionspapier vor, in dem es darum ging, dass Besitzanteile der öffentlichen Wasserversorger nicht in privater Hand landen dürften. Ein Jahr später kursierte bereits der erste Gesetzentwurf. Danach verschwand das Vorhaben jedoch vorerst in den Aktenschränken der Bürokratie, weil die Regierung von Premierminister Wim Kok 2002 zurücktreten musste und durch die konservative Regierung, angeführt von Jan Peter Balkenende, ersetzt wurde. Die neue Spitze behielt den Kurs jedoch bei, und Ger Ardon konnte miterleben, wie das Parlament das von ihm ausgearbeitete Gesetz rund ein Jahr später billigte. Ardons Gesetzes-Konstruktion zufolge dürfen die Anteilseigner der Trinkwasser-Versorger ihre Aktien nur an Körperschaften oder Unternehmen verkaufen, die ebenfalls zu hundert Prozent dem niederländischen Staat gehören. Zugleich garantiert der Staat den Versorgern, dass sie die Einzigen sind, die in ihrer jeweiligen Region Trinkwasser an Haushalte Pro und contra Wasser-Privatisierung Darf der Staat die Versorgung seiner Bürger mit Trinkwasser privaten Unternehmen überlassen? Die Befürworter argumentieren: Nur über den freien Markt kann der Sektor Kapital und Effizienz erreichen, die nötig sind, um alle Menschen mit frischem Wasser zu versorgen – vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern. Die Gegner postulieren, dass Wasser mehr ist als eine Ware – die alternativlose Lebensgrundlage für jeden Menschen. Ihre Befürchtung: Profitorientierte Unternehmen vernachlässigen nachhaltigen Ressourcenschutz, sozialverträgliche Preise sowie eine bestmögliche Qualität des Grundnahrungsmittels. und Kleinunternehmen verkaufen dürfen. Mit ihrer Regelung will die niederländische Regierung vor allem die durchsetzungsschwachen Kleinabnehmer vor steigenden Preisen und schlechter Wasserqualität schützen. Der Markt für Großkunden bleibt dagegen offen für private Wettbewerber. „Wir glauben, dass Wasserversorgung mehr beinhaltet als nur das Versorgen mit Wasser“, begründet Ardon das Gesetz. „Denn dazu gehört auch ein Verantwortungsgefühl gegenüber der Gesellschaft und ein schonender Umgang mit den natürlichen Ressourcen.“ So fürchte die Regierung, eine Privatisierung würde auf Kosten der sehr guten Qualität ihres Trinkwassers gehen. Ardon führt dabei das Beispiel England und Wales an. Dort hat Margaret Thatcher 1989 das gesamte Wassersystem an Privatinvestoren verkauft. In der Folge habe sich, so Ardon, die Wasserqualität verschlechtert, und die Wasserpreise seien gestiegen. Ardons Chef, UmweltStaatssekretär Pieter van Geel, ergänzt: „Auch wenn Effizienz wichtig ist – wir dürfen und wollen bei der Qualität und der Verfügbarkeit von Wasser keine Kompromisse machen zu Gunsten von Kostenersparnis.“ Die EU-Kommission ist für Wasser-Privatisierung Ardon und van Geel gehen davon aus, dass ihr Gesetz keine Probleme mit dem geltenden EU-Recht bekommt. Die Europäische Kommission hätte zwar am liebsten eine weitgehende Privatisierung der Wasserindustrie in allen Mitgliedsländern. In einer Rahmenrichtlinie verlangt sie aber zunächst nur, dass Trinkwasser-Preise bis spätestens 2010 die Kosten für Produktion, Transport und Umweltschäden wiedergeben und dass die Anbieter kostendeckend arbeiten – also ohne jede Subvention. Die niederländische Trinkwasser-Industrie kommt schon heute ohne Staatszuschüsse aus. Kein Wunder: Ihre Preise gehören, zusammen mit denen in Deutschland, Dänemark und Großbritannien, zu den höchsten in Europa. Dafür liefern die Niederländer aber auch beste Qualität – das Trinkwasser in Süditalien oder in Teilen Spaniens ist zwar preiswerter, allerdings oft nicht wirklich trinkbar. Und dennoch: Ist die Sorge nicht berechtigt, dass die Trinkwasser-Unternehmen auf Dauer nicht nur kostendeckend, sondern profitabel arbeiten wollen? Dass sie durch Preissteigerungen, billigere Produktionsmethoden und um den Preis der besten Qualität sogar Gewinne einzufahren versuchen? Das könnte ihnen keine Konkurrenz vereiteln, schließlich garantiert ihnen der niederländische Staat regionale Monopole. Aber auch hier hat Wer hat Recht? Beide, meint McKinsey-Experte Anthony Muller. Es stimme schon, sagt er, Wasser sei ein besonderes Gut. Und ja, es gebe genügend Beispiele für eine misslungene Privatisierung. Allerdings spräche das nicht gegen die Idee, sondern für eine dringend notwendige Professionalisierung. Vor allem auf Seiten der Regierung. Ein Monopol aus der Hand zu geben, bedeute eben nicht, Verantwortung und Kontrolle abzugeben. Die Entscheidung erfordere vielmehr den Aufbau neuer Skills innerhalb der Behörden, um den sensiblen Prozess in der Praxis zu steuern. Eine erfolgreiche Privatisierung erfordere geeignete rechtliche Regulierungsund Rahmenbedingungen, saubere Verträge und ein professionelles Management. „Verträge mit privaten Anbietern sind immer nur so gut, wie sie von Seiten des Regulierers gemanagt werden“, meint Muller. Prinzipiell sei die Trinkwasser-Versorgung für Privatisierungen durchaus geeignet, so der Experte. Ob Verkäufer, Käufer und Kunden hinterher damit zufrieden sind, liege an der Gestaltung – und an der Konsequenz, mit der ein Staat sein Ziel verfolge. Die Entscheidung pro oder contra hänge letztlich von der Kassenlage des jeweiligen Staates ab – und davon, welchen Sektoren er zur Not mit Subventionen unter die Arme greife. In jedem Fall aber gilt: „Wer mit einer Privatisierung einfach nur klamme Kassen auffüllen will, wird scheitern.“ Privatisierung I: Wasser-Industrie Text / Foto: Florian Sievers die Regierung vorgesorgt. Damit genau das nicht passiert, müssen die Versorger künftig regelmäßig in Benchmarks gegeneinander antreten. Dabei vergleichen sie Kosten und Effizienz, Service und Kundenzufriedenheit, Umweltverträglichkeit und Wasserqualität miteinander. Die Ergebnisse sollen in einer Rangliste veröffentlicht werden. Solche Vergleiche erstellen die Unternehmen unter Aufsicht des Wassererzeuger-Verbands VEWIN zwar schon seit 1997. Bislang ist die Teilnahme an den Tests jedoch freiwillig. Ende des Jahres soll sich das ändern. Das Benchmarking habe zwei Ziele, erklärt Arjen Frentz, Chef der Abteilung Wasser & Wirtschaft bei VEWIN. Es solle die Öffentlichkeit über die Industrie informieren. Zudem sollten Anteilseigner und Kunden der Firmen erfahren, wie ihre Unternehmen im Vergleich dastehen. Wettbewerb ist der beste Garant für Qualität, glauben die Planer. Und wenn das nicht funktioniere, heißt es im Umweltministerium, könnte man auch StandardWerte festsetzen, die dann eben alle Unternehmen erreichen müssten. McK Wissen 13 Seiten: 30.31 Die VEWIN – Die Vereinigung der Niederländischen Wasserwerke zeigt Flagge gegen die Wasser-Privatisierung. Warum etwas ändern, wenn es keine Probleme gibt? Das ist bislang nur eine Theorie – die staatlichen Trinkwasserversorger in den Niederlanden arbeiten vergleichsweise gut. Ihre Leitungen und Kanäle sind derart gut in Schuss, dass die Unternehmen durch Lecks und Löcher weniger als sechs Prozent ihres Wassers verlieren – in anderen europäischen Ländern sind es oft zwölf Prozent und mehr. Zudem, so eine VEWINStudie, sind die Anbieter in den vergangenen vier Jahren sogar um neun Prozent effizienter geworden. „In vielen Ländern funktioniert die Trinkwasserversorgung unzuverlässig, mit schlechtem Service und nur geringen Investitionen“, sagt Pieter Huisman vom Lehrstuhl für Wassermanagement an der Technischen Universität Delft. „Um das zu verbessern, wird oft Liberalisierung und Privatisierung propagiert.“ Die niederländische Trinkwasser-Industrie dagegen funktioniere bestens. „Und wenn es kein Problem gibt“, fragt Arjen Frentz vom Branchenverband VEWIN und lächelt sanft, „warum sollte man dann etwas ändern?“ Produktionsstätten des Wasserversorgers DHZ – das Unternehmen arbeitet im Auftrag von 27 Gemeinden, darunter der niederländische Regierungssitz Den Haag. Privatisierung II: Strafvollzug Text / Foto: Kerstin Friemel McK Wissen 13 Seiten: 32.33 5 Gefängnis mit beschränkter Haftung Gedränge in den Zellen, kaputte Alarmknöpfe, Ausbruch-Skandale – angesichts leerer öffentlicher Kassen steckt auch der Strafvollzug in der Krise. Warum nicht privatisieren?, fragen sich deshalb immer mehr deutsche Landesregierungen. Aber lassen sich Haftanstalten tatsächlich ganz oder in Teilen privat betreiben? Ein Besuch beim britischen Gefängnisbetreiber Serco. Privatisierung II: Strafvollzug Text / Foto: Kerstin Friemel „Viel besser“ gefällt es Paul Pitts im privaten Knast. Zweimal saß er in einem staatlichen Gefängnis, bevor er nach Doncaster kam (Foto Seite 33). Gefängnisdirektor Rod MacFarquhar (unten links) setzt auf Effizienz. Mit Kameras überwachte, ausgeleuchtete Gänge verbinden die Gefängnisgebäude – und helfen, Personal zu sparen. McK Wissen 13 Seiten: 34.35 Wer Direktor Rod MacFarquhar besucht, bekommt binnen weniger Minuten einen Eindruck vom Erfolgsrezept seines Arbeitgebers. Am Eingang des Gefängnisses im nordenglischen Doncaster fordern wohl gelaunte Damen („Hello darling, how are you?“) die Besucher auf, einen Fingerabdruck zu hinterlassen, kontrollieren den Personalausweis und machen vor einer blauen Wand ein Foto für den Tages-Passierschein. Kaugummis müssen in den Mülleimer, Mobiltelefone bleiben in der Rezeption. An der Wand hängt ein Foto vom Gefängnismitarbeiter des Monats, im Wartezimmer flimmert der „Tagesgedanke des Direktors“ über den Bildschirm. Heute denkt er: „Der Zeitpunkt ist immer richtig, um etwas Richtiges zu tun.“ In seinem Büro spricht Rod MacFarquhar über Zahlen: 260 Wärter arbeiten im Schichtdienst, das Gefängnis hat 770 Zellen und 1050 Häftlinge. „Sie sind in drei Gebäuden untergebracht“, sagt er und zeigt auf einen Grundriss des Gefängnisgeländes: Lange Gänge verbinden die drei Teile miteinander, führen weiter zur Krankenstation und in die Großküche. Ein geschlossenes System. „Das macht die Begleitung der Gefangenen in den Gängen überflüssig“, sagt der Direktor und lädt den Gast zum Rundgang ein. Das Labyrinth beginnt hinter zwei dicht aufeinander folgenden schweren Metalltüren: Die weiß gestrichenen schmalen Verbindungsgänge sind kühl, die Wände unverputzt, an der Decke leuchten grelle Neonröhren. Ab und zu eilen Gefängnismitarbeiter durch die kargen Flure, in dunkler Hose, weißem Hemd und Krawatte. Auch Häftlinge schlendern vorbei, allein oder in kleinen Gruppen. Sie werden von 200 Kameras überwacht. „Das spart Personal und ist viel effizienter,“ sagt MacFarquhar. Das Wort Effizienz benutzt er gern und oft. Je effizienter er sein Gefängnis leitet, desto mehr verdient er. Bis zu zehn Prozent kann sein variabler Bonus am Jahresgehalt ausmachen. Das ist gut für ihn und für seinen Arbeitgeber, die Premier Custodial Group Ltd. Rod MacFarquhar hat mehr als 30 Jahre in staatlichen Gefängnissen gearbeitet, bevor er vor einigen Jahren zu Premier wechselte. Heute ist er froh, den „restriktiven staatlichen Dienst“ hinter sich gelassen zu haben. Er verwaltet ein kleineres Jahresgesamtbudget und erreicht doch mehr, wie er sagt, „weil ich entscheiden kann, wofür ich das Geld ausgebe“. Flexibler sei er auch bei der Bezahlung und dem Einsatz des Personals im Schichtdienst. Premier ist ein Tochterunternehmen der britischen Serco Group. Der an der Börse gelistete Konzern macht 90 Prozent seines Geschäftes mit Aufgaben, die er vom Staat übernommen hat. Neben Gefängnissen betreibt Serco auch Krankenhäuser, Schulen, Eisenbahnlinien und Einrichtungen der Armee. Das ist in Großbritannien seit Jahren gängige Praxis. Und ein lukratives Geschäft: Im vergangenen Jahr machte Serco mit seinen rund 40 000 Mitarbeitern 1,6 Milliarden Pfund Umsatz (gut 2,35 Milliarden Euro) und erzielte einen Vorsteuergewinn von 82,67 Millionen Euro, 8,6 Prozent mehr als im Vorjahr. Auch in den USA mischt die Privatwirtschaft seit langem bei der Erfüllung traditioneller öffentlicher Aufgaben mit: Firmen wie Edison, Victory Schools und Chancellor Beacon Academies haben Management und Unterricht an vielen staatlichen Schulen übernommen. Sie versprechen – bislang allerdings erfolglos – Gewinne zu machen und gleichzeitig zu schaffen, was mehr als 15 Jahre öffentlicher Schulreform in den Vereinigten Staaten nicht erreicht haben: amerikanische Kinder besser auszubilden. Gefängniskonzerne wie Geo Group, Wackenhut Corporation oder Cornell Companies sind bereits so etabliert, dass in einigen US-Bundesstaaten jedes zweite Gefängnis privat betrieben wird. Kanada und Australien vertrauen ebenfalls auf die billigeren Knastbetreiber. Der Staat zahlt den Unternehmen einen festen Betrag pro Häftling und Tag. Bleiben die Privaten mit ihren Kosten darunter, können sie die Differenz als Gewinn verbuchen. Dabei helfen ihnen eine schlanke Verwaltung und Größenvorteile. Durch die zentrale Leitung mehrerer Gefängnisse lassen sich die Verwaltungskosten reduzieren und bessere Preise beim Einkauf von Materialien aushandeln. Wo liegen die Grenzen der Privatisierung? Paul Pitts in seiner Zelle (oben). Er darf als „Buddy Volunteer“ seinen Mithäftlingen Tipps für die Zeit nach der Haft geben. Draht nach draußen: öffentliche Telefone Nach Meinung unabhängiger Experten wie etwa des Briten Stephen Nathan, Autor des Newsletters „Prison Privatisation Report International“, sparen die Privaten jedoch auch bei der Betreuung der Inhaftierten. „Unternehmen setzten auf mehr Technik und weniger Personal, das meist schlecht bezahlt und schlecht ausgebildet ist“, so Nathan. Gegner halten den menschlichen Kontakt zwischen qualifizierten Gefängnismitarbeitern und Häftlingen für unersetzbar. Seit Jahren wird deshalb eine hitzige Debatte geführt, in der Nathan zu dem Schluss gekommen ist: „Gefängnisse sind nicht mit der Müllabfuhr zu vergleichen. Nicht alles lässt sich privatisieren.“ Die Fragen stellen sich tatsächlich: Was kann der Staat abgeben, was nicht? Wo sollte die Grenze zwischen Effizienz und Profitmaximierung gezogen werden? Wo schadet das Streben der Unternehmen nach Eigennutz dem Gemeinwohl? Oder sind derartige Bedenken unbegründet, weil der Staat den Firmen die übertragenen Aufgaben auch wieder entziehen kann und damit Leistungsdruck auf den Privaten lastet? Auch hier zu Lande wird heftig diskutiert. Denn immer mehr deutsche Politiker liebäugeln mit der Option, Projekte in Partnerschaft mit der Privatindustrie zu schmieden (siehe Seite 39). Angesichts leerer Länderkassen schwindet die langjährige Skepsis – und einstige Tabus wie etwa der private Betrieb von Gefängnissen werden Realität. Ab Anfang 2006 wird Serco das erste teilprivatisierte Gefängnis Deutschlands mit betreiben, das derzeit im hessischen Hünfeld gebaut wird. Im vergangenen November unterschrieb der britische Konzern einen Fünf-Jahres-Vertrag mit dem Land Hessen. Eine Revolution – auch wenn ihre praktische Umsetzung noch lange nicht an den ausländischen Standard reicht. Zwar hatte Hessens Justizminister Christean Wagner vor, das Gefängnis im hessischen Hünfeld mit 500 Haftplätzen komplett privat betreiben zu lassen. In der nach Polizeirecht geführten Abschiebehaft ist der Einsatz von externen Sicherheitskräften auch bereits Usus. Eine Rechtsprüfung ergab jedoch, dass der deutsche Staat, anders als in Großbritannien, die Leitung einer Justizvollzugsanstalt nicht abgeben darf. Hoheitliche Aufgaben – und dazu zählen insbesondere jene, die mit Zwang gegenüber dem Bürger verbunden sind – dürfen grundsätzlich nur Beamte übernehmen. Also einigte man sich auf einen Kompromiss. Serco-Mitarbeiter dürfen unter anderem das Essen kochen, den Garten pflegen, die Häftlinge beim Drogenentzug oder bei Eheproblemen beraten, sich um ihre Fort- und Weiterbildung kümmern und ihnen Jobs im Gefängnis besorgen. Für diese Aufgaben wird Serco rund 40 Prozent des Personals in Hünfeld stellen. Zu deutlich niedrigeren Preisen als der Staat für Beamten zu zahlen hätte: Hessen rechnet mit Einsparungen von 660 000 Euro pro Jahr, das entspricht rund 15 Prozent. Privatisierung II: Strafvollzug Text: Kerstin Friemel Foto: Serco, Hess. Ministerium der Jusitz Während Politiker frohlocken, steigt die Skepsis derer, die bereits mit der Teilprivatisierung von Gefängnissen die Linie zwischen Aufgaben des Staates und den Tätigkeitsfeldern der Privatwirtschaft überschritten sehen. Zwar soll der Sicherheitsbereich in der neuen Justizvollzugsanstalt ( JVA) nahezu vollständig in staatlicher Hand bleiben – Serco-Mitarbeiter werden die Beamten allerdings bei der Verwaltung und bei Routine-Wachdiensten wie der Monitorüberwachung oder der Begleitung der Gefangenen innerhalb der Anstalt unterstützen. Das ist Grund genug für Misstrauen: „Wer mit Gefangenen zu tun hat, wenig verdient und keinen sicheren Arbeitsplatz hat, ist wesentlich anfälliger für Einflussnahme von innerhalb und außerhalb der Anstalt“, kritisiert etwa Andreas Jürgens, rechtspolitischer Sprecher der hessischen Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Überfüllte Gefängnisse und leere Kassen: Ausweg Privatisierung Torsten Kunze, der das Projekt Hünfeld im hessischen Justizministerium von Beginn an begleitet hat, kennt die Vorbehalte. Aber er kennt auch die Realität in staatlichen Gefängnissen. Als sich die hessische Landesregierung 1999 entschloss, mit Privaten zusammenzuarbeiten, fehlten im Land etwa 1200 Haftplätze. „Viele Zellen waren mehrfach belegt“, sagt Kunze und fügt nach kurzer Pause hinzu: „Im Hinblick auf die Sicherheit der Anstalten ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen.“ Der Jurist hat gelernt, sich vorsichtig auszudrücken. In ruhigem Redefluss arbeitet er sich durch die prekäre Finanzlage des Landes Ende der neunziger Jahre und die Vorteile einer Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft beim Bau und Betrieb der Justizvollzugsanstalt. Weil nicht das Land, sondern ein privater Generalunternehmer die Gefängnismauern hochzieht, liegen die Kosten in Hünfeld bei 100 000 Euro pro Haftplatz. Bei der unter staatlicher Ägide gebauten JVA Weiterstadt, die das Land Hessen 1997 in Betrieb nahm, kostete ein Haftplatz noch 250 000 Euro. Dauerten Planung und Bau in Weiterstadt über zehn Jahre, werden es in Hünfeld voraussichtlich vier sein. „Ordentliche Unterschiede“, findet Kunze. Fest steht, dass der rein staatliche Betrieb von Gefängnissen kein Garant für ideale Verhältnisse ist. Die meisten deutschen Bundesländer beklagen überfüllte Gefängnisse und schlechte Haftbedingungen. Nach fünf Ausbrüchen aus der Hamburger Haftanstalt Billwerder innerhalb von fünf Monaten sprach selbst Justizsenator Roger Kusch vom „Schweizer- McK Wissen 13 Seiten: 36.37 Käse-Knast“. In Saarbrücken legte jüngst ein Häftling vor Gericht erfolgreich Beschwerde gegen menschenunwürdige Inhaftierung ein – wegen Überfüllung hausten er und ein Mitgefangener auf acht Quadratmetern. Auch andere Bundesländer beklagen die Umstände. In Bayern gab es im März 2005 für 13 108 Gefangene 11 756 Haftplätze. Derartige Zustände sind nicht hinnehmbar, diesbezüglich herrscht Konsens. Aber welcher Weg ist richtig, um sie zu beseitigen? Mit der Reform ihrer eigenen Systeme tun sich die Länder schwer. Und so wagt nicht nur Hessen den Schritt in Richtung Privatisierung. Sachsen-Anhalt und Baden- Noch im Bau – die Justizvollzugsanstalt in Hünfeld soll Mitte November mit 50 Gefangenen den Probebetrieb aufnehmen. Die Vollbelegung ist für Ende Januar 2006 geplant. Württemberg planen bereits, beim Bau neuer Justizvollzugsanstalten mit Privaten zusammenzuarbeiten. Nordrhein-Westfalen will noch in diesem Jahr den Bau und Betrieb eines Gefängnisses in Ratingen ausschreiben. Und alle beobachten genau, was in Hessen passiert. Dort wird Justizminister Wagner nicht müde zu versichern: „Der Staat behält in Hünfeld das Kommando.“ Tatsächlich gibt das Land dem privaten Betreiber einen detaillierten Rahmen vor. Anzahl und Nährwertangebot der Mahlzeiten sind ebenso definiert wie die Häufigkeit der Arzt-Sprechstunden oder die nötige Qualifikation der Serco-Mitarbeiter. Dass sich trotzdem einiges erst in der Praxis einspielen wird, bestreitet auch der hessische Oberstaatsanwalt Torsten Kunze nicht. Vor allem im Sicherheitsbereich. Befürchten die Kritiker nicht zu Recht, dass es im Gefängnisalltag zu Problemen zwischen öffentlich und privat kommen kann? „Nein“, meint Kunze. Routine-Wachdienste wie die Monitorüberwachung oder die Begleitung der Gefangenen innerhalb der Anstalt seien Bereiche, in denen Gefangene selten aggressiv sind. Was aber, wenn es doch zu Schwierigkeiten kommt? Sind die Serco-Mitarbeiter darauf vorbereitet? Ja, sagt Kunze, sie bekommen Sicherheitsschulungen und „sie können sich selbst verteidigen“. Körperliche Gewalt aber dürften selbst in Krisensituationen nur Beamte anwenden. Für Wolfgang Schröder, den Bundesvorsitzenden des Bundes der Strafvollzugsbediensteten (BSBD) ein Risiko: „In gefährlichen Situationen ist der Vollzugsbeamte allein auf weiter Flur.“ Zwar dürfe ein privat Angestellter Nothilfe leisten, doch was genau darunter falle, sei unklar. Wer trotzdem eingreife, so glaubt Schröder, „ist durch einen Crash-Kurs von wenigen Wochen nicht ausreichend auf solche Situationen vorbereitet.“ Die Ausbildung eines Justizvollzugsbeamten dauert immerhin zwei Jahre. Das ist lange, verglichen mit der Ausbildung von Wärtern in privat betriebenen Gefängnissen im Ausland. Und es erklärt die Skepsis derer, die sich eine vollständige Privatisierung nicht vorstellen mögen. Beim Privatbetreiber Premier im britischen Doncaster lernen die Wärter ihren Job beispielsweise in acht Wochen, wie Gefängnisdirektor Rod MacFarquhar ungerührt erzählt: sechs Wochen Theorie, eine Woche Verhaltenstraining für Krawallsituationen, eine Woche Begleitung eines dienstälteren Kollegen. „Das reicht“, findet MacFarquhar. Und das, obwohl fast keiner seiner Angestellten zuvor in einem Gefängnis gearbeitet hat. Neu ist für die meisten auch das harte Personal-Regiment des Anstaltsleiters. Bezweifelt MacFarquhar beispielsweise, dass krank gemeldete Mit- arbeiter arbeitsunfähig sind, schickt er Kollegen zu Kontrollbesuchen. Wer nicht zu Hause angetroffen wird und keinen triftigen Grund für seine Abwesenheit hat, riskiert, dass ihm mit sofortiger Wirkung das Krankengeld gestrichen wird. Aus Sicht des Direktors zahlt sich das Misstrauen aus: „Unser Krankenstand liegt weit unter dem in staatlichen Gefängnissen“, sagt MacFarquhar sichtlich zufrieden. Weniger Gehalt, mehr Arbeit, viel Lob Zu diesem Ergebnis kam auch das Independent Monitoring Board (IMB), das kürzlich die nationalen Zahlen veröffentlichte. Die unabhängige Regulierungsbehörde dokumentierte auch, dass britische Wärter in privaten Gefängnissen im Durchschnitt weniger verdienen als Beamte. Je nach Aufgabe und Dienstgrad liegt die Gehaltsdifferenz bei 18 bis 48 Prozent. Erst im oberen Management dreht sich das Verhältnis um. Zudem müssen private Angestellte länger arbeiten und haben weniger Urlaub. In dem von MacFarquhar gemanagten Gefängnis in Doncaster liegt das Einstiegsgehalt eines Wärters bei 15 250 Pfund, das entspricht rund 22 270 Euro im Jahr – gut 4000 Euro weniger als im staatlichen Dienst. Das Durchschnittsalter der Belegschaft liegt bei Ende 20, die MitarbeiterFluktuation ist mit elf Prozent im Vergleich zum öffentlichen Sektor hoch. Was also kann der Anstaltsdirektor seinen Mitarbeitern bieten, was sie nicht in einem staatlichen Gefängnis finden? „Lob und gutes Arbeitsklima.“ Das sind relativ schwache Beweggründe, wie es scheint. Neil Goodwin, leitender Wärter in Doncaster, ist klein und schmächtig und arbeitet schon seit ein paar Jahren für Premier. Ganz Im November 2004 unterschreiben Hessens Justizminister Christean Wagner (oben rechts) und Serco-Geschäftsführer Klaus Tiemann den Fünf-Jahres-Vertrag. Oberstaatsanwalt Torsten Kunze hat das Projekt Hünfeld von Anfang an begleitet. Privatisierung II: Strafvollzug Text / Foto: Kerstin Friemel gern, wie er sagt. Doch in der Region bestünde auch nicht viel Auswahl. Früher habe es etliche Jobs im Bergbau gegeben, doch das sei vorbei. „Heute muss man froh sein, überhaupt etwas zu haben“, sagt Goodwin, um das Thema abzuschließen, während er die Tür zum Aufenthaltsraum der Gefangenen aufschließt. In der Mitte des großen Raums steht ein Billardtisch. Gelangweilt fläzen sich einige Männer auf weißen Plastikstühlen. Aus dem Gemeinschaftsbad hört man lautes Gegröle. Einige Gefangene warten, dass eines der drei Münztelefone frei wird. Die meisten tragen Trainingshosen und MuskelShirts. Paul Pitts, einer der Häftlinge, wird übermorgen entlassen. „Mit meiner Freundin essen gehen“, sagt er auf die Frage, was er als Erstes vorhat. Dreimal habe er schon eingesessen. „Wegen Autodiebstahl und so.“ Zweimal war der 28-Jährige in einem staatlichen Gefängnis, bevor er nach Doncaster kam. Aber hier gefällt es ihm zweifellos „viel besser“. Im staatlichen Gefängnis habe er die meiste Zeit in seiner winzigen Zelle verbracht, im Privatknast seien die Gefangenen mindestens elf Stunden am Tag draußen. Und wer sich gut verhalte, bekäme mit Glück einen Job, wie er als „Buddy Volunteer“. Ein paar Stunden am Tag gibt er seinen Mitgefangenen Tipps für die Zeit nach der Haft. Eine Ausnahme: Anspruchsvollere Jobs sind auch in privaten Gefängnissen Mangelware. In Doncaster putzen Häftlinge Aufenthaltsräume oder helfen in der Küche. Im größten Arbeitsraum sitzt eine Hand voll Männer vor Computern. Einige studieren Lernprogramme. In einer Ecke hocken sieben Gefangene um einen niedrigen Tisch und verpacken schweigend Teebeutel in Plastiktüten, gegenüber hantieren zwei an einer Druckmaschine. In einer separaten kleinen Werkstatt schrauben fünf junge Männer an Motoren. Die Warteliste für den Kurs ist lang. Für 366 der 1120 Gefangenen gibt es in Doncaster Jobs. Irgendeinen. Der Rest habe die Chance, sich fortzubilden, heißt es. De facto vertrödeln die meisten jedoch den Tag und hängen mit Knast-Freunden ab. „Hier lassen einen die Wächter auch mal in Ruhe“, sagt ein Gefangener und grinst. Für den unabhängigen Experten Stephen Nathan liegt genau darin die Gefahr: „Je mehr Zeit Häftlinge unbeschäftigt zusammen verbringen, desto geringer ist die Chance ihrer Wiedereingliederung und desto höher das Gewaltpotenzial im Gefängnis.“ Das Problem gibt es in jeder Haftanstalt. Aber in privaten Gefängnissen hält Nathan es für größer, weil es zu wenig Personal gebe, und das sei auch noch schlecht ausgebildet. McK Wissen 13 Seiten: 38.39 „Da haben die erfahrenen Gefangenen die unerfahrenen Wärter voll im Griff.“ Dass der Effizienzgedanke die Sicherheit in Gefängnissen beeinträchtigen kann, scheinen auch Probleme mit Gewalt und überforderten Mitarbeitern zu belegen, die es in den von Premier betriebenen Gefängnissen in der Vergangenheit immer wieder gab. Gewalt und gefälschte Dokumente In der schottischen Haftanstalt Kilmarnock etwa, die Premier betreibt, filmte kürzlich ein BBCReporter heimlich ungefilterten Knast-Alltag. Einzelne Wärter mussten sich gleichzeitig um bis zu 80 Gefangene kümmern. Es gab keine regelmäßigen Kontrollgänge, obwohl in Kilmarnock immer wieder Gefangene Selbstmord begangen hatten. Drogen- und Alkoholmissbrauch wurden toleriert. Wärter fälschten Papiere und dokumentierten Kontrollgänge, die niemals stattgefunden hatten. Und Kollegen, die von den Verstößen wussten, schwiegen. Schon aus Eigeninteresse: Premier kann von der staatlichen Aufsichtsbehörde mit Strafgeldern belegt werden, wenn es in den Haftanstalten zu Verstößen wie Körperverletzungen, Drogenschmuggel oder Sicherheitsmängeln kommt. Weil das Gehalt der Mitarbeiter an den wirtschaftlichen Erfolg des Gefängnisses gekoppelt ist, unterbleibt in der Regel die Meldung von Missständen. Klaus Tiemann, Geschäftsführer des deutschen Serco-Ablegers, muss eine derartige Berichterstattung in Deutschland kaum fürchten. „Manchmal bin ich froh, dass wir in Hünfeld nicht für den Sicherheitsbereich verantwortlich sind“, meint er. Großbritannien und Deutschland seien nicht Direktor Rod MacFarquhar beim Rundgang durch sein Gefängnis in Doncaster zu vergleichen, „noch nicht“. Der 54-Jährige sitzt in seinem schlichten Bonner Büro und vermeidet angesichts des Vertrags mit dem Land Hessen jeden Hauch eines auftrumpfenden Tonfalls. Ist ganz Diplomat. Bleibt bescheiden. Und signalisiert mit jeder Faser Verständnis. „Deutschland tut sich schwer, öffentliche Aufgaben an Private zu übertragen.“ Hünfelds Erfolg wäre ein erster Schritt – zu mehr Pragmatismus Tiemann setzt dennoch darauf, dass Hünfeld der Startschuss ist, auf den er so lange gewartet hat. Zwar nimmt die Firma mit ihren rund 1000 Mitarbeitern dem Staat schon seit einigen Jahren Arbeiten ab. In den Gebäuden hinter Tiemanns Büro bilden Serco-Mitarbeiter beispielsweise IT-Fachleute für die Bundeswehr aus, in Monheim am Rhein wird das Unternehmen bald Schulgebäude und Sporthallen betreiben. „Doch nirgendwo geht die Einbeziehung der Privaten so weit wie in Hünfeld“, sagt Tiemann. Mitte November soll der Probebetrieb mit 50 Gefangenen beginnen. So sieht es der Vertrag vor. Die Vollbelegung ist für Ende Januar geplant. Zwei Drittel der Mitarbeiter hat die Firma bereits ausgewählt. Und bezahlt sie mit „marktüblichen Gehältern, wie es der Vertrag mit Hessen vorschreibt“, sagt Tiemann. Lohn-Dumping gäbe es nicht. Kann Tiemann das Einstiegsgehalt beziffern? „Nein, das will ich nicht.“ Genauso wenig mag er sagen, wie viele Verträge er bereits mit Werkstattbetrieben unterschrieben hat. Serco ist vertraglich verpflichtet, 349 Gefangene sinnvoll zu beschäftigen, in Werkstattbetrieben oder in der Küche, in einer Ausbildung oder einer Therapie. Das entspricht rund 70 Prozent aller Häftlinge. Weit mehr als in staatlichen Gefängnissen üblich ist. Immerhin, so die Begründung des Landes Hessen, sei Serco eine Firma, die sich bei der Akquisition leichter tue. Tiemann sagt: „Auch wir stoßen hier in eine neue Welt vor. Ich würde gern mal von anderen Justizvollzugsanstalten wissen, wie die das machen.“ Kann er sich vorstellen, Gefängnisse in Zukunft komplett zu betreiben? „Als Staatsbürger“, sagt Tiemann, hätte er wahrscheinlich auch ein „Grundsatzproblem, wenn ein Privater für die Überwachung und die Sicherheit von Gefängnissen voll verantwortlich ist.“ Als Manager könne er sich die Übertragung hoheitlicher Aufgaben auf Private mittelfristig „sehr wohl vorstellen“. Doch jetzt solle man erst einmal ein paar Erfahrungen sammeln. Danach gelte es, gemeinsam pragmatisch auf die jetzt gültigen Rechtsgutachten zu schauen, sagt Tiemann. „Ich könnte mir vorstellen, dass man dann zu modifizierten Analysen kommt.“ Privatisierung und Public Private Partnership (PPP) Bund, Länder und Gemeinden knausern angesichts leerer Kassen seit Jahren mit Investitionen. Allein 2004 gingen diese Ausgaben bei den Kommunen, die zwei Drittel aller öffentlichen Investitionen bestreiten, um acht Prozent zurück. Stattdessen streben immer mehr Kommunen, aber auch Bund und Länder Allianzen mit der Privatwirtschaft an, so genannte Public Private Partnerships (PPP): Geplant, gebaut, betrieben und finanziert werden die Projekte von Privat, allerdings im Auftrag des Staates. Der Staat wird Kunde – und ist das finanzielle Risiko los. Das wirtschaftlichste Unternehmen bekommt den Zuschlag – und danach nur so viel Geld wie vereinbart. Kosten der Bau oder der Betrieb mehr als erwartet, muss nicht der Staat, sondern die Firma die Verluste wettmachen. Verzögert sich die Inbetriebnahme oder kann der Private die vereinbarten Standards nicht einhalten, muss er Strafe zahlen. Wie teuer ein Geschäft im Auftrag des Staates werden kann, erfährt seit September 2003 der Betreiber des privat gebauten Warnowtunnels in Rostock. Autofahrer, die einen kilometerlangen Umweg und mögliche Staus vermeiden wollen, müssen für die Fahrt zwischen zwei und 15 Euro bezahlen. Weil jedoch weniger Autofahrer den Tunnel nutzen, als in der Kalkulation unterstellt, ist er ein erhebliches Verlustgeschäft. Dennoch steuert die Bundesregierung PPP-Projekte an, um den Neu- und Ausbau von Autobahnen und Bundesstraßen voranzutreiben. Allein fünf AutobahnProjekte, die das Bundesverkehrsministerium als vorrangig einstuft, sollen den Unternehmen noch in diesem Jahr ein Auftragsvolumen von rund einer Milliarde Euro bescheren. Länder spekulieren auf die kostengünstigere Bereitstellung von Gefängnissen, Kommunen wollen mit Hilfe von Privaten vor allem Schulen, Rathäuser und andere Verwaltungsgebäude in Schuss bringen. Die Europäische Investitionsbank, die seit Jahren PPP-Projekte in Großbritannien, Portugal, Spanien, Griechenland und Dänemark mit Krediten unterstützt, rechnet mit Einsparungen von zehn bis 20 Prozent – wenn private Unternehmen die Leistungen über den ganzen „Lebenszyklus“ einer Investition hinweg übernehmen, also für die Dauer von 20, 25 oder 30 Jahren. Immobilien-Management McK Wissen 13 Seiten: 40.41 6 Auf Schatzsuche Rund drei Millionen Wohnungen in Deutschland gehören der öffentlichen Hand. Ein Schatz – besonders jetzt, wo die Konjunktur für Wohnimmobilien angesprungen ist. Leider nur theoretisch. In der Praxis gehen den öffentlichen Kassen durch Missmanagement pro Jahr bis zu drei Milliarden Euro verloren. Höchste Zeit für neue Konzepte. Seit der Mensch sesshaft ist, hat es eine besondere Bewandtnis mit seiner Behausung. Sie steht nicht nur für Schutz vor Witterung und Unwägbarkeiten, sondern auch für Identität, Wünsche, Status. Sie ist essenziell. Zahlen belegen das: 44 Prozent ihres Privatvermögens haben die Deutschen in Immobilien angelegt – aber nur 16 Prozent beispielsweise in Aktien und Pensionsrückstellungen. Obwohl das Dach über dem Kopf ein knappes Gut ist, kann es deshalb nicht wie eine gewöhnliche Ware gehandelt werden. Hier zu Lande noch weniger als anderswo. Denn nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs sahen öffentliche Hand und Unternehmen im Wohnungsbau eine soziale Aufgabe von höchster Priorität. Heute besitzen Kommunen, Bund und Länder rund drei Millionen Wohnungen. Sie sollen die Grundversorgung der Bevölkerung mit erschwinglichem Wohnraum sicherstellen. Eine riesige Aufgabe. Doch die wird schlecht gemanagt. „Die öffentlichen Wohnungsunternehmen sind ein Sanierungsfall“, heißt es in einer Studie von McKinsey & Company. Während die erfolgreichsten privaten Unternehmen im Jahr 2002 durchschnittlich 5,7 Prozent Rendite aus ihrem Wohnungsbesitz erwirtschafteten, waren es bei den kommunalen gerade einmal 2,6 Prozent, errechneten Peter Sander und Stefan Krausch, die Autoren der Studie. Viel zu wenig, angesichts tiefroter Haushalte und einschneidender Kürzungen gesellschaftlich wichtiger Budgets, etwa bei Erziehung und Bildung. Wohnimmobilien sind das neue Objekt der Begierde Bis zu drei Milliarden Euro zusätzlich könnten die Kommunen jährlich gewinnen, den Ertrag aus ihrem Besitz mehr als verdoppeln, würden sie ihre Liegenschaften professioneller bewirtschaften, glauben die Unternehmensberater. Schon mit einem aktiven Management der Mieten – der flexiblen Anpassung der Mieten an das Marktniveau und einer effizienten Verfolgung von Mietrückständen – ließe sich rund eine Milliarde Euro mehr einspielen. Deutlich mehr könnte bei den Kosten eingespart werden: Allein eine marktgerechte Instandhaltungsstrategie und optimierte Beschaffungskosten (etwa durch gepoolte Handwerkerleistungen) brächten mehr als eine Milliarde Euro. Bessere Verwaltung, also straffere Prozesse und sinkende Personalkosten wären für rund 300 Millionen gut, etwa 200 Millionen Mehrertrag wäre durch professionelle Verwaltung der Leerstände und schnellere Neuvermietung zu erwarten, noch mal mindestens 100 Millionen gewännen die Unternehmen mit einem optimierten Einkauf von Material. „Das sind eigentlich zwingende Maßnahmen, bei der gegenwärtigen finanziellen Notlage der Gemein- Bevorzugte Anlage den“, sagt Peter Sander, Partner bei McKinsey Am liebsten investieren Deutsche ihre Ersparnisse in Immobilien. in Frankfurt. Und aus Beratersicht doch nur der erste von drei Privates Anlagevermögen, Deutschland 2002 (in Prozent) Schritten. Sander und Krausch empfehlen, dass 100 Prozent = zirka 8,4 Billionen Euro die Gemeinden anschließend auch einzelne Wohnungen an Mieter oder Investoren verkaufen sollten. Danach gelte es, die Immobilien-Portfolios zu segmentieren und die besten Teile gezielt auf den Langlebige Markt zu bringen. Durch einen solchen TeilverGebrauchsgüter kauf könnte noch mehr Geld in die Kassen der Kommunen kommen, weit über die drei Milliarden Immobilien* 12 Euro hinaus, die sich durch Verbesserung der laufenden Bewirtschaftung erzielen ließen. Versicherungen Die Zeit ist reif – nicht nur, weil das Geld an 12 anderer Stelle fehlt. Anders als in der Vergangenheit sind Wohnungen neuerdings auch bei 44 Immobilien-Investoren begehrt. Vor allem die Fonds wenden sich vom Büro- und Gewerbe16 markt ab und den Wohnimmobilien zu. Bis vor einigen Jahren interessierten sie sich fast Bargeld, ausschließlich für Gewerbeimmobilien, weil sich Sichteinlagen 16 in diesem Markt ansehnliche Renditen erwirtschaften ließen. Neue Konzernzentralen und Konsumtempel formten deshalb die modernen StadtWertpapiere, landschaften, in Berlin-Mitte, Frankfurts City oder Pensionsrückstellungen am Hamburger Hafen. Wo nicht gebaut werden konnte, wurde umgenutzt. Doch mittlerweile hat sich der Trend gedreht. Hunderttausende Quadratmeter Büroraum finden keine Mieter mehr. In Schätzung Bulwien manchen Innenstädten sind halbe Straßenzüge *Quelle: Bulwien, Bundesbank, McKinsey ausgeschrieben. Büroraum stellte sich als stark zyklisches Geschäft heraus. Stiegen die Mieten vor wenigen Jahren an besonders attraktiven Immobilien-Management Standorten noch mit Raten von bis zu 30 Prozent jährlich, so sinken sie heute teilweise dramatisch. Mit ihnen fallen die Erträge – während sie bei Wohnimmobilien steigen. Für Investoren war der Wohnmarkt lange wenig interessant. Jetzt erkennen institutionelle Anleger in Wohnimmobilien das neue Objekt der Begierde. Großinvestoren wie die angloamerikanischen Fondsgesellschaften Cerberus, Fortress, Lone Star, Apellas und Terra Firma gehen neuerdings in Deutschland auf Einkaufstour. Allein im vergangenen Jahr, so schätzen Marktanalytiker, investierten internationale Fondsgesellschaften rund drei Milliarden Euro in deutsche Wohnimmobilien. So kaufte ein US-Konsortium von Cerberus Capital Management und Whitehall Funds vom Land Berlin die Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnbaugesellschaft GSW mit gut 65 000 Wohnungen – und schaut sich in Berlin nach weiteren Immobilien-Portfolios um. Der Immobilienfonds der US-Bank Morgan Stanley übernahm im Bündnis mit der nordrhein-westfälischen Corpus Immobilien Gruppe die 48 000 Wohnungen der ThyssenKrupp Wohnimmobilien GmbH. Und im Mai dieses Jahres kaufte die Deutsche Annington, eine Tochter der britischen Private-Equity-Gesellschaft Terra Firma Capital Partners, für sieben Milliarden Euro die E.ON-Immobilientochter Viterra, der mehr als 150 000 Wohnungen gehören. Neubau ist nicht mehr Aufgabe der Kommunen Die Investitionen versprechen gute Geschäfte. Zwar beträgt die durchschnittliche Rendite von Wohnimmobilien in Deutschland magere 4,2 Prozent – während sie in Großbritannien bei 9,7 Prozent, in Frankreich bei 8,6 und in Spanien bei 8,3 Prozent liegt. Doch die Rahmenbedingungen sind günstig. Mieteinkommen generieren stabile Cashflows, die Zinskosten sind niedrig – also können Investitionen billig fremdfinanziert werden. Und trotz rückläufigem Bevölkerungswachstum wird die Nachfrage in den kommenden 15 Jahren steigen. Schätzungsweise zwei Millionen neue Haushalte werden bis 2020 ein Zuhause suchen. Zwar stehen in den neuen Bundesländern 1,2 Millionen Wohnungen dauerhaft leer, meldete vergangenes Jahr der Bundesverband deutscher Wohnungsunternehmen und forderte stärkere Abriss-Zuschüsse für den Stadtumbau Ost. Doch in den Ballungsräumen München, Hamburg, Stuttgart, Frankfurt am Main und Düsseldorf/Köln ist der Markt angespannt. McK Wissen 13 Seiten: 42.43 Getrieben wird der neue Boom nicht etwa vom Luxus-Segment. Auch die Fonds legen sich zunehmend Portfolios mit Wohnungen von eher bescheidener Ausstattung zu. Angesichts der Prognosen wundert es nicht, dass die Studie der McKinsey-Berater auf ein geteiltes Echo stieß und bis heute kontrovers diskutiert wird. Bei vielen Lokalpolitikern fand sie durchaus Zuspruch und weckte den Wunsch nach einer schlüssigen Strategie für das Management der Immobilien. Widerspruch hingegen gab es erwartungsgemäß bei den Wohnungsunternehmen der öffentlichen Hand. Lutz Freitag beispielsweise, Präsident des Bundesverbandes deutscher Wohnungsunternehmen, stellte das schlechte Management in Abrede. Nicht 2,6 Prozent Rendite erwirtschafteten die 740 öffentlichen Unternehmen seines Verbandes, sondern 4,8 Prozent im Westen und immerhin vier Prozent im Osten. Die Differenz zu den McKinsey-Zahlen erklärt sich aus der Datenbasis. Die Kommunalen rechneten mit Ertrag im Verhältnis zum Buchwert, McKinsey stellte, marktorientierter, den Verkehrswert in Rechnung. „Wir haben private und öffentliche Unternehmen nach genau den gleichen Kriterien verglichen und die Zahlen auch 2005 überprüft“, sagt Sander. „Die Rendite-Differenz hat sich erneut bestätigt.“ Bedeutender scheint ihm der Einwand von Heinz-Werner Götz, dem Direktor des Verbandes bayerischer Wohnungsunternehmen. Es sei Aufgabe der öffentlichen Hand, argumentiert Götz, einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen preiswerte Wohnungen anzubieten. Investoren aber suchten sich ihre Mieter eher bei den Kaufkräftigen. „Die soziale Rendite für die Kommunen bleibt in der Studie außen vor“, sagt Götz. „Traditionell ist das soziale Argument ein wichtiges und richtiges, nur ist die Epoche des Wiederaufbaus zu Ende“, hält Sander dagegen. „Wir haben heute eine Sättigung mit Wohnraum.“ Der Wohnungsneubau sei nicht mehr Aufgabe der Kommunen, eine direkte Unterstützung der Bedürftigen wirtschaftlich und sozial effektiver. Zum Komplettverkauf ganzer Portfolios an attraktiven Standorten raten die McKinsey-Experten ohnehin nur, falls andere Strategien versagen. Oft sei ein sozialverträglicher Einzelverkauf attraktiver – nach dem Beispiel der Berliner GSW etwa, die bereits 1996 begonnen hat, Teile ihres Portfolios den Mietern und anderen privaten Interessenten anzubieten. 4500 Wohnungen in Spandau und Wedding sind auf dem Markt. Dabei gelte laut GSW ein strenger „Privatisierungskodex“, der den Mietern umfangreiche Rechte einräume. Wohnungen als Verlustbringer Angesichts niedriger Zinsen ist der Erwerb ihrer Wohnung für viele Mieter zurzeit eine verlockende Lösung, auch mit Blick auf die Altersvorsorge. Es profitieren aber auch die Investoren, wenn Teile ihres Bestands in private Hände wechseln. Wohngegenden mit privatisierten Wohnungen „sind besser gemischt, in der Zusammensetzung stabiler, mithin weniger Fluktuationen ausgesetzt, und die Wohnungen werden pfleglicher behandelt“, sagt Sander. Kurzum: „Sie sind ein besseres Lebensumfeld.“ Damit steigt die Zufriedenheit der Mieter – und die erzielbare Miete. Genau diese Entwicklung fürchten Mieter wie Kommunen. Zu Unrecht – die Verteuerungen werden maßvoll ausfallen. „Wir reden hier über Wohnungen zum Mietpreis von um die fünf Euro pro Quadratmeter und über eine Erhöhung um rund 50 Cent“, sagt Peter Sander. Bei Immobilien mit eher niedrigem Standard kommen Luxussanierung oder Mietspekulation ohnehin kaum in Frage – die Wohnungen fänden keine Klientel. Zudem schreiben viele Gemeinden, etwa in Berlin, beim Verkauf in der Regel soziale Klauseln in die Verträge. So bleiben am Ende wenig gute Argumente für einen Widerstand von Kommunen. Stattdessen steigt der Druck: Nach einer Stichprobe bei 30 Prozent des öffentlichen Wohnungsbestandes können die Eigentümer oft nicht einmal die Kapitalkosten operativ einspielen. Von Rendite kann erst recht keine Rede sein – die Kommunen sind dabei, sich weiter zu verschulden. Höchste Zeit, die versteckten Schätze endlich zu heben. Viel Spielraum für Verbesserungen Ein professionelleres Management könnte den öffentlichen Kassen bis zu drei Milliarden Euro Mehreinnahmen pro Jahr bringen. Etwa ein Drittel der institutionell bewirtschafteten Wohnungen in Deutschland befinden sich in kommunaler Hand … Anzahl der Wohnungen in Millionen (geschätzt) … der finanzielle Erfolg ist jedoch gering. Bewirtschaftungsrendite in Prozent Private Unternehmen 4,4 5,7 Bestes Viertel der Unternehmen 6,6 9,6 ~ 3,1 3,0 Institutionell bewirtschaftete Wohnungen Private Unternehmen Kommunen* * Inkl. Bestände von Bund und Ländern (ca. 0,4 Mio.) Quelle: Unternehmensangaben, DID/DIX, HSH Nordbank, GdW, McKinsey Kommunen* 2,6 Renditelücke von bis zu drei Milliarden Euro gegenüber den besten privaten Unternehmen Essay Text: Paul Nolte McK Wissen 13 Seiten: 44.45 7 Staatsweh Warum wir auf den alten Staat nicht verzichten wollen und ihn dennoch neu denken müssen. Ein Essay von Paul Nolte, Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. I. Ist der Staat mit seinem Latein am Ende? Wenn man auf die Schlagzeilen der vergangenen Monate blickt und die Stimmung im Lande betrachtet, könnte man dieser Meinung durchaus sein. Die Zielstrebigkeit der politischen Planung scheint den staatlichen Organen ebenso abhanden gekommen zu sein wie die Fähigkeit, Entscheidungen rational und effizient zu treffen und dann auch zielstrebig und konsequent zu implementieren. Während sich all dies stattdessen in Widersprüchen und Blockaden verheddert, sinkt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die staatlichen Institutionen, in ihre Seriosität und Erneuerungsfähigkeit. Was kann der Staat überhaupt noch steuern, auf welche Aufgaben darf er nicht verzichten, und wovon sollte er sich besser trennen? Doch zeigt sich, andererseits, sehr schnell eine eigentümliche Diskrepanz zwischen der Einsicht in die verringerte Steuerungsfähigkeit des Staates und den keineswegs verminderten Erwartungen, die dem Staat als Agentur der Bereitstellung von Leistungen für den Bürger, als public services provider, entgegengebracht werden – und kaum irgendwo ist diese Diskrepanz so weit wie in Deutschland. Überhaupt und im Allgemeinen kann man sich relativ leicht darauf einigen, dass die Effizienz und Gerechtigkeit staatlicher Leistungen nüchterner Prüfung bedürfen, ja vielleicht sogar darauf, dass das Zeitalter des all-zuständigen Staates seinem Ende entgegengeht. Doch im nächsten Moment geht ein heller Aufschrei durch das Land bei der Vorstellung, einige Brücken und Tunnel würden privatisiert und künftig eine Nutzungsgebühr erfordern. Und wieder eine Stunde später bucht man sich einen Billigflug in den Süden und entrichtet genau jene Gebühr für die Inanspruchnahme einer Infrastrukturleistung, die vorhin noch den Untergang des Abendlandes heraufbeschwor, mindestens aber als unverschämte Abzocke und Baustein der perfiden Ökonomisierung aller Lebensbereiche galt. Die Bürger sind anscheinend so rätselhafte Wesen wie der Staat, über den sie klagen und nach dem sie doch immer wieder rufen. Neuerdings ertönt dieser Ruf sogar wieder lauter, denn irgendjemand scheint ja die Verantwortung tragen zu müssen angesichts eines verschärften internationalen Wettbewerbs, angesichts enger werdender fiskalischer und sozialpolitischer Handlungsspielräume, angesichts der ökonomischen Strukturkrise. Sogar neue Felder, neue Aufgabengebiete staatlicher Intervention werden erschlossen, wo es um lange vernachlässigte gesellschaftliche Defizite geht: von der Bildung bis zur Kinderbetreuung, von der richtigen Ernährung und Lebensweise bis zum Konsumentenschutz. Denn Staatsverachtung hin, Klagen über die Bürokratie her. Funktioniert er nicht immer noch leidlich gut, unser Staat? Verlässlich und regelmäßig, überwiegend frei von Korruption, berechenbar auch in seinen kleineren Schwächen? Diese Feststellung muss man sogar ganz ohne Ironie treffen: Ein leidlich funktionierender Staat, eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung – das sind fragile Errungenschaften, von denen nicht wenige Menschen rund um den Globus angesichts der Auflösung öffentlicher Ordnung, angesichts von failing states nur träumen können. Der moderne Staat, so hätte es der große Soziologe Niklas Luhmann gesagt, ist eine evolutionäre Unwahrscheinlichkeit ersten Ranges. In dieser Situation haben wir uns in den vergangenen Jahrzehnten recht bequem eingerichtet – seit die großen Utopien über die Zukunft des Staates nicht Realität geworden oder an der Realität gescheitert sind. Die eine Seite markiert die Utopie vom Verschwinden, vom Absterben des Staates, wie sie auf der Linie von Marx und Engels bis zu Lenin, oder auf der von Frühsozialismus und Anarchismus, verfolgt worden ist. Wenn überhaupt, dann sollte Staatlichkeit sich auf bloße Verwaltung von Dingen reduzieren und den Charakter der Herrschaft über Personen ablegen. Aber dabei hat die Herrschaft nur einen Funktioniert er nicht immer noch leidlich gut, unser Staat? Verlässlich und regelmäßig, überwiegend frei von Korruption, berechenbar in seinen kleineren Schwächen? Formwandel erlebt, und die Verwaltung ist hypertrophiert. Die andere Seite bezeichnet die Anti-Utopie von der unaufhörlich ausgreifenden, am Ende alle individuellen Freiheitsspielräume erstickenden Staatsmacht – vom Staat als Orwellschem „Big Brother“. Auch wenn es in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik manche paranoide Vorstellungen gab, die uns unmittelbar in solche Zustände eintreten sahen – etwa im Zusammenhang mit der letzten Volkszählung der achtziger Jahre –, ist dieses Extrem doch ebenso wenig eingetreten wie sein Gegenteil. Und genau daher rührt auch unser ambivalentes Unbehagen gegenüber der Macht von Staat und Verwaltung. Die großen Hoffnungen und schlimmen Befürchtungen haben sich erledigt, der Staat ist stattdessen in einen schwer definierbaren Zwischenraum eingetreten, ist weder Fisch noch Fleisch. Essay Text: Paul Nolte McK Wissen 13 II. Die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts ist, aus der Vogelperspektive und im Zeitraffer gesehen, eine Geschichte der Emanzipation des Individuums, der persönlichen Freiheitsgewinne gewesen. Und viele dieser Freiheiten sind nicht dem Staat, nicht der Obrigkeit, nicht einer allmächtigen Verwaltung abgerungen worden, sondern haben sich in eigentümlicher Symbiose mit einem expandierenden Staat entfaltet. Das gilt im kontinentalen Europa, und zumal in Deutschland, noch mehr als anderswo. Zwar hat der Staat seinen Bürgern in den Übergängen von Obrigkeitsstaat, Monarchie und Diktatur zur Demokratie immer auch etwas zurückgegeben. Aber davon blieb der Ausbau staatlicher Regulierung, staatlicher Institutionen, staatlicher Kompetenzen in immer mehr Teilbereichen des Lebens unberührt. Aus bloßen Untertanen wurden Bürger, aber eben auch Staats-Bürger mit Wahlrecht und Partizipationschancen – und zugleich Steuerbürger, die dem Staat finanziell immer stärker verpflichtet wurden. Die Enttäuschungen über das Versagen des Staates, über Versprechen, die nicht mehr eingelöst werden können, sind nur die Kehrseite der eigenen, überzogenen Erwartungen von einst. Die Gegenleistung des Staates bestand und besteht in der Bereitstellung von kollektiven Gütern wie Sicherheit (physische wie soziale) oder Bildung oder Infrastruktur und in staatlich gewährten Freiheitschancen der Bürger. Aber die Symbiose von Freiheit und Staatlichkeit reichte noch weiter und in ganz andere Bereiche hinein: nicht zuletzt auch in die Ökonomie, in Prosperität und Massenwohlstand des 20. Jahrhunderts. Ganz besonders nach 1945 erhöhte die Kombination von Massenwohlstand und Wohlfahrtsstaat Seiten: 46.47 die Glaubwürdigkeit von Demokratie und offener Gesellschaft; das Wirtschaftswunder bildete die Legitimationsgrundlage, wie Politikwissenschaftler sagen, des neuen Staates. Die Konsum- und Überflussgesellschaft des 20. Jahrhunderts ist nicht jenseits des Staates, nicht losgelöst von staatlichen Leistungen erfolgreich geworden, nicht in der klaren Abgrenzung der bürgerlichen Autonomie des Wirtschaftens vom Staat. Sondern sie florierte im Zusammenspiel mit dem Staat, ja sogar mit massiver staatlicher Unterstützung. Dazu zählte nicht nur der sozialstaatliche Ausbau, sondern auch der Versuch einer staatlichen Ordnung der Wirtschaft – in einem weiten Spektrum, das von der Setzung von Rahmenbedingungen bis zu direkter Intervention und Unternehmertätigkeit des Staates reichte. Hier zieht sich in der Bundesrepublik eine Linie vom Ordoliberalismus der frühen Begründer der sozialen Marktwirtschaft bis zum Keynesianismus seit den sechziger und siebziger Jahren. Denn dessen Instrumente wie das deficit spending, die Forcierung von Staatsausgaben auf Kredit in Zeiten der Krise, verfolgten nie bloß ökonomische Ziele. Im Vordergrund stand vielmehr das Bemühen, die Handlungsfähigkeit des Staates gegenüber seinen Bürgern zu unterstreichen und diese Bürger auch in schlechteren Zeiten durch staatliche Wohltaten bei Laune zu halten. Und in einer weiteren, dritten Dimension sind individuelle Freiheitsspielräume und staatliche Durchdringung eine enge Verbindung eingegangen – wenn auch, wie inzwischen deutlich wird, auf eine durchaus trügerische Weise. Denn die staatliche (oder doch: kollektivierte, quasi-staatliche) Absicherung von Lebensrisiken ermöglichte erst jene beispiellose Individualisierung der Gesellschaft, die ebenso wie Demokratisierung und Massenkonsum zum Erkennungszeichen der Epoche geworden ist. Häufig gewährleistet der Staat mit seinen sozialen Leistungen diese Individualität materiell und ganz konkret: Menschen können in Notlagen ein eigenes Leben führen, statt sich in Abhängigkeit von anderen begeben zu müssen. (Paradoxerweise wird dann aber, Stichwort Hartz IV, die Abhängigkeit vom Staat beklagt!) Generationelle Abhängigkeit, etwa in der Beziehung von Eltern und Kindern, hat den Charakter notwendig lebenslanger Verpflichtung ein Stück weit verloren. Trennungen von Paaren, von Eltern sind einfacher geworden, nicht nur wegen eines veränderten Scheidungsrechts, sondern auch weil der Staat in vielfältiger und komplizierter Weise für die finanziellen Konsequenzen solcher Entscheidungen mit eintritt, sie auffängt und abfedert. Man muss diese Mechanismen verstehen, um erahnen zu können, warum wir uns mit der Wertschätzung der Freiheit – vielleicht auch: dem Risiko der Freiheit – außerhalb staatlicher Absicherung schwer tun, in Deutschland schwerer als anderswo. Aber eine nüchterne Analyse dieser Mechanismen zeigt auch, dass sie das staatliche Handeln häufig an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit und manchmal darüber hinaus geführt haben. Die Enttäuschungen über das Versagen des Staates, über Versprechen, die nicht mehr eingelöst werden können, sind dann nur die Kehrseite der eigenen, überzogenen Erwartungen von einst. Angesichts dieser Lage nach „mehr Staat“ zu rufen, führt nur tiefer in einen Teufelskreis hinein. III. Die Sehnsucht nach der klaren, ordnenden und dabei stets sozial gerechten Hand des Staates – nach der visible hand außerhalb der diffusen Unsichtbarkeit von Marktmechanismen! – produziert noch aus anderen Gründen immer mehr Enttäuschungen. Dabei soll von den Enttäuschungen des politischen Systems im engeren Sinne hier gar nicht die Rede sein, von Regierung und Parlamenten. Im alltäglichen Handeln des Staates, in der Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung gegenüber dem Bürger, sammelt sich genügend Stoff an für lange Geschichten über gestörte Effizienz und wachsende Defizite in der Fähigkeit, kollektive Güter und public services bereitstellen zu können. Die geläufige Bezeichnung für diese prekäre Schnittstelle lautet: Bürokratieproblem. Und entsprechend zahlreich sind die Klagen über Inflexibilität, lange Entscheidungswege, über das nicht aufhören wollende Wuchern einer staatlichen Verwaltung, die einen immer größeren Teil ihrer Kapazität darauf zu verwenden scheint, sich selbst in Betrieb zu halten. Entsprechend populär, aber auch populistisch sind die politischen Vorschläge zum Bürokratieabbau. Denn erneut liegt das Problem tiefer, und erneut sollten wir so ehrlich sein einzugestehen, dass hier nicht einfach dunkle Mächte walten, über deren Herkunft wir nichts wissen. Wie im Falle der Konsumgesellschaft und des Sozialstaates haben sich die Bürger nämlich auch die Bürokratisierung und die Lähmung von öffentlichem Handeln zu einem guten Teil selbst eingehandelt. Bürokratische Verfahrensweisen entstehen immer da, wo der Staat auf komplexer werdende Ansprüche seiner Bürger reagiert oder sich gegen solche Ansprüche versichern muss. Ein klassisches Beispiel dafür sind Planungs- und Entscheidungsverfahren in der öffentlichen Verwaltung, die inzwischen häufig, wenn es sich auch nur um ein halbwegs komplexes Vorhaben handelt, Zeiträume in Anspruch nehmen, bei denen am Markt agierende Unternehmen längst Insolvenz anmelden müssten. Auch dies ist in ganz besonderer, in geradezu extremer Weise ein deutsches Problem geworden. Die Planung einer Straße oder einer Industrieansiedlung nimmt bis zum ersten Spatenstich nicht Monate, sondern Jahre in Anspruch, bei einer größeren Bahntrasse oder einem Flughafen muss man in Jahrzehnten rechnen, in denen kilometerweise Akten produziert werden. Mit der Schläfrigkeit irgendwelcher Beamter hat das rein gar nichts zu tun. Es ist vielmehr die Folge institutioneller Mechanismen, die die Rechte von Bürgern im Staat und gegen den Staat immer mehr aufgewertet und an Verwaltung und Justiz verwiesen haben, statt sie im originär politischen Raum zu bearbeiten. Dieser Mechanismus kann auf eine lange und stolze deutsche, zumal preußische Tradition verweisen, wo man schon vor mehr als hundert Jahren wissen wollte, dass Freiheit und Sicherheit des Bürgers sich eher in der Verwaltungsgerichtsbarkeit als in Parlament und Regierung manifestieren. Gerichte, Ämter und Behörden sind mit viel gutem Willen zu Agenturen der bürgerlichen Selbstbehauptung gegen den modernen Staat geworden, nicht selten auch zu Agenturen der Bearbeitung von Sankt-Florians-Interessen. Das aber wirkt nicht nur auf die Handlungsfähigkeit des Staates zurück, sondern auch auf die Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft. Und nicht zuletzt, wiederum paradox: Die Folgen der Sicherung individueller Bürgerinteressen tragen am Ende doch zur Enttäuschung der Bürger über staatliches Handeln bei, statt sie zufrieden zu stellen. So arbeitet sich die Glaubwürdigkeitskrise des Staates gegenüber den Bürgern in eine Abwärtsspirale und verbindet sich mit einer Vertrauenskrise der Eliten, die angeblich immer mehr „machen, was sie wollen“, obwohl die Handlungsspielräume dafür offensichtlich immer enger werden. Natürlich ist das nicht die ganze Wahrheit, aber ein wichtiger Aspekt, weil er auf paradigmatische Weise zeigt: Die Leistungen und Fehlsteuerungen des Staates und seiner Verwaltung sind nichts, was den Bürgern fremd, äußerlich, gar feindlich gegenübersteht – sie sind mehr, als wir es häufig wahrhaben wollen, ein Korrelat der bürgerlichen Gesellschaft und damit der privaten Erwartungen und Interessenlagen. Das gilt auch für die wachsenden Schwierigkeiten, zu definieren, was überhaupt „des Staates“ sei; anders ausgedrückt: wo die Grenzen des öffentlichen Sektors verlaufen sollen, in welcher Form kollektive Güter bereitgestellt werden können und wie sich die Grenze zwischen öffentlich und privat, auch: zwischen Staat und Markt, dabei verschiebt. Der Erwartung einer, wie es scheint, immer noch überwiegenden Mehrheit von Bürgern an die möglichst umfassende staatliche Bereitstellung kollektiver Güter steht eine eingeschränkte Zahlungsbereitschaft der Bürger gegenüber. Man kann es auch so sagen: Die Bereitstellung von Leistungen durch den Staat, seien es Bildung, Gesundheit oder Mobilität, wird weithin mit ihrer Kostenfreiheit gleichgesetzt. Dabei geht es häufig nur darum, ein Abrechnungssystem, das der Steuern, durch ein anderes – etwa das von Gebühren – zu ersetzen oder, realistischer, zu ergänzen. (Ein drittes Abrechnungssystem öffentlicher Leistungen ist, das muss zumindest erwähnt werden, natürlich das der Kreditaufnahme, man kann auch sagen: der prolongierten Zinszahlung.) Eine Kommerzialisierung von öffentlichen Gütern ist damit gar nicht notwendig verbunden, auch nicht die Einführung von Wettbewerb oder eine Privatisierung im strikten Sinne – das wäre erst ein nächster Schritt. Immer noch richten sich die Erwartungen der Bürger auf jene stabilen Trennwände zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Staat und Markt, die durch das Verhalten der Bürger selbst porös werden. Wir sollten deshalb diese neuen Überlappungszonen lieber kreativ erkunden – durchaus im Bewusstsein für den Wert öffentlicher Güter – statt sie mit (schein-)heiligem Zorn weit von uns zu weisen. Essay Text: Paul Nolte McK Wissen 13 IV. Früher waren wir einmal stolz darauf: Beim Aufstieg der öffentlichen Verwaltung, des Berufsbeamtentums, der bürokratischen Organisation an der Schnittstelle von Politik und Gesellschaft hat das kontinentale West- und Mitteleuropa historisch eine führende, eine modellbildende Rolle gespielt. Wo andere Regeln galten, etwa im angelsächsischen Modell der Verwaltung durch Rechtsprechung, auch unter Heranziehung von Laien, da herrschte vermeintlich Rückständigkeit, und es schien nur eine Frage der Zeit, bis sich überall das deutsche Bürokratiemodell durchsetzte. In mancher Hinsicht ist diese Prognose durchaus zutreffend geworden, wie man an der Expansion und Professionalisierung des US-amerikanischen öffentlichen Dienstes im 20. Jahrhundert ablesen kann. Aber eine völlige Angleichung ist keineswegs eingetreten, und schon deshalb ist es immer noch nützlich, in Deutschland gelegentlich vom hohen Ross der Bürokratie herabzusteigen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel war besonders erfolgreich damit, der Verwaltung durch Beamte zugleich höhere philosophische Weihen zuteil werden zu lassen. Er entwarf zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Bild von der Bürokratie als dem „allgemeinen Stand“, also derjenigen Gesellschaftsklasse, die aufgrund ihrer Objektivität und Neutralität in besonderer Weise dazu berufen war, als Sachwalterin und Durchsetzungskraft des Gemeinwohls zu fungieren – eines Gemeinwohls, das praktischerweise auch gleich von ebendiesem Stand definiert wurde und das damit über den Ständen der bürgerlichen Gesellschaft schwebte: also über den partikularen und egoistischen Interessen von Markt und Kommerz. Das war die einflussreiche deutsche Antwort auf die Versuche des Revolutionszeitalters, das alte Ideal des homogenen common good als bloß empirisches Produkt vorhandener Interessen zu verstehen oder es gleich ganz aufzugeben. Mit manchen Resten dieser Vision schlagen wir uns bis heute herum, und dazu zählt auch jene besondere Spannung zwischen dem gesellschaftlichen Gesamtinteresse (gleich „gut“) und ökonomischen Interessen (gleich „böse“), die im deutschen Diskurs immer wieder ihre Rolle spielt. Seiten: 48.49 Im Laufe der vergangenen 150 Jahre ist die Staatsverwaltung immer wieder zum Vorbild der effizienten Verwaltung und der Steuerung komplexer Systeme geworden – sogar in den Unternehmen. Als sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den Großunternehmen eigene Verwaltungsstäbe ausdifferenzierten und rasch wuchsen, hießen die dort tätigen Angestellten nicht zufällig oft „Privat-Beamte“. Und als in den Unternehmen längst niemand mehr daran glaubte, die öffentliche Verwaltung zum Maßstab eigener Personalorganisation und Problembearbeitung nehmen zu können, sollte wenigstens die Gesellschaft nach Maßgabe des Staates geformt werden: Jene kühnen Vorstellungen von politischer Planung und gesellschaftlicher Steuerung durch Administration, die in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichten, waren so etwas wie die letzte Konsequenz aus der Hegelschen Sicht einer Verwaltungs-Avantgarde. Die öffentliche Verwaltung als höchste Ingenieursbehörde des Projektes Gesellschaft – das war damals eine übrigens gleichermaßen rechte wie linke Utopie, an die aber schon bald (Mitte, Ende der siebziger Jahre liegt der Bruchpunkt) niemand mehr glauben mochte. Seitdem fehlt der öffentlichen Verwaltung, so könnte man sagen, das mission statement, das sich die Unternehmen bald darauf selbstbewusst auf ihre Fahnen schrieben. Mit einem Abstieg, mit einem Verfall, mit einer geschwächten Moral der Bürokratie und ihrer Beamten hat das höchstens nachrangig zu tun. Der Büroschlaf, das eher geruhsame Tempo, das Beharrungsvermögen nach dem Motto „Das war schon immer so – da könnte ja jeder kommen“, all das sind schon viel früher Klischees der Beamtenwelt gewesen. In manchen Bereichen, wo die Arbeitswelt als Schonraum eingerichtet wurde, wo Laufbahn und Anciennitätsprinzip über der Leistung standen, mag die Mentalität des öffentlichen Dienstes in den vergangenen Jahrzehnten zusätzlich korrumpiert worden sein. Aber die Verwahrlosung der öffentlichen Verwaltung, wo es sie gibt, ist zumeist ein Spiegelbild jämmerlich verwahrloster äußerer Bedingungen. So fühlt man sich beim Betreten zahlloser Ämter beliebiger deutscher Großstädte spontan in die Mitte der siebziger Jahre zurückversetzt und schaudert bei der Vorstellung eines Unternehmens am Markt, das seine Mitarbeiter so vorsintflutlich und damit auch ineffizient arbeiten ließe. Der Innovations- und Investitionsstau in der öffentlichen Verwaltung ist in letzter Zeit wohl eher noch gewachsen, weil sich die Auszehrung materieller Ressourcen, die allgemeine Vernachlässigung öffentlicher Infrastruktur, überschneidet mit dem rasanten Technologiewandel in Information und Kommunikation, der mit der Verwaltung Hase und Igel spielt. Auch kollidieren klassische Prinzipien der Bürokratie wie Fachkompetenz, Regelgebundenheit und Verfahrensorientierung zunehmend mit den neuen Formen der flexiblen Organisation und Anwendung von Wissen, mit der Bedeutung eines kreativen Chaos, das sich auf solche Regeln nicht zurückführen lässt. Dennoch gibt es keinen Anlass zur Legendenbildung über die so wunderbar funktionierende Staatsverwaltung von einst. Sie trat dem Bürger oft feindselig gegenüber, als eine gänzlich unzivile Autorität, als eine Obrigkeit, gegenüber der er duckenden Respekt zu bekunden hatte. Manchmal war sie nicht nur dem Stile nach der verlängerte Arm militärischer Befehlsgewalt. Und wer heute über ein man- gelndes Ethos der öffentlichen Verwaltung klagt, der sollte die definitive Bruchstelle des traditionellen bürokratischen Geistes in Deutschland nicht vergessen. Sie wird markiert durch die Rolle staatlichadministrativer Eliten als demokratiefeindliche Kräfte in der Weimarer Republik und durch die pervertierte Übersteigerung dieses Ethos in der radikalen Weltanschauungsbürokratie des Nationalsozialismus. Kein Wunder, dass die Bundesrepublik, aber auf ihre Weise auch die DDR, auf dieses Trauma mit dem Konzept einer entschärften, ethisch anspruchslosen Verwaltung reagierte, die sich selbst gegenüber unsicher, vielleicht sogar selbstironisch geworden war. Als die 68er ihren Marsch durch die Institutionen antraten und den öffentlichen Dienst für sich eroberten, erledigten sie nur noch die Reste dieser Arbeit und perfektionierten das Ergebnis. ohnehin durch outsourcing geschrumpftes Tätigkeitsfeld nach den Regeln einer Behauptung am Markt bestellt. Ebenso wenig wird die Infusion eines neuen, diesmal weltumspannenden Ethos, unter so schönen Bezeichnungen wie good governance die Probleme einer heterogener werdenden Staatlichkeit lösen und sicher nicht jenseits des Marktes. Welchen Vertrag erwarten die Bürger überhaupt von „ihrem“ Staat, und unter welchen Bedingungen sind sie bereit, einen öffentlichen Sektor mit Loyalität und materiellen Zuwendungen zu unterstützen? Kann die Bürgergesellschaft staatliche Leistungen substituieren und kollektive Güter neu definieren, oder verschieben sich die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum so, dass nur ein innerster Bereich unbedingter Staatlichkeit übrig bleibt – etwa mit der Gewährung physischer Sicherheit, des viel zitierten „Monopols legitimer Gewaltsamkeit“ –, während die anderen Funktionen individualisiert oder an Wettbewerbsmärkten bereitgestellt werden können? Vieles ist jedenfalls komplizierter, als Gemeinplätze innerhalb der Debatte es wahrhaben wollen. The floor is open for discussion. V. Seit geraumer Zeit schon erleben wir einen Staat, der sich und seinen Verwaltungsapparat permanent verschlanken will. Über die selbst verordnete Diät hinaus geht es zugleich um einen Organisations- und Mentalitätswandel: um den Weg zu einer Verwaltung als Service- und Dienstleistungsagentur für den Bürger. Die Rathäuser und Ämter werden zu Bürgerserviceagenturen, neuerdings auch die Arbeitsämter zu Arbeitsagenturen. All das ist löblich, aber die Probleme des Staates reichen tiefer als bis zu der Frage, ob mit dem Etikettenwechsel auch ein Wandel der Realität verbunden ist. Den Bürger als Kunden zu begreifen und zu behandeln statt als lästigen Bittsteller führt gewiss nicht in die falsche Richtung, aber doch nicht weit genug. Was ist, wenn der Bürger seine Rolle als „Kunde“ gar nicht spielen möchte; was ist, wenn sich die auch in dem neuen Modell suggerierte Einheit eines „Anbieters Staat“ mehr und mehr auflöst? Wir stehen erst ganz am Anfang einer tief greifenden Veränderung. Sie wird den Staat und seine Verwaltung nicht abschaffen und auch nicht einfach in ein Unternehmen verwandeln, das sein Paul Nolte ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. Der 42-Jährige lehrte und forschte zuvor in Bielefeld und Göttingen, an der Harvard University in den USA und bis Mitte dieses Jahres an der International University Bremen. Als kritischer Begleiter des Zeitgeschehens ist er auch publizistisch bekannt geworden. Personal-Management Text: Elisabeth Gründler 8 Stehen, gehen, laufen, rennen McK Wissen 13 Seiten: 52.53 Mit dem ZeP, dem Zentralen Personalüberhangmanagement, schuf das Land Berlin Anfang 2004 ein innovatives Instrument zum Umgang mit Personal im öffentlichen Dienst – gegen erhebliche politische Widerstände. Eine erste Bestandsaufnahme gut ein Jahr nach der Gründung. PROLOG: EINE STADT IM STAATSDIENST Wer nach den Anfängen dieser Geschichte sucht, findet ein ganzes Knäuel loser Enden. Eines davon führt zurück in das Jahr 1988. Wolfgang Suhrmann, Diplomingenieur und selbstständiger EDV-Spezialist, entwirft ein Projekt zur Rationalisierung des Bestellsystems der Schulen bei der Landesbildstelle. Die Schulverwaltung ist begeistert, das Budget für einen Auftrag hat sie nicht. Sie hat aber eine Planstelle. So wird Wolfgang Suhrmann Angestellter im öffentlichen Dienst in West-Berlin. Beispiele wie diese ließen sich endlos aneinander reihen. Ende der achtziger Jahre arbeiten in Berlin rund 175 000 Personen im unmittelbaren Landesdienst. 1991, nach der Wiedervereinigung, sind es fast 300 000 – die Bediensteten aus Ost und West waren zusammengelegt worden. Anders ausgedrückt: Von den dreieinhalb Millionen Berlinern ist Anfang der neunziger Jahre etwa jeder Elfte im öffentlichen Dienst des Landes tätig – Mitarbeiter von Krankenhäusern, Universitäten, Stiftungen und Bundesbehörden nicht eingerechnet. Berlin hat ein Problem. 1. VOM StPG ZUM ZeP ZeP steht für „Zentrales Personalüberhangmanagement“ und ist ein Novum, nicht nur in Berlin, sondern bundesweit. Das Land Berlin schuf sich eine eigene Behörde, um sein Personal rational, effektiv und transparent zu managen. Am 1. Januar 2004 nahm das ZeP seine Arbeit auf. Der Weg dorthin war steinig, denn der Senat musste zunächst einmal eine gesetzliche Grundlage schaffen. Es wurde erbittert gerungen, die Kampflinien verliefen quer durch die Fraktionen. Den Befürwortern des Gesetzes ging es darum, ein modernes Steuerungsinstrument für die Bewältigung des Personalüberhangs zu schaffen. Die Gegner, allen voran die Gewerkschaft Ver.di, sahen darin einen Verfassungsbruch, kritisierten den Abbau von Personalvertretungsrechten und die Verletzung der Grundsätze des Berufsbeamtentums. Sie kündigten Massenklagen und den Gang vor das Bundesverwaltungsgericht an. Bislang vergeblich. Im November 2003 verabschiedete das Berliner Abgeordnetenhaus das neue Stellenpool-Gesetz, StPG. Der Weg zum ZeP war geebnet. 2. HAUPTSTADT IN NOT Wie hatte es überhaupt so weit kommen können?, mag sich mancher heute fragen. „Haushaltsnotstand“, lautete im November 2002 die knappe Antwort des rot-roten Berliner Senats, und das Problem war – zumindest in Teilen – hausgemacht. Im Gründungsfieber der frühen neunziger Jahre hatten Regionalpolitiker und Landesbanker von einer permanenten Wertsteigerung der Berliner Immobilien geträumt. Im Januar 2005 bezifferte Berlins Finanzsenator Personal-Management Thilo Sarrazin vor Grundstücksfachleuten die Altlasten, die er bei seinem Amtsantritt im Januar 2002 vorgefunden hatte: Acht Milliarden Euro allein aus dem sozialen Wohnungsbau und drei bis sechs Milliarden Euro aus der Berliner Bankenkrise waren seine beiden größten Posten. Daneben ächzte die Stadt unter Schulden aus grauer Vorzeit – und hatte aufgrund ihrer traditionellen Sonderrolle ein Mentalitätsproblem. Zu Zeiten des Kalten Krieges hatte Berlin sich in einer privilegierten Lage befunden. Die „Hauptstadt der DDR“ sollte den Glanz des real existierenden Sozialismus ausstrahlen, während das eingemauerte West-Berlin die Überlegenheit des Kapitalismus darzustellen hatte. Die Berliner Regierenden in Ost und West mussten sich nie Sorgen um die Finanzierung ihrer Haushalte machen. Was im Osten „Hauptstadtversorgung“ hieß und erhebliche Teile der wirtschaftlichen Ressourcen nach Berlin-Ost zog, waren im Westen die so genannten „Zitterprämien“ – Lohn- und Gehaltszulagen, die gezahlt wurden, um die Bevölkerung in der eingemauerten Stadt zu halten –, sowie direkte Subventionen aus dem Bundeshaushalt. Keine Bonner Regierung hätte es sich leisten können, das Schaufenster des Westens darben zu lassen. So füllte der öffentliche Dienst als größter Arbeitgeber teilweise die Lücken, die die in den fünfziger und sechziger Jahren nach und nach aus der isolierten Stadt abgewanderte Industrie gerissen hatte. An den stetigen Geldfluss hatten sich Landesregierung und Verwaltung mehr als 40 Jahre lang gewöhnt. Umso härter traf es sie, als Anfang der neunziger Jahre alle Subventionen rigoros gestrichen wurden. Unter der Last von insgesamt 35 Milliarden Euro Schulden sei eine solide Haushaltspolitik auf Dauer nicht möglich, fand das Land Berlin und forderte deshalb eine Entschuldung durch den Bund. Die Klage beim Verfassungsgericht läuft. Ohne ein glaubwürdiges Konzept zur Haushaltssanierung hat Berlin jedoch wenig Aussichten, den Prozess zu gewinnen. 3. McK Wissen 13 Text: Elisabeth Gründler MEHR LEISTUNG MIT WENIGER MITARBEITERN Die Regierung bemüht sich. Seit 1990 hat sich der öffentliche Dienst in Berlin von rund 65 000 Mitarbeitern getrennt – über natürliche Fluktuation, Altersteilzeit oder Vertragsauflösungen mit Prämienzahlung – das entspricht knapp einem Drittel seines Personals. Wer bleiben Seiten: 54.55 durfte, musste sich einschränken. In den vergangenen Jahren wurden die Bezüge der Landesbediensteten um bis zu zwölf Prozent gekürzt. Doch noch immer gibt das Land Berlin rund sieben Milliarden Euro jährlich für Gehälter und Pensionen aus, jeden dritten Euro des gesamten Haushalts. Der Personalabbau muss also weitergehen. Vor allem aber muss er besser organisiert werden. Bis 2003 sah der Prozess des allmählichen dezentralen Personalabbaus in Berlin ungefähr so aus: Die Dienststellenleiter waren gehalten, Planstellen zu identifizieren, die nicht ganz so dringend benötigt wurden. Diese Stellen wurden als „k.w.“ gekennzeichnet, als „künftig wegfallend“. Für die betroffenen Mitarbeiter änderte sich einstweilen wenig, sie machten ihre bisherige Arbeit weiter. Und deshalb gab es für ihre Dienststelle auch keinen Anreiz, die Arbeitsprozesse zu überprüfen und zu reorganisieren. Genau das aber ist für den Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin die vordringliche Aufgabe. Sarrazin will mehr als sparen, er will eine schlanke, effektive und bürgerfreundliche Verwaltung. „Bürgerinnen und Bürger müssen merken, dass sich Wege und Wartezeiten verkürzen und dass sich der Service verbessert“, meint er. „Mit einem ,k.w.‘-Vermerk auf dem Papier, hat sich noch nichts verändert.“ Am 1. Januar 2004 sorgte Sarrazin deshalb für Bewegung: Mit Inkrafttreten des Stellenpool-Gesetzes erhielt das ZeP die Zuständigkeit für die Mitarbeiter, deren Position als „k.w.“ klassifiziert war. 4. DEN ÜBERBLICK GEWINNEN Bis 2003 war die Personalverantwortung im Land Berlin ausschließlich dezentral organisiert, in 48 einzelnen Dienststellen. Das war sinnvoll, solange der bessere Überblick vor Ort auch zu einer besseren Organisation des Personaleinsatzes führte. Seit 1990 führte der einstige Vorteil kontinuierlich ins Chaos. Wie viele Mitarbeiter mit „k.w.“-Vermerk gab es eigentlich im Land? Wer waren sie? Was konnten sie? Wo waren sie nur beschäftigt – und wo wurden sie vielleicht dringend gebraucht? Weil die Dienststellen nicht miteinander kommunizierten und die Daten nirgends zentral erfasst wurden, ließ sich der Personaleinsatz unmöglich steuern. Die Folge: An vielen Stellen fehlte Personal, das an anderer Stelle überflüssig war. ZeP IN ZAHLEN Versetzungen ins ZeP 3394 bis zum 1. April 2005 Vermittlungen 74 aus dem öffentlichen Dienst ausgeschiedene Überhangkräfte (z. B. Prämie, Kündigung, Altersteilzeit) 158 Versetzungen auf verwaltungsinterne Stellen 285 laufende Abordnungen mit dem Ziel der Versetzung auf verwaltungsinterne Stellen 44 Einsätze außerhalb der Verwaltung 159 Abordnungen gegen Personalkostenerstattung 872 Vermittlungen in vom ZeP bewilligte verwaltungsinterne Übergangseinsätze 1400 Rück-Abordnungen in die Herkunftsdienststelle, davon etwa 45 Prozent mit neuem Aufgabengebiet Das ZeP bildete den Ausweg aus dem Gestrüpp der dezentralen Verantwortungen. Wichtigstes Element darin: der Aufbau einer zentralen Datenbank. Sie sollte in der neuen Behörde Transparenz für die Entscheider schaffen – und Chancen für die Mitarbeiter mit „k.w.“-Vermerk. Denn wie sollten sie sich auf frei gewordene, ausfinanzierte Stellen bewerben, wenn sie keine Möglichkeit hatten, an die Informationen zu gelangen? Wolfgang Suhrmann zum Beispiel brauchte nur drei Tage, um sich nach der Zuordnung zum ZeP seinen Traumjob aus dem Pool zu fischen: Seit dem 1. Dezember 2004 arbeitet der 62-Jährige in der Senatsverwaltung für Finanzen als Controller des privatwirtschaftlich als GmbH organisierten Gebäudemanagements des Landes Berlin. Genau das Arbeitsgebiet, auf dem er schon lange aktiv werden wollte und für das er genau der richtige Mann ist. 5. REIN IN DEN POOL, RAUS AUS DEM POOL In Berlin haben sich die Tarifparteien im öffentlichen Dienst geeinigt: Einkommensabstriche gegen Arbeitsplatzgarantie bis Ende 2008. So lange wird es keine betriebsbedingten Kündigungen geben, aber auch prinzipiell keine Neueinstellungen, außer in sehr speziellen, klar umgrenzten Bereichen wie Schule oder Polizei. Wo immer sonst eine neue Stelle geschaffen wird, soll sie aus dem Stellenpool des ZeP besetzt werden. „Wir haben gut ausgebildetes, qualifiziertes Personal und bringen es in die richtigen Aufgaben“, erklärt Peter Buschmann, Direktor des ZeP. 3300 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes umfasst der Pool heute – Beamte, Angestellte und Arbeiter, die Bandbreite reicht vom Amtsleiter bis zur Reinigungskraft. Sie werden von insgesamt 82 Mitarbeitern betreut, die selbst aus dem Personalüberhang-Pool stammen. 20 von ihnen arbeiten als Vermittler und sind jeweils für 150 Kollegen verantwortlich, die ihnen nach Qualifikation und Status zugeordnet sind. Für die sollen sie neue Aufgaben akquirieren, sie – falls nötig – qualifizieren und anschließend in die neue Funktion einführen. Anders als in den vergleichbaren Beschäftigungsgesellschaften der Deutschen Bahn oder der Deutschen Telekom sitzt beim Zep niemand untätig zu Hause. Bei voller Bezahlung zum Nichtstun administriert zu werden ist nicht nur den Betroffenen kaum zuzumuten, es lässt sich auch politisch nicht vermitteln. Im ZeP ist Flexibilität gefragt. Findet sich für einen Mitarbeiter der Behörde nicht sofort eine neue Aufgabe, kann er bis auf weiteres in seine bis- herige Dienststelle „rückabgeordnet“ werden. Umgekehrt muss jeder aber auch damit rechnen, dass ihn das ZeP zu Übergangseinsätzen bei einer anderen Dienststelle innerhalb der Berliner Verwaltung beordert, für die Dauer von Wochen oder Monaten. 6. DÜRFEN DIE DAS? Kann der Staat einen Beamten zu einer Dienststelle versetzen, deren einzige Aufgabe es ist, ihm eine neue Aufgabe zu verschaffen? Bisher hatte keine staatliche Instanz es je versucht. Zwar gehört die Versetzung innerhalb des Apparats durchaus zur gängigen Praxis, aber nur, wenn in der neuen Funktion konkrete Aufgaben warten. Die neue Berliner Behörde bedeutet einen radikalen Bruch mit der bisherigen Tradition. Entsprechend heftig waren die Reaktionen der Personalvertretungen, als Finanzsenator Sarrazin in der zweiten Hälfte des Jahres 2002 seinen Plan vorlegte. Auch der Protest hatte inzwischen Tradition. Schon früher hatten Berliner Regierungsvertreter ähnliche Pläne verfolgt – und waren stets am anhaltenden Widerstand aus allen politischen Lagern gescheitert. Von den betroffenen Mitarbeitern war naturgemäß keine Unterstützung zu erwarten. „Personalüberhang“ – wer möchte schon dazu gehören? Der Verlust des Arbeitsplatzes, auch wenn er wie im öffentlichen Dienst nicht mit sofortigen Einkommenseinbußen einhergeht, ist bedrohlich. Schreckensvisionen über hoch qualifizierte Beamte, die zum Streichen staatlicher Gebäude abgeordnet würden, heizten die Stimmung an. „Beamte als Anstreicher? Ver.di sauer“, titelte die Berliner Zeitung. „Es war ein Paradigmenwechsel“, sagt Andreas Rudat, der die Idee von Anfang an begleitete und heute als stellvertretender Direktor des ZeP und Verantwortlicher für Controlling und Steuerung die Geschicke der jungen Behörde mit lenkt. Als der Berliner Personal- und Verwaltungsfachmann im November 2002 die Leitung des ZeP-Aufbaustabs übernahm, stand er vor einer schwierigen Aufgabe: Er sollte eine Behörde aufbauen, für die es bundesweit kein Vorbild gab und für die erst einmal die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden mussten. Entsprechend akribisch wurde die Ausarbeitung des Gesetzestextes vorbereitet. Um spätere Klagegründe schon im Vorfeld auszuräumen, prüfte der Aufbaustab kritisch alle verfassungs- und dienstrechtlichen Fragen und holte zudem vorsorglich ein Rechtsgutachten ein. Die parlamentarische Beratung sollte sich dennoch über ein Jahr hinziehen. Dann endlich, im Sonderprojekte 125 Überhangkräfte in Ordnungsämter vermittelt 280 Überhangkräfte in Job-Center (Hartz IV) entsandt Qualifizierungsmaßnahmen und Spezialberatungen 302 Schulungen und Kurse mit insgesamt 1175 Teilnehmern Geschätzte Personalkosteneinsparung 4 Millionen Euro vom 1.1. bis zum 31.12.2004 Personal-Management Text: Elisabeth Gründler Foto: Noshe McK Wissen 13 Seiten: 56.57 Juni 2004, das Urteil der Verwaltungsrichter: Das Land Berlin hat mit dem Stellenpool-Gesetz eine „abschließende Sonderregelung geschaffen“, die für die Versetzungen ins ZeP eine Zustimmung des Hauptpersonalrates entbehrlich macht. Die Mitwirkungsrechte der Personalvertretung, so die Berliner Richter, seien durch die Mitsprache der Personalvertretungen der abgebenden Behörde ausreichend gesichert. Inzwischen haben Gesetz und Verfahrensregeln erste Feuertaufen bestanden: Sie hielten jeder richterlichen Überprüfung stand. Fast alle Prozesse, die gegen die Versetzungen ins ZeP angestrengt wurden, hat das Land Berlin bisher gewonnen. Die Richter erklärten die „Rechtsfortentwicklung“, die das StPG dienstrechtlich leistet, für verwaltungs- und verfassungsrechtlich legal. 7. AUFBAUEN UND ARGUMENTIEREN Die juristische Anerkennung war wichtig – und unterstreicht die Philosophie, auf der die neue Behörde gründet. Warum kommen so viele Verwaltungsreformen, die wir in Deutschland anstreben, über kurz oder lang zum Stillstand?, fragt McKinsey-Partner Markus Klimmer, der das Berliner Projekt betreute. Weil die Behörden oft nicht wissen, wohin mit ihrem Personal. Alle klassischen Instrumente wie Altersteilzeit, Vorruhestand oder Abfindungen sind schnell ausgeschöpft, die Menschen sind aber da – und der Reformprozess gerät ins Stocken. Warum stattdessen die Qualifikationen nicht nutzen? Zum Wohle der Mitarbeiter und der Behörden? Und warum nicht Aufgaben suchen, die bislang unerledigt blieben und die für den Betroffenen eine sinnvolle Beschäftigung bedeuten? Warum nicht weiterbilden, wenn für eine spezifische Aufgabe das Interesse da ist, die Qualifikation aber noch fehlt? „Ein Stellenpool, der nur als Kostensenkungsinstrument gedacht ist, muss ohnehin scheitern“, meint Klimmer. Das ZeP sei mehr und deshalb auch nicht mit den mancherorts üblichen Stellenbörsen im Intranet zu verwechseln. „Das ZeP ist ein aktives Instrument der Personalentwicklung.“ McKinsey & Company hatte den Aufbaustab bei der Planung der neuen Behörde beraten und unterstützt. Die Aufgabe war komplex: Während das Gesetz im Parlament noch heftig debattiert wurde, musste das mögliche Ergebnis schon so weit vorbereitet werden, dass das ZeP mit dem Inkrafttreten des Gesetzes seine Arbeit würde aufnehmen können. Es galt, Abläufe und Verfahrensweisen zu beschreiben und zu definieren, For- Es war ein mühsamer Weg dorthin, aber heute kann sich Berlins Finanzsenator Thilo Sarrazin freuen, dass das Land Berlin mit der Schaffung des ZeP beim Management von Personalüberhang „neue Standards gesetzt“ hat. mulare vorzubereiten und das künftige Personal auszuwählen. Und das auf einer Basis, die überaus schwammig war. „Wir haben nächtelang Papiere für die politischen Entscheider geschrieben“, erinnert sich Andreas Rudat an die Pionierphase. Für jede Eventualität mussten Argumentationslinien entwickelt werden, die nicht nur dem Kreuzfeuer der parlamentarischen Auseinandersetzung standhalten sollten, sondern auch den hitzigen Diskussionen innerhalb der Fraktionen. Zudem musste der Rat der Bezirksbürgermeister überzeugt werden, der laut Berliner Verfassung am Gesetzgebungsverfahren beteiligt ist. Und der das Gesetz ebenfalls ablehnte. Parallel zu all dem wurde die Datenbank entwickelt, ohne die das ZeP seine wichtigste Funktion, Transparenz ins Überhangmanagement zu bringen, nicht hätte erfüllen können. Darauf, dass das Herzstück der geplanten Behörde termingerecht fertig wurde, ist Rudat besonders stolz. Wie auch auf die Tatsache, dass der Aufbaustab mit dieser Leistung gleich Sinn und Zweck des ZeP nachdrücklich beweisen konnte: Das Team, das die Datenbank schuf, war ausschließlich mit „Überhangkräften“ aus dem Stellenpool besetzt. Die Spargrundsätze der Berliner Landesverwaltung galten auch für die Pioniere. Natürlich war die zentrale Datenbank nicht nur ein technisches, sondern vor allem ein politisches Problem. Skeptiker sahen die Schutzrechte der Angestellten des öffentlichen Dienstes bedroht, so wurde die politische Diskussion auch zu einer juristischen. Am Ende konnte der Aufbaustab die Bedenken des obersten Berliner Datenschützers Punkt für Punkt ausräumen. Keine Einwände, lautete das Fazit der abschließenden Prüfung. Also: grünes Licht fürs ZeP. 8. ZeP IN AKTION Die Arbeit der neuen Behörde ist für die Berliner im Alltag schon erkennbar. So wurden zum Beispiel ehemalige Dienstkräfte den neu geschaffenen Ordnungsämtern zugeordnet und sorgen als „Kiezstreife“ in Uniform für Ordnung im Stadtteil. Das ZeP hat die Auswahl der 300 neuen Ordnungshüter und ihre Qualifizierung an der Polizeischule organisiert und verantwortet: 140 kamen aus dem Stellenpool und wechselten auf diese Weise in künftig ausfinanzierte Stellen. Zudem verfügte Finanzsenator Sarrazin, dass Überhangkräfte auf höheren Besoldungsstufen ohne Einkommenseinbußen in die Kiezstreife wechseln können. 160 Mitar- beiter wechselten danach von Nicht-k.w.-Stellen in die neue Aufgabe – die Lücken, die sie in ihren alten Funktionen hinterließen, werden nach und nach mit ZeP-Mitarbeitern geschlossen. Auch bei der Europawahl 2004 halfen die Beschäftigten der neuen Behörde. Zur Vorbereitung und Durchführung wurden 300 Bedienstete in einen befristeten Einsatz geschickt. Durch ihre Arbeit sparte das Land Berlin 1,4 Millionen Euro, die es sonst für die Honorare der Wahlhelfer hätte aufwenden müssen. Für Vorbereitungen auf Hartz IV wechselten in der zweiten Jahreshälfte weitere 280 Überhangkräfte zum befristeten Einsatz in die Bezirke. Neue Aufgaben entstehen zurzeit auch in den neu gegründeten Arbeitsgemeinschaften von Arbeitsagentur und Bezirksämtern, die künftig die Ansprechpartner der Langzeitarbeitslosen sein werden. Andere ZeP-Mitarbeiter werden quasi ausgeliehen – das ist allerdings nur mit Einwilligung der Betroffenen möglich. So arbeiten derzeit beispielsweise zehn Mitarbeiter des höheren Dienstes beim Bundeswirtschaftministerium an Koordinierungsaufgaben im Rahmen von Hartz IV. Aus dem Ministerium erhält ZeP-Direktor Peter Buschmann ausgesprochen positive Rückmeldung über diesen Einsatz. „Gerade ältere Mitarbeiter zeigen sich sehr flexibel und engagiert, wenn es um neue Aufgaben geht“, sagt er. 9. DAS GELD MUSS FLIESSEN Das ZeP ist gesetzlich verpflichtet, eine Effizienzrendite zu erzielen, auf Deutsch: seine Leistungen in Euro und Cent zu messen. Die Effizienzrendite errechnet sich aus Ausgabenverminderung und Einnahmensteigerung und lag im ersten Jahr bei vier Millionen Euro; 2005 soll sie weiter steigen. Das Ziel will die Behörde nicht nur durch den flexiblen Einsatz des Personals erreichen, sondern auch durch ihre spezifischen Aufgaben. So hat das ZeP jetzt etwa Mitarbeiter des höheren Dienstes in die Bezirke entsandt, damit sie dort für örtliche Projekte Anträge auf EUMittel stellen – eine Aufgabe, für die es vor Ort sonst kein Personal gäbe. Fließen über diesen Weg künftig EU-Mittel projektgebunden nach Berlin, darf sich das ZeP einen Teil der Mittel gutschreiben. 10. EIN NEUER STANDARD Dass noch nicht alles rund läuft in der neuen Behörde, räumt Andreas Rudat freimütig ein. Wenn tausende von „k.w.“-Personalakten auf einmal geliefert werden, kann es schon eine Weile dauern, bis ZeP-Mitarbeiter sie gesichtet und geordnet haben. Auch die sorgfältige Eingabe in die zentrale Datenbank braucht ihre Zeit. Und mitunter muss eine Weile diskutiert und verhandelt werden, bis der beste Einsatzort für einen Mitarbeiter der neuen Behörde gefunden und akzeptiert ist. Doch der Chef-Controller ist sicher: „Das Jahr 2004 war davon geprägt, das ZeP an die Tür zu lehnen und ihm das Stehen beizubringen. 2005 läuft es schon, in 2006 wird es rennen.“ Finanzsenator Thilo Sarrazin ist mit den ersten Ergebnissen der neuen Lösung jedenfalls mehr als zufrieden. „Mit dem ZeP haben wir nicht nur ein Instrument zur effektiven Reorganisation der Verwaltung und einen funktionierenden, internen Arbeitsmarkt geschaffen. Wir können die Überhang-Mitarbeiter auch produktiv und kostensenkend einsetzen. Im Management von Personalüberhang hat Berlin damit aus einer Rückstandsposition neue Standards gesetzt.“ Interview Frank-Jürgen Weise Text: Andreas Molitor, Susanne Risch Foto: Huber (laif) McK Wissen 13 Seiten: 60.61 „Der Souverän hat entschieden.“ Frank-Jürgen Weise hat eine der kompliziertesten Aufgaben übernommen, die der Staat zu vergeben hatte. Und eine der undankbarsten. Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit soll aus der riesigen Behörde einen flotten Dienstleistungskonzern machen – die wohl größte Reform einer öffentlichen Institution in der Geschichte der Bundesrepublik. Ein Gespräch über große Ziele, kleine Schritte, Management und Menschenwürde. 9 Einen schwierigeren Job hätte sich kaum jemand ausdenken können: Als Frank-Jürgen Weise im Februar vergangenen Jahres als Vorstandsvorsitzender die Aufgabe übernahm, die Bundesagentur für Arbeit (BA) zu modernisieren, sagten die meisten Insider sein Scheitern voraus. Eine derart große Behörde, gefangen in einer Tradition aus Bürokratie und in weiten Teilen fremdbestimmt, sei nicht reformierbar, hieß es. Schon gar nicht von einem, der nicht aus der Verwaltung kommt. Der ehemalige Berufsoffizier und spätere Unternehmer Weise, Chef von gut 90 000 Mitarbeitern und damit zuständig für rund fünf Millionen Menschen ohne Arbeit, steht bis heute vor einem Dilemma: Die Bundesagentur muss agieren wie ein Konzern, besser wirtschaften als in der Vergangenheit und sich reformieren – dabei aber dem Gemeinwohl dienen und Behörde bleiben. Der Wandel einer Organisation verlangt Durchsetzungsmacht für Strategien, Konsequenz und auch unbequeme Entscheidungen – die Befugnisse des Mannes an der Spitze aber sind begrenzt. Zudem wird der Vorstand in der Öffentlichkeit am Stand der Arbeitslosigkeit gemessen, dabei kann die Bundesagentur selbst zum Abbau der Job-Misere nur wenig beitragen. Frank-Jürgen Weise schließt weder Tarifverträge, noch macht er Wirtschaftspolitik oder schafft Arbeitsplätze. Tatsächlich würde der 53-Jährige, zuvor Manager bei der FAG Kugelfischer und den Braunschweiger Hüttenwerken sowie Mitgründer des Logistik-Unternehmens Microlog Logistics AG, wohl lieber im Hintergrund wirken und die Reform im Inneren der Organisation vorantreiben. Stattdessen fiel dem Mann, den Beobachter als zurückhaltend, höflich und sehr kontrolliert charakterisieren, durch den Rücktritt seines Vorgängers Florian Gerster über Nacht die Aufgabe zu, das schlechte Image der früheren Bundesanstalt für Arbeit in der Öffentlichkeit zu drehen. Weise muss in schwieriger Zeit das Vertrauen der Politik zurückgewinnen, schnell Ergebnisse präsentieren, die Mitarbeiter auf den Reformweg bringen, mit der Organisation besser und gleichzeitig billiger werden – und nebenbei auch noch die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II managen. Ein Knochenjob. Der komplizierteste, den die Regierung in jüngster Vergangenheit zu vergeben hatte. Herr Weise, Sie kannten die Bundesagentur schon, bevor Sie ihr Chef wurden. Und dennoch: War Ihnen damals klar, was da auf Sie zukommen würde? Ich möchte es so sagen: Wären mir beim Amtsantritt alle Facetten bekannt gewesen, hätte ich vielleicht noch einen Tag nachgedacht. Und sich dann dagegen entschieden? Ich hätte länger nachgedacht, vor allem wegen der öffentlichen Aufmerksamkeit, die diese Position mit sich bringt. Meine Idee war es, hinter meinem Vorgänger Herrn Gerster, der die BA nach draußen vertreten sollte, als Personal- und Finanzvorstand die Organisation leistungsfähig zu machen. Diese zusätzliche öffentliche Aufgabe bedeutet neue Anforderungen für mich in einem Feld, in dem ich mich bis dahin nicht bewegt hatte. Wie beurteilen Sie sich da selbst? Was mir innerhalb der Organisation sehr gut gelingt: das Vertrauen der Führungskräfte zu gewinnen. Ich kann mit großer Freude und Begeisterung, zur Not aber auch mit Konsequenz und Härte die notwendigen Dinge umsetzen. Was ich besser machen muss: die Idee und die Bedeutung der Reform noch bewusster machen, damit wir unsere Arbeit bis zum Abschluss des Umbaus fortsetzen können. Danach kann die Politik Bilanz ziehen. Ich bin sicher, die Bilanz wird positiv ausfallen. Tatsächlich? Im Moment beklagt Deutschland die höchste Arbeitslosigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik … Das ist schlimm, und das muss sich ändern. Aber die Bundesagentur kann keine Arbeitsplätze schaffen, das muss in erster Linie die Wirtschaft tun, die Politik setzt die Rahmenbedingungen. Unsere Aufgabe ist es, unsere Kunden zu betreuen – Arbeitslose, die Arbeit suchen, und Arbeitgeber, Interview Frank-Jürgen Weise Text: Andreas Molitor, Susanne Risch die Stellen besetzen wollen. Wir wollen beraten, qualifizieren, vermitteln, helfen. Unser Service soll freundlich, schnell, kompetent, effizient und effektiv sein. Und wie ist er tatsächlich? Wir sind auf einem guten Weg. Noch nicht immer und überall, aber dort, wo wir die Agenturen schon umgestellt haben, sind die Fortschritte deutlich spürbar. Geht das konkreter? In den neuen Agenturen sind die Ergebnisse am ehesten sichtbar. Dort sind die Wartezeiten der Kunden um mehr als 40 Prozent gesunken. Und wir haben deutlich mehr Zeit für intensive Gespräche: im Schnitt 46 Prozent mehr, um genau zu sein. Aufgrund schlankerer Prozesse, einer neuen Führungsstruktur und einer verbesserten Technologie sind wir zudem produktiver im Bearbeiten von Anträgen, konkret: um 15 Prozent besser. Damit stieg auch die Kundenzufriedenheit messbar an, bei Arbeitslosen und Unternehmen. Zudem haben wir im Geschäftsjahr 2004 rund 2,5 Milliarden Euro weniger ausgegeben als vorgesehen – obwohl die Zahl der Arbeitslosen gestiegen ist. Gleichzeitig wurden die operativen Voraussetzungen für die pünktliche Auszahlung des Arbeitslosengeldes II geschaffen, also Daten für Millionen von Empfängern eingegeben und aktualisiert. Würden Sie als Unternehmer heute über die örtliche Arbeitsagentur Personal suchen? Ich habe das früher als Unternehmer nicht getan, weil ich offen gesagt nicht wusste, was die Arbeitsagentur leisten kann. Heute weiß ich das – vorausgesetzt, der Arbeitgeber hat einen guten Ansprechpartner in der Agentur, der ihm handverlesene Kandidaten vorstellt. Wenn er dem Unternehmer in kürzester Zeit Mitarbeiter präsentiert, die wirklich passen, steigt die Kundenzufriedenheit, es entsteht Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Agentur. Und in Zukunft wird uns dieser Arbeitgeber ganz sicher seine offenen Stellen nennen. Foto: Huber (laif) McK Wissen 13 Seiten: 62.63 Worauf darf der Arbeitnehmer angesichts der BA-Reform hoffen? Zunächst einmal auf einen freundlichen Service. Der Kunde, der in unsere Agentur kommt, wird an der Empfangstheke begrüßt und nach seinen Wünschen gefragt. Ich nenne diesen Punkt bewusst zuerst, weil er viel von dem beschreibt, was danach kommt. Wir haben jetzt eine Eingangszone, in der – nach den ersten Praxistests – 80 Prozent aller Anliegen beim ersten Besuch erledigt werden. So dass jeder, der wirklich intensive Beratung und ein persönliches Gespräch braucht, auf einen Mitarbeiter trifft, der Zeit hat und gut vorbereitet ist. Dadurch verstehen wir die Arbeitsuchenden besser und können sie gezielter in die wenigen, aber immerhin vorhandenen offenen Stellen vermitteln. Was verändert sich noch? Oder anders gefragt: An welchen Vorbildern orientieren Sie sich bei Ihrer Reform? Den Kern unserer Idee repräsentiert das Job-Center in Großbritannien. In der Feinarbeit, im Controlling und im Steuerungssystem leisten die Österreicher sehr gute Arbeit. Was die politischen Voraussetzungen betrifft, die es einer Arbeitsvermittlung erlaubt, effizient zu handeln, ist Dänemark Vorreiter. Ich habe mir alle diese Beispiele angesehen und vor allem auch meine Mitarbeiter hingeschickt. Weshalb haben Sie die Reform eigentlich angeschoben? Was musste aus Ihrer Sicht am dringendsten reformiert werden? Als ich den Vorstandsvorsitz übernommen habe, waren wir schon auf dem Weg. Und ich halte es für völlig normal, dass ich mich – bildlich gesprochen – auf die Schultern meiner Vorgänger stelle und auf deren Berufsund Lebensleistung aufbaue. Hier gab es jede Menge gute Vorarbeit. Was wir vor allem weiterentwickelt haben: Transparenz. Für mich war die Klarheit über Zahlungsströme und über die Leistungen, die dahinter stehen, der Anfang der gesamten Reform, weil ich davon ausgehe, dass Menschen, wenn sie die richtigen Informationen haben, auch Verantwortung übernehmen wollen. Wir hatten früher einen Apparat, der ein Geldvolumen von 50 Milliarden Euro bewegte – aber wenig Überblick über den Einsatz der Mittel und über die Ergebnisse unserer Arbeit. Das war für „Wir hatten früher einen Apparat, der ein Geldvolumen von 50 Milliarden Euro bewegte – aber wenig Überblick über den Einsatz der Mittel und über die Ergebnisse unserer Arbeit.“ mich unvorstellbar. Heute können wir uns diesbezüglich selbst mit den fortschrittlichsten Unternehmen messen. Ich würde sogar sagen: In puncto Transparenz sind wir in Europa das Vorbild. Jede Agentur misst sich heute in einer Gruppe mit vergleichbaren Agenturen; sie erfährt monatlich genau, was sie erreicht hat und mit welchem Mitteleinsatz, und zwar bis hinunter auf die Ebene der Teams. Die Mitarbeiter sehen also, wo sie erfolgreich waren und wo nicht. Und sie können von denen lernen, die besser waren. Wollen sie das denn? Und können sie es überhaupt? In einem System, das traditionell auf Weisung und Obrigkeit beruhte, sorgt Transparenz vermutlich vor allem für Verwirrung. Wie soll ein Mensch, der sein Berufsleben lang wenig entscheiden durfte, heute auf Basis neuer Informationen anders handeln und Verantwortung übernehmen? Zu meiner Überraschung klappt das besser, als ich dachte. Die wirklich guten Leute haben zugegriffen und versuchen das, was sie die ganze Zeit vielleicht unzufrieden ertragen haben, endlich zu ändern. Für sie sind Aufgabe, Verantwortung und Kompetenz deckungsgleich. Ein Beispiel: Die Agenturen planen für ihren jeweils lokalen Arbeitsmarkt die Programme, die sie im kommenden Jahr für die besten halten, und auch, wie viel Geld sie dafür brauchen. Das wird mit uns abgestimmt, aber dann setzen sie das in eigener Verantwortung um. Auf Basis dieser Freiheit kommen viele aus ihrer Deckung. Aber es wird auch viele andere geben. Menschen tun sich mit Veränderungen schwer. Für den Beamten einer Behörde muss der Sprung zum modernen Dienstleister besonders mühsam sein. Es wird viele geben, die ängstlich verharren oder den Fortschritt blockieren. Zunächst einmal glaube ich, dass es keinen Sinn hat, sich auf die schlechten Beispiele zu konzentrieren, sondern man sollte die guten wahrnehmen. Wir müssen Menschen loben, sie ermuntern und befähigen, das zieht die ganze Organisation nach vorn. Und wenn dann Einzelne wirklich bremsen, ist das eine Frage der Führung. Wenn jemand ein Team mit 20 Leuten leitet, ist er dafür verantwortlich, dass alle 20 mitziehen. Hat ein Mitarbeiter im Team ein Problem, kann man ihm helfen. Wer sich auf Dauer allerdings nicht helfen lässt, gehört nicht zu uns. Frank-Jürgen Weise hat in schwieriger Zeit die Reform der Bundesagentur für Arbeit angestoßen – in zwei Jahren, meint er, kann die Politik Bilanz ziehen. Interview Frank-Jürgen Weise Text: Andreas Molitor, Susanne Risch McK Wissen 13 Seiten: 64.65 So weit zur Managementtheorie. In der Praxis haben wir unsere Reform aus gutem Grund in der Zentrale begonnen. Und erst einmal geschaut, welche Menschen sich eigentlich für welche Aufgaben eignen. Wir fanden zu viele Spezialisten für Sachthemen, die – begründet durch die Beförderungsstruktur im öffentlichen Dienst – auch Vorgesetzte waren. Das haben wir sehr konsequent geändert. Die Zentrale in Nürnberg kommt heute mit 400 Mitarbeitern aus, davor waren es 1200. Wir haben diejenigen an die Spitze gesetzt, die ihre Mitarbeiter ermuntern, Verantwortung wahrzunehmen, wenn sie dazu fähig sind. Die typischen Spezialisten haben heute ihre Sach- und Spezialaufgaben, aber keine Führungskompetenzen mehr. So ähnlich haben wir auch unsere zehn Regionaldirektionen konsequent umgebaut und verbessert. Haben Sie denn überhaupt kompetente Führungskräfte im Haus? Ein System, das auf Regeln, Weisungen und Vorschriften baut, produziert Vorgesetzte, aber keine Manager mit Führungsqualitäten. Sie haben Recht, wir haben eindeutig zu wenig Führungskapazität und zu wenig Führungskompetenz in unserem neuen System, das Menschen braucht, die mit viel Entscheidungsfreiheit führen. Wir füllen die Lücken jetzt langsam auf, indem wir die Mitarbeiter umfassend schulen. Inzwischen ist es uns auch gelungen, den einen oder anderen von außen zu holen, was sehr schwer war wegen der Gehaltsgrenzen. Daneben haben wir aber auch zu viel juristisches Denken. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich schätze Juristen, sie sind unverzichtbar, auch bei der BA. Aber ein Jurist denkt angesichts eines Kunden zuerst einmal über dessen mögliche Ansprüche nach. Ich will, dass er überlegt: Wie können wir diesen Menschen ganz schnell wieder in Arbeit bringen? Wir müssen die Prioritäten verschieben. Brauchen Sie dann nicht noch sehr viel mehr neue Mitarbeiter aus der Wirtschaft? Wir haben schon eine ganz gute Mischung aus erfahrenen Praktikern. Das sind natürlich Menschen, die sich mit Absicht für eine Behördenlaufbahn entschieden haben. Sie haben ein gewisses Sicherheitsbedürfnis, was ihren Werdegang betrifft, sie wollen einschätzbare Strukturen. Aber sie haben auch eine starke Pflichtorientierung. Und das ist eine gute Basis. Bei uns leisten viele tüchtige Leute für oft wenig Geld gute Arbeit. Ihre Motivation ist nicht selten stärker als die in einem Unternehmen, wo zu oft Geld die entscheidende Triebkraft ist. Wie definieren die Menschen, die Sie beschreiben, ihren Erfolg – jetzt, wo sich die Ziele ihrer Arbeit verändert haben? Das ist eine gute Frage. Wir sind leider in einem Geschäft tätig, in dem ein Großteil des Erfolges oder Misserfolges gar nicht von uns beeinflussbar ist. Wir werden an der Zahl der Arbeitslosen gemessen, auch wenn Steuer-, Finanz- und Wirtschaftspolitik die Rahmenbedingungen für die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt liefern. Diesen Zustand können wir aber nicht ändern. An der Frage, wie sich Arbeitslosigkeit entwickelt, werden wir sicher auch in Zukunft gemessen. Unsere Mitarbeiter messen ihren Erfolg daran, wie schnell und wie nachhaltig sie jemanden, der keine Arbeit hat, in den Arbeitsmarkt integrieren. Mit dem Thema Sozialgesetzbuch II kam ein Zwischenziel dazu, die Arbeitsmarktfähigkeit. Das heißt: Verliere ich einen Menschen völlig, weil er sich auf eine 30 Jahre andauernde Arbeitslosenkarriere einstellt – oder schaffe ich es, ihn arbeitsmarktfähig zu halten? Sind das nicht sehr bescheidene Ziele für eine so gewaltige Reform? Es sind realistische Ziele. Ich verstehe Manager wie Peter Hartz, der es innerhalb eines Konzerns gewohnt ist, Meilensteine zu setzen, Denkhürden zu überspringen. Deshalb hat er zu Recht gesagt: Lasst uns nicht klein rangehen, lasst uns das große Bild im Auge haben. Wir dürfen diese Vision aber nicht mit dem machbaren Ziel verwechseln. Ich will tun, was möglich ist. Ich will unseren Beitrag definieren, denn der hat Bedeutung für die gesamte Gesellschaft. Erlauben wir, dass ein junger Mensch seinen ersten Kontakt mit dem Arbeitsmarkt über Arbeitslosigkeit hat? Wie gehen wir mit den älteren Menschen ohne Arbeit um? Unsere Vermittler bemühen sich natürlich, Ältere oder Langzeitarbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Doch erst kürzlich hat mir auch jemand gesagt: „Herr Weise, mir ist doch klar, dass Sie mir in meinem Alter wohl keinen Job mehr anbieten können. Aber die Tatsache, dass ich in dieser Agentur jetzt freundlich und mit Respekt behandelt werde, gibt mir ein Stück meiner Würde zurück.“ Ist das schon ein Erfolg? Ich finde, ja. Die Politik setzt den falschen Rahmen, die BA erntet die Kritik. Der Spiegel hat für diese Situation kürzlich einen netten Vergleich gewählt: Das sei so, als ob die Deutsche Bahn, weil sie ein Problem mit der Pünktlichkeit ihrer Züge hat, alle Bahnhöfe neu anstreichen lässt, freundliche Würstchenverkäufer auf den Bahnsteigen postiert und auch sonst dafür sorgt, dass alles proper aussieht. Die Züge sind damit keine Sekunde pünktlicher. „Unsere Leute arbeiten intensiv und gut. Aber sie haben am Tag vielleicht acht Menschen geholfen, und am nächsten Tag kommen zwölf neue, denen sie helfen müssen.“ Ich glaube, der Beitrag der BA ist nicht gering. Ich möchte, dass die Menschen bei uns gut betreut werden. Ich möchte die Möglichkeiten, die das System bietet, vollständig ausschöpfen, und ich will keine Verschwendung dulden. Bleiben Sie ruhig in dem Bild: Den größten Einfluss auf die Pünktlichkeit der Züge haben – neben der Wirtschaft – sicher die Steuer-, Wirtschafts- und Finanzpolitik. Aber Sie können sich darauf verlassen, dass ich für den guten Service sorge. Und dazu gehören nicht nur freundliche, sondern auch kompetente Mitarbeiter, die informieren und beraten, die wissen, wie der Kunde zum Ziel kommt, und die ihn bei Bedarf auch auf der Strecke begleiten. Die Presse muss uns kritisch verfolgen. Wenn es schon so große beitragsund steuerfinanzierte Organisationen gibt, finde ich es als Staatsbürger gut, dass sie auch kritisch begleitet werden. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, dass durchaus mal eine Ungerechtigkeit, eine Überzeichnung oder eine falsche Darstellung vorkommt. Im Großen und Ganzen wird recht fair über uns berichtet. Zudem haben die wirklich Verantwortlichen in der Politik Respekt vor unserer Arbeit. Und wenn dann mal ein Landrat glaubt, er müsse öffentlich über die BA schimpfen, nehme ich das hin. Es hat nicht nur ein Landrat öffentlich geschimpft, die BA steht unter Dauerbeschuss. Momentan müssen Sie sich im Wettbewerb mit Optionskommunen beweisen, auch die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld mitten im Reformprozess wurde Ihnen vermutlich gegen Ihren Willen zugemutet. Für das Ergebnis dieser Arbeitsgemeinschaften sind Sie verantwortlich, haben aber kein Weisungsrecht. Und trotzdem wird Ihnen angelastet, dass da noch nicht zusammengewachsen ist, was bislang nicht zusammengehörte. Der Souverän hat entschieden. Ich habe im Vorfeld gesagt, ich wünsche mir klare Verhältnisse. Und ja, ich hätte mir hier eine andere Organisation und andere Lösungen gewünscht. Nun ist das Ergebnis ein politischer Kompromiss, und wir müssen das managen. Das ist schwierig. Ist das für einen, der gestalten will, nicht ungeheuer frustrierend? Nein, mein Spielraum ist groß. Auch bei fünf Millionen Arbeitslosen gibt es viel Dynamik auf dem Arbeitsmarkt. Allein im vergangenen Jahr sind 3,4 Millionen Arbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt integriert worden – und daran waren die Agenturen für Arbeit maßgeblich beteiligt. Und meine Mitarbeiter begegnen ja auch nicht einer anonymen Zahl von fünf Millionen Arbeitslosen. Sie treffen auf einzelne Menschen, denen sie vielleicht keinen Job verschaffen können – aber wenigstens eine gute Betreuung, vielleicht eine bessere Qualifikation und damit auch Selbstbewusstsein. Mit diesem Erfolg gehen wir abends wieder nach Hause. Und am nächsten Morgen müssen Sie – stellvertretend für den Bundesfinanzminister Hans Eichel oder den SPD-Parteivorsitzenden Franz Müntefering – vielleicht schon wieder den Kopf hinhalten und der Presse eine neue Horrorzahl verkünden. Wo würden Sie die Organisation auf einer Skala von 1 bis 10 heute sehen? Wie weit ist die BA im Reformprozess? Wenn ich die gefühlte Temperatur der Organisation messen würde, stünden wir vielleicht zwischen 3 und 4. Es gibt viele Dinge, die sehr nach unten ziehen; der politische Kompromiss beim Arbeitslosengeld II, der hohe Zustrom an Arbeitslosen, bedingt durch die Wirtschaftslage. Unsere Leute arbeiten intensiv und gut, aber sie haben am Tag vielleicht acht Menschen geholfen, und am nächsten Tag kommen zwölf neue, denen sie helfen müssen. Angesichts dieser schwierigen Rahmenbedingungen stehen wir objektiv eher bei 6 oder 7. Was wir installiert haben, wird richtig gut. Und ich habe Vertrauen, dass sich das auch in Ergebnissen auswirkt. Sie meinen, die Differenz zwischen 3 bis 4 und 6 bis 7 ist ein Kommunikationsproblem? Interview Frank-Jürgen Weise Text: Andreas Molitor, Susanne Risch Es ist zum Teil ein Kommunikationsproblem, das sage ich durchaus selbstkritisch. Ich will diese Organisation wieder leistungsfähig machen. Ich war aber nie Arbeitsmarktpolitiker. Deshalb habe ich vor allem den Prozess beschrieben, wie ich etwas verbessern will. Das hat viele Mitarbeiter verunsichert. Sie haben sich gefragt: Was sind wir denn nun – ein betriebswirtschaftlich geführtes Unternehmen oder eine sozialstaatliche Einrichtung? Das Missverständnis lässt sich leicht auflösen. Auch eine sozialstaatliche Einrichtung muss nach bestimmten betriebswirtschaftlichen Kriterien arbeiten: Ziele, Zielerreichung, sparsamer Einsatz von Ressourcen, Transparenz. Verschwimmt da nicht langsam die Grenze zwischen Behörde und Unternehmen? Soll sich die BA vielleicht sogar in ein Unternehmen verwandeln? Das glaube ich, ehrlich gesagt, nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die BA privat organisiert wird. Was wir tun, ist im Kern eine staatliche Aufgabe, und das soll auch so bleiben. Wir können uns aber bei staatlichen Aufgaben durchaus an einigen Leistungsmaßstäben der Privatwirtschaft orientieren. Also etwa Wettbewerb, Schnelligkeit, Wirkung, Effizienz. Wie viel Zeit planen Sie dafür? Große Organisationen sind träge. Wir haben den Mitarbeitern eine Menge zugemutet. Wir waren und sind sehr schnell. Nach dem ersten Schock und der Verunsicherung angesichts der neuen Orientierung müssen die Menschen erst einmal Zeit haben, Arbeitsweisen zu üben und Können aufzubauen. Wenn man die Bahn und die Post anschaut, sieht man, das dauert noch einmal zwei oder drei Jahre. So dass die erste Phase der Reform nach fünf Jahren abgeschlossen ist. Wir haben 2003 mit Konzepten begonnen und dabei genau analysiert, wie es andere europäische Arbeitsmarktverwaltungen machen. 2004 wollten wir diese Konzepte umsetzen. Dann kam jedoch das ganze Gesetzgebungsverfahren für das SGB II, und wir mussten zunächst einmal abwarten, wie es gestaltet werden würde, und dann das System anpassen. In 2005 wird umgesetzt. Wir haben jetzt 70 von 180 Agenturen umgestellt. Sie müssen sich das einmal vorstellen: Das entspricht mittelständischen Betrieben mit 300 bis 1000 Mitarbeitern. Und da wird buchstäblich alles verändert – die Infrastruktur, die gesamte Betriebs-Software und die Arbeitsabläufe. Wer bisher hinter verschlossenen Türen saß, während die Gänge draußen McK Wissen 13 Seiten: 66.67 voller Arbeitsloser waren, steht heute an einer Eingangstheke und begrüßt die Kunden. Und vor allem: Jeder Vermittler trägt jetzt die Verantwortung für Auswahl, Kosten und Wirkung der von ihm eingesetzten Instrumente. Das ist kompliziert. Und es wird nicht leichter dadurch, dass auch die Kunden völlig verunsichert und perspektivlos sind. Neue Gesetze, neue Regeln, neue Ängste. Wie soll das funktionieren? Wir haben in den neuen Agenturen kürzlich unsere Kunden befragt. Insgesamt sind sie schon jetzt wesentlich zufriedener. Es gibt eine kleine Gruppe, die ist deutlich unzufriedener als vorher – das sind diejenigen, die wir jetzt konsequenter sanktionieren. Der Rest spürt bereits die positive Entwicklung. Ich denke, die ersten sichtbaren Ergebnisse einer kundenfreundlichen, schnellen, effektiven Einrichtung in der Fläche wird nach Abschluss der geplanten fünf Jahre da sein. Bis dahin muss es uns auch gelingen, der Politik die Leistungsfähigkeit der BA deutlich zu machen. Denn sie trifft nun einmal die für den Arbeitsmarkt relevanten Entscheidungen. Die Politik ist völlig frei zu entscheiden, aber sie sollte die Erfahrungen der Praxis mit einbeziehen. Im vergangenen Jahr hat Ihnen die Politik das Leben eher schwer gemacht. Wir erfahren durchaus Unterstützung. Vor allem Bundesarbeitsminister Wolfgang Clement ist ein verlässlicher und konstruktiver Gesprächspartner. Er will die Dinge immer klar und ungeschönt auf dem Tisch haben. Zudem habe ich alle Partei- und Fraktionsvorsitzenden besucht, ihnen erklärt, was wir tun und wofür wir stehen. Und ich habe keinen getroffen, der gesagt hat, diese Richtung ist völlig falsch. Wird für die Belegschaft in absehbarer Zeit wieder Ruhe einkehren? Ich möchte einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess initiieren, denn derart radikale Reformen kosten enorm viel Kraft und sind sehr riskant. Ich möchte die Lebendigkeit in der Organisation, die Kreativität und auch die Freude an Veränderungen wieder wecken und erhalten. Und uns so aufstellen, dass das gelingt. Das wird noch einmal eine große Aufgabe sein. „Die Politik ist völlig frei zu entscheiden, aber sie sollte die Erfahrungen der Praxis mit einbeziehen.“ Arbeitsagentur Halle Text / Foto: Andreas Molitor McK Wissen 13 Seiten: 68.69 10 Die neue Amtlichkeit Arbeitsagenturen können keine neuen Jobs schaffen. Ein verbessertes Management der Stellen-Lücke kann aber mehr geeignete Jobsucher zu den richtigen freien Arbeitsplätzen führen – und damit die Situation für Arbeitnehmer und Arbeitgeber leichter machen. Ein Besuch bei der Arbeitsagentur in Halle, einer von drei Modellagenturen des Landes. Neues Logo, neue Philosophie und eine neue Organisation: die Arbeitsagentur Halle *Name von der Redaktion geändert Was erwartet ein Besucher von der Arbeitsagentur einer ostdeutschen Stadt, in der fast jeder Vierte ohne Job ist? Verqualmte Flure im trüben Neonlicht, in denen frustrierte Arbeitslose auf Plastikstühlen sitzen, Aschenbecher mit Kippen füllen und darauf harren, dass ein mürrischer Vermittler ihnen sagt, was sie ohnehin längst wissen: dass keine Arbeit in Sicht ist für sie. Nicht heute und nicht morgen. Tatsächlich gibt es in Halle keine Stuhlreihen mit Wartenden mehr. Hier und da hallen Schritte über die langen Gänge. Am Empfang wird der Gast freundlich begrüßt, nach seinem Anliegen gefragt und gleich an die richtige Stelle im Haus geschickt. Niemand steht gelangweilt herum. Die Arbeitslosen, die sich daran gewöhnen müssen, „Kunden“ genannt zu werden, verschwinden eilends in Gängen, Fahrstühlen und Büros. Alles scheint in Bewegung. In Zimmer 1305, Neubautrakt, erster Stock, sitzt Arbeitsvermittler Holger Bock und wartet auf Thomas Kaiser*. Dessen Arbeitsleben mit sämtlichen Stationen und Qualifikationen der vergangenen 35 Jahre liegt wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihm. Letzter Stand der Dinge: Der 51-jährige Maschinenbauingenieur war arbeitslos, dann einen Monat beschäftigt und ist seit wenigen Tagen wieder arbeitslos. Holger Bock wird gleich mit ihm darüber reden, dass seine Chancen in der Region zurzeit ganz gut sind, dass er sich deshalb bei allen Firmen seiner Branche im Tagespendelbereich, also im Umkreis von 200 Kilometern bewerben muss, dass er sein Glück darüber hinaus auch bei Zeitarbeitsfirmen probieren und, für den Fall, dass alles nichts nutzt, seine Suche in spätestens drei Monaten auch auf das gesamte Bundesgebiet ausdehnen muss. Thomas Kaiser will alles versuchen und verabredet sich mit seinem Vermittler in sechs Wochen zum nächsten Gespräch. 54 000 Menschen ohne Arbeit – 1000 offene Stellen Im Büro von Holger Bock, hinreichend geschmückt durch einen Ficus Benjamini und Van Goghs „Sternennacht“, hat die große Reform der deutschen Arbeitsverwaltung bereits stattgefunden. Spürbar und sehr konkret. Halle ist eine von drei Modell-Arbeitsagenturen, in denen gut 300 Mitarbeiter schon heute so arbeiten wie demnächst im ganzen Land: freundlicher, schneller, kundennäher, effizienter, erfolgreicher. Die Region in Ostdeutschland hat es besonders hart getroffen. Die Arbeitslosenquote in Halle und Umgebung liegt bei 22 Prozent; 54 000 Menschen ohne Arbeit stehen 1000 offenen Stellen gegenüber. Die knapp 100 Hallenser Arbeitsvermittler wissen zwar genau wie ihr Chef FrankJürgen Weise in Nürnberg, dass sie an diesem Missverhältnis nicht viel ändern werden. Sie und ihre Kollegen können keine Jobs aus dem Boden stampfen. Aber sie tragen dafür Sorge, dass die vorhandenen Stellen schnell und passgenau besetzt werden. Und das können die Vermittler in Halle jetzt professioneller und schneller – zum eigenen Wohl, vor allem aber zum Wohl von Arbeitsuchenden und Arbeitgebern. Rund anderthalb Jahre ist es jetzt her, seit der Prozess begann, der aus dem örtlichen Arbeitsamt in Halle eine moderne Arbeitsagentur machen sollte. Dort sind Prozesse in Gang gesetzt worden, die offensichtlich Arbeitsagentur Halle Text / Foto: Andreas Molitor McK Wissen 13 Seiten: 70.71 unumkehrbar sind, und die mittel- und langfristig zu deutlichen Leistungssteigerungen führen sollen. Einige Verbesserungen lassen sich schon jetzt in Zahlen ausdrücken. Die durchschnittliche Wartezeit etwa hat sich um mehr als zwei Drittel reduziert. 82,5 Prozent der Kunden sind heute innerhalb von zehn Minuten an der Reihe, weil nicht mehr jeder Arbeitslose kommt, wann und zu wem er will. Nur wer vorher einen Termin vereinbart hat, darf zum Spezialisten, also beispielsweise zu seinem Arbeitsvermittler. Holger Bock hat deshalb jetzt mehr Zeit für „seine“ Arbeitslosen, im Schnitt 45 Minuten für das erste Vermittlungsgespräch. „Früher gab es einfach den Druck der vollen Flure“, sagt Sabine Edner, die Vorsitzende der Geschäftsführung der Hallenser Arbeitsagentur. „Da konnte sich der Vermittler für einen Kunden selten mehr als fünf bis sieben Minuten nehmen.“ Damals wusste Bock, dass noch 15 Leute vor seinem Büro warten. Aber wer das war und was der Einzelne von ihm wollte, erfuhr er erst, wenn er vor ihm saß. Erstmals eine Chance auf Beratung Seit die Ziele klar und Standard-Anfragen besser kanalisiert sind, kann sich der Vermittler in der Modellagentur im Schnitt 45 Minuten Zeit für das Gespräch mit seinem Kunden nehmen. Die Termine helfen den Vermittlern, die Regie über ihre Tätigkeit zurückzuerobern. „Vor der Reform war unsere Arbeit weitgehend fremdgesteuert“, sagt Teamleiterin Doreen Siegel, „der Kunde entschied, wann er mit seinem Vermittler sprechen wollte, und nahm dafür zwei Stunden Wartezeit in Kauf. Und der Vermittler hatte keine Chance, sich vorzubereiten.“ Darunter litt die Motivation – und zwangsläufig auch die Qualität der Beratung. Vor allem das wichtige Erstgespräch nach der Arbeitslosmeldung verkam häufig zur reinen Daten- aufnahme im Schnelldurchgang, wie beim Arzt, der einen schwer kranken Patienten heilen soll, aber keine Zeit hat für die Anamnese. Heute bekommt jeder neu gemeldete Arbeitslose binnen zehn Tagen seinen ersten Termin. Vorausgesetzt, er hat zuvor innerhalb von fünf Tagen einen sechsseitigen Fragebogen ausgefüllt und abgegeben, sein „Arbeitspaket“. Fehlt diese Grundlage, verfällt der Anspruch auf ein schnelles Gespräch. Mit ihr hat der Jobsuchende erstmals die Chance auf eine qualifizierte Beratung. Die Arbeitsagentur fragt im Vorfeld alles ab, was der Vermittler wissen muss: Was hat der Kunde bislang gemacht? Wo war er beschäftigt, mit welcher Qualifikation? Wie sieht seine familiäre Situation aus? Ist er mobil? Und hat er sich schon um neue Aufgaben bemüht? Wie oft hat er sich beworben? Wo? Mit welchem Ergebnis? Anhand der Informationen kann sich der Vermittler auf das Erstgespräch vorbereiten. Eine Zeitersparnis, für Dienstleister und Kunden. Auch eine Entschlackung der Aufgaben des Vermittlers trägt zu mehr Freiraum und besserer Arbeit bei. Einfache Sachbearbeiter-Tätigkeiten übernehmen in Halle die Kollegen in der Eingangszone. Sie übertragen beispielsweise die handschriftlich ausgefüllten Formulare ins Computersystem – der Berater kann sich auf seine eigentliche Aufgabe konzentrieren. „Wenn Sie vor anderthalb Jahren hier bei mir gesessen hätten, wäre unser Gespräch schon mindestens dreimal vom Telefon unterbrochen worden“, sagt Teamleiterin Doreen Siegel. „Es gibt immer einen Kunden, der irgendeine Frage hat.“ Auch für Standard-Auskünfte ist jetzt „die Eingangszone“ zuständig oder das neu geschaffene telefonische Service-Center. Seit es die beiden neuen Bereiche gibt, ist die Agentur besser erreichbar, und weil formale Fragen seitdem schnell beantwortet werden, wuchs die Zufriedenheit der Anrufer. Das Kunden-Feedback zur neuen Organisation fällt eindeutig positiv aus. 80 Prozent der Arbeitsuchenden sind heute mit ihrer Agentur zufrieden, bei der letzten Befragung waren es 59 Prozent. Agenturleiterin Edner erklärt die positive Wahrnehmung am Beispiel der Abteilung für Leistungsgewährung. Dort sitzen die Spezialisten, die berechnen, welche Unterstützung der einzelne Arbeitslose erhält. „Früher gab der Kunde bei uns einen Antrag ab und musste dann vier bis sechs Wochen auf Auskunft warten. Heute bekommt jeder einen Termin zur Abgabe seines Leistungsantrages. Da kann er dann all seine Fragen klären: Bekomme ich Arbeitslosengeld oder nicht? Wenn ja, wie viel? Und ab wann?“ Aber auch die Arbeitsvermittlung ist ein Dienstleistungsjob. Auch wer ihn gut macht, kann besser werden – wenn er den Kunden nach seinen Wünschen fragt. Agentur profitiert von der Umstrukturierung: Allein in der Leistungsabteilung schätzt man den Effizienzgewinn auf zehn bis 15 Prozent – zudem können Mitarbeiter, die durch die Aufbauorganisation im Bereich der Leistungsgewährung nicht mehr gebraucht werden, innerhalb des Hauses mit anderen Aufgaben betraut werden. Dass die Agentur-Mitarbeiter im Osten des Landes relativ umbruchserfahren sind, dürfte das Reformtempo in Halle noch beschleunigt haben. Eine Laufbahn- und Behördenkultur wie im Westen, über Jahrzehnte eingeübt, fehlt in den ostdeutschen Agenturen ohnehin. Aber auch sonst sind die Hallenser an Change Management gewöhnt, mit Traditionsdebatten halten sie sich nicht lange auf. Ein Teil der Mannschaft stammt aus ehemals volkseigenen Industriebetrieben, die längst nicht mehr existieren, andere wurden aus früheren DDR-Behörden rekrutiert. Alle verrichten ihren Dienst seit Jahren unter dauernd neuen Vorzeichen – und offenbar mit ungewöhnlich hohem Engagement. Aus Sicht der McKinsey-Berater, die den Reformprozess der Bundesagentur für Arbeit (BA) seit Monaten vor Ort begleiten, hat die Behörde einen Vorteil: „Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die Mitarbeiter der BA in besonderem Maße mit ihrer Aufgabe identifizieren“, sagt Timo Meynhardt. Und noch eine Beobachtung sei ihm wichtig. Die Zusammenarbeit im Team, meint der Berater, sei eine echte Stärke der Bundesagentur. „Herr Meuter*, bitte!“ Holger Bocks nächster Kunde tritt ein. Wieder hat der Vermittler alles Wesentliche vor sich: Bauingenieur, zuletzt als Geschäftsführer tätig, 60 Jahre alt, PC-Kenntnisse nach eigenen Angaben „durchschnittlich“. Als er sich vergangene Woche arbeitslos meldete, bekam er gleich einen Termin. Es sieht so aus, als dränge es Meuter nicht danach, schnell wieder in Arbeit zu kommen. Zum Punkt „berufliche Kenntnisse“ im Fragebogen hat er keine Angaben gemacht. Vielleicht hat er auch nur wenig Hoffnung. Die Baubranche ist am Boden. Er ist zu alt. Was soll Holger Bock da sagen? Meuter wird vermutlich nie mehr finden, wonach fast alle suchen: einen anständig bezahlten Vollzeitjob. Armin Meuter gehört zu jenen Arbeitslosen über 58, denen aufgrund ihres Alters das im ersten Jahr gezahlte Arbeitslosengeld I ohne weitere Auflagen gewährt wird. Während jeder andere unentwegt nachweisen muss, dass er sich um einen Job bemüht, muss Meuter nur erklären, dass er Paragraf 428 SGB III in Anspruch nehmen möchte – was bedeutet, dass er kein Interesse mehr an einer Beschäftigung hat und stattdessen Arbeitslosengeld unter erleichterten Bedingungen erhält, bis er in die ungeminderte Rente gehen kann. „Wir nehmen ihn dann aus der Vermittlung heraus“, erklärt Holger Bock, „er bezieht bis zum frühest möglichen Rentenbeginn ohne Abzüge Arbeitslosengeld und bekommt von uns keine Stellenangebote mehr.“ Und wenn er das nicht will? „Dann muss er sich weiter bewerben. Oder zum Beispiel über Mini-Jobs seine Arbeitsfähigkeit erhalten, die er aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nie mehr in einem dauerhaften Arbeitsverhältnis unter Beweis stellen kann.“ Dienstleistung nach einheitlichen Standards Dass die Arbeitsagentur Kandidaten wie Armin Meuter ausgliedert, gehört zur offiziellen Strategie der Nürnberger Zentrale. Die Kunden werden neuerdings nach ihrer Vermittlungswahrscheinlichkeit kategorisiert, einer internen „Produktvergabelogik“ folgend, kann ihnen dann die adäquate Betreuung zuteil werden. Das Ziel: Die Vermittler sollen Zeit und Geld zuerst und vorrangig in jene Kunden investieren, die mit höherer Wahrscheinlichkeit in Arbeit zu bringen sind. Sie packt die helfende Hand der Vermittlung dann so früh wie möglich und mit festem Griff an. Fester, als ihnen manchmal lieb ist. Weigert sich der Arbeitslose beispielsweise, Bewerbungen zu verschicken, zumutbare Jobs anzunehmen oder zu pendeln, kann der Vermittler sein Arbeitslosengeld kürzen. In Halle ist die Zahl der Arbeitslosen, die unmittelbar nach dem ersten Vermittlungsgespräch auf Jobsuche gehen, von 64 auf 85 Prozent gestiegen. Die einstige „Black-Box-Vermittlung“ entwickelte sich für die Unternehmensberater zum Dreh- und Angelpunkt. „Bisher arbeitete die BA nicht Arbeitsagentur Halle Text / Foto: Andreas Molitor Früher hat der Arbeitslose entschieden, wann er was mit seinem Vermittler klärt – in der neuen Organisation steuert Arbeitsvermittler Holger Bock das Beratungsgespräch. McK Wissen 13 Seiten: 72.73 mit bundesweit einheitlichen, klar strukturierten Dienstleistungsstandards“, sagt Timo Meynhardt. „Folglich war das Ergebnis eines Gesprächs mal eine Qualifizierung, mal eine Umschulung, mal eine Vermittlung. Aber man wusste nur wenig darüber, was der Vermittler denkt und nach welchen Kriterien er vorgeht.“ Künftig sollen die Vermittler ihre Dienstleistung in allen 180 Arbeitsagenturen des Landes nach demselben Kriteriengerüst anbieten. Neben eindeutigen Empfehlungen sind darin Ziele bei Vermittlungszahlen, Kosten und Zeitaufwand aufgelistet. Die Differenzierung der Arbeitslosen berührt zunächst jene Bewerber, die sich ohne weiteres selbst eine Stelle suchen können. Menschen wie Thomas Kaiser. Nach der neuen Klassifizierung gilt er als „Marktkunde“, für den Vermittler der angenehmste Arbeitslose. Seine Aussichten Sabine Edner, die Vorsitzende der Geschäftsführung, lässt sich und die Leistungen der Agentur jetzt messen. sind gut, er ist mobil, besitzt alle nötigen Qualifikationen, das Alter spielt in seinem Beruf keine allzu große Rolle. Für Marktkunden sucht ein Vermittler nicht intensiv nach Stellen. Sie müssen sich selbst kümmern. Der BA-Mitarbeiter gibt ihnen lediglich Ratschläge und Anweisungen, was sie bis zum nächsten Gespräch zu tun haben. Agenturleiterin Sabine Edner will, dass der Vermittler möglichst schon beim ersten Gespräch differenziert: Kann ich den Kunden ohne arbeitsmarktpolitische Instrumente wie Weiterbildung oder Umschulung auf dem ersten Arbeitsmarkt unterbringen? Oder gehört er zu den chronischen Problemkunden? Wenn der Vermittler für seinen Kunden kaum eine Chance sieht, im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit eine neue Stelle zu finden – sei es, weil er keinen Führerschein besitzt, nicht mobil ist oder zu alt –, wird er ihm auch keine kostenintensive Qualifizierung empfehlen. In solchen Fällen kann die Arbeitsagentur kurzfristig nicht helfen. Der gesellschaftliche Wertestreit zwischen dem Gebot der Sozialstaatlichkeit und dem der betriebswirtschaftlichen Effizienz wird nun am Schreibtisch des Vermittlers ausgetragen. Das erfordert von Holger Bock und seinen Kollegen viel Fingerspitzengefühl. Bock kann die Argumente seiner Kunden gut nachvollziehen – den Konflikt lösen kann er nicht: „Die kommen und fragen, ‚wieso habe ich 20 Jahre lang eingezahlt, wenn ich jetzt nicht mal eine Umschulung erwarten kann‘? Zügige Vermittlung – überschaubare Kosten Individuell zu beraten, gleichzeitig aber die Möglichkeiten der Unterstützung nach einheitlichen Kriterien abzuwägen, bedeutet eine Gratwanderung und ist nicht die einzige neue Aufgabe, die Holger Bock und seine Kollegen heute bewältigen müssen. Aber es gibt auch neue Werkzeuge als Hilfestellung. Moderne Computerprogramme etwa erleichtern den Agentur-Mitarbeitern das Vorsortieren ihrer Kunden. Ein ampelähnliches Signal verschafft einen schnellen Überblick über die Vermittlungschancen: Gibt es beispielsweise für Herrn Kaiser im Stadtgebiet von Halle keinen passenden Job als Maschinenbauer, steht das Signal auf Rot. Klickt der Vermittler auf „Region“, wechselt das Signal womöglich auf Gelb. Im Umland ist also zumindest hier und da eine Stelle frei. Bei der bundesweiten Suche leuchtet es grün: Gute Chancen für Thomas Kaiser – allerdings nur, wenn er mobil ist. Zufriedene Kunden, reibungslose Arbeitsabläufe und ein freundliches Lächeln am Empfang sind wichtige, aber letztlich eher Sub-Ziele der größten Behördenreform in der bundesdeutschen Geschichte. Im Kern geht es um wirtschaftliches Arbeiten: Priorität hat die zügige Vermittlung arbeitsloser Menschen in vorhandene Jobs. Genauso wichtig ist aber, was diese Vermittlung kosten darf. Auch darin sieht Sabine Edner „einen klaren Paradigmenwechsel“. Früher sei die Agentur vor Ort allein daran gemessen worden, in welchem Umfang sie die Arbeitslosen aktivierte. „Ob das dazu führte, dass der Mensch dauerhaft in den ersten Arbeitsmarkt integriert wurde, war nicht so wichtig“, sagt Edner. „Jetzt geht es um die Anzahl der Integrationen, die wir mit einem begrenzten Budget erreichen müssen. An beiden Faktoren muss sich eine Agentur künftig messen lassen.“ Alle Vermittlungsergebnisse von Arbeitsagenturen, die in Größe und Kundenstruktur vergleichbar sind, kommen auf den Prüfstand. So wie nun Erfolge sichtbar werden, müssen Teams, deren Arbeitsergebnisse deutlich abfallen, die Ursachen hierfür analysieren und Abweichungen begründen. Die Geschäftsführung der jeweiligen Agentur fasst nach, schon aus eigenem Interesse, denn auch sie muss sich beweisen. Bei dauerhaft schlechter Leistung ist es in der modernen Arbeitsagentur durchaus denkbar, dass auch die Führungsmannschaft gewechselt wird. Passgenaue Kandidaten – zufriedene Arbeitgeber Mit der Reform ist auch der zweite wichtige Kundenkreis der Agentur spürbar in den Fokus gerückt: die Arbeitgeber. Anders als beispielsweise in Dänemark, wo die „Arbejdsformidlingen“ – so heißt dort das Arbeitsamt – direkten Zugriff auf etwa 95 Prozent aller freien Stellen im Land hat, gingen die guten Jobs hier zu Lande bislang meist unter der Hand weg oder über den Stellenmarkt der großen Zeitungen. Daran waren die Agenturen nicht ganz unschuldig. „Wir haben die Arbeitgeber manchmal mit Vermittlungsvorschlägen geradezu bombardiert“, sagt Jacqueline Müller, eine der „arbeitgeberorientierten“ Vermittlerinnen in der Hallenser Agentur. „Darunter waren auch etliche, die nicht zum Stellenprofil gepasst haben.“ Jetzt herrscht ein anderes Prinzip. Müller und ihre Kollegen besuchen die örtlichen Arbeitgeber regelmäßig persönlich, die vielversprechenden zuerst. Auch hier wird sortiert, und zwar danach, wie viele Leute die Unternehmen in der Vergangenheit eingestellt haben. Sieht Müller ein Stellenangebot in der Zeitung, das der Agentur nicht gemeldet wurde, ruft sie an: „Besteht Bedarf an unserer Dienstleistung?“ Manchmal trifft sie auf Ablehnung, weil die Arbeitsamts-Offerten früher zu oft nicht zum gesuchten Profil passten. Manchmal bekommt sie einen Termin. Dann nimmt sie die sorgfältig sortierten, in Frage kommenden Bewerberprofile gleich mit. Dank einer software-gestützten Matching-Strategie konnte die Passgenauigkeit verbessert werden. Die Firmen erhalten jetzt weniger, dafür aber geeignete Vorschläge. In nur noch 41 Prozent der Fälle präsentiert die Agentur mehr als fünf Bewerber. Bei einer früheren Stichprobe waren es noch mehr als 60 Prozent. Die Software vergleicht das Anforderungsprofil des Arbeitgebers mit den Daten aus dem Bewerber-Pool. Selbst die Relevanz gewünschter Qualifikationen wird dabei berücksichtigt. „Wenn einem Firmenchef etwa Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit besonders wichtig sind“, erklärt Vermittlerin Müller, „dann sehe ich das jetzt sofort und weiß, dass ich ihm einen Bewerber, der gern mal zu spät zum Vorstellungstermin erscheint, gar nicht erst schicken muss, ganz egal, wie gut der sonst ist.“ Am Vortag konnte sie ein Top-Stellenangebot akquirieren: Gesucht wird ein Stahlbauer. DauerArbeitsverhältnis, Vollzeit, Leistungsprämie – Dinge, die für die Region alles andere als selbstverständlich sind. Jacqueline Müller klickt am PC auf „Bewerbersuche“. Es erscheint ein passgenauer Kandidat aus dem Kundenpool: Max Juris* aus Halle, arbeitslos gemeldet seit 13.12.2004. Den geforderten Schweißerpass hat er, ebenso alle anderen Qualifikationen. Auch ein Pkw ist vorhanden, das ist nicht unwichtig, von Halle bis zur Arbeitsstelle nach Gutenberg sind es 20 Kilometer. „Da muss ich erst mal gar nicht weitersuchen“, sagt Müller. Sie wird Herrn Juris gleich anrufen. Priorität hat die zügige Vermittlung arbeitsloser Menschen in vorhandene Jobs. Genauso wichtig ist aber, was diese Vermittlung kosten darf. Porträt Inge Ragaller Text / Foto: Ralf Grauel McK Wissen 13 11 Die Rätin Beamte sind wie Menschen in anderen Berufen auch. Es gibt eifrige, weniger eifrige und übereifrige. Und es gibt welche, die ihren Job lieben. Seiten: 74.75 Das Treppenhaus ist nichts Besonderes. Der Blick nach hinten, in den Innenhof, rutscht an einer glatten, nichts sagenden Fassade ab. Vorne raus, zur Maximilianstraße, gab es prächtige neugotische Giebel und Arkaden, wie sich das für die Münchner Maximilianstraße gehört – und für die Regierung von Oberbayern. Hier drinnen aber haben sie beim Wiederaufbau deutlich erkennbar gespart, wie in fast allen deutschen Ämtern. In diesem kargen Aufgang windet sich eine Treppe drei Stockwerke nach oben, das Geländer ist aus dünnen Metallstäben, der Handlauf in Plastik eingefasst. Ab dem ersten Stock sind farbige Bindfäden an diese Stäbe gespannt, ziehen sich durch die Etagen, überkreuzen sich im zweiten und spannen sich im dritten Stock wieder auseinander, rundherum um das Geländer, was an eine Sanduhr erinnert, nur eben eine aus, tja, Bindfäden. „Das war ein Vorschlag von einem unserer Mitarbeiter. Er hat ihn auch selbst umgesetzt“, sagt Inge Ragaller, „die Struktur repräsentiert unsere Arbeit.“ Die Oberregierungsrätin zeigt auf die Fadenskulptur, auf den Knoten des Fadenbündels, die Stelle, die bei einer Sanduhr den Lauf der Dinge kontrolliert, sprich verlangsamt, ein Ort, der von Organisationsexperten auch als Bottleneck oder Flaschenhals bezeichnet wird, und sagt: „Bündelung! Das ist die klassische Funktion einer Mittelbehörde. Wir vermitteln zwischen den verschiedenen bayerischen Ministerien und den lokalen Behörden, Gemeinden, Städten und Ämtern.“ Dabei strahlt sie. Die Regierung von Oberbayern, so heißt diese Mittelbehörde, von der Inge Ragaller spricht, ist nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, die Regierung Bayerns, sie ist die Verwaltung eines Regierungsbezirkes, wie es davon insgesamt 22 in Deutschland gibt. Der von der Fläche her größte gleicht einem Dreieck, mit München in der Mitte. Garmisch-Partenkirchen im Südwesten, das Berchtesgadener Land im Südosten und Eichstätt im Norden begrenzen das Gebiet. Ein Drittel aller Bayern wohnt hier, etwas mehr als vier Millionen Menschen. Wie alle Bezirksregierungen ist auch diese hier eine klassische Mittelbehörde, das heißt, von hier aus wird die Tätigkeit von Kreisverwaltungen, Fachbehörden und Gebietskörperschaften beratend begleitet und soweit nötig koordiniert und kontrolliert, vom Straßenbau bis zur Wasserwirtschaft. Inhaltlich kommt in so einer Mittelbehörde alles zusammen, was man gemeinhin als „Leben“ bezeichnet. Zwei Stunden später, in ihrem Büro, geht es noch einmal um das Treppenhaus. Inge Ragaller erzählt, wann sie das Gebäude zum ersten Mal betrat. 1984 war das, da war sie noch Inspektorin im Münchner Polizeipräsidium. „Nein, nein“, die 54-Jährige lacht, „ich war Sachbearbeiterin im Innendienst, in der Personalabteilung. Bei der Polizei heißen Sie ja automatisch Inspektor. Im Polizeivollzugsdienst wären Sie ein Kommissar, vorausgesetzt, Sie befinden sich im gehobenen Dienst. Sonst wären Sie Wachmeister oder Hauptwachtmeister; die befinden sich im mittleren Dienst. Aber egal“, sie lacht wieder, winkt ab, „ich interessiere mich wirklich nicht für diese Titel“, und erzählt weiter von damals. Die Behörde – ein Gefühl von Zuhause „Kommen’s doch zu uns“, hatte der Kollege aus der Personalstelle der Regierung von Oberbayern gesagt. „Er wollte wieder zurück aufs Landratsamt nach Bad Tölz“, sagt Ragaller. Also schaute sie mal vorbei, ging in dieses riesige rostbraune Gebäude, das Treppenhaus hoch, und plötzlich wurde ihr ganz anders. „Wie ich da rauf bin, dachte ich, ich bin Zuhause“, sagt sie langsam. Dann neigt Inge Ragaller den Kopf, macht eine Pause und fragt: „Haben Sie das auch schon mal erlebt in Ihrem Beruf?“ Beamte sind Dienstleister der Allgemeinheit. Die meisten Bürger kommen mit den Staatsdienern nur dann in Kontakt, wenn sie eine dieser staatlichen Dienstleistungen abrufen. Da gibt es schöne und weniger schöne Geschichten. Wie das so ist, in einem Dienstleistungs-Schwellenland. Beamte, Ämter und Behörden hat es in den vergangenen Jahren genauso durchgeschüttelt, wie den Rest des Landes auch. Bund, Länder, Gemeinden und Behörden – alle bekennen sich zum Bürokratieabbau wie zu einem Glaubensbekenntnis für den Fortschritt. Wer nicht verschlankt, ist nicht modern. Das sorgt für Verunsicherung bei den Beamten. Überdurchschnittliche Pensionen und Sozialleistungen, automatische Aufstiege, krisensichere Arbeitsplätze, Unkündbarkeit: Ausgerechnet jene Errungenschaften, die den Staatsdiener gegen Machtmissbrauch und Korruption panzern sollten, kommen seitdem auf den Prüfstand. 1,7 Millionen Beamte gibt es in Deutschland. Und wenn es nach den Plänen so mancher Experten geht, dann haben wir es mit einer aussterbenden Spezies zu tun. In der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei beispielsweise liegt eine Studie des Hamburger Staatsrechtlers Hans Peter Bull, nach der ganz normale Arbeitsverträge die Lebensanstellung ersetzen können. Die Am Arbeitsplatz der Oberregierungsrätin Inge Ragaller geht’s ums Bündeln: im Job wie bei der Fadenskulptur im Treppenhaus. Porträt Inge Ragaller Text / Foto: Ralf Grauel Umsetzung wird gerade geprüft. Seit 1990 ist die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst um 1,1 Millionen gesunken. Von den heute 4,8 Millionen Staatsbediensteten sind nur noch rund ein Drittel Beamte, der Rest sind Angestellte und Arbeiter. Ihre Arbeit in den Behörden hat sich längst vom Klischee entfernt. Zwar bilden die Schienen mittlerer, gehobener und höherer Dienst (die früher unterste Stufe, der einfache Dienst, kommt kaum mehr vor) die Starrheit des deutschen Schul- und Ausbildungssystems ab, doch gibt es immer mehr Querverbindungen zwischen den Karrieregleisen. Bezahlung soll zunehmend an Leistung gekoppelt werden; an die Stelle der öffentlich geführten Pensionskassen sollen privatwirtschaftliche Lösungen treten. Parallel zum Abbau der einst Neid erregenden Benefits schraubt der staatliche Arbeitgeber die Ansprüche hoch. Gehälter werden eingefroren, Regelarbeitszeiten erhöht – nicht nach zähen Verhandlungen, sondern schnell und sauber per Gesetz. Die meisten Beamten arbeiten schon jetzt deutlich mehr als 40 Stunden, in Bayern gilt für sie offiziell eine 42-Stunden-Woche. Wer streikt, macht sich strafbar. Übermäßiger Alkoholkonsum, Übergewicht, auffälliges oder gar aggressives Verhalten in der Öffentlichkeit: Das alles sind Kündigungsgründe für Beamte. Haben sich die alten Wohltaten zum Korsett entwickelt? Wie fühlt sich dieser Apparat von innen an? Oder anders gefragt: Macht das überhaupt noch Spaß, Beamter zu sein? Inge Ragaller lächelt. Und sie ist aufmerksam, bemerkenswert aufmerksam. Zweimal wurde das Gespräch jetzt schon unterbrochen, einmal brachte eine Kollegin Kaffee und Kekse, dann kam jemand und reichte eine Umlaufmappe herein. Beide Male gab es höfliche, helle Wortwechsel. Inge Ragaller hat diese explizite Wachheit und Zuwendung, die Menschen zu Eigen ist, die andere Menschen ganz offensichtlich mögen. Seit 25 Jahren, die Ausbildung mitgerechnet, ist sie Beamtin. Die meiste Zeit hat sie im inneren Dienst verbracht. Inge Ragaller war Personal-Sachbearbeiterin bei der Münchner Polizei, für die Regierung von Oberbayern hat sie mehr als tausend junge Beamte für den gehobenen Dienst eingestellt und deren Ausbildung begleitet. Nun ist die Oberregierungsrätin Personalchefin für die Angestellten der Regierung. Man kann also sagen, Inge Ragaller hat sie alle gesehen, und ja, die Zeiten sind härter geworden. „Allein im vergangenen Jahr gab es so viele Blindbewerbungen wie noch nie. Plötzlich sitzen hier völlig überqualifizierte Leute und behaupten, es sei schon immer ihr Traum gewesen, für den McK Wissen 13 Seiten: 76.77 öffentlichen Dienst zu arbeiten“, sagt sie und schaut dabei besorgt. Das war nicht einmal ihr Traum, damals, als sie sich für die gehobene Beamtenlaufbahn bewarb und einfach mal so den Einstiegstest machte. Dass sich jemand wegen der guten Sozialleistungen oder der Unkündbarkeit bewirbt, das hat sie früher nie erlebt, „an so etwas denken Sie doch nicht, wenn Sie jung sind“. Sie wollte „etwas Juristisches machen. Ich dachte, das schaust du dir mal an, studieren kannst du später immer noch. Die Beamtenlaufbahn war mir wurst, ganz ehrlich“. Die Bewerber, die später in ihrem Büro saßen, konnte sie fast immer in drei Gruppen einteilen. „Es gab welche, die wollten, welche, die sollten, und welche, die mussten.“ Letztere hat sie zur Seite genommen. „Viele Beamtenkinder waren das, wo man merkte, die Eltern machen Druck. Die haben sich schon in der Ausbildung gesträubt. Die steigen später alle wieder aus.“ Nicht todernst war es, sondern toll, lebhaft und beeindruckend Beamtenausbildung geht so: Die höheren Dienste (also Regierungspräsidenten, -direktoren und -räte) rekrutieren sich aus Studienabgängern. Die mittleren und gehobenen Anwärter werden an Verwaltungsschulen und an Fachhochschulen ausgebildet und dazu parallel zwei oder drei Jahre lang durch alle bürokratischen Erscheinungsformen geschleust. „Ausländeramt, Sozialamt, Bauamt, Personalstelle: Sie machen alles mal mit.“ Zum Abschluss gibt es eine Prüfung. „Und die ist wichtig! Die hängt Ihnen lange hinterher“, sagt die Personalleiterin. Natürlich hatte auch sie nicht das beste Bild von Beamten. „Ich dachte, die seien alle todernst, aufs Gesetz bedacht und trocken. Das Interessante war: Das waren die wenigsten.“ Das Team im Bauamt war toll, die KfzZulassungsstelle herrlich lebhaft, das Sozialamt war beeindruckend, nur der Rechnungsprüfer, „ein hagerer, ernster, sehr korrekter, schüchterner Mann. Der war doch sehr trocken“, sagt Inge Ragaller und blickt auf, „aber, mei, was sollte der auch mit so einem jungen Mädchen anfangen?“ Wie schafft man es zwischen all den Verordnungen, Dienstwegen und Anweisungen, nicht zu einem dieser Beamten zu werden, der man selbst nie sein möchte? „Ganz einfach: indem man genau das einfach nicht ist“, sagt Inge Ragaller versöhnlich, „es sind ja nicht die Beamten, die so kompliziert sind, sondern die Gesetze, mit denen sie zu tun haben.“ 20 Jahre lang hat Inge Ragaller schon Leute in den Staatsdienst geholt – und dabei erlebt, wie sich die Zeiten und mit ihnen die Beamten änderten. Nach der Ausbildung kam sie zum Sozialamt, betreute als Inspektorin zur Anstellung (so heißt die Probezeit) den Buchstabenbereich E bis K. „Da hab’ ich das Flattern bekommen“, erzählt sie, wie plötzlich erwachsen werden war das: Menschen, die so arm oder krank waren, dass sie nicht einmal mehr aufs Amt kommen konnten. Krankheiten, von denen sie vorher nie gehört hatte. „Ich hatte bis dahin immer eine große Schnauze, aber da habe ich ganz kleine Brötchen gebacken. Ich wusste doch als 22-Jährige nicht, was Multiple Sklerose ist.“ Aber sie musste die Entscheidungen treffen. „Einer war dabei“, erzählt Inge Ragaller, „der hatte ein Gespür für Wahrheit. Der war menschlich, hatte ein Herz und war auch mal in der Lage, zu bremsen und Grenzen zu setzen.“ Wenn es schwere Fälle gab, junge schwer kranke Leute, die keine Mittel hatten; wenn sie das Gefühl hatte, sie müsse helfen, „dann bin ich zu ihm gegangen, und da hat er mir Rückendeckung gegeben“, sagt sie und: „Mein Gott, an den habe ich schon lange nicht mehr gedacht.“ Sie steht auf, geht hinter ihren Schreibtisch und kramt nach einem Zeitungsausriss. „Der Bezirk Oberbayern nimmt Abschied von seinem Mitarbeiter Verwaltungsoberamtsrat Volkmar Rahnert“ steht auf der Todesanzeige. „Vor drei oder vier Jahren ist er gestorben“, sagt sie, „mein erster Chef. Der war lange Jahre mein Vorbild.“ Inge Ragaller demnächst in diesem Organigramm erscheinen und einen Sachbereich leiten, aber „höherer Dienst heißt erst mal mehr Geld“. Zwanzig Jahre hat Inge Ragaller junge Menschen und Quereinsteiger in den Staatsdienst geholt. Es gibt kaum eine Behörde der Allgemeinen Inneren Staatsverwaltung in Bayern, in der nicht jemand sitzt, den sie eingestellt hat. Sie würde nie von ihren Schäfchen reden, das wäre anmaßend, aber ihr Ton hat Wärme und Wahrhaftigkeit. Sie war lange Jahre Frauenbeauftragte, sie hat das Leitbild der Regierung von Oberbayern mit entwickelt, „was für ein Schmarr’n, dachte ich zuerst, aber dann setzen Sie sich mit Ihren Kollegen und mit der Arbeit auseinander. Das Selbstverständliche wird wieder bewusst“. Sie hat Reformen miterlebt, sie hat modernisiert, es gibt Mitarbeiterbeurteilungen und Führungsdialoge, wo sogar auf Sachbearbeiter-Ebene mit einem Moderator Konflikte geklärt werden. Es gibt Fortbildungen für Soft Skills, soziale Kompetenz und Mitarbeiterschulungen. Es menschelt im Amt. Aber unterm Strich bleibt die Feststellung: „So eine harte Zeit wie heute habe ich noch nicht erlebt.“ „Wenn wir ausschreiben und freie Stellen haben, gibt es viel zu viele Bewerbungen.“ Früher hat sie Info-Stände im Arbeitsamt aufgebaut, um Bewerber anzusprechen. Früher hat sie in einem Jahr 120 Anwärter für den mittleren und gehobenen Dienst eingestellt. Heute vielleicht 20. Bei jeder NeubeVom harten Sozialamt setzung muss sie nun zuerst auf den internen Job-Pool zurückgreifen, denn zur Lebensaufgabe in der Personalstelle seit Mitte der Neunziger wird in Bayern konstant umgebaut und abgebaut. Inge Ragaller reibt mit Daumen und Zeigefinger imaginäre Geldscheine: Das Sozialamt war eine Nummer zu hart. „Ich habe dort meine Grenzen „Das Ziel ist immer: Es soll billiger und schneller werden, nicht ganz so gespürt. Das hat mich zu sehr berührt.“ Sie wechselte zwei Jahre später ins kompliziert, und das mit weniger Personal.“ Ämter können nicht einfach Münchner Polizeipräsidium, das damals gerade verstaatlicht wurde, also ihre Geschäftsfelder erweitern. Bei Kündigungsschutz und konsequentem dem Land unterstellt. Eine turbulente Zeit, die meisten Verwaltungsein- Stellenabbau würde das die sichere Überalterung bedeuten. „Das kann in heiten wurden neu geschaffen, sie kam in die Personalstelle, kümmerte den nächsten Jahren tatsächlich ein Problem werden“, sagt die Oberregiesich um Anwärter, aber auch um die Polizeisportmittel, „plötzlich hat das rungsrätin und dabei nickt sie langsam. richtig Spaß gemacht“. Organisieren, vermitteln, verwalten, motivieren, Am Ende des Gespräches sagt Inge Ragaller, die sich nun sehr viel mit entscheiden, da hat sie sich für ihren Beruf entschieden, 1975 war das: „Ich Angestelltentarifverträgen, Ver.di, Arbeitsgerichten und dergleichen herumdachte, das machst du jetzt so gut, wie du es kannst.“ schlägt, noch etwas. „Beamte sind pflegeleichter. Nicht weil die kuschen, Hinter ihrem Schreibtisch hängt ein Organigramm, es ähnelt im Aufbau dem nein. Sie können Beamte einfach überall einsetzen. Schauen Sie, jeder eines Ministeriums mit seinen verschiedenen Ressorts und Staatssekretären, Beamte hat ja eine ähnlich breit gestreute Ausbildung durchlaufen. Auf ganz klar, „eine Mittelbehörde muss ja immer das Ministerium spiegeln“. diese Art sind ihre Berufe alle miteinander verwandt.“ Ihr Name taucht in keinem der Kästchen auf. Sie ist „Aufstiegsbeamtin“, Das ist ein wenig so, als wären alle Beamte auf derselben Schule gewesen, vor fünf Jahren hat sie eine Prüfung abgelegt und ist in den höheren Dienst denkt man später, beim Abstieg durch das Treppenhaus. Und Inge Ragaller gesprungen, seitdem ist sie Oberregierungsrätin. Theoretisch könnte war zwar nicht ihre Schulleiterin, aber sie war wohl ziemlich nah dran. Sitz der Regierung von Oberbayern mit feiner Adresse in München: außen prächtig, innen bescheiden. Wirtschaftsentwicklung Text: Sophie Büning Zeichnung: Martina Wember McK Wissen 13 Seiten: 78.79 Tausendmal probiert … … tausendmal ist nichts passiert, wenn Kommunen und öffentliche Hand versuchten, ihren Regionen zu Wachstum und Wohlstand zu verhelfen. Dabei ist regionale Wirtschaftsentwicklung nicht nur möglich, sie ist im Zweifel sogar der einzige Weg, der in Zeiten wie diesen neue Arbeitsplätze schafft. Vorausgesetzt, es werden die richtigen Konzepte gemacht. Eine Reise durch deutsche Cluster-Regionen. 12 1. FORDERN, FÖRDERN, PLANEN UND ENTWICKELN. Warum klassische Regionalentwicklung noch kein Cluster schafft. Die „Clusterei“, wie es einige Akteure mittlerweile gern nennen, ist bereits seit 1990 en vogue. Damals hatte Harvard-Professor Michael Porter die These formuliert, dass Innovationen als ultimative Wettbewerbsvorteile vor allem dann entstehen, wenn die konkurrierenden Akteure einer Industrie am selben Ort versammelt sind. Je enger die Wettbewerber zusammenrücken, desto größer die daraus entstehende Kraft. Und je größer die Kraft, desto besser, meinte Porter. Was einfach klang, bedeutete damals wie heute eine Revolution. Konsequent zu Ende gedacht, geht es bei einem Cluster nicht mehr nur um den Erfolg des einzelnen Unternehmens, es geht um den Erfolg einer Region, die prosperiert, weil es den einzelnen Akteuren nützt. Unternehmen in modernen Industrien können konkurrieren – und dennoch vom Austausch miteinander profitieren. Sie können gemeinsam forschen und entwickeln – und doch individuelle Antworten auf einzelne Fragestellungen finden. Sie können jeweils nach den besten Mitarbeitern suchen – und zusammen dafür sorgen, dass der Nachwuchs die hohen Anforderungen einer modernen Industrie erfüllt. Sie können aus dem egoistischen Ziel, die Wege zu ihren Lieferanten zu verkürzen, gemeinsame Sache machen: Für einen Auftraggeber zieht so leicht kein Zulieferer in eine Region, für ein Bündel an Aufträgen dagegen schon. Die Wettbewerber dürfen gern ihr eigenes Wachstum zum Ziel haben – und als Gruppe dennoch den Erfolg der Region: Ein attraktiver Standort lockt neue, junge Unternehmer und damit auch potenziell neue Kunden, neue Partner, neues Wissen und neue Ideen. Kurzum: Die Unternehmer in einem Cluster können ihre individuelle Marktposition stärken, weil sie von der Attraktivität einer Region als Wirtschafts- und Lebensraum profitieren. Die klassische Regionalentwicklung greift deshalb zu kurz. Wer aus einer Region ein Cluster machen will, braucht Analysen, Konzepte und finanzielle Mittel; er braucht Hochschulen, Flughäfen, Bahnhöfe und Autobahnen, Gewerbegebiete und Stadtentwicklung. Er braucht Visionen und den politischen Willen, die Unterstützung aller Parteien und wirtschaftlichen Kräfte. Er braucht Gestaltungsmacht. Hoffnung. Mut. Er muss neue Wege gehen und Fehler machen dürfen. Er braucht eine hohe Frustrationstoleranz und nicht wenig Überzeugungskraft. Er braucht quantifizierbare Ziele. Vor allem aber braucht er Zeit. Die nächste Wahl, die nächste Hauptversammlung, der nächste Haushaltsplan einer Stadt reichen nicht als Frist für das Verkünden guter Nachrichten. Wer ein Cluster baut, verknüpft Tradition und Moderne. Und arbeitet an der Zukunft einer gesamten Region. 2. ALLE PLANEN, NICHTS GEHT. Weshalb es nicht reicht, das Beste zu wollen. Ob es symptomatisch für Deutschland ist, weiß Peter Kraljic nicht so genau. Es sei zumindest symptomatisch für jede deutsche Region, die sich aufmacht, ein Cluster-Projekt anzuschieben. Der 65-Jährige, der als Director bei McKinsey bis zu seinem Ruhestand vor drei Jahren die unterschiedlichsten Gegenden der Welt bei ihren Wachstumsplänen unterstützte, erinnert sich mit Unbehagen an die Zeit vor sieben Jahren, als es in Wolfsburg losgehen sollte mit jener Vision, die aus der gebeutelten Stadt so etwas wie eine blühende Landschaft machen sollte. Der Vorstand der Volkswagen AG, vertreten durch Arbeitsdirektor Peter Hartz, hatte der Stadt 1998, zum sechzigsten Geburtstag, ein ungewöhnliches Geschenk gemacht: Der größte und mehr oder weniger einzige Arbeitgeber der Region wollte dafür sorgen, die Arbeitslosigkeit in Wolfsburg um die Hälfte zu reduzieren. Innerhalb von gut fünf Jahren sollten zehntausend neue Jobs entstehen. Ein Automobil-Cluster, McKinseyBerater Kraljic sollte helfen, es zu bauen. „Wir hatten schon Pläne, Zahlen und ein sehr klares Konzept“, erinnert er sich. Und erzählt dann von jener Sitzung, die er bis heute nicht vergisst, weil er zu einer auch für ihn bis dahin ungewöhnlichen Taktik gegriffen hatte. Aus Verzweiflung über die politische Kleinkrämerei, die er hier zu Lande so oft beobachtet, wenn es um die Schaffung von Arbeitsplätzen geht. Und auch, weil er die endlosen Debatten müde war, damals. „Es waren alle Fraktionen vertreten, klar. Rote, Gelbe, Grüne, Schwarze, alle hatten sie ihre Vertreter geschickt. Und alle begannen, kaum dass ich das Konzept vorgestellt hatte, mit den Erklärungen darüber, warum es nicht klappen könnte. Es ging nur um Zweifel, Kritik und mögliche Stolpersteine, jeder zog in eine andere Richtung. Nach einer Weile habe ich sie unterbrochen und nicht als Vertreter von McKinsey ums Wort gebeten, sondern als ‚Gastarbeiter Peter Kraljic‘.“ Er sei im Kommunismus aufgewachsen, erklärte er der Runde. „In Jugoslawien. Da hatten wir eine Diktatur und keine Demokratie. Aber ich habe den Eindruck, dass Sie Ihre Demokratie missbrauchen. Ich verstehe demokratische Entscheidungswege, aber hier geht es nicht darum, welche Partei Recht hat. Hier geht es um Arbeitsplätze. Nicht für Sie und nicht für Ihre Kinder, sondern für Ihre Enkelkinder. Die Fraktion, die das nicht unterstützt, sollte jetzt aufstehen und den Raum verlassen. Denn ich brauche hier nur eine Fraktion. Und die heißt Fraktion Wolfsburg.“ Es sei gespenstisch gewesen, sagt Kraljic. Sehr still. „Und dann fingen alle an zu klatschen. Eine halbe Stunde später wurde das Konzept einstimmig verabschiedet.“ 3. STÄRKEN STÄRKEN. Wieso Cluster nicht gleich Cluster ist. So unterschiedlich die Regionen, so unterschiedlich sind auch die Lösungen, die dauerhaft zu Wachstum führen. Jede Gegend hat andere Wurzeln, andere industrielle Schwerpunkte, andere Branchen-Konstellationen, andere Zwänge – und auch ihre individuellen Optionen. Es gibt nicht das eine Modell, ein Cluster aufzubauen. Aber es gibt zu Beginn die immer gleichen wichtigen Fragen: Was sind die Stärken der Region? Worauf können wir aufbauen? Haben wir in Bezug auf Unternehmen und Wissen eine kritische Masse, die wir entwickeln können? Beispiel Wolfsburg Die Stärke der Stadt war gleichzeitig ihre Schwäche: Wolfsburg war Automobilindustrie – und Wirtschaftsentwicklung Text: Sophie Büning ohne Automobilindustrie war Wolfsburg wenig. Eine Monokultur. Zentriert auf den einzigen großen Arbeitgeber der Region, die Volkswagen AG. Stärken zu stärken bedeutete hier den Ausbau der Region zu einem Zentrum für Mobilität. Konkret: Zulieferer ansiedeln, neue Betriebe anlocken und entwickeln, eine mittelständische Industriekultur aufbauen, Forschung und Entwicklung vorantreiben, Know-how bündeln. Und der Stadt ein neues Gesicht geben. Seit 1997 wurden in Wolfsburg 263 Unternehmen gegründet, 101 Volkswagen-Lieferanten und -Zulieferer haben sich angesiedelt, insgesamt hat der Standort 7941 neue Arbeitsplätze geschaffen – ein Plus von gut zehn Prozent verglichen mit damals. Die Autostadt lockt jedes Jahr rund eine Million Besucher in die Stadt, das neue Science Center oder die Wasserskianlage sollen weitere Gäste anziehen. Spätestens in vier Monaten wird die neue Autouniversität ihren regelmäßigen Lehrbetrieb aufnehmen – zunächst nur für Konzernmitarbeiter, ab 2010 wird sie Studenten aus aller Welt offen stehen. Der Campus ist fast fertig gebaut, die ersten Studiengänge sind geplant, die „Studenten“ für das kommende Semester haben sich bereits eingeschrieben. In zehn Jahren will die Region um Wolfsburg der europäische Standort für alles rund um das Thema Mobilität sein – dazu zählen Innovationen der Automobiltechnologie genauso wie neue Produkte aus dem Gesundheitsbereich, die das Leben bequemer und die Menschen mobiler machen sollen. Die Arbeitslosigkeit ist seit 1997 von 17,2 auf 8,2 Prozent in 2004 gesunken. Beispiel Dortmund In Dortmund gab es keinen erkennbaren Kern, stattdessen vor allem Reste. Die Reste einer einst florierenden Brauerei-Industrie, Reste von ehemals führenden Logistikunternehmen und Reste von Kohle und Stahl, den beiden Gütern, die das Ruhrgebiet jahrzehntelang reich gemacht hatten. Insgesamt 90 000 Arbeitsplätze waren seit den fünfziger Jahren, den Hochzeiten der Region, verloren gegangen. „Alles, was prägend war, war weggebrochen“, erinnert sich Heinrich Kahmeyer, der ehemalige Personalchef von ThyssenKrupp. Ende der neunziger Jahre drohte der größte Arbeitgeber der Region seine beiden letzten Hochöfen zu schließen. Die Entscheidung würde weitere 4000 Arbeitsplätze kosten. McK Wissen 13 Seiten: 80.81 Aber die Region hatte auch Wissen. Neben den Hochschulen in Bochum, Duisburg und Essen bildete vor allem die Universität Dortmund mit dem deutschlandweit größten IT-Fachbereich jedes Jahr gut 2000 Studenten aus. Das war ein Anfang, eine Basis, auf der man aufbauen konnte. Wie zuvor in Wolfsburg suchte McKinsey Antworten auf die drei wichtigsten Fragen: Was kann man tun, um die vorhandenen Unternehmen vor Ort zu halten und wachsen zu lassen? Wie und in welchen Segmenten kann man neue Unternehmen gründen? Und vor allem: Wie kann man sie in der Region ansiedeln? Erfolgreiche Unternehmensgründungen beispielsweise im Bereich der Biotechnologie, das lehrt die Erfahrung, sorgen nach etwa fünf Jahren ihrer Existenz für 10 bis 20 Arbeitsplätze. Nach zehn Jahren beschäftigen diese Unternehmen im Schnitt 20 bis 50 Mitarbeiter. Jochen Overlack, Regionalentwicklungsexperte bei McKinsey sagt: „Wenn Sie jedes Jahr für 10 oder 20 derartiger Gründungen sorgen, können Sie sich ausrechnen, wie viele neue Arbeitsplätze Sie in zehn Jahren haben.“ Mit einer Vielzahl von einzelnen Maßnahmen und Projekten ist die Region um Dortmund deshalb dabei, ein Technologie-Cluster um die Bereiche IT, Logistik und Mikrosystemtechnik aufzubauen. Was das in der Praxis bedeutet und warum eine solche Idee nur funktioniert, wenn alle Beteiligten sich dem gemeinsamen Ziel verpflichtet fühlen, soll der neue Studiengang Informatik verdeutlichen: Dortmund hatte Anfang des neuen Jahrtausends gut ausgebildete Informatiker, aber es waren zu wenige für den geplanten Sektor, und ihre Ausbildung währte zu lang. Neun Jahre dauerte das Studium im Schnitt – endlos für eine Branche, die sich unentwegt wandelt. Um den neuen und alten Unternehmen in der Region schneller zu gut ausgebildeten Mitarbeitern zu verhelfen, haben Universität, Fachhochschule, örtliche Industrie- und Handelskammer und die zentrale Steuereinheit der Region, das Dortmund-Project, deshalb zum ersten Mal in ihrer Geschichte kooperiert – und gemeinsam mit den Unternehmen vor Ort einen Modellstudiengang konzipiert, der innerhalb von zwei Jahren junge Fachinformatiker, IT-Professionals, ausbildet. Das Studium ist staatlich anerkannt, als Grundstudium für all jene, die sich in der Wissenschaft weiterentwickeln wollen – oder als Einstieg in die Praxis. Die Planung dauerte drei Monate, im Jahr 2000 starteten die ersten 120 Studenten, zeitgleich mit ihrem Abschluss hatten 85 Absolventen einen festen Arbeitsvertrag in Unternehmen der Region. 4. ALLE ZIEHEN MIT – ABER WOHIN? Warum es ohne Steuereinheit nicht geht. Weil das beste Konzept nichts taugt, wenn die Umsetzung schlecht gemanagt wird, kommt der Organisation der Prozesse eine zentrale Bedeutung zu. „Eine Region, die ein Cluster werden will, braucht die geballte Kraft aller Beteiligten“, sagt Peter Kraljic. „Sie brauchen ein Gremium, das die verschiedenen Parteien vertritt, konkret: eine klare Führung.“ In Dortmund übernimmt diese Rolle eine Einheit, die der Stadt gehört und dem Bürgermeister unterstellt ist: Das Dortmund-Project ist ein Team von rund 30 Leuten, deren Aufgabe es ist, sämtliche Projekte der Region – vom BusinessplanWettbewerb bis zur Anlage eines künstlichen Sees – zu initiieren, zu begleiten und in Bezug auf Zeit und Kosten zu steuern. Wolfsburg hat für dieses Aufgabenspektrum ein unabhängiges Unternehmen gegründet, das jeweils zur Hälfte der Stadt und der Volkswagen AG gehört. Die Wolfsburg AG residiert in einem eigenen Gebäude, auf dem so genannten Innovationscampus, inmitten junger, mit ihrer Hilfe gegründeter Unternehmen. Rund 200 Mitarbeiter sind inzwischen in der AG beschäftigt, die von zwei Aufsichtsräten, Volkswagen-Personalvorstand Peter Hartz und Oberbürgermeister Rolf Schnellecke, kontrolliert wird. Die Region Hannover, die sich auch aufgemacht hat, ein Cluster zu werden, hat sich für die operative Verantwortung wieder eine andere Organisationseinheit gegeben. Dort wurde im April 2003 die Hannoverimpuls GmbH gegründet, eine rein öffentliche Institution, die zu 50 Prozent der niedersächsischen Landeshauptstadt und zu 50 Prozent der Region gehört. Die Public-Public-Partnership ist der spezifischen Situation geschuldet: Als sich die damalige Wirtschaftsministerin Susanne Knorre Anfang 2002 daranmachte, ein Cluster-Projekt anzuschieben, fand sie in der örtlichen Industrie zunächst keine Verbündeten. Inzwischen ziehen die mittelständischen Unternehmen rund um Hannover mit, allen voran Vertreter aus den Sektoren Maschinenbau, Lasertechnik und Automobilindustrie. Die Region um Braunschweig, wo die Bereiche Kunststofftechnik, Maschinenbau, Mikroproduktion und Verkehrssicherungstechnik gestärkt werden sollen, hat als Schaltstelle für den Wandel aufgrund ihrer spezifischen Situation eine höchst komplizierte Form wählen müssen. Formal ist die Projekt Region Braunschweig GmbH, die im Februar 2005 gegründet wurde, eine Public-Private-Partnership, tatsächlich wird der Public-Teil aus drei Städten und fünf Landkreisen gebildet. Zu den Gesellschaftern zählen Braunschweig, Salzgitter, Wolfsburg, Gifhorn, Goslar, Helmstedt, Peine und Wolfenbüttel. Von Unternehmensseite sind der Volkswagen-Konzern, die Öffentliche Versicherung Braunschweig, die Salzgitter AG, der Arbeitgeberverband Region Braunschweig e.V. sowie die IG Metall beteiligt. Eine Mammutaufgabe für Dirk Warnecke. Der Geschäftsführer der GmbH soll mit seinen 20 Mitarbeitern nicht nur diverse Projekte vorantreiben. Mit einem Jahresbudget von 2,5 Millionen Euro (für die nächsten fünf Jahre) soll er bis 2015 außerdem rund 12 000 neue Jobs schaffen und muss dabei – wie jeder Leiter in einer Cluster-Projektorganisation – auch stets die jeweiligen Interessen der heterogenen Gesellschafterstruktur ausbalancieren. Da gilt es nicht nur, die Vielzahl von Einzelprojekten im Detail zu steuern, die Finanzen zu verwalten, neue Gelder einzuwerben, die Planziele ständig mit der Realität abzugleichen und jede einzelne Maßnahme in einem quantitativen Raster zu bewerten und gegebenenfalls zu korrigieren. Viel schwieriger ist der unkonkrete Bereich, der diffuse, in dem es menschelt, weil so ein Cluster, wie Peter Kraljic sagt, „ja nun einmal lebt – mit der Wirtschaft, mit dem Wirtschaftsraum, mit der Entwicklung eines Sektors“. Und mit den Hoffnungen, Eitelkeiten, Zweifeln, politischen Überzeugungen, alten Feindbildern und neuen Ängsten der Menschen in einer Region. Auch damit müssen die Steuerungsteams in der Praxis ständig umgehen: In einer Region, die den Sprung in die Moderne schaffen will, fühlen sich viele als Verlierer. Der ehemalige Arbeiter im Automobilwerk, der einstige Kohlekumpel, der Ex-Stahlgießer, der Handwerker, die Friseurin – was haben sie von der schönen neuen Welt, in der Arbeitsplätze für Logistik, Verfahrenstechnik, Mikrosystemtechnik oder IT entstehen? „Sie müssen den Menschen die Ziele immer wieder erklären“, sagt Udo Mager, der Projektleiter in Dortmund, „sie in ihre Welt übersetzen. Ihnen klar machen, dass jeder einzelne Schritt auch der lokalen Wirtschaft nutzt, weil es Querverbindungen geben wird, neue Produkte und neue Lösungen – und am Ende auch ein anderes Lebensgefühl, für jeden in der Region.“ 6. UND ES GEHT DOCH. Wie aus alten Strukturen neue Partner wachsen können. 70 bis 80 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland verdienen ihr Geld im Mittelstand. Grund genug für die Player in einer Region, auch in diesem Segment für den Abbau alter Barrieren und neue Lösungen zu sorgen. Kim, die Kooperation Initiative Maschinenbau zeigt, wie das gelingen Wo zusammenwachsen soll, was bislang nicht zusammengehörte, ist Sen- kann. sibilität gefragt, Ausdauer, Konfliktfähigkeit, Optimismus und Überzeu- In Braunschweig haben sich vor fünf Jahren zwölf Unternehmen zusamgungskraft. Mit dem Geschick der operativen Steuerzentralen steht und fällt mengetan, um sich gegenseitig zu unterstützen – der Verband der Metallletztlich das gesamte Projekt. „Die Person an der Spitze muss in alle denk- industrien und die IG Metall förderten die Idee mit einem in Deutschland baren Richtungen agieren“, sagt Cluster-Experte Thomas Heuser, „und das bislang einzigartigen Tarifvertrag. Kim-Mitglieder dürfen Fachkräfte je nach Bedarf untereinander ausleihen und können so flexibel auf die jeweilige jeden Tag und auf zahllosen Hochzeiten gleichzeitig.“ Ob Dortmund-Project, Wolfsburg AG, Hannoverimpuls oder Projekt Auftragslage reagieren. Das hat den Stellenabbau bei allen Mitgliedern Region – die Aufgaben der Teams an der Spitze sind mehr oder weniger gestoppt. Jochen Overlack schwärmt noch heute von dem Projekt: „Die gemeinsame Planung und Zusammenarbeit von Unternehmen, die identisch. Und sie sind höchst kompliziert. 5. ZWISCHEN ALLEN STÜHLEN. Was es bedeutet, eine Region zu motivieren. „Die Person an der Spitze muss in alle denkbaren Richtungen agieren – und das jeden Tag und auf zahllosen Hochzeiten Thomas Heuser gleichzeitig.“ Wirtschaftsentwicklung Text: Sophie Büning Zeichnung: Martina Wember keine gemeinsame Kapitalbasis haben, war etwas Neues und ganz Fantastisches“, meint der Berater. „Und sie war vor allem der Flexibilität der IG Metall zu verdanken.“ Inzwischen hat sich das Projekt noch deutlich ausgedehnt. Heute tauschen die Kim-Mitgliedsfirmen nicht nur Mitarbeiter untereinander aus, sondern auch Wissen. Sie forschen und entwickeln gemeinsam, zudem organisieren sie miteinander den Einkauf, die Entsorgung und die Ausbildung des Nachwuchses. Neun weitere Maschinenbau-Betriebe der Region haben die Idee inzwischen aufgenommen und eine zweite Kim gegründet, und auch rund um den Forschungsflughafen Braunschweig haben sich 13 kleine und mittlere Unternehmen zusammengetan, um gegenseitig von ihrem Know-how zu profitieren. Die Kim für die Luftfahrt wird von der Projekt Region Braunschweig GmbH unterstützt. Zum Wohle der Region und der Unternehmen. McK Wissen 13 Seiten: 82.83 Regionen, in denen die klassischen Industrien am Aussterben sind? Und wo, wenn nicht in Clustern, sind in jüngster Vergangenheit überhaupt Arbeitsplätze geschaffen worden in Deutschland? In einer Zeit, in der landesweit Jobs ab- und nicht aufgebaut werden, hat die Region Dortmund eine Grundlage für Wachstum geschaffen, das auf neue Technologien und Zukunftsbranchen baut. Und diese Branchen, meint Heuser, folgen anderen Regeln. Die seit Projektbeginn rund 200 neu gegründeten Unternehmen bräuchten gut fünf Jahre Entwicklungszeit, bis sie mit ihren Innovationen wirklich wachsen und eine nennenswerte Zahl von Mitarbeitern einstellen könnten, meint er. Der Multiplikationseffekt mache sich in diesen Industrien stets später bemerkbar. Und ja, sagt Heuser, vielleicht seien die Pläne von damals auch ein wenig zu optimistisch gewesen. „Alle waren seinerzeit betrunken von der New Economy. Die Dortmund-Planer vielleicht auch. Aber ist das Ziel deshalb schon falsch?“ Das Ziel war richtig. Und es darf nicht vage bleiben, denn sonst bewegt WAS IST ERFOLG? sich nichts. Ohne die konkrete Definition dessen, was eine Region erreichen Weshalb Zahlen so wichtig – und so unwichtig sind. will, meint Jochen Overlack, erreicht sie nichts. „Es ist nicht so wichtig, ob am Ende der Strecke 50 000 oder 70 000 neue Stellen geschaffen sind. Die Region um Dortmund hatte sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Zwischen Wichtig ist der Turnaround, und dafür steht Dortmund. Die Menschen 2000 und 2010 sollten rund 70 000 neue Arbeitsplätze entstehen, mehr als müssen genau wissen, wohin sie wollen. Sie müssen alle Kräfte dafür ein Drittel der vorhandenen Stellen in Dortmund; 34 000 allein im IT- und mobilisieren, Mittel bereitstellen und stets auf aktuelle Entwicklungen reaE-Commerce-Sektor. Die Unternehmen im kalifornischen Silicon Valley gieren. Dazu brauchen sie quantifizierbare Ziele, denn nur daraus können hatten seinerzeit binnen fünf Jahren ein durchschnittliches Wachstum von sie konkrete Maßnahmen ableiten und immer wieder überprüfen, ob sie 2,7 Prozent jährlich erzielt – warum sollten Unternehmen im Ruhrgebiet von ihrem Ziel abweichen und gegebenenfalls gegensteuern.“ nicht etwas Ähnliches schaffen? Im März 2005 wurde Halbzeitbilanz gezogen. 9000 neue Arbeitsplätze im IT-Bereich hat die Region Dortmund geschaffen – 12 000 waren für die UNTERNEHMER FÖRDERN. Hälfte der Strecke geplant. Und die Arbeitslosigkeit ist wieder gestiegen: Warum Businessplan-Wettbewerbe so wichtig sind. von 13,7 Prozent in 2000 auf heute 18,5 Prozent. 65 108 Menschen ohne Beschäftigung meldet die örtliche Agentur für Arbeit im März 2005. Gründer und junge Unternehmer braucht das Land, darin sind sich Politik Na bitte, meinten einige Kritiker, Ziel verfehlt. Die ganze Idee: viel Lärm und Wirtschaft einig. Die Frage ist nur: welche Gründer, welche Unterum nichts. Und haben sie nicht Recht? nehmer? Der Student, der sich mit einem Gewerbeschein aufmacht, einen „Nein, das haben sie nicht“, meint Thomas Heuser, Vorstandsvorsitzen- Uni-Schreibservice anzubieten, ist es eher nicht, der eine Region auf Dauer der der Dr. Heuser AG, die mit der Evaluation des Dortmund-Projektes voranbringen kann. Das können vor allem Unternehmer an den Schnittbetraut ist. Stattdessen fragt er zurück: Wie viele neue Arbeitsplätze sind stellen zwischen neuen und alten Industrien. Und genau die muss sich jede denn im selben Zeitraum anderswo geschaffen worden, noch dazu in Region gezielt suchen. 7. 8. „Das Gros unserer Arbeitsplätze haben wir heute in Industrien mit einem sehr hohen Reifegrad“, erklärt McKinsey-Experte Jochen Overlack den Zusammenhang. „Der Automobilbau beispielsweise wird in den kommenden Jahren wenig Beschäftigungszuwachs haben, Banken bauen eher ab als auf, das Gesundheitswesen steht unter enormem finanziellem Druck. Was wir brauchen, sind neue Technologien, Biotechnologie oder Lasertechnologie etwa, von denen wir heute schon wissen, dass ihre Anwendungen sich in den kommenden zehn, fünfzehn Jahren auch in den klassischen Industrien durchsetzen werden. Es gibt eine Reihe von Branchen, die erst ganz am Anfang eines 40-jährigen volkswirtschaftlichen Entwicklungszyklus stehen. Junge Unternehmen in diesen Bereichen beschäftigen heute vielleicht nur 40 Mitarbeiter – in zehn Jahren können es aber schon 4000 oder 40 000 sein. Das sind die Unternehmen, die wir meinen.“ Um sie zu finden, meint der Berater, sind Gründerwettbewerbe notwendig. Aber nicht irgendwelche. Wer neue Branchen und Industrien zu einem Cluster aufbauen will, braucht Auswahlverfahren, die exakt auf die Ziele und Bedürfnisse der Region zugeschnitten sind. Denn nur sie garantieren Gründer und Unternehmens-Projekte, von denen am Ende alle Beteiligten vor Ort profitieren. Die Wolfsburg AG hat durch ihre vier Wettbewerbe in den vergangenen Jahren 263 Unternehmer identifiziert und gefördert, die sich inzwischen in und um Wolfsburg herum niedergelassen haben. Ihre Geschäftsideen unterstützen die vier Schwerpunkte – Mobilität, IT, Tourismus und Gesundheit –, die aus der Region ein prosperierendes Cluster machen sollen. Dortmund braucht für sein geplantes Wachstum vor allem junge Unternehmer aus dem Bereich Mikrosystemtechnologie (MST) – und hat deshalb einen europaweit einzigartigen Wettbewerb aufgelegt. In den zwölf Businessplan-Runden, die das Team des Dortmund-Projects seit 2001 bereits organisiert hat, wurde auch Nachwuchs für Logistik und Informationstechnologie rekrutiert. Insgesamt haben die Wettbewerbe bis heute zu rund 200 Gründungen geführt – gut 100 der jungen Unternehmer haben sich in der Stadt angesiedelt. Eine spezielle Konstruktion hat dafür gesorgt: Das Preisgeld – 7500 bis 50 000 Euro – wird den Siegern der verschiedenen Kategorien nur dann in voller Höhe ausgezahlt, wenn sie sich in der Region niederlassen. Wer sich gegen den Standort entscheidet, muss auf die Hälfte der Prämie verzichten. Und auf ein Netzwerk von gut 600 ehrenamtlichen Experten, die den jungen Unternehmern auch über die Wettkampfzeit hinaus mit Rat und Tat zur Seite stehen. Ingo Kloppenburg ist einer der Gründer, die sich für einen Firmensitz in Dortmund entschieden haben. Als er vor zwei Jahren bei Start2grow gewann, durfte er sich über 7500 Euro Startkapital und einen Gutschein im Wert von 50 000 Euro freuen, den er als Mieter der MST-Factory einlösen darf. In dem neu gebauten Gebäudekomplex auf dem ehemaligen Stahlgelände Phoenix West können sich der 38-jährige Diplomingenieur und seine vier Mitarbeiter nicht nur mit jungen Kollegen beraten und austauschen, sondern auch dringend benötigte Maschinen anmieten, deren Anschaffung sich noch keiner der Gründer allein leisten könnte. Kloppenburgs Unternehmen, die MMS-Micro Machining Service GmbH, stellt sehr kleine Bohrer her. 30 Mikrometer misst ihr kleinster – damit könnten sogar mindestens zwei Löcher nebeneinander in ein Haar gebohrt werden. „Das ist der kleinste auf dem Markt“, sagt Kloppenburg. Und es ist erst der Anfang. Wenn sein prämierter Businessplan aufgeht, wird sich die MMS-Belegschaft schon binnen zwei Jahren verdoppeln. Und MMS ist nur ein Beispiel von vielen. „Es gibt eine Reihe von Branchen, die erst ganz am Anfang eines 40-jährigen volkswirtschaftlichen Entwicklungszyklus stehen. Junge Unternehmen in diesen Bereichen beschäftigen heute vielleicht nur 40 Mitarbeiter – in zehn Jahren können es aber schon 4000 oder 40 000 sein. Das sind die Unternehmen, die wir meinen.“ Jochen Overlack Musterlandkreis Text / Foto: Stefan Scheytt McK Wissen 13 Osnabrück im Glück Seiten: 84.85 Bürgernah und trotzdem sparsam: Die Landkreisverwaltung Osnabrück gilt bundesweit als vorbildlich. Ein Besuch. Glücklich in Osnabrück? Ausgerechnet in und um Osnabrück herum sollen die glücklichsten Deutschen leben. Das jedenfalls haben der Stern, McKinsey & Company, das ZDF und AOL herausgefunden, als sie vor zwei Jahren 450 000 Deutschen den Puls fühlten. In diesem Jahr landete die Region erneut im Spitzenfeld, auf Platz sieben von 42, und war damit immerhin noch die glücklichste Gegend Norddeutschlands. Die Ursachen dafür, frohlockten Stadt und Landkreis in einer Anzeigenserie, lägen nicht nur in der „gesunden Luft, die täglich aus dem nahen Teutoburger Wald herüberweht“, sondern auch bei den „vielen gesunden Unternehmen, die hier zu Hause sind und uns zu einem der stärksten Wirtschaftsstandorte Deutschlands gemacht haben“. Gut möglich aber auch, dass die Landkreisverwaltung selbst einen Anteil an der Glücksproduktion in Osnabrück hat. Denn sie gilt bundesweit als außergewöhnlich bürgernah, reform- und experimentierfreudig. Und obwohl sie sich ihre Bürgernähe mitunter einiges kosten lässt, ist sie durch mehr Wirtschaftlichkeit an anderer Stelle insgesamt auch sparsamer als viele andere öffentliche Verwaltungen. Landkreis vor Ort: nahe an den Wünschen der Bürger Um davon einen Eindruck zu bekommen, muss man das Kreishaus in Osnabrück zunächst links liegen lassen und fast 30 Kilometer hinausfahren ins Rathaus der Kreisgemeinde Bad Essen. Dort sitzt die Verwaltungsfachangestellte Bettina Gottschalk in einem modernen Großraumbüro, vor sich zwei Stempel als Symbol einer bürgernahen Verwaltung. Den Stempel ihres Vorgesetzten, des Bürgermeisters, benutzt sie, wenn beispielweise ein Bad Essener kommt, der einen neuen Personalausweis beantragt. Will der Kunde auch sein neues Auto anmelden, stellt Bettina Gottschalk die Dokumente und das Kennzeichen im Auftrag des Landrats aus und greift dazu zum zweiten Stempel. Vor drei Jahren hätte sie den Kunden noch vertrösten müssen: „Für die Zulassung müssen Sie Donnerstag noch mal kommen, da ist immer der Kfz-Kollege vom Landkreis hier.“ Und ganz früher hätte sie gesagt: „Für Kfz-Angelegenheiten müssen Sie nach Osnabrück fahren.“ Heute springt Bettina Gottschalk zwischen vielen hoheitlichen Aufgaben hin und her. Dienstleistungen wieder zurück in die Rathäuser der Kreisgemeinden und -städte zu verlegen heißt in Osnabrück „Landkreis vor Ort“. Als das Projekt vor vier Jahren begann, sprachen Kritiker vom „Verkauf von Landkreisinteressen“ oder verwiesen auf die Kosten der „unnötig aufgeblähten Bürokratie“. Und das nicht zu Unrecht: „Landkreis vor Ort“ widerspricht eindeutig dem Trend zur Kosten sparenden Zentralisierung. Das Projekt belastet den Kreishaushalt mit rund 50 000 Euro im Jahr, die vor allem in die anteilige Bezahlung von Gemeindeangestellten wie Bettina Gottschalk fließen. Aber: In einem Landkreis, der fast so groß ist wie das Saarland, kann eine Verwaltung vielleicht keine Glücksgefühle, aber Zufriedenheit hervorrufen, wenn sie den Bürgern mit der Zulassung ihres Autos, dem Beantragen des Erziehungsgeldes, dem Ausstellen des Jagd- oder Führerscheins und vielen anderen Dienstleistungen etliche Kilometer entgegenkommt. Die Osnabrücker Kreisverwaltung hat ausgerechnet, dass sie der Landbevölkerung dadurch fast 1,3 Millionen Fahrkilometer oder eine halbe Million Euro im Jahr erspart. Auch sonst weiß man im Kreishaus sehr genau, was die Bürger schätzen und wünschen. In Deutschland gibt es wohl keine zweite Kreisverwaltung, die die Menschen ihres Einzugsbereichs schon so lange und so regelmäßig durch ein 13 Musterlandkreis Text / Foto: Stefan Scheytt Marktforschungsinstitut befragen lässt. In den vergangenen drei Jahren führten die Interviewer fast 4000 Telefongespräche, der Osnabrücker „Kundenmonitor“ erfasst nahezu alle Verwaltungsbereiche und Kundengruppen: Ausländer und Bafög-Bezieher, Empfänger von Strafzetteln und Jagdscheinbesitzer, Eltern von Erstklässlern, Kleingärtner und Autofahrer, demnächst auch unterhaltspflichtige Väter. In den Ämtern weiß deshalb jeder sehr genau, wie die Menschen über die Gebühren und die Freundlichkeit des Personals denken, was sie von den Öffnungszeiten halten, wie sie die Qualität und das Tempo der Beratung beurteilen und ob sie das Amtsdeutsch der Briefe verstehen oder nicht. 30 000 Euro kostet der Kundenmonitor jährlich, dazu addieren sich die internen Personalkosten für die Mitarbeiter, die alle drei Monate sämtliche Daten in Balkendiagramme und Excel-Tabellen verwandeln. Und dann miteinander vergleichen, die Verwaltungsbereiche untereinander und die gesamte Landkreisverwaltung mit anderen Landkreisverwaltungen. Verglichen werden die Wartezeit in der Kfz-Zulassungsstelle, die Zahl der Widersprüche in Bußgeldverfahren und die Fallzahlen pro Sachbearbeiter. Der Kreis hat sich auch schon mit einer Bank gemessen (und schnitt schlechter ab) und mit einer Krankenkasse (nur wenig schlechter). Es geht ständig darum nachzusteuern, also besser zu werden. Als die befragten Bürger der Ausländerbehörde zu schlechte Noten gaben, folgte prompt eine Schulung für die Mitarbeiter, zudem wurde ein Integrationsbeauftragter eingestellt. Nach Unmut bei interviewten Auto-Kunden öffnet die Kfz-Zulassungsstelle inzwischen auch samstags. Als der Kundenmonitor schlechte Werte bei der telefonischen Erreichbarkeit lieferte, richteten die IT-Experten einen Rückruf-Service auf der Website ein: „Teilen Sie uns kurz mit, worum es geht“, bitten sie dort die Kunden und fragen: „Wann soll der Rückruf erfolgen?“ Servicegarantien und neue Dienste für mehr Glück – und Effizienz Das ständige Hineinhorchen in den Kunden und das Nachsteuern scheinen die Kreativität im Kreishaus anzuregen. In Osnabrück bekommt der verwaltete Bürger zeitliche „Servicegarantien“ auf viele Leistungen, vom amtsärztlichen Gutachten bis zur Gaststätten-Konzessionierung. Oder er kann sich auf der Website ein Wunschkennzeichen für sein Auto reservieren, was auch die Kfz-Sachbearbeiter freut. Pro Monat erledigen heute mehrere McK Wissen 13 Seiten: 86.87 hundert Autofahrer am Computer, wozu sie früher angerufen hätten. Rund 1000 Osnabrücker Schüler, Eltern und Lehrer bekommen auf Wunsch eine SMS, wenn im Winter die Busse wegen Glatteis nicht fahren. Es gibt ein „Büro für Selbsthilfe und Ehrenamt“ und das Projekt „Wir AG“, das Schülerfirmen voranbringt. Auf der Website (www.lkos.de) ist ein virtuelles Fundbüro eingerichtet, das – wieder unter dem Stichwort „Landkreis vor Ort“ – 18 Rathäuser im großen Osnabrücker Land abdeckt. Geld für Experimente – Misserfolg erlaubt Manche dieser Ideen kosten viel Geld, andere entlasten die Verwaltung. Manche erweisen sich wegen zu geringer Nachfrage als unwirtschaftlich, andere schlafen ein, wie der Jugendkreistag oder die Internet-Chats, die früher einmal regen Zulauf hatten. „Hier herrscht Trial and Error, der Geist des Probierens. Wenn’s nicht klappt, wird es wieder eingestampft.“ Das sagt Kai Brauer, Projektleiter Online, der auf der Website des Landkreises schon viel ausprobiert und dafür etliche Preise bekommen hat. Brauers Büro ist die gesamte Verwaltung im Kleinen: Die Zahl der Mitarbeiter wurde von drei auf zwei reduziert, und Brauer entwickelt aus der Not eine Tugend. Seit kurzem ist der neue Internet-Auftritt online, dank einer Public Private Partnership mit einem regionalen Provider bietet er trotz verkleinerter Mannschaft im Kreishaus neuerdings Inhalte: Job-, Immobilien-, Pendlerund Autobörsen, dazu Kleinanzeigen und einen Veranstaltungskalender, es fehlt nur noch die Partnerbörse. Dass dabei die Grenzen des Landkreises Osnabrück weit überschritten werden und, wie manche mäkelten, Werbung für Konkurrenzkreise und -städte gemacht werde, stört die Nutzer kaum. Brauer sagt: „Den Bürger interessieren doch unsere Verwaltungsgrenzen nicht.“ Begonnen hat der bürgernahe Reformprozess der Osnabrücker Kreisverwaltung Anfang der neunziger Jahre. Angeregt durch die Beispiele niederländischer Kommunen, näherte sich die Verwaltungsspitze Schritt für Schritt dem heute praktizierten „Steuerungskreislauf“. 1996 und 2002 erhielt der Kreis dafür den Preis der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, eine Art Verwaltungs-Oscar. In Unternehmen ist eine zielorientierte, strategische Steuerung heute nicht mehr aufregend; für eine Landkreisverwaltung war sie Mitte der neunziger Jahre ein Paradigmenwechsel. Dort hatte man bis dahin nur Übung in der „Bewirtschaftung von Haushaltstiteln“, kannte den Verbrauch von „Ressourcen“, aber keine eigenen Produkte und Leistungen. Und hatte noch nie ausdrücklich Ziele formuliert und sich schon gar nicht auf Kennzahlenvergleiche mit anderen Verwaltungen eingelassen. Da grenzte es an eine Revolution, dass die Akteure plötzlich „Leitbilder“ entwerfen sollten, die später in „mittelfristige Entwicklungsziele“ und „Handlungsschwerpunkte“ mündeten und – ganz zum Schluss – in „Kontrakte“: Vereinbarungen, die in Menge und Qualität festhalten, was die einzelnen Fachdienste zum „Produkthaushalt“ beitragen können; etwa, in welcher Zeit ein Bauantrag genehmigt werden soll und was die Genehmigung höchstens kosten darf; wie viele Kilometer Radweg das Straßenbauamt im nächsten Jahr asphaltieren muss oder wie viele Arbeitslose die landkreiseigene Arbeitsagentur vermitteln will. Mehr Rechenschaft, mehr Verantwortung, mehr Kreativität Vorstände und Referatsleiter müssen heute in Quartalsberichten Rechenschaft über ihre Zielerreichung ablegen, und das in einer klaren Bildersprache. Schwarze, waagerecht verlaufende Pfeile stehen für die „planmäßige Entwicklung“; rote, abwärts zeigende Pfeile für „negative Entwicklungen“. „Auf diese Pfeile stürzen sich Presse und Opposition am liebsten“, sagt Horst Hüsemann, Referatsleiter für Controlling und Finanzen, dennoch mache die Arbeit heute eindeutig mehr Spaß: „Früher haben die Abteilungen oft Inseldiskussionen geführt, heute ist man vernetzter und hat viel stärker den Eindruck, etwas gestalten zu können. Das Geld wird nach strategischen Überlegungen kanalisiert. Wir haben mehr Verantwortung, aber auch mehr Raum für Kreativität.“ Über die Jahre ist im Kreishaus das Bewusstsein entstanden, dass man ein Lenkrad in der Hand hält und Steuern richtig Spaß machen kann. In dem Backsteinbau am Rande von Osnabrück sitzen deshalb Menschen wie Klaus Wagner, Leiter des Fachdienstes Ordnung. Fachdienst – so heißen jetzt die ehemaligen Ämter, während die Dezernenten in Vorstände umbenannt wurden. Klaus Wagner ist Chef von hundert Mitarbeitern, die sich um Ordnung bemühen: Bei Schankerlaubnissen und Jagdscheinen, im Ausländerwesen, im Straßenverkehr oder beim Brand- und Katastrophenschutz. Das Schildchen mit seinem vollen Namen trägt Wagner am Revers, auf seinem Tischkalender steht „Alles in Ordnung“; der 56-Jährige redet so laut und bestimmend, dass es nicht wundert, als er erzählt, er stamme aus einer Polizistenfamilie und sei ein „bekennender Ordnungstyp“. Andererseits trägt der beamtete Ordnungstyp, seit 39 Jahren im öffentlichen Dienst, Jeans und Nickelbrille, hat den obersten Hemdknopf geöffnet und sagt, er sehe gar nicht ein, warum er alle Fahrschulen im Landkreis jedes Jahr prüfen solle, wie es die Fahrerlaubnisverordnung verlangt, „und die hat Gesetzescharakter“. Wagner nutzt seinen Ermessensspielraum und lässt stattdessen nur noch „anlassbezogen“ prüfen, wenn also auffällig viele Fahrschüler durch die Prüfung beim TÜV rauschen, wenn sich Fahrschüler über eine bestimmte Schule beschweren oder die Konkurrenz entsprechende Tipps gegeben hat. Wagner: „Wir fahren seit Jahren gut mit dieser Praxis und ersparen uns so eine Menge Aufwand. Ich nehme das mal auf meine Kappe.“ In anderen Bereichen gilt ebenfalls Bürokratieabbau – zur Freude beider Seiten: Jagdscheine Hinter der Durchschnittsarchitektur des Kreishauses Osnabrück aus den achtziger Jahren verbirgt sich eine gar nicht durchschnittliche öffentliche Verwaltung, die schon zweimal den „Verwaltungs-Oscar“ erhielt. Für Online-Redakteur Kai Brauer gilt bei der Gestaltung der Landkreis-Website das Prinzip Trial and Error. Für seine Website www.lkos.de hat der Landkreis Osnabrück schon etliche Preise bekommen. Musterlandkreis Text / Foto: Stefan Scheytt müssen nur noch alle drei Jahre statt jährlich verlängert werden, Gleiches soll bald auch bei Genehmigungen für Straßenumzüge gelten. Mit der Unterstützung der Landwirte wurde der Kreis jetzt zum Kleinkläranlagen-Modell Niedersachsens erklärt: Statt wie bislang dreimal im Jahr müssen Bauern in Zukunft nur noch einmal jährlich zertifizierte Klärtechniker zur Grundwasserkontrolle auf ihre Grundstücke lassen. Bei vorbildlichen Betrieben reicht sogar eine Prüfung der Jauchegrube alle zwei Jahre, nur wer die Grenzwerte nicht einhält, wird wieder so intensiv wie früher kontrolliert. Verwaltungs-Populismus? Bürgerfreundliches Kosten-Nutzen-Denken, findet Reinhold Kassing, Erster Kreisrat und Vorstand I, verantwortlich für Service, Gesundheit, Finanzen, strategische Steuerung und Kreisentwicklung. Intern gilt der Wahlbeamte (CDU) als ruheloser Antreiber, der mit immer neuen Ideen Staub aufwirbelt. Kassing schätzt „Küchenzurufqualität“ und meint damit, dass man auch über Verwaltungsvorgänge so verständlich reden können sollte wie in der heimischen Küche über Privates. Es ärgert ihn, wenn „die Leute unsere Bescheide nicht verstehen“. Also schickte Kassing vor kurzem fünf Auszubildende auf ein Seminar über moderne Korrespondenz und ließ sie anschließend die ausgehende Post im Kreishaus prüfen. Was sie herausfanden, stellten sie als Tipp-Sammlung ins Intranet: Verwenden Sie Verben statt Substantive; benutzen Sie keine Blähwörter wie Problemstellung, Zukunftsprognose, mündliches Gespräch …; vermeiden Sie Schachtelsätze; setzen Sie Paragrafenketten an das Satzende, schreiben Sie: „Wir übernehmen die Kosten für einen Kindergartenplatz in der Blumengasse gemäß §…“ anstatt „Hiermit gewähren wir Ihnen gemäß § 100 Abs. 1 Nr. 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) Eingliederungshilfe nach §§ 39, 40 Abs. 1 Nr. 8 und § 43 Abs. 1 BSHG in Verbindung mit § 55 Abs. 2 Nr. 2 des Neunten Sozialhilfegesetzbuches (SGB IX) im Kindergarten in der Blumengasse.“ Solche Beispiele lassen sich im Osnabrücker Kreishaus viele finden – vom Azubi-Projekt bis zum neuen intranetgestützten Vorschlagswesen. In der Summe stehen sie nicht nur für eine innovative, sondern auch für eine Verwaltung, die – gerade deshalb? – einen äußerst erfolgreichen Sparkurs fährt. 2004 wählte das Bundesinnenministerium Osnabrück als Teil- McK Wissen 13 Seiten: 88.89 nehmer der Europäischen Qualitätskonferenz für öffentliche Verwaltungen in Rotterdam aus – als eine von drei deutschen Vorzeige-Verwaltungen. Vorzeigbar ist neben dem Genannten, dass die Schulden des Landkreises seit 1984 von 274 auf 90 Millionen gesunken sind; dass die Pro-KopfVerschuldung mit 250 Euro pro Einwohner fast nur noch ein Viertel des Wertes von 1984 beträgt und den Landesdurchschnitt von 341 Euro weit unterbietet und dass die Personalausgaben pro Einwohner mit 110 Euro so niedrig sind wie nirgendwo sonst in Niedersachsen. Alte Aufgaben neu organisieren Wer sich die Arbeit von Jürgen Schwietert anschaut, versteht, wie das gelang. Es ist Mittagspause, und der Abteilungsleiter sitzt in der Kreishaus-Kantine, auf dem Speiseplan steht „Hähnchenbrustfilet à la Heidi Klum“. Seit der Kantinen-Pächter gewechselt hat, sind die Menübeschreibungen ausgefallener und das Essen angeblich besser. Seither zahlt der Landkreis auch keine Zuschüsse mehr, dafür darf der Pächter jetzt externe Gäste bewirten. Jürgen Schwietert führt seit wenigen Wochen den Regiebetrieb 9 und ist damit verantwortlich für die Pflege von 640 Kilometern Kreisstraße und 291 Kilometer Radweg, an denen 25 000 Bäume stehen. In seinen Kreisstraßenmeistereien arbeiten rund 30 Mitarbeiter, vor fünf Jahren waren es noch doppelt so viele. Die Leistung der Abteilung hat darunter nicht gelitten: Erstens sitzen auf den Mähfahrzeugen heute nicht mehr zwei Christian Niehaves wollte eigentlich Manager in der Wirtschaft werden. Heute ist er Geschäftsführer der kreiseigenen Abfalltochter – aus Überzeugung. Angela Wollmer leitet die Abfall-Hotline, die an sieben Tagen in der Woche von 7 bis 20 Uhr erreichbar ist. Männer – einer, der fährt, und einer, der mäht, sondern einer, der fährt und mäht, „moderne Maschinen mit ihren Sensoren weichen den Leitpfosten automatisch aus“, sagt Schwietert. Zweitens ist seit wenigen Jahren Schichtdienst von 6 bis 22 Uhr möglich, wenn im Frühjahr das Grün am Straßenrand besonders stark wuchert. So spart sich Osnabrück zudem eine Anfahrt des schweren Geräts zum Mähort, im zweitgrößten Landkreis des Bundeslandes dauert die leicht 45 Minuten und mehr. In Zukunft will Schwietert Jahreszeitkonten einführen, die sich im Frühjahr und Sommer prall füllen können und im Herbst und Winter wieder schrumpfen. Drittens schickt er Fremdfirmen jetzt immer öfter in Begleitung seiner eigenen Mitarbeiter los. So muss er nicht erst die zu schneidenden Bäume zählen lassen, dann eine Ausschreibung formulieren und nach der Arbeit kontrollieren, wie viele Bäume und wie gut sie tatsächlich geschnitten wurden – die eigenen Leute waren ja immer dabei. „Ich mache also nur noch eine reine Preisanfrage nach dem Stundensatz“, sagt Schwietert. Eine öffentliche Ausschreibung kostet 2000 Euro, eine beschränkte Ausschreibung 1000, die freihändige Vergabe 200. Digitaldruck, online Materialbestellung – sparen ohne Schmerzen Es gibt noch viele andere Beispiele, die zeigen, dass Osnabrück spart, ohne schlechter zu arbeiten. Statt der hauseigenen Druckerei liefert heute täglich eine Digitaldruckerei aus Osnabrück mit Zeitgarantie per Boten Formulare oder Broschüren ins Kreishaus, und das in besserer Qualität und größerer Vielfalt als früher. Die Kollegen in der Verwaltung sind geschult, wie sie beim neuen web-basierten Auftragsmanagement am Computer ihre Order selbst direkt in der Druckerei platzieren. Um knapp 60 000 Euro wird der Kreishaushalt jährlich durch die stillgelegte Druckerei entlastet, es sind vor allem eingesparte Personalkosten. Auch das Service-Center neben der Kantine hat gerade dichtgemacht. Hier holten sich die Mitarbeiter bislang, was sie an Büromaterial brauchten: Sie trugen Faxkartuschen, Klebestifte, Umschläge und Papier in eine Liste ein, dazu Stückzahl, Name, Datum, Einzelpreis. Ein Sachbearbeiter reichte ihnen die Ware aus den Regalen hinter sich und übertrug die Listen in seinen Computer, damit er wusste, wann er nachbestellen musste. Auf diese Weise orderten die Mitarbeiter früher Waren für etwa 150 000 Euro pro Jahr. Heute bestellen sie im Intranet direkt bei den Lieferanten. Die Rahmenverträge sind bereits abgeschlossen. Der Einkauf wird so um neun Prozent billiger, geringere Prozess- und Personalkosten noch nicht mitgerechnet. Trotz aller Erfolge wird der Spardruck aber auch in Osnabrück nicht sinken. 2004 musste der Landrat eine Haushaltssperre verhängen – zehn Prozent bei den allgemeinen Ausgaben, zwanzig Prozent bei den Investitionen. Die finanzielle Lage sei, wie es in einem Strategiepapier hieß, „mehr als Besorgnis erregend“, höchste Priorität: „die Zahlungsunfähigkeit verhindern“. Finanzvorstand Kassing will am Konsolidierungskurs „eisern festhalten“ und damit am Ziel, auch 2005 im Kreis wieder 30 Stellen einzusparen. 30 von 730. Vor zehn Jahren waren im Landkreis noch 950 Mitarbeiter beschäftigt. Und doch werden im Kreis – vor allem dank der zielorientierten Steuerung – nicht einfach pauschal Budgets zusammengestrichen. Jüngstes Beispiel ist das Gesundheitswesen. Zwar haben Stadt und Kreis Osnabrück zum Jahresanfang ihre Gesundheitsämter zu einer Behörde fusioniert, was beide Kommunalhaushalte um rund 400 000 Euro jährlich entlastet; gleichzeitig investiert der Landkreis gut 150 000 Euro in den wachsenden Markt der Gesundheitsbranche – etwa in ein Entwicklungskonzept für die Kreiskurorte oder in ein „Institut für Gesundheit und Bildung Osnabrück“, das die Akteure – darunter Kliniken, Kurverwaltungen, ein Herz- und ein Diabeteszentrum – näher zusammenführen soll. Reformer wie in der freien Wirtschaft Initiativen wie diese sind ganz nach dem Geschmack von Christian Niehaves, Geschäftsführer der kreiseigenen Abfallwirtschaftstochter AWIGO. Auf seinem Schreibtisch liegt der Quartalsbericht des Kundenmonitors, der die gesamte Land- kreisverwaltung mit der Mülltochter vergleicht, und überall hat AWIGO bessere Werte. Niehaves hat offenbar viel richtig gemacht. Vor allem natürlich bei den Gebühren, die seit seinem Antritt vor sechs Jahren zweimal gesenkt wurden, unter anderem weil Niehaves zuvor die Preise seiner Dienstleister gedrückt hatte. Auch beim Service denkt er zuerst an seine Kunden: Er lässt sie zwischen gelbem Sack und gelber Tonne wählen und erinnert sie auf Wunsch per E-Mail an die aktuelle Müllabfuhr. Zum Jahresanfang hat Niehaves die alte Praxis beendet, nach der die 94 000 Haushalte im Landkreis ihren Gebührenbescheid von einer der 22 Stadt- oder Gemeindeverwaltung bekamen. Hatten die Bürger Fragen dazu, riefen sie im Rathaus an; kam das Müllauto nicht, waren die zwei beauftragten Entsorgungsfirmen ihre Ansprechpartner – sofern man telefonisch zu ihnen durchdrang. Jetzt ist alles bei der AWIGO zentralisiert: Mitarbeiter verschicken alle Gebührenbescheide, das spart pro Jahr 160 000 Euro; das Service-Center ist von morgens sieben bis 20 Uhr besetzt, an sieben Tagen in der Woche. Dass er in einer Verwaltung so viel ändern könnte, hätte Niehaves nie erwartet. „Ich komme aus einer Selbstständigen-Familie und habe früher über Verwaltungen eigentlich nur geschimpft. Als BWL-Student hatte ich später dann natürlich den Traum, einmal irgendwo Top-Manager zu werden, aber nicht Leiter eines kommunalen Regiebetriebs.“ Es kam dann anders. Niehaves ging in die Entsorgungswirtschaft, bis ihn ein Personalberater auf Osnabrück ansprach. „Ich habe mich darauf vor allem wegen des Beraters eingelassen, nicht wegen des Jobs bei AWIGO.“ Beim ersten Gespräch mit der Verwaltungsspitze wendete sich das Blatt. Niehaves wurde gefragt, wie er über das Thema Bestechung und Bestechlichkeit denke, und antwortete, bei einer zweistelligen Millionensumme könnte er wohl schon schwach werden. Er bekam das Jobangebot. Und war sicher: „Die sind hier anders drauf. Den Job machst du.“ Zwangsverwaltung Text / Foto: Helge Bendl McK Wissen 13 Seiten: 90.91 Schöner Schein Bad Münster am Stein-Ebernburg hat jahrzehntelang über seine Verhältnisse gelebt und auf bessere Zeiten gehofft. Jetzt sind die Schulden der Kurstadt so hoch, dass Zins und Tilgung die Einnahmen übersteigen. Ein Unternehmen hätte schon lange Insolvenz anmelden müssen. Was wird aus einer Stadt, die bankrott ist? 14 Idyllisch, aber pleite: Bad Münster am Stein-Ebernburg Zwangsverwaltung Text / Foto: Helge Bendl Abends ist es am schönsten. Wenn die Sonne den Felsen Rheingrafenstein beleuchtet, der über der Nahe aufragt. Wenn das radonhaltige Wasser plätschert, das hier seit Ende des 19. Jahrhunderts die Gäste anlockt. Wenn alles so friedlich und geordnet und natürlich aussieht im gepflegten Kurgarten. Stadtbürgermeister Michael Fries ist dennoch nicht glücklich. Die Stiefmütterchen im Park sind die Spende eines Floristen. Die Holzpergola um die Ecke ist einsturzgefährdet und muss deshalb vermutlich abgerissen werden. Der Bauhof muss, wenn er eines Tages ein neues Auto benötigt, mit einem Gebrauchtwagen vorlieb nehmen. Immerhin sieht der Haushalt des Jahres 2005 auch „Investitionen“ vor. Zum Beispiel den Erwerb einer Tischtennisplatte. Die Stadt hat kein Geld mehr. Dies ist die Geschichte einer Gemeinde, die lange Jahre dachte, sie habe von allem Guten ein Stück abbekommen: Ruhe. Ordnung. Stabilität. Eine idyllische Landschaft. Mildes Klima. Guten Wein. Vor allem aber: eine bei allerlei Leiden Linderung bringende Heilquelle. Und treue Kurgäste, die den Weg in den versteckten Ort im Nahetal von allein fanden oder kamen, weil die Krankenkassen sie als Patienten schickten. So ließ es sich lange gut leben in Bad Münster am Stein-Ebernburg. Aber dies ist auch die Geschichte einer Gemeinde, die die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig erkannte. Die es versäumt hat, Reformen in Angriff zu nehmen. Und deren gewählte Vertreter nicht ahnten, welche Konsequenzen ihr Zögern haben würde. Es ist die Geschichte einer Gemeinde, die viel zu lange auf das Prinzip Hoffnung setzte, statt aktiv zu werden, als die treuen Gäste plötzlich untreu wurden und das kleine Städtchen nicht mehr so zahlreich besuchten. Seit den siebziger Jahren nur noch Verluste Heute ist Bad Münster am Stein-Ebernburg nicht mehr strahlendes Sinnbild einer Kurtradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, sondern ein Beispiel für kommunale Misswirtschaft: Drei Jahre lang wurde der Ort zwangsverwaltet. Sowohl der Bürgermeister als auch der Gemeinderat hatten keinerlei Möglichkeit mehr, auf die Geschicke der Stadt Einfluss zu nehmen – ein Vorgang, den es in der Geschichte der Bundesrepublik so konsequent noch nie gegeben hat. Wäre Bad Münster ein Unternehmen, hätte es Insolvenz angemeldet oder wäre verkauft worden. Beides ist McK Wissen 13 Seiten: 92.93 für Städte in der Gemeindeordnung nicht vorgesehen. Bad Münster am Stein-Ebernburg existiert also weiter, auch wenn die Kassen leer sind. Kämmerer Peter Butzbach verwaltet das Elend. Die Schulden, das verraten seine sorgsam archivierten Statistiken, haben sich in den vergangenen 20 Jahren fast verdoppelt. Schon die langfristigen Darlehen liegen mit 6,8 Millionen Euro deutlich höher als im Landesschnitt: Im Mittel haben Städte mit 3000 bis 5000 Einwohnern 406 Euro Schulden pro Kopf, in Bad Münster am Stein-Ebernburg sind es 1783 Euro. Die Dramatik der Lage erschließt sich aber erst, wenn zinsfreie Darlehen und Kassenkredite hinzuaddiert werden: Die tatsächlichen Verbindlichkeiten belaufen sich auf 30 Millionen Euro – das sind rein rechnerisch 7500 Euro für jeden der knapp 4000 Einwohner. Der Schuldige an der Misere ist leicht zu identifizieren: Es ist der in Eigenregie geführte Kurbetrieb der Stadt. Seit den siebziger Jahren macht er Verluste. Zunächst noch in vergleichsweise überschaubarer Höhe, mal waren es 300 000 Mark, mal 700 000 Mark im Jahr. Als Ende der achtziger Jahre immer weniger Kurgäste kamen, spitzte sich die Lage zu. Die Zahl der Übernachtungen sank kontinuierlich, von rund 500 000 im Jahr 1987 auf etwa 290 000 im vergangenen Jahr. Die Sparmaßnahmen im Gesundheitsbereich verschlimmerten die Situation zusätzlich, Kranken- und Rentenkassen genehmigten weniger und immer kürzere Kuren. In den achtziger Jahren wurden in Deutschland rund 800 000 Kuren pro Jahr absolviert, 2004 noch 160 000. Und das Minus in der Kasse von Bad Münster wurde immer größer. 1991 machte der Kurbetrieb mehr als 3,5 Millionen Mark Verlust, in den Folgejahren sah es mit stets mehr als zwei Millionen Mark nicht viel besser aus. Ausgleichen musste am Ende immer die Stadt. So geriet sie in eine Schuldenspirale, aus der sie heute nicht mehr herauskommt: Um Zins und Tilgung bezahlen zu können, muss der Kämmerer immer wieder neue Kredite aufnehmen. Die letzte Stufe der Sanktion: Zwangsverwaltung Zwar schreibt die Gemeindeordnung vor, dass der Haushalt der Gemeinden ausgeglichen sein muss – was nichts anderes heißt, als dass sie so viel einnehmen müssen, wie sie ausgeben. Nur dann wird ein Haushalt genehmigt. In der Praxis halten sich Einnahmen und Ausgaben in vielen Städten, Gemeinden und Kreisen allerdings schon längst nicht mehr die Waage. Ihre Haushalte werden nur unter Auflagen genehmigt. Kredite können begrenzt werden, die Gemeinden müssen mehr einsparen oder durch höhere Steuern mehr Geld in die Kassen spülen. Greift dieses Vorgehen nicht, kann die Kommunalaufsicht ein so genanntes Haushaltssicherungskonzept fordern – dieses Prozedere ist beispielsweise in Rheinland-Pfalz oder Nordrhein-Westfalen üblich. Die Stadt muss dann konkret benennen, wie sie ihren Haushalt in einem Zeitraum von vier Jahren wieder auszugleichen gedenkt. In diesem kritischen Zustand befinden sich immer mehr Kommunen. In Nordrhein-Westfalen sind beispielsweise schon 200 Städte, Gemeinden und Kreise in der Haushaltssicherung – zwei Drittel der Einwohner des Landes leben in Gemeinden, die in eine finanzielle Schieflage geraten sind. Für 103 von ihnen sieht die Kommunalaufsicht kaum noch Chancen, jemals den Haushalt auszugleichen, ihnen sind freiwillige Ausgaben grundsätzlich untersagt. Jede Investition wird akribisch geprüft, nur was wirklich notwendig ist, darf angeschafft werden. Für die ganz schweren Fälle gibt es noch eine weitere Sanktionsstufe: Die kommunale Selbstverwaltung wird aufgehoben, ein Zwangsverwalter nimmt die Zügel in die Hand. Aber so etwas passiert eigentlich nie. Die Vertreter der kommunalen Verbände in Deutschland müssen deshalb lange nachdenken, bis ihnen ein Name einfällt: Bad Münster am Stein-Ebernburg. Aber wie konnte es so weit kommen? Und: Wie kommt die Stadt aus der Misere wieder heraus? „Wir hätten vermutlich schon in den achtziger Jahren eingreifen und die Notbremse ziehen müssen“, übt sich Rudolf Oster, Chef der Kommunalaufsicht im Mainzer Innenministerium, in Selbst- Kämen mehr von ihnen, wäre alles gut: Kurgäste in Bad Münster. kritik. „Dann wäre die Geschichte sicher anders verlaufen.“ Doch Ministerialdirigent Oster spricht auch von Versuchen des „Tarnens und Täuschens“. Kreis und Land hätten viel zu lange den Beschwichtigungen geglaubt, die Rügen des Rechnungshofs seien ignoriert worden. Und der Gemeinderat habe sich, obwohl es immer enger wurde, nicht auf eine Lösung einigen können. „Die haben sich gestritten wie die Kesselflicker. Alles sollte so bleiben, wie es ist. Deswegen ist jetzt auch nichts mehr, wie es früher war.“ Andere Kurbäder waren besser und schneller Tatsächlich haben andere Kurorte vorgemacht, wie man sich dem veränderten Markt für Kur und Erholung stellen kann. „Die Bürger sind sehr wohl bereit, Geld für ihre Gesundheit auszugeben, auch wenn die Kassen das nicht mehr so üppig bezahlen wie früher“, meint Thomas Bausch, Tourismus-Professor an der FH München. „Aber dann muss man sie auch als Kunden behandeln, sie umwerben und ihnen konkurrenzfähige Angebote machen.“ Private Anbieter oder GmbHs unter dem Dach von Stadt oder Land hätten es schon aus tariflichen Gründen leichter, wirtschaftlich zu arbeiten. „Die Politik darf aber über ihre Posten im Aufsichtsrat nicht zu viel Einfluss nehmen auf die Geschäftspolitik“, warnt Bausch. „Wer ein Bad wirtschaftlich führen will, muss sich an den Kunden, nicht an den Wählerstimmen vor Ort orientieren.“ Als Beispiel für eine erfolgreiche Strategie führt der Wissenschaftler die Bayerischen Staatsbäder an – dort hätten die Verantwortlichen nicht nur die Strukturen verbessert, sondern durch Investitionen auch die Zielgruppe der Wellness- Urlauber angelockt. Ein positives Beispiel in Rheinland-Pfalz kennt Lutz Hertel, der Vorsitzende des Vorstands des Deutschen Wellness-Verbands. „Die Hotels in Bad Sobernheim haben sich von den Bedürfnissen des Kurgastes auf die des Wellness-Gastes umgestellt. Sie müssen jetzt mehr bieten, haben aber genau deshalb Erfolg.“ Auch in der unmittelbaren Nachbarschaft von Bad Münster gab es gute Ideen. Das nur fünf Kilometer entfernte Bad Kreuznach gliederte den Betrieb von Bäderhaus und Therme schon Anfang der neunziger Jahre in GmbHs unter dem Dach der Stadtwerke aus. So ließen sich Kosten sparen, weil die Angestellten nicht mehr nach dem vergleichsweise teuren BATTarif bezahlt werden mussten. Die Verluste, die es dennoch gab, wurden durch die Gewinne der Stadtwerke aus dem Verkauf von Strom und Gas wieder aufgefangen. Pech für Bad Münster, dass es hier keine Stadtwerke gab, die der Gemeinderat für so eine elegante Lösung hätte heranziehen können. Pech auch, dass die Konkurrenz schneller und innovativer war und die Subventionen des Landes zu nutzen wusste. Während Bad Münster in der Depression versank, wurde Bad Kreuznach Stück für Stück attraktiver für die Gäste. „In den vergangenen sechs Jahren haben wir in Kur und Wellness etwa 30 Millionen Euro investiert“, sagt Hansjörg Rehbein, der Pressesprecher der Stadt. Bad Münster verwaltete das Elend. Natürlich hatten Stadtrat und Bürgermeister die ganzen Jahre immer wieder überlegt, was sie gegen die Millionen-Verluste tun können. Vor allem hofften sie – darauf, dass die guten alten Zeiten wiederkommen würden, in denen viele Kurgäste nach Bad Münster reisten und lange blieben. Sie handelten aber auch – punktuell jedenfalls: Die Zahl der Mitarbeiter im Kurbetrieb wurde reduziert, von 90 im Jahr 1992 auf weniger als 30. Das senkte den Jahresverlust von 3,5 Millionen auf weniger als zwei Millionen Mark. Die Gemeinde verpachtete ihre Gärtnerei – früher hatten noch städtische Bedienstete Samen ausgestreut, um Blumen für den Kurpark anzuziehen. Und sie sorgte dafür, dass nicht mehr die Helfer des Bauhofs die Särge zum Begräbnis trugen, sondern private Bestattungsunternehmen, weil das billiger war. Die Schließung des Kurbetriebs aber konnte der damalige Stadtbürgermeister Stefan Köhl im Gemeinderat nicht durchsetzen – zu schwer wogen für die Vertreter die Befürchtungen, das zur Kurstadt gewachsene Dorf damit seiner Identität zu berauben. Das war kurzfristig gedacht. Denn eine Alternative zur Schließung gab es nicht. Nur einen Fremden, der am Ende den Buhmann spielen musste. Zwangsverwaltung Text / Foto: Helge Bendl Rechtsanwalt Harald Bartos durfte als Zwangsverwalter drei Jahre lang die Geschicke von Bad Münster lenken. McK Wissen 13 Seiten: 94.95 Im Jahr 1999 verlor die Kreisverwaltung Bad Kreuznach die Geduld und stellte fest: Bad Münster am Stein-Ebernburg ist zahlungsunfähig. Ein „Beauftragter nach Paragraf 124 Gemeindeordnung“ sollte das Ruder übernehmen – im Volksmund schlicht „Zwangsverwalter“ genannt. Wegen der Dramatik der Situation wurden ihm besondere Rechte eingeräumt: Er sollte als Vertreter des Gemeinderats beschließen, was zu tun ist. Und die Entscheidung dann als Vertreter des Bürgermeisters ausführen. Rechtlich eine haarige Kombination, dessen war sich das Innenministerium bewusst, schließlich wurde die Gewaltenteilung partiell aufgehoben. Doch niemand klagte, das Experiment ging durch. Bürgermeister und Gemeinderat waren ab 2000 für die Zeit von drei Jahren entmachtet. „Der Beauftragte sollte die unangenehmen Entscheidungen treffen, die vorher niemand fällen wollte oder konnte“, sagt Ministerialdirigent Oster. Das Innenministerium wählte Harald Bartos für den schwierigen Job aus, ein Mann für die Knüppelarbeit, wie Oster sagt. „Er hat polarisiert, aber etwas bewegt.“ „Ich bin schon immer ein eher ungeduldiger Mensch gewesen“, sagt Harald Bartos, lächelt ein wenig und faltet die Hände. „In der Kommunalpolitik dauert es normalerweise sehr lange, bis Entscheidungen fallen. Und manchmal noch länger, bis sie dann umgesetzt werden.“ In Bad Münster am Stein-Ebernburg konnte der 53-Jährige, Rechtsanwalt und früher Bürgermeister einer 25 000-Einwohner-Gemeinde bei Trier, schalten und walten, wie er wollte. Und er sollte zwei dringende Aufgaben erledigen: erstens rasch den städtischen Kurbetrieb schließen. Zweitens nach einer neuen Perspektive für den Ort suchen. „Am Anfang habe ich den Gemeinderat noch einberufen und die Mitglieder sogar zur Probe abstimmen lassen“, erzählt Bartos heute. „Ich wollte zeigen, dass ich es ernst mit den Leuten meine und auf ihre Meinung Wert lege. Doch man hat mir nur unterstellt, ich wolle den Ort kaputtsparen und alles zu Geld machen.“ Die persönliche Abneigung zwischen Zwangsverwalter Bartos und dem entmachteten Bürgermeister Stefan Köhl machte die Situation nicht einfacher. Bartos warf dem ehemaligen Chef der Stadt vor, mit schuld an der Finanzmisere zu sein. Köhl polterte, Herr Bartos baue doch nur Luftschlösser und mache sich lächerlich. Auch der Zwangsverwalter fand keine neue Perspektive Seine erste Aufgabe erledigte Harald Bartos zügig. Ende März 2001 wurde der Kurbetrieb der Stadt geschlossen, alle Mitarbeiter wurden entlassen. Im Mai 2004 übernahm ein privater Klinik-Betreiber die Anwendungen mit dem berühmten Radon-Wasser und bietet heute Massagen und Packungen mit Heilschlamm an. „Es ist keine Goldgrube, aber wir sind gut gestartet“, sagt Klaus Kurre, Verwaltungsdirektor der Paracelsus-Kliniken in Bad Münster. Die Paracelsus-Gruppe, die in ganz Deutschland Krankenhäuser betreibt, besaß hier bereits zwei Häuser mit zusammen 240 Betten. Ein ambulantes Therapiezentrum im ehemals von den städtischen Kurbetrieben genutzten Kurmittelhaus ist nun das dritte Standbein vor Ort. Es kommt – je nach Nachfrage – mit drei bis sechs Mitarbeitern aus, die flexibel eingesetzt werden können. Und es läuft gut, meint Direktor Kurre. „Der Bereich hat großes Potenzial – der Trend geht generell weg von der stationären hin zur ambulanten Behandlung.“ Mit seiner zweiten Aufgabe tat sich Bartos schwerer. Zwar gab es Versuche, eine große Therme anzusiedeln, doch das Land stellte sich quer und wollte keine Konkurrenz zu den erst ein paar Jahre davor erweiterten Bäderlandschaften in Bad Kreuznach. Zudem hätte die Stadt für mögliche Verluste bürgen sollen – das war den Finanzfachleuten dann doch zu heikel. Auch ein Seilbahnprojekt kam über das Planungsstadium nicht hinaus. So endete Bartos’ Amtszeit Ende August 2003 weniger erfolgreich als erhofft. Ein Nachfolger wurde nicht bestimmt. Im folgenden Jahr standen Kommunalwahlen an und die gewählten, aber entmachteten Ratsmitglieder drängten darauf, die Entscheidungen wieder ihnen zu überlassen. „Wir müssen mit ehrenamtlichem Engagement ausgleichen, was die Stadt nicht mehr leisten kann.“ Michael Fries, Bürgermeister Michael Fries, Bürgermeister der überschuldeten Stadt Bad Münster am SteinEbernburg hofft auf einen Geldgeber. Wie es jetzt weitergeht mit Bad Münster am Stein-Ebernburg? Der 2004 gewählte Bürgermeister Michael Fries hat eine klare Vorstellung: „Das Land soll uns entschulden. Von kommunaler Selbstverwaltung kann man bei uns ja nicht sprechen, wenn wir so klamm sind, dass nicht einmal mehr ein Zuschuss für ein Vereinsfest möglich ist.“ Investor dringend gesucht Es sieht nicht so aus, als würde dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Denn auch die Kassen des Landes sind leer. „Im Doppelhaushalt der Jahre 2005/2006 ist kein Geld für eine Entschuldung der Stadt vorgesehen“, sagt Ministerialdirigent Rudolf Oster lakonisch. Für die Jahre danach wagt er keine Prognose – an der klammen Finanzlage werde sich so bald aber wohl nichts ändern. Das Defizit über den Finanzausgleich der rheinland-pfälzischen Kommunen zu reduzieren kommt für ihn auch nicht in Frage – warum sollten andere Städte und Gemeinden im Land für die in Bad Münster gemachten Fehler bluten? Also, was nun? Ein paar kleinere Projekte, um die Verluste der Stadt zu minimieren, hat der neue Bürgermeister schon auf den Weg gebracht. Ein privat organisierter Verkehrsverein hat die Tourismuswerbung übernommen. Es gibt endlich eine Zusammenarbeit mit Bad Kreuznach, dem ungeliebten Nachbarn: An der Gemarkungsgrenze entsteht ein Nordic-Walking-Parcours. Und mithilfe einer privaten Stiftung kann neuerdings wieder so manches Fest stattfinden, das Besucher bringt – die Stadt schießt kein Geld mehr zu, weil nur noch Pflichtaufgaben bezahlt werden dürfen. Vielleicht lässt sich ja auch das marode Freibad zu einem Ganzjahresbad umbauen? Bürgermeister Fries weiß, dass das alles nicht reicht, um die Stadt zu entschulden. Bad Münster braucht einen Magneten, etwas, das die Leute anzieht. Und dazu braucht die Stadt einen Investor. Denn auch die Gradierwerke, an denen die Kurgäste die heilkräftige Luft inhalieren, sind in dramatisch schlechtem Zustand. „Laut Baurecht müsste man sie eigentlich sofort erneuern“, sagt im Mainzer Innenministerium Rudolf Oster eher beiläufig – er will im Ort nicht noch mehr Unruhe. Die Kosten der Erneuerung? Eine halbe Million Euro. Die gibt es womöglich sogar vom Land, aber nur, wenn garantiert ist, dass künftig noch Kurgäste nach Bad Münster kommen werden. Würde sich ein potenter Geldgeber interessieren, die Stadt würde dem Heilsbringer das Kurgelände sogar schenken, sollte er sich entschließen, ein modernes Hotel zu bauen. Auch das Land würde in so einem Fall weitere finanzielle Unterstützung leisten. Es laufen schon Verhandlungen mit Hoteliers aus Bad Kreuznach, die sich angeblich im Nachbarort engagieren wollen. Vielleicht wird für Bad Münster ja doch noch alles gut? Vielleicht auch nicht. Im Innenministerium kursieren schon Planspiele für die Zeit nach den Landtagswahlen im kommenden Jahr. Womöglich wird es, den politischen Willen der dann Regierenden vorausgesetzt, eine Kommunalreform geben. Bad Münster am Stein-Ebernburg müsste dann vielleicht unter die Haube des wirtschaftlich potenten Bad Kreuznach schlüpfen und auf das Stadtrecht verzichten. Bürgermeister Michael Fries will gar nicht daran denken, und er wird die Hoffnung nicht aufgeben. Im Moment pflanzen Freiwillige Blumen und streichen die Gebäude im Kurpark. „Wir müssen mit ehrenamtlichem Engagement ausgleichen, was die Stadt nicht mehr leisten kann“, sagt er. Und macht gute Mine zum bösen Spiel: „Immerhin haben wir jetzt den Ehrenamtspreis des Landes bekommen.“ Stilblüten McK Wissen 13 Seiten: 96.97 Wie bitte? Von unauffällig im Wald stehenden Bäumen, notwendigen Dritthosen und entbitterten Mandeln – eine kleine Sammlung amüsanter und mitunter rätselhafter Auszüge aus Gesetzes- und Verwaltungstexten. n Einsatz ittelt durch de m er ch ris ne ird rech mäß Abs. 4 eischanteil w hmaßes b ge lfl sc ke ei Fl us s M de er d D x b. (2) Abs. 3 un a + 0,22096 es a gemäß – 0,55983 x 23 te) ,1 ar des Speckmaß 49 = hw Sc FA h Formel: M schließlic in de (e en ke eh ic st kd ch in na die Spec ers an der aß a ist (…) Schlachtkörp s km de ec e Sp ch as lä D tf (3) f der Spal , gemessen au us medius“. , in Millimeter usculus glutae in Millimeter „m m de er üb ndenmuskels le Le el s St de en ke st är dünn ) die St s als kürzeste hmaß b ist (… hlachtkörper Sc (4) Das Fleisc s de e utaeus ch „musculus gl f der Spaltflä ) Endes des gemessen au en al ni ra (c ls. s vorderen s Wirbelkana als zu Verbindung de len) Kante de sa or t mittels Line (d ha 4 en d er un ob r 3 . zu bs s“ A iu med aße gemäß ellung der M (5) Die Festst . e ist zulässig erfolgen. welt- und rer Messgerät de an irtschaft, Um tw ng rs du Fo en d rw un Ve nd ie D La (6) rper, § 3 isters für eineschlachtkö s Bundesmin de hw Sc ng r nu fü rd n ro Ve delsklasse haft über Han Wasserwirtsc (Österreich) Ein Baum, der am Ra nd eines an die Straße grenzenden geschlossenen Waldstüc ks steht und in keiner We ise hervortritt, wird von der allgemein en Verkehrsauffassung nic ht der Straße zugerechnet. Die Verkehrs sic herungspflic ht erstreckt sic h auf ihn so lange nic ht, wie er un auffällig im Wald steht. Neue Zeitschrift für Ver waltungsrecht (1990) nlic h r te persö r lä k ung de r E r tot Aufheb fü ie r d e d d n u Wenn sc heint t das ric ht er t, so ha g n stellers la r vor Ge e Antrag ung v r s e lä d k r t e ä s it aft Tode ie Ident weifelh , falls d ten unz r Aufhelä k Geric ht ie r d E fahren für tot r e m V e s d e mit c hen. eiter szuspre ohne w u , ) a t h g e n t s u fest sterreich rklär § 24 (Ö Todese , r 0 e 5 d 9 1 g bun sgesetz klärung Todeser ge sind Militärluftfahrzeu en e das Kennzeich Luftfahrzeuge, di n. ge tra ahrzeuges eines Militärluftf ahrzeuge sind ftf Alle übrigen Lu . Zivilluftfahrzeuge § 11 Luftfahrtgesetz, ung (Österreich ) m tim Begriffsbes Farbe ist d iejenige Ge sichtsempfi strukturlos ndung eine erscheinen s dem Aug den Teiles durch die si e des Gesich ch dieser Te ts feldes, il bei einäu unbewegte giger Beob m Auge vo achtung m n einem gle ebenfalls st it ichzeitig g rukturlosen e se henen, angrenzend scheiden k en Bezirk a ann. DIN 5 llein unter033, Blatt 1 Das Inkrafttreten eines Rechtsakts, der die Rechtsgrundlage für einen Akt bildet, darf nicht vom Inkrafttreten des letztgenannten Akts abhängig gemacht werden. Kein Akt kann vor dem Akt in Kraft treten, der seine Rechtsgrundlage bildet. Gemeinsamer Leitfaden des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission für Personen, die in den Gemeinschaftsorganen an der Abfassung von Rechtstexten mitwirken 15 Stilblüten McK Wissen 13 Seiten: 98.99 andeln; r süße M u n t bittere n e lt tsprozen ln“ ge h e ic d n w a e G M r Als „ bis fünf deln ode können ere Man t als it s B t Mandeln . e t n s rden thalte e n e w ln ln e e d d Man re Man r te bitte für entbitte et. eitsätze ezeichn lbuch, L te n und it solche b e m s s s te Ma Leben ll s te e s h e c rg ts e Deu araus h n und d Ölsame n Süßware Mann auch rt b ei einem ö h ge t al rh sunte g gehört, der digen Leb en einem Anzu zu ‘ se o th Zum notwen ung b edarf. ie ‚Zwei c. der Sc hon se‘, wenn d o et h g tt n ri fu ‚D ü e Pr n ei einjährigen ildung, n statt einer auf die Ausb ge k ri ic h bl jä . in ei H zw im einer auszugehen jedoch von ‚Zweithose‘ ie d r ) fü 0 9 Insoweit ist er 9 Tragedau lferecht (1 und Sozialhi t ch re n se lo eits en zum Arb Information t ein rschriften is inne der Vo S erät im g m tz ir la h Bildsc irm-Arbeitsp mit einem r e d ein , Ein Bildsch m tz e la d f Arbeitsp isch, au er Arbeitst d tz. je la t, sp te it u e e hirm-Arb Das bed sc t. d is il t B e in tt e a ft ist ausgest ossenscha gerät steht, r Berufsgen Bildschirm ) 6 9 9 (1 Infoblatt de g n erarbeitu rv ie p a P d n Druck u Besteht der Pers onalrat a Trennun us einer g nach G Person, eschlech Wahlvors so entfä tern bei chläge u llt die d er Aufste nd bei d d e r B ew llung de er Berec erber. r h n u ng der M Wahlordn indestza ung zum hl Hessisch § 8 Aufs en Perso tellung d n a er Wahlv lvertretu orschläg ngsgese e tz, Hecken im Sinne des Abs Formhec atzes 1 ken, und sind Sch z war auc nicht ge nitt- und h dann, schnitte wenn sie n werden. Nachbarr im Einze echtsges lfall etz Rhein § 45 Gre land-Pfalz nzabstän , de für H ecken Nach dem Abkoten ble ibt der Kothaufen (ander s wohl beim Hunde-Urin grundsätzlic h eine selbst ) ändige bewegliche Sac he, er wird nic ht durch Verbindung oder Vermisc hung untrennbar er Bestandteil des Wiesengrundstücks, der Eigentümer des Wiesengr undstücks erwirbt also nic ht automatisch Eigentum am Hundeko t. Fallbeispiel in Deutsche Verwaltungspraxis (1995 ) McK Wissen 13 Stilblüten gabeanspruch wenn der Heraus t, m m he ge ist ittelbaren Die Ersitzung im Falle eines m er od er itz es nb t zum gegen den Eige r, der sein Rech gen den Besitze ch den na r ne ei Eigenbesitzes ge er ableitet, in itz es nb ge Ei m geeigneten Besitz von de g der Verjähr ung un m m He r zu 4 doch §§ 203 und 20 Hemmung tritt je macht wird. Die hr t. fü ei rb he Weise geltend ge welcher sie desjenigen ein, ng zu sit Er r de nur zu Gunsten g mmun tzbuch, § 939 He Bürger liches Gese Seiten: 100.101 berufene r tretung r e V r u z de lung er Rege t, nimmt n folgende erhinder ach dies v de n n r s e ll te d e fa t n tr Is r ebe zu Ver te n is e h d in f m o u s d Ist je c en oder liste a Bunde g wahr. stalters n n nd a ie tu e D rh o r tr v r e in d nicht die Ve r r te te r is is in in g m etun de Bundesm ngerer Bundes die Ver tr m gegenüber t ü m tj s im n de ein die so übern ister mit eichbar, ndesmin ren Dienstalter u B nicht err re a rreichb sthöhe . 766). jeweils e tretenden näch inister, S itige m s r e e d V n u u B nse dem z liste der er „Gege nstalters eskabinetts üb ie ) D 6 8 l. 9 g d (1 (v un r“ ss des B mitgliede Beschlu gierungs e R r e d ng Vertretu Wer a) den § § 1 Abs . 3 und 29 Abs. 4, 2, 13 1 bis 4, Abs. 7, 2 37 Abs. 46 Abs. 4 Abs. 1 1 und 3, 1, 47 Ab zweiter 39 Abs. s. 2, 49 Satz, 27 Abs. 1 u 1 bis 3, , 50, 51 Abs. 1, 2 nd 2, 57 4 0 letzter A b s. 1 und und 4, 2 Abs. 2 s Satz sow Satz, 42 8 Abs. 2 2 o , w 5 2 ie ie den a Abs. 1, 3 , 53 Abs 57a Abs , uf die §§ . 3, 54 A . 6 zweit und 4, 4 Abs. 5 z b 8 Abs. 3 3, 45, e s weiter S r . S 1 a , tz 5 5 , , 9 erster Abs. 1 u 11 Abs. atz, 51 A gegründ Satz und nd 2, 56 1, 24 Ab bs. 4, 53 eten Vero s. 1, 45 10, 57b Abs. 1, 5 rdnunge b) die in A Abs. 2 z b 4 s . n A 1 b u u s n . 2, 55 A den Bes weiter nd 2, 46 d Anordn cheiden bs. 3, 56 ungen zu Abs. 2, 4 oder nach §§ widerhan 8, 49 Abs. 3 u 4 9 n d a Abs. 1 d 58 Ab elt, c) eine U s. 2 lit. und 53 A ntersuch g bs. 4 en ung nac verweige th altenen h § 58 A r t, A u b fl s a . 2 lit. a gen nich begeht, oder ein t einhält sofern d e Durchs ie Tat nic fallende u c hung na ht den T n strafba ch § 58 atbestan ren Hand Abs. 2 li bis zu 1 d einer in lung bild 400 Euro t. b d ie e t, Z u eine Verw zu bestr s tä Gesetz b n d ig keit des afen. altungsü etreffend Gerichte ber tretu das F isc s ng und is hereiwes t mit ein en im Ge er Gelds biete de trafe r Stadt W ien (Wie ner F isch ereigese tz), § 64 tellung eines Gebäudes, das es zum Die denkmalrechtliche Unterschutzs nicht mehr gibt, ist nichtig. Zeitpunkt der Unterschutzstellung ungen (1990) cheid Eildienst Bundesgerichtliche Ents Stilblüten McK Wissen 13 Seiten: 102.103 nbahn? rtbewegung Was ist eine Eise f wiederholte Fo au et ht ric ge , en deutende Ein Unternehm nicht ganz unbe er Sachen über od en on durch rs he Pe lc n we vo dlage, f metallener Gr un au en ck spor t re an st Tr n um de Ra d Glätte Konstruktion un r ne ei ihre Konsistenz, Erzielung massen bzw. die spor tgroßer Gewichts elligkeit der Tran hn Sc n de en ut de be ig diese verhältnismäß mt ist und durch möglichen bestim ugung ze Er r zu bewegung zu er den außerdem it m ng du in rb n (Dampf, Eigenart in Ve tzten Naturkräfte nü be g un eg ew keltätigkeit, der Transpor tb enschlicher Mus m er od er ch ris Schwere der Elektrizität, tie hon der eigenen sc ch au e en Eb m Betriebe bei geneigter dung usw.) bei de La n re de d un e äßig Transpor tgefäß eine verhältnism s auf derselben kter ec zw be des Unternehmen n) nur in ch den Umstände ende ht ic rn ve gewaltige (je na henleben oder auch Mensc g zu un irk W de Weise nützliche heit verletzen nd su Ge he ic hl und die mensc . erzeugen fähig ist ichsgerichts vom s Deutschen Re de il te Einführung in Aus einem Ur Gustav Boehmer, : ch na rt tie Zi . 17. März 1879 1954 Recht, Tübingen das Bürger liche Im Sinn e dieser Verordn Pflanze ung sin n, an d d blühe e n e n sic h g Kartoff nde Pfl eöffnet eln. anzen: e Blüte Verordn n b efin den, au ung übe ßer Ho r die An ( Bienen pfen un wendun schutzv d g biene erordnu ngefähr ng ) 199 li cher Pfl 2, § 1 B anzensc egriffsbe hutzmit stimmu tel ngen s, wenn r herrenlo e d ir der w aus, so er wenn rfolgt od sc hwarm e n v e h n c ie li B g rzü Zieht ein ihn unve entümer ig E r ibt. e fg d u t a nic h ung erlust bei ie Verfolg d r e igentumsv m E tü 1 6 9 § Eigen , ch bu hes Gesetz Bürgerlic n e wärm Bienensch er die Bezir ke ungsgebiet üb ig in re be ur Fl das so wird die Erstreckt sich gsbehörden, un ig e in re be ur er Fl rch die für di mehrerer ober gsbehörde du un ig in mt. re im be st ur be ere Fl behörde zuständige ob erste Landes ob ge di er än nd st g zu ner Lä Flurbereinigun en verschiede igungsbehörd in re igung be in ur re Fl be e e Flur Sind di men die für di im st be ändige obere st so zu g, e zuständi hörden di be es nd . La en oberst Einvernehmen zuständigen genseitigem ge in e rd hö gsbe Flurbereinigun gesetz, § 37 gs un ig in Flurbere Nac h § 58 des Hessischen Schulges etzes beginnt für Kinder, die bis zum 30. Juni das sechste Lebensjahr volle nden, am 1. August die Schulpflic ht. Zu den Kindern, die bis zum 30. Juni das sechste Lebensjahr vollenden, gehören auch solc he, die am 1. Juli geboren sind. Verordnung zur Ausgestaltung der Gru ndstufe (Primarstufe), § 6 Schulpflic ht, Schulaufnahme E-Government Text: Katja Apelt McK Wissen 13 Seiten: 104.105 16 Under Construction Zu viele Regeln, zu wenig Übersicht und keine Mittel für Investitionen – Deutschland blieb beim E-Government bislang weit hinter seinen Möglichkeiten. Dabei würde sich die virtuelle Kooperation lohnen. Für Bürger, Behörden und Unternehmen. Der Audi AG war das auf Dauer einfach zu teuer. Jedes Mal, wenn der Ingolstädter Automobilkonzern neue Fertigungshallen bauen oder Produktionsstraßen umbauen lassen wollte, musste er einen Bauantrag stellen. Ein Zeit raubender und teurer Prozess, bei dem stapelweise Papier zwischen Unternehmen, Architekten, Planern, Statikern und den Behörden hin und her wanderte. Grund genug für den Konzern, bei der Digitalisierung der eigenen Geschäftsprozesse auch zu untersuchen, wo Audi Schnittstellen mit Behörden hat und ob sie sich auf elektronischem Weg an das Unternehmen anbinden ließen. Das Ergebnis: Seit Mai 2004 arbeiten die Autobauer mit einer virtuellen Bauplattform. Alle rund 100 internen Kollegen und etwa 300 Externe, die an einem Bauprojekt beteiligt sind, können seitdem online auf die Unterlagen zugreifen. Wer Zugang zur Plattform hat – Architekten und Planer, aber auch Beamte verschiedener Ingolstädter Behörden, vom Bauordnungsamt über das Tiefbau-, Stadtplanungs-, Stadtentwässerungs- bis zum Gartenbauamt – kann die Baupläne am Computer einsehen, ändern und anschließend wieder auf dem Server ablegen. Das spart dem Autokonzern Zeit und Geld. Heute ist ein Genehmigungsverfahren im Schnitt in fünf Monaten beendet, immerhin einen Monat schneller als früher. Die finanzielle Ersparnis: rund ein Prozent des Bauvolumens. Bei jährlich etwa zehn neuen Bauprojekten und 30 genehmigungspflichtigen Umbauten summiert sich das schnell auf mehrere Millionen Euro. Tatsächlich hat das virtuelle Bauamt in Ingolstadt nur einen Haken: Die Baugenehmigung muss auch heute noch schriftlich erfolgen, so verlangt es in Bayern das Gesetz. Medienbruch heißt das in der Fachsprache – am Ende des komplexen elektronischen Prozesses muss das Dokument gedruckt, per Post verschickt und herkömmlich unterschrieben werden. Schöne neue Medienwelt. So ist es fast immer hier zu Lande, wenn es um die Verwaltung der Zukunft geht. Die deutschen Behörden wollen sich modernisieren, deshalb versuchen Bund, Länder und Gemeinden seit Jahren mithilfe der Informationstechnologie bürgernäher zu werden. E-Government heißt das Ziel, und das verfolgt inzwischen nahezu jede Gemeinde. Keine Kommune in Deutschland, die den Sprung ins Internet-Zeitalter nicht versucht, kein Bürgermeister, der nicht stolz auf sein virtuelles Rathaus verweist. Da werden Internetseiten gebaut, Formulare digitalisiert, Bürgerportale eingerichtet, Heerscharen von Web-Designern beschäftigt, IT-Arbeitskreise gebildet und Millionen von Euro in Hard- und Software investiert. dern am Computer in einer elektronischen Akte. Statt Vorgänge physisch mittels Laufmappen zwischen unterschiedlichen Amtsstuben zu verschieben, holen Sachbearbeiter Genehmigungen anderer Dienststellen elektronisch ein. Die virtuelle Akte ist zentral über eine Plattform abrufbar, Kollegen aus unterschiedlichen Ämtern können gleichzeitig auf sie zugreifen. Auch komplexe Dienstleistungsprozesse lassen sich schon heute miteinander verweben. ProDer Mensch und der Apparat müssen sich wandeln gramme können jederzeit auf dieselben Daten Zu E-Government führt das in der Regel nicht. Denn hinter dem Begriff zugreifen und einander neue Daten liefern. Softsteckt mehr als das Übersetzen eingespielter Verwaltungsvorgänge in die ware sammelt virtuelle Unterlagen, ordnet sie digitale Welt. E-Government meint einen Prozess, der bei der reinen Infor- und legt sie ab. Externe Informationen werden mation beginnt und mit der Abwicklung von Transaktionen noch lange integriert, Einnahmen und Ausgaben automatisch nicht endet. Wenn aus dem Bürger ein Kunde werden soll und aus der Wirt- in den entsprechenden Konten verbucht, von schaft ein Partner der öffentlichen Hand, muss sich die Verwaltung grund- Steuereinnahmen über Gehaltszahlungen bis hin legend ändern. E-Government heißt nämlich nicht, bunter und moderner zu Ausgaben, die der virtuelle Einkauf meldet. zu werden, sondern schlanker, einfacher, und damit besser und billiger. Die „Mit integriertem E-Government wäre das RatBehörde muss sich in einen Dienstleister verwandeln – und dazu die Digi- haus nicht nur virtuell, sondern auch effizient“, talisierung nutzen. Das klingt kompliziert, und das ist es auch. Auf dem sagt Willi Kaczorowski, Executive Adviser bei Weg ins digitale Zeitalter gilt es, Arbeitsabläufe zu hinterfragen, Regeln zu Cisco Systems und Experte beim Bundesverband vereinfachen, Überflüssiges auszusortieren, Prozesse neu zu definieren, sich Informationswirtschaft, Telekommunikation und zu verändern, zu lernen. Der Mensch und der Apparat müssen sich wan- neue Medien (Bitkom). deln. Das braucht Zeit, Kraft und Geld. Vor allem aber braucht es Einsicht Bislang ist das noch Theorie. In der Praxis sind die deutschen Ämter auf dem Weg zur modernen – und die richtigen Ziele. Wenn die Richtung stimmt, kann aus der behäbigen Behörde tatsächlich Verwaltung nur vereinzelt wirklich vorangekomeine flexible Verwaltungswelt werden. Wo E-Government schon Einzug men. Glaubt man den diversen Untersuchungen, gehalten hat, bearbeiten Beamte Gewerbeanmeldungen, Anträge auf Arbeits- ist Deutschland im internationalen Vergleich bestenfalls untere Mittelklasse. In einer Studie losengeld oder einen neuen Personalausweis nicht mehr auf Papier, son- E-Government Text: Katja Apelt der Europäischen Union aus dem Jahr 2002 landete die Bundesrepublik hinter Estland oder Island auf Platz 13 – von 15 untersuchten Ländern. Irland war bei den digitalen Bürgerservices Europameister. Die Emnid-Studie „Government Online 2003“ kam zu keinem besseren Ergebnis. Auf der Liste der E-Government-Nationen rangiert Deutschland aus Sicht der Maktforscher, die 32 Nationen befragten, abgeschlagen auf Rang 19. Die aktuelle Untersuchung der EU-Kommisson vom März dieses Jahres weist dem Land nur einen Platz im unteren Mittelfeld zu. In puncto Erreichbarkeit öffentlicher Dienstleistungen übers Internet liegt Deutschland nach Ansicht der Kommission zwar vor Griechenland und Litauen, aber hinter Belgien, Malta und Slowenien. 66 Prozent aller Dienstleistungen deutscher Verwaltungen – von der einfachen Information bis zum Datenaustausch für Unternehmen – konnten im Oktober 2004, dem Zeitpunkt der Erhebung, hier zu Lande im Internet abgefragt werden. Beim Spitzenreiter Schweden sind es schon 89 Prozent. Erst reorganisieren, dann digitalisieren Am guten Willen der Deutschen mangelt es nicht. Fast jede Kommune ist seit Jahren im Netz präsent, die Bundesländer schufen eigene Verwaltungsportale. Bundeskanzler Gerhard Schröder machte die Verwaltungsreform via Internet sogar zur Chefsache. Schon im Jahr 2000 startete die Regierung ihr Großprojekt Bund-Online-2005, bis Ende dieses Jahres sollen rund 450 Dienstleistungen deutscher Behörden der Kundschaft auf elektronischem Weg zugänglich sein. Experten sehen im mühsamen Vorankommen der Deutschen denn auch weniger ein Motivations- als ein Verständnisproblem. „Sie träumten von elektronischen Wahlen, digitalen Einkäufen und virtuellen Rathäusern“, meint etwa Professor Stephan Jansen, Gründungspräsident der Zeppelin University in Friedrichshafen, der sich seit Jahren mit dem Thema befasst. Aber schon das Konzept habe nicht gestimmt: Die Kommunen schaffen erst teure Software an, um im zweiten Schritt die komplizierten Verwaltungsprozesse anzupassen. Verkehrt gedacht, findet Jansen: „Reorganisation muss vor Digitalisierung kommen.“ Das ist leichter gesagt als getan, das weiß auch der Wissenschaftler, schließlich haben die Deutschen im weltweiten Vergleich ein schweres Handicap zu überwinden: Wir haben mehr Verwaltung als andere. Schätzungs- McK Wissen 13 Seiten: 106.107 weise 70 000 Gesetze, Vorschriften, Verordnungen und Verfahrensregeln müssen Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes hier zu Lande beachten – die Regularien der obersten Gerichtsbarkeiten nicht mitgezählt. Das sorgt in der Praxis für komplexe Strukturen, die nur schwer aufzulösen sind, um sie anschließend zu digitalisieren. In der Industrie, etwa im Automobilbau oder im Bankenbereich, bestehe der Geschäftsalltag aus fünf bis zehn Kernprozessen, die es per IT darzustellen gelte, weiß Torsten Koß, Leiter des Public-Sector-Bereichs bei SAP. „Im öffentlichen Sektor können leicht zwischen 100 und 150 Prozesse identifiziert werden“, schließlich zähle jeder Dienstleistungskomplex eines Amtes und jedes Fachverfahren einer Kommune zum Kerngeschäft. Bei der Identifizierung internetfähiger Fachverfahren machte Nordrhein-Westfalen im Rahmen einer E-Government-Studie allein 92 verschiedene Prozesse ausfindig. Darunter fielen zum Beispiel die elektronische Auftragsvergabe, verschiedene Steuererklärungen, Scheidungsverfahren, die Zwangsvollstreckung, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Förderprogramme unterschiedlicher Ministerien oder Antragsverfahren für EU-Förderprogramme. Dazu addieren sich typisch kommunale Aufgaben wie Pass- und Kfz-Angelegenheiten, das Meldewesen oder die Gebührenordnung. Jeder Vorgang hat seine spezifischen Eigenheiten und Regeln. Und jede Kommune hat das Recht zu entscheiden, wie sie es im Einzelfall mit Vorschriften und Verordnungen halten mag – auch das ist Teil des deutschen Problems. Die beiden Verfassungsprinzipien Föderalismus- und Ressortunabhängigkeit sowie der Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung regeln die Fragen der Verantwortung eindeutig: Jede Kommune, jedes Bundesland und jede Behörde auf Landes- oder Bundesebene entscheidet autonom. In der Kommune spielen sich rund 80 Prozent aller möglichen E-Government-Prozesse ab. Und deshalb hat jede Kommune bislang auch ihr eigenes IT-Äckerchen bestellt. So hat sich mit den Jahren und im Bestreben, beim technologischen Aufschwung dabei zu sein, in Deutschland eine IT-Landschaft gebildet, die heterogener kaum sein könnte. Die eine Gemeinde verlässt sich auf eine Microsoft-Lösung, die nächste auf die Eigenproduktion eines lokalen Dienstleisters, auf Landesebene entwickelt sich eine SAP-Kultur. Wohin das in den 16 Bundesländern führt, erleben System-Anbieter und -Anwender in ihrer Arbeit täglich. Um die technische Seite steht es schlimm im Land. Städte, Länder und der Bund: Jeder wurschtelt vor sich hin, die Systeme sind nicht kompatibel. Die Folge: hohe Reibungsverluste und hohe Kosten. Auch an anderen Stellen wurden Fehler gemacht. Weil aus der Behörde ein Dienstleister werden sollte, richteten die Verantwortlichen den Blick nicht nach innen, sondern nach außen – und nahmen den falschen Kunden ins Visier. Richtige Idee – falscher Adressat Die Wirtschaft wäre der wichtigste Adressat gewesen. Große und mittelständische Unternehmen kontaktieren die Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung so oft, dass „die Vereinfachung der Kommunikation zwischen Verwaltung und Wirtschaft inzwischen sogar für die Standortwahl entscheidend ist“, meint Bitkom-Experte Willi Kaczorowski. In Portugal würden derartige Projekte bereits mit EU-Geldern finanziert. Anders in Deutschland. Hiesige Unternehmen, so besagen Schätzungen, geben pro Jahr etwa 15 Milliarden Euro für Verwaltungskontakte aus – einem 2000Mann-Betrieb gehen jährlich 365 Personaltage verloren, um Anträge auszufüllen. Aber der G2B-Bereich, Government to Business, also die Kommunikation zwischen Verwaltung und Wirtschaft, schien den Behörden zunächst weniger wichtig als der Bürger. Für ihn wollten die Verwaltungen bequemer, moderner und anfassbarer werden. Also setzten sie auf G2C, Government to Citizen – und konzentrieren ihre Anstrengungen seitdem vor allem auf die Zufriedenheit einer Zielgruppe, die sich für die neuen Angebote nur mäßig interessiert. Gut die Hälfte aller Online-Dienste deutscher Verwaltungen, so das Ergebnis einer Difu-Studie, sind für den Bürger gedacht. Anders als ein Unternehmen hat er in der Regel mit der Vewaltung jedoch vergleichsweise wenig zu tun. Anderthalb Behördengänge fallen im Schnitt pro Jahr und Einwohner an, und selbst die bleiben ihm – allen technologischen Bemühungen zum Trotz – bis heute nur selten erspart. Die Behörden haben Portale gebaut und Informationen ins Netz gestellt, vereinfacht haben sie wenig. Deshalb können die Menschen im Land neuerdings vor allem die vielen Formulare, die sie schon in Papierform nicht verstanden haben, online bestellen und am privaten Computer ausdrucken. Das stößt naturgemäß auf wenig Begeisterung, also ist der Bürger frustriert und hält sich zurück. Für komplexere Vorgänge am heimischen Rechner, etwa eine elektronische Signatur, sind eine persönliche Chipkarte plus Lesegerät nötig – eine komplizierte und mit 61 Euro Anschaffungspreis plus 26 Euro Jahresgebühr angesichts der Zahl notwendiger Behördengänge teure Lösung. Von den 10 000 Signatur-Sets, die im Zuge des Kommunen-Projektes Media@Komm-Transfer an die Bevölkerung in Bremen sogar verschenkt werden sollten, fanden nur rund 6000 einen Abnehmer. Die Hanseaten verzeichnen pro Monat weniger als 100 kartengestützte Verwaltungstransaktionen. Und Bremen gehört zu den Vorzeigekommunen in Deutschland. Zu wenig Personal für zu viel Bürokratie G2C ist gut, G2B wäre wichtiger. Unternehmen verlieren im häufigen Umgang mit Behörden viel Zeit und Geld. Der Bürger hingegen kommt mit der Verwaltung vergleichsweise selten in Kontakt. Anderthalb Behördengänge fallen hier zu Lande im Schnitt pro Jahr und Einwohner an. Trotzdem ist gut die Hälfte aller Online-Dienste deutscher Verwaltungen für den Bürger gedacht. Auch das Renommierprojekt des Bundes, Bund-Online, setzt vor allem auf Informations- und Formularangebote, das hat das Handelsblatt im März dieses Jahres recherchiert. Zwar können rund 338 Dienstleistungen der Bundesverwaltung inzwischen online genutzt werden. Überall da, wo komplexere technologische Anstrengungen erforderlich sind, tendieren die Nutzerzahlen jedoch gegen null. Selbstverständlich ist so manches im Laufe der Zeit auch besser geworden. Heute kann sich der Bürger online an- oder ummelden, er kann Lohnsteuerkarten bestellen, sein Auto zulassen, Volkshochschulkurse buchen, Wunschkennzeichen reservieren oder Anwohnerparkplätze beantragen. Beim Hamburger Finanzgericht können Steuerberater und Anwälte schon seit geraumer Zeit Schriftsätze und Klagen per Mail einreichen. In Niedersachsen werden Scheidungen vom Antrag bis zum Urteil ohne Papier abgewickelt. „Die Daten sollen laufen, nicht die Bürger“, formulierte Bundesinnenminister Otto Schily einst das Ziel. Aber solange sich die Einstellungen und Prozesse nicht grundlegend verändern, laufen Daten eben nicht, das ist das Problem. Tatsächlich ist der E-Government-Prozess in Deutschland ins Stocken geraten, und jetzt steigt von allen Seiten der Druck. Von außen fordert die Wirtschaft den Fortschritt, denn Bürokratie ist zeit- und kostenintensiv. Von innen erzwingen die Umstände eine Reform: Die Kassen sind leer, und den Behörden gehen die Leute aus. In den nächsten zehn Jahren wird etwa die Hälfte der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in Pension gehen, hat Michael Tschichholz, Leiter des Fraunhofer E-Government-Zentrums, errechnet. Dann fehlen die Mitarbeiter, die Akten bearbeiten. Wenn sich an den Verwaltungsabläufen nichts ändert, ist der alte Apparat nicht aufrechtzuerhalten. Für all jene, die E-Government nicht mit dem Aufbau von Internet-Portalen verwechseln, ist das eine gute Nachricht. Denn wer seine Kernprozesse sauber definiert und seine Geschäfte elektronisch abwickelt, stellt nicht nur seine Kunden zufrieden. Er macht die Organisation auch leistungsfähiger und sorgt bei gleicher oder besserer Qualität für sinkende Kosten; in diesem Punkt unterscheiden sich Kommunen ausnahmsweise einmal nicht von Unternehmen. Die EU-Kommission, die europaweit die Anstrengungen der öffentlichen Verwaltungen untersuchte, hat ausgerechnet, dass jeder Offline-Prozess in einer Behörde 1,8-mal so teuer ist wie die komplett digitalisierte Variante. Was das in Summe bedeuten kann, hat Stuttgart schon einmal akribisch für sich kalkuliert. Im vergangenen Jahr hat die Stadt ihre Prozesse vom Fraunhofer Institut für Arbeitsorganisation untersuchen lassen und eine exakte Wirtschaftlichkeitsanalyse erstellt. Seitdem wissen die Schwaben genau, was der Transfer eines Arbeitsvorgangs ins Internet kostet – und sie wissen, dass sich E-Government für E-Government Text: Katja Apelt die Stadt rechnet. Schon durch die Verlagerung einiger weniger Amtsgeschäfte ins Netz ließ sich ein Einsparpotenzial in Höhe von 530 000 Euro durch Mehreinnahmen oder weniger Arbeit nachweisen. Würden etwa Abstammungs- und Geburtsurkunden oder Familienpässe künftig online ausgestellt werden, ließen sich rechnerisch 232 Arbeitstage im Jahr einsparen. Mittelfristig will die Stadt auf diesem Weg zwölf Millionen Euro im Jahr weniger ausgeben. E-Government ist Chefsache Einen noch radikaleren Weg beschreitet das Bundesland Hessen, das mithilfe von IT seine gesamte Verwaltung umkrempeln und modernisieren will. Harald Lemke, Staatssekretär im Innen- und Finanzministerium der hessischen Landesregierung, ist der einzige ressortübergreifende Chief Information Officer auf Länderebene. Der Informatiker will E-Government mit einer einheitlichen, zentralen Steuerung kombinieren – nachdem die nötige Innenreform der Verwaltung stattgefunden hat. Erst wenn die entscheidenden Prozesse analysiert und gestrafft sind, sollen die einzelnen Verwaltungen mit einem Content-Management-System vernetzt werden, das die Dokumente sortiert und dann sowohl für den Mitarbeiter als auch für den Bürger abrufbar macht. Nach Angaben eines Sprechers hat die Landesregierung in der laufenden Legislaturperiode zehn Millionen Euro jährlich für das Projekt bereitgestellt, außerdem investiert das Land 300 Millionen Euro in die Computerausstattung. Langfristig will Hessen mithilfe der neuen Organisation und der Technologie 30 Prozent seiner Personalkosten und 20 Prozent aller Sachkosten einsparen. Das kann sich der Pionier leisten, weil das Land die finanziellen Mittel hat? Falsch gedacht. Das leistet sich das Land, weil es ein kompetentes Management hat. Geld ist auf dem Weg zur modernen Verwaltung in Wahrheit selten das Problem. Eher schon die Erkenntnis, dass E-Government Chefsache ist. „Ein System ist immer nur so gut wie seine Anwender“, meint Bitkom-Experte Willi Kaczorowski. Und die sitzen auch in den Chefetagen der Behörden. Zwei Drittel aller E-Government-Vorhaben, schätzt Wolfgang Branoner, der Public-Sector-Verantwortliche bei Microsoft, scheitern am Widerstand auf der obersten Ebene. IT ist eine Frage der Führung. Warum sollte das in der Behörde anders sein als in jedem Unternehmen? McK Wissen 13 Seiten: 108.109 In Progress Die Ziele sind dieselben, im Vorgehen unterscheiden sich Wirtschaft und Behörde erheblich. Erfahrungen auf dem Weg zur elektronischen Verwaltung. Das Bundesland Hessen gilt als Vorreiter in puncto konsequenter IT-Strategie. Doch andere Länder, Kommunen und Gemeinden werden über kurz oder lang folgen, da sind sich die Beobachter einig. Der Markt für technologische Entwicklungen im öffentlichen Sektor wird wachsen, die Branche rechnet mit zweistelligen Zuwachsraten in den kommenden Jahren. Zwar gehen die Schätzungen über das Gesamtvolumen deutlich auseinander, doch selbst die pessimistischen Prognosen versprechen den Anbietern beste Geschäfte. Nach einer Studie der Gartner Group gibt der öffentliche Sektor in Deutschland schon heute insgesamt etwa 11,1 Milliarden Euro aus. So viel wie die Telekommunikationsindustrie und der Dienstleistungssektor zusammen. Bis 2008 soll der Markt mit jährlich rund 4,3 Prozent weiter wachsen. Ein Teil des investierten Geldes wird in die dringend nötige Harmonisierung der heutigen Systeme fließen müssen. Das Land braucht Integrationslösungen, wenn E-Government in Deutschland Realität werden soll. Und die System-Anbieter brauchen neben spezifischen Kenntnissen in Verwaltung und Behörden vor allem Erfahrung und Geduld. Ein Beratungsprozess mit besonderen Regeln Die großen Player haben die öffentliche Verwaltung schon seit den achtziger Jahren als Kunden im Visier, in jüngster Vergangenheit gründeten sie für das Segment eigene Abteilungen. Microsoft Deutschland löste den Bereich vor zwei Jahren aus dem Großkundensegment heraus, SAP formierte seine Abteilung Public Services 1996. Gut aufgestellt ist auch die Siemens-Tochter Siemens Business Services (SBS), die sich in Deutschland inzwischen mit rund 1400 Mitarbeitern um öffentliche Auftraggeber kümmert. Oder die Deutsche Telekom, die als einstiges Staatsunternehmen die Hürden der Bürokratie aus eigener Erfahrung kennt. „Bei uns ist die Qualifikation quasi hausgemacht“, sagt Günter Förster, Mitglied der Geschäftsleitung im Public Sector bei der Telekom-Tochter T-Systems, die für die großen und mittelständischen Kunden im Konzern zuständig ist. Die Wettbewerber haben sich mit Erfahrungswissen aus den Verwaltungen präpariert. Wolfgang Branoner, der Public-Sector-Verantwortliche der Microsoft Deutschland GmbH, war von 1998 bis 2001 Wirtschaftssenator in Berlin. Jürgen Bender, der bei SAP Deutschland die öffentlichen Verwaltungsprojekte auf Bundes- und Landesebene betreut, unterstützte früher Oskar Lafontaine in der saarländischen Staatskanzlei. Torsten Koß, der Leiter des Public-Sector-Bereichs der Walldorfer SAP, arbeitete an der Universität Hannover schwerpunktmäßig in den Bereichen Business Process Reengineering und Controlling im öffentlichen Dienst, bevor er 1996 zu SAP wechselte. Expertise in verwaltungsnahen Bereichen ist dringend nötig. Denn auch wenn sich die Ziele – Transparenz, Effizienz und Geschwindigkeit – in Behörden und Wirtschaft ähneln: Der öffentliche Sektor funktioniert anders als Unternehmen. Sprache, Erfahrung im Umgang mit moderner Technologie und nicht zuletzt die Flut von Vorschriften und Gesetzen innerhalb der Behörde machen die Projekte für die öffentliche Hand zu einem Beratungsprozess mit besonderen Regeln. Um Deutschland ins IT-Zeitalter zu hieven, bedarf es mehr als der bloßen Digitalisierung von Verwaltungsabläufen. „Damit würde man ineffiziente Vorgänge einfach nur elektronisch einzementieren“, meint Senator a. D. Wolfgang Branoner. Deshalb müssen zunächst die Verwaltungsverfahren reformiert werden, danach mache es Sinn, die Abläufe zu elektronisieren. Fremde Regeln, fremde Technik, fremde Messgrößen – E-Government ist schwer Für die Apparate bedeutet das: Prozesse überprüfen, Verordnungen und Gesetze verändern oder auch abschaffen und klare, überschaubare und damit E-Government-fähige Strukturen schaffen. Keine leichte Aufgabe für die Bediensteten, die im Laufe ihres Berufslebens mit moderner Technik nur selten in Berührung gekommen sind. Laut Statistischem Bundesamt ist jeder vierte Mitarbeiter im öffentlichen Dienst zwischen 55 und 65 Jahre alt, entsprechend schwer tut sich so mancher in der Behörde mit den Aufgaben, die E-Government von ihm verlangt. „Bei der Einführung von E-Government ist Change Management unerlässlich“, weiß Bitkom-Vertreter Willi Kaczorowski. Die Mitarbeiter müssten langsam und behutsam an die neuen Prozesse und Anwendungen geführt werden, damit sie sich in dem neuen System wohl fühlten und keinen bleibenden Widerwillen entwickelten. Auch deshalb muss viel Zeit mitbringen, wer mit der Verwaltung ins Geschäft kommen will. „Vom ersten Kundenkontakt bis zum Vertragsabschluss können 18 bis 24 Monate vergehen“, erzählt Torsten Koß. Dazwischen liegen – als Hauptteil der eigentlichen vertrieblichen Arbeit und typisch für diesen Sektor – Ausschreibung und Vergabeentscheidung für den betreffenden Auftrag. Gewöhnungsbedürftig für die System-Anbieter ist auch die Art, wie Verwaltungen über Investitionen entscheiden. In Unternehmen hilft das Messinstrument Return on Investment (ROI), die Rentabilität von Mitteleinsätzen zu beziffern. Im öffentlichen Sektor ist der ROI hingegen noch weitgehend unbekannt. Die verbreitete Buchführungspraxis der Kameralistik betrachtet nur Ein- und Auszahlungen, nicht aber Aufwendungen und Erträge. Zwar stellen inzwischen viele Städte und Verwaltungen ihre Buchhaltung auf die doppelte Buchführung um, die so genannte Doppik, mit der sie ihre Aktivitäten künftig am Ergebnis der Verwaltungstätigkeit ausrichten kann, statt wie bisher nur nach dem Mittelaufwand zu planen. Der Return on Investment lässt sich damit jedoch nur schwer kalkulieren. Um eine Messlatte für die Wirtschaftlichkeit von Investitionen in der Verwaltung zu schaffen, konzentriert sich SAP auf einen „Public ROI“. Eine weiche Größe, die positive Effekte einer Investition sichtbar machen soll. Der westaustralischen Polizei habe der Einsatz des neuen Instruments geholfen, erzählt Thomas Schild, SAP-Manager im Bereich Business Development im öffentlichen Dienst. „Durch den Einsatz der Software konnte die Polizeipräsenz auf der Straße gesteigert werden, da die Beamten durch reduzierte Verwaltungsarbeit weniger an den Schreibtisch gebunden sind.“ Dadurch sei die Kriminalitätsrate gesunken, gleichzeitig habe sich das Sicherheitsgefühl der Bürger erhöht. Der Public ROI habe dabei drei Komponenten. Der soziale Teil beschreibt den Mehrwert für Bürgerinnen und Bürger, im Falle von Australien wäre dies das erhöhte Sicherheitsgefühl. Der politische ROI bildet die bessere Erfüllung politischer Ziele ab, etwa niedrigere Kriminalitätsraten. Der operationale ROI misst die tatsächlich eingesparten Kosten, beispielsweise für Papier oder Porto. In der Praxis habe sich der Public ROI bewährt, meint Thomas Schild. Fortschrittlichen Denkern in der Verwaltung helfe er, sich zu einem Projekt durchzuringen. Um die verschiedenen Anwendungen im Land zu integrieren, setzen die Technik-Anbieter zurzeit auf Interoperabilität. Sie schaffen Schnittstellen zu fremden Programmen, entwickeln Übersetzungssprachen, die eine Kommunikation zwischen den Systemen ermöglichen oder schaffen eine Plattform, die sämtliche Daten und Anwendungen managt und Aufgaben im System verteilt. SAP setzt dabei auf die Standardsoftware Net-Weaver, eine Plattform, die verschiedenste Programme, Fachanwendungen und Datenbanken integrieren und als Schnittstelle zwischen dem Bürger und der Verwaltung agieren kann. Microsoft hat neben seinem Betriebssystem Windows XP und einer Standard-Software für den öffentlichen Bereich das E-Government Starter Kit und seinen großen Bruder, Government Gateway entwickelt. Beide Anwendungen versprechen, die Datenkommunikation sowohl zu Fachverfahren als auch innerhalb des Behördenapparats für Bürger und Wirtschaft zu unterstützen. T-Systems sieht sich als „Dienstleister Public Services“ und richtet den Blick vor allem auf den „vernetzten Föderalismus“, also auf vertikal durchgängige Prozesse zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Das Unternehmen unterstützt die Harmonisierung und Integration von Infrastrukturen und Plattformen sowie die parallele Einführung betriebswirtschaftlicher Steuerungs- und Controlling-Systeme. Ein weiterer Schwerpunkt ist Business Process Outsourcing – von der temporären Übernahme von Betriebsaufgaben bis hin zur Übernahme der Betriebsverantwortung kompletter ITK-Infrastrukturen und Plattformen. ORF Text / Foto: Gerhard Pretting 17 McK Wissen 13 Seiten: 110.111 Der Berg ruft Öffentlich-rechtliche Sender sind für ihren Qualitätsanspruch bekannt und für ihren gesetzlichen Programmauftrag. Am Gemeinwohl orientiert und durch Gebühren finanziert, haben die einstigen Monopolisten bislang vor allem für den Erhalt ihres Status quo gekämpft. Umso erstaunlicher ist der Weg, den der Österreichische Rundfunk im vergangenen Jahr beschritt. Um in der Organisation leistungsfähiger zu werden, engagierte der ORF McKinsey & Company. Ein Tabubruch. ORF Text / Foto: Gerhard Pretting Österreich ist das Land der Berge. Das wird sogar in der Nationalhymne besungen. Der Großglockner ist mit 3797 Metern der höchste, der wichtigste Berg ist er aber nicht. Den findet man nicht in Tirol oder Vorarlberg, sondern in Wien. Allerdings ist „Berg“ für diesen Ort ein Euphemismus. Ein Hügel ist der „Küniglberg“ – bestenfalls. Seine Bedeutung verdankt er denn auch nicht seiner Topografie, sondern der Tatsache, dass hier in den siebziger Jahren das ORF-Zentrum errichtet wurde. Insider – und in Wien scheint jeder Zweite ein MedienInsider zu sein – sagen deshalb auch nicht: „Ich habe etwas beim ORF zu erledigen“, sondern „ich muss auf den Küniglberg“. Wer etwas auf sich hält, spricht den Namen nicht OH.ER.EF aus – so wie AH.ER.DE – sondern „Orf“. So wie den Komponisten Carl Orff. Aber das sei nur nebenbei erwähnt. Nähert sich der Besucher dem Hauptgebäude des Österreichischen Rundfunks, ist er zuerst einmal vom Liebreiz der Umgebung fasziniert. Hietzing, 13. Gemeindebezirk. Beste Wiener Wohngegend. Imposant thront hier das Haus, das der Architekt Roland Rainer zwischen 1968 und 1975 erbaute. Es wirkt wie eine uneinnehmbare Burg, und das war es ja auch, jahrzehntelang, als es die Privaten noch nicht gab. Das digitale Fernsehen. Haufenweise Konkurrenz. Immer weniger Werbeeinnahmen. Sinkende Einschaltquoten. Schrumpfende Marktanteile. Aber unverändert hohe Kosten. Das ORF-Zentrum ist eine Stadt in der Stadt. Weil sich die Infrastruktur in dieser Gegend in Grenzen hält, bietet das Haus alles, was man zum Leben braucht. Eine Kantine, eine Sushibar, einen Supermarkt, ein Blumengeschäft, ein Fitnessstudio und noch einige Annehmlichkeiten mehr. Das sagt viel über das Selbstverständnis des Unternehmens aus. Geplant und erbaut wurde es, als an der Monopolstellung des ORF noch lange nicht gerüttelt wurde. Der ORF war der ORF war der ORF. Eine Macht im Land. Unumstößlich. Und wohlhabend. Der Österreicher hört ORF Man kann die Bedeutung des ORF für die mentale Entwicklung des Landes gar nicht hoch genug einschätzen, meint Alexander Wrabetz, der kaufmännische Direktor des Unternehmens. „Deutschland würde auch ohne Fernsehen heute nicht viel anders aussehen. Österreich hätte sich ohne den ORF in den vergangenen 50 Jahren anders entwickelt.“ McK Wissen 13 Seiten: 112.113 Der ORF ohne Österreich auch. Das öffentlich-rechtliche Unternehmen gedieh im Laufe der Zeit prächtig. Zuschauerzahlen, Sendezeiten, Marktanteile, Gebühren und Werbeeinnahmen wuchsen Jahr um Jahr und bescherten dem Unternehmen beste Bilanzen. Im Februar 1968, so listet der ORF in seiner Chronik auf, zählte er eine Million Fernsehteilnehmer, 2001 wurden mehr als 2,7 Millionen Zuschauer beim Fernsehen und gut 2,8 Millionen Radiohörer registriert. Damals ein neuer Rekord beim Programmentgelt: Der Sender erwirtschaftete 375 Millionen Euro. Die Programmleistung stieg parallel dazu: Aus 4924 Stunden Sendezeit in den beiden TV-Kanälen 1974 wurden knapp 7000 Stunden im Jahr 1982, 13 Jahre später sendete der ORF schon knapp 19 000 Stunden Fernsehprogrammleistungen. Und deckte bald den gesamten Markt ab: Mit seinen analogen terrestrischen Sendeanlagen erreicht der öffentlich-rechtliche Sender bei einem Versorgungsgrad von 95 Prozent im TV- und 98 Prozent im Radiobereich zuletzt rund 3,2 Millionen österreichische Haushalte. Kein Wunder, dass auch die Kunden Schlange standen. Die Bilanz des Jahres 2001 wies 348 Millionen Euro an Werbeeinnahmen aus. 2001 war der Höhepunkt erreicht So wuchs mit der Zeit die Macht im Land – und mit ihr wuchs der Apparat. Das Unternehmen, das heute rund 1840 Sender auf 477 Sendeanlagen betreibt, leistete sich mit den Jahren all das, was auch andere öffentlich-rechtliche Sendeanstalten lange für ihr Leistungsspektrum zu brauchen glaubten: Studios, Technik, Planer, Verwalter und ein Heer von Redakteuren. Die Probleme begannen in den achtziger Jahren. Damals brachte das Kabelfernsehen deutsche Kanäle in die österreichischen Haushalte – und die glorreichen Monopolzeiten näherten sich ihrem Ende. Der Prozess verlief schleichend, aufhalten ließ er sich nicht. Ein verkabelter Haushalt in Österreich konnte Ende 2004 bereits bis zu 49 deutschsprachige Sender empfangen, für den ORF eine starke Konkurrenz. Auch und vor allem mit Blick auf die dringend benötigten Werbeeinnahmen. Die waren in der Vergangenheit kontinuierlich gestiegen. Ein Trend, der sich im Jahr 2001 weltweit und auch für den Österreichischen Rundfunk umkehrte. Nach durchschnittlichen Wachstumsraten des Werbeaufwands von zwölf Prozent jährlich, verzeichnete Österreich 2001 ein Minus Alexander Wrabetz, käufmännischer Direktor beim ORF, und Generaldirektorin Monika Lindner wussten, wo sie als Erstes sparen mussten: in der kaufmännischen und der Generaldirektion. von 0,4 Prozent. Es war das schlechteste Werbejahr der zurückliegenden beiden Dekaden. Die Werbeeinnahmen des ORF sanken innerhalb dieses Jahres um rund 17 Millionen Euro und gehen seitdem – parallel zum Marktanteil – kontinuierlich zurück. Für das Jahr 2005 sieht der Finanzplan des ORF „Erträge aus Programmentgelten“ in Höhe von 427,5 Millionen Euro und Werbeeinnahmen von 292,1 Millionen Euro vor. Sinkende Werbeeinkünfte müssen auch andere Sendeanstalten verkraften. Weil der ORF jedoch im Unterschied beispielsweise zur britischen BBC oder den deutschen Anstalten ARD und ZDF in höherem Maß von Werbung abhängig ist, trifft ihn der Rückgang deutlich härter als die westeuropäischen Schwestersender. Knapp 56 Prozent der ORF-Erträge stammen aus Rundfunkgebühren, rund 38 Prozent aus Werbeeinnahmen. In Deutschland trugen die Werbeeinnahmen im Jahr 2003 nur noch wenig zu den Gesamterträgen der öffentlich rechtlichen Sender bei. Bei den Landesrundfunkanstalten der ARD sank der Anteil auf zwei Prozent, ins Budget des ZDF fließen 6,8 Prozent Einnahmen aus Werbung. Die hohen Einkünfte des ORF sind das Ergebnis einer Werbezeitregelung, die der Gesetzgeber den Österreichern aus einem einfachen Grund eingeräumt hat: Nur mit den Gebühren des mit gut acht Millionen Einwohnern vergleichsweise kleinen Landes wäre ein solides Radio- und Fernsehprogramm, das sich mit denen der deutschen und englischen Kollegen messen kann, kaum möglich. Zum Vergleich: Die ARD hat einen Gebührenertrag von gut fünf Milliarden Euro, das ZDF von mehr als anderthalb Milliarden Euro. Die Werbepreise sinken, jetzt muss gespart werden Der ORF kann im laufenden Jahr mit einem Gesamtbudget von 769,4 Millionen Euro planen – und muss damit zwei landesweit empfangbare Fernseh- und drei Radioprogramme betreiben, dazu neun Landesstudios mit eigenem Regionalradio und einer halben Stunde Bundeslandfernsehen pro Tag. Am Ende des Jahres hofft der Sender auf eine schwarze Null – und hat sich, um das Ziel auch in Zukunft zu erreichen, ein rigides Sparprogramm auferlegt. „Aus kaufmännischer Sicht besteht unsere größte Herausforderung in den österreichischen Werbefenstern der großen deutschen Privatsender, die für Werbetreibende eine Alternative zu Einschaltungen im ORF bieten“, skizziert Alexander Wrabetz die künftige Entwicklung seines Hauses. „Sie bekommen durch die Verbreitung des Wer erst einmal da ist, muss und will meist gar nicht mehr weg. „Auf dem Küngiglberg“, wie die Journalisten ihr ORF-Zentrum nennen, gab es neben Supermarkt, Sushibar und feiner Menü-Auswahl lange Jahre auch einen ungewöhnlich sicheren Arbeitsplatz. ORF Text / Foto: Gerhard Pretting digitalen Fernsehens eine neue Qualität. Was zur Folge haben wird, dass durch das Mehrangebot das Werbepreisniveau in den nächsten vier Jahren sinkt.“ 20 bis 30 Prozent sind als Worst-Case-Szenario denkbar, fürchtet Wrabetz. Weil die Gebühren nicht im gleichen Maß erhöht werden können – die letzte Steigerung liegt gerade mal ein Jahr zurück –, und weil die Politik dem ORF durch neue Werbezeitregeln zudem das Leben schwer macht, führt aus Sicht des kaufmännischen Direktors an radikalen Sparmaßnahmen kein Weg vorbei. Schnitträume besser einteilen – zehn Millionen Euro sparen Erstmals engagierte der ORF deshalb eine Unternehmensberatung, um Wege zur nachhaltigen Senkung der Gemeinkosten zu finden – und handelte sich erwartungsgemäß öffentliche Schelte ein. Der Auftrag an McKinsey & Company wurde im Frühjahr 2004 erteilt und wochenlang in den Medien diskutiert. Zwar waren Redaktionen und Programmgestaltung explizit aus der Studie ausgenommen. Die Befürchtung, die Berater könnten sich in die journalistische Arbeit einmischen und dem Fernsehsender womöglich flächendeckend „Servus, Hansi Hinterseer“ verordnen, eine der erfolgreichsten Sendungen des ORF mit Marktanteilen von rund 35 Prozent, wurde dennoch mehrfach kolportiert. Auch intern hielt sich die Begeisterung in Grenzen. Unter dem Titel „Da zittert der Kü’berg …“ beschrieb Christian Mucha, Medienbeobachter und -kritiker in seinem Branchenblatt ExtraDienst die Stimmung im ORFZentrum: „Derweil ist in den einzelnen Abteilungen die nackte Angst ausgebrochen. Vor allem dort, wo man ahnt, dass nicht gerade sparsam operiert wird, löst das Arbeitsprojekt ‚Overhead‘ Panik und Entsetzen aus.“ McKinsey-Partner Markus Klimmer, der den Öffentlichen Sektor aus vielerlei Beratungsprojekten kennt, nennt die ORF-Entscheidung rückblickend „einen sehr mutigen Schritt, der vor allem zur Transparenz beiträgt – und zeigt, dass sich das Unternehmen gegen die im öffentlichen Sektor weit verbreitete Da-kann-man-eh-nix-machen-Mentalität auflehnt“. In anderen Sendern werde angesichts knapper Mittel bestenfalls hin und wieder an den variablen Kosten gedreht. Da werde mal eine geplante Eigenproduktion um ein paar Monate geschoben, eine Sendung mit zu niedrigen Quoten abgesetzt oder auch mal ein Film weniger gedreht, um die Bilanz im Lot zu halten. McK Wissen 13 Seiten: 114.115 Das Management des ORF wagte sich an die Kernbereiche des Unternehmens – und fing der Glaubwürdigkeit wegen zunächst einmal bei sich selbst an. Im Fokus der McKinsey-Analyse standen im Wesentlichen die Generaldirektion, die Kaufmännische Direktion, große Teile der Technischen Direktion sowie die verwaltungsnahen Bereiche von Fernsehen und Hörfunk und die kaufmännischen Verwaltungen der Landesstudios. Drei Monate nach dem Projektstart am 9. März 2004 sind 22,6 Millionen Euro Einsparungen vom Direktorium des ORF beschlossen. Die Maßnahmen zur Reduktion sollen in den kommenden zwei bis drei Jahren umgesetzt werden. Mit rund zehn Millionen Euro Sparpotenzial stellt die Technische Direktion den mit Abstand größten Brocken dar. Allein die Einrichtung einer zentralen Disposition der Fernsehschnittplätze, so die Analyse, kann rund eine Millionen Euro jährlich einsparen helfen. Bisher bucht jede Redaktion ihre Plätze selbst – mit der Folge, dass die Schnitträume zwischen zehn und 17 Uhr überbelegt sind, die restliche Zeit jedoch meist leer stehen. Eine zentrale Disposition soll Leerzeiten in Zukunft verhindern helfen. „Das erfordert ein gewisses Umdenken bei den Redakteuren“, sagt Alexander Wrabetz. Schließlich stehen sich da eine effiziente Auslastung und die Bequemlichkeit der Gestalter noch unversöhnlich gegenüber. „Aber im Landesstudio Burgenland haben wir die Praxis schon verändert, und dort hat es sehr gut funktioniert. Warum also sollte das im ORF-Zentrum nicht gelingen?“ Absicherung nach Beamtenart – Bezahlung nach Marktpreisen An anderen Stellen wird nicht optimiert, sondern ganz gestrichen – und damit konsequent zu Ende gebracht, was ohnehin längst am Ende war. Bestes Beispiel: das Besetzungsbüro. Ein Relikt aus Zeiten, in denen der ORF noch selbst viele Fernsehfilme produzierte und deshalb Schauspieler auswählen und engagieren musste. Inzwischen werden große Filme längst außer Haus hergestellt, wie so vieles, was der Sender mit den Jahren an Dienstleister außerhalb des Unternehmens verlagerte. Das Besetzungsbüro, teuer, aber nutzlos, blieb; jetzt wurde es geschlossen. In anderen Bereichen sind die Maßnahmen zur Optimierung diffiziler. Beispielsweise beim Personal. Im Laufe der Jahre haben sich in der Organisation immer kleinere Einheiten gebildet, die ein nur sehr eingeschränktes Aufgabenspektrum haben. Diese kleinteilige Struktur hat zur Folge, Seit den siebziger Jahren steht das ORF-Zentrum in der Wiener Würzburggasse. Das soll sich auch in Zukunft nicht ändern. dass im Unternehmen ein umfangreiches Mittelmanagement seinen Dienst versieht und überdurchschnittlich viele administrative Hilfskräfte benötigt werden. Die meisten Mitarbeiter sind unkündbar und werden außerdem exzellent entlohnt: Das Unternehmen zahlt nicht selten das Doppelte dessen, was in Deutschland üblich ist. Auch die hohen Personalkosten sind ein Erbe der erfolgreichen ORFVergangenheit. Geboren in einer Zeit, in der das Monopolunternehmen seine Bediensteten mit Verträgen verwöhnte, die das Beste aus beiden Welten vereinten: Absicherung nach Beamtenart, Bezahlung zu Marktbedingungen. Es waren die Zeiten der „FBV“, jener sagenumwobenen „Freien Betriebsvereinbarung“, über die der ehemalige Generalintendant (so hieß der Generaldirektor früher) Thaddäus „Teddy“ Podgorski in seinem Erinnerungsbuch „Die große Illusion“ schreibt: „Die FBV sollte zum Schlüssel für das Schicksal des ORF werden. In ihr stand festgeschrieben, dass einem Dienstnehmer nichts geschehen konnte, wenn er in Ungnade fiel. Es stand aber ebenfalls drin, wenn auch zwischen den Zeilen, dass ihm nichts passieren konnte, wenn er faul, unbegabt, destruktiv und illoyal war.“ Auch Gerd Bacher, der ehemalige ORF-Generalintendant mit der längsten Amtszeit, erklärte in einem Interview mit dem Standard die Freie Betriebsvereinbarung zur „unheilbarsten Krankheit des ORF“, mit der man das „Haus nicht rationell führen“ könne. Inzwischen wurde die Vereinbarung abgeschafft, aber spät und auch nur für jene Mitarbeiter, die nach 1993 angestellt wurden. Schluss mit der Lüge vom niedrigen Personalstand Anfang 2004 entschloss sich die Geschäftsleitung außerdem zu einem Schritt, der die Sparbemühungen des Senders auf den ersten Blick zu konterkarieren scheint: Der ORF stellte 1200 bis dahin freie Mitarbeiter des Unternehmens fest ein. Gerd Bacher, heute einer der heftigsten Kritiker des Hauses, nannte die Einstellungswelle „einen Irrsinn“. Für Generaldirektorin Monika Lindner war es dagegen ein wichtiger Schritt, der half, die Fehler der Vergangenheit endgültig zu korrigieren. Tatsächlich waren die vielen „Freien“ nämlich „fixe freie Mitarbeiter“, was bedeutete, dass sie neben einer festen Monatspauschale auch einen Schreibtisch im Unternehmen, Visitenkarten und jede Menge sozialer Vergünstigungen ihr Eigen nennen durften. In jedem anderen Betrieb hätte man sie Angestellte genannt. Nicht so im ORF, weshalb die Gefahr einer kol- lektiven Anstellungsklage, die das Unternehmen finanziell bei weitem überfordert hätte, wie ein Damoklesschwert über dem Management schwebte. „Offiziell hatten wir den Personalstand der sechziger Jahre“, sagt Generaldirektorin Lindner. „Das war eine glatte Lüge, weil es noch einmal so viele freie Mitarbeiter gab. Zudem war der Personalzufluss ungebremst und unkontrollierbar. Leute kamen, machten einige Beiträge, waren nach kurzer Zeit bereits freie Mitarbeiter und wurden nach und nach zu verdeckten Angestellten.“ Inzwischen ist ein Großteil der Freien fest angestellt. Zu neuen, für das Unternehmen leistbaren Konditionen. „Wir haben innerhalb der Medienbranche sicher den modernsten und schlanksten Kollektivvertrag“, erklärt der kaufmännische Direktor Alexander Wrabetz sichtlich stolz. „Kündigungsfristen und Abfindungen nach Angestelltengesetz, keine Sozial- und sonstige Zulagen, abgeflachte Senioritätskurve.“ Auch wenn Monika Lindner und Alexander Wrabetz betonen, dass die Anstellungswelle kostenneutral vonstatten ging, bleibt der Druck auf das Unternehmen hoch. Der ORF will auch in Zukunft sparen. Weitere Gebührenerhöhungen, sind auf Dauer keine Lösung, mit durchschnittlich 236 Euro pro Jahr liegt Österreich vor Deutschland (204 Euro) und Großbritannien (180 Euro) bei den Gebühren im Europa-Vergleich ohnehin bereits im Spitzenfeld. Monika Lindner kann sich stattdessen vorstellen, auch das letzte Tabu im öffentlich-rechtlichen Sender zu brechen: „Ich wünsche mir, dass die Abteilungen sich aufrichtig mit unseren Sparvorgaben beschäftigen und das auf Dauer reicht. Sollten wir aber gezwungen sein, strikter vorzugehen, schließe ich nicht aus, auch die Redaktionen von einem Beratungsunternehmen durchleuchten zu lassen. Ich werde mir damit zwar keine Freunde machen und Prügel beziehen, aber wenn es notwendig sein sollte, werden wir es tun.“ Eine Drohung? Teil eines Versprechens. Schließlich hat die Generaldirektorin auch ihr Wort gehalten und mit dem Sparen dort angefangen, wo es die Journalisten im Haus stets für notwendig hielten, ganz oben. Und möglicherweise sogar ein Schritt, der neue Freunde schafft. Medienkritiker Christian Mucha jedenfalls hat in seinem Branchendienst durchaus positive Bilanz gezogen. Dass ihm „McKinsey & Co nicht gerade sympathisch“ seien, hätten treue Leser des ExtraDienst schon länger geahnt. In diesem Fall jedoch, schrieb er, halte er das Beraterhonorar für gut angelegt. „Wir haben innerhalb der Medienbranche sicher den modernsten und schlankesten Kollektivvertrag. Kündigungsfristen und Abfindungen nach Angestelltengesetz, keine Sozial- und sonstige Zulagen, abgeflachte Senioritätskurve.“ Alexander Wrabetz Interview James Buchanan Text / Foto: Steffan Heuer McK Wissen 13 Seiten: 116.117 „Die Menschen wollen vom Staat abhängig sein.“ Nobelpreisträger James Buchanan, international renommierter Mitbegründer der Public-Choice-Theorie, über die wahren Motive von Staatsdienern und Politikern, den Verteilungskampf um öffentliche Güter und Dienstleistungen – und das Dilemma eines ausufernden öffentlichen Sektors. James Buchanan, Virginia, USA 18 Als der frisch gebackene Doktor der Wirtschaftswissenschaften James Buchanan Anfang der fünfziger Jahre die westlichen Demokratien mit den Augen eines vom Sozialismus zum Liberalismus gewandelten Ökonomen betrachtete, wunderte er sich über die Missachtung, mit der seine Kollegen den Staat straften. „Ein Drittel bis zur Hälfte des Bruttoinlandsproduktes eines Landes wurde nicht auf freien Märkten ausgegeben, sondern von der öffentlichen Hand. Ökonomen aber schenkten diesem Sektor so gut wie keine Beachtung. Der öffentliche Sektor schrie förmlich nach Erklärungsmodellen“, erinnert sich der heute 85-Jährige. Aus diesem Antrieb entwickelte Buchanan in den vergangenen fünf Jahrzehnten das Gedankengebäude und analytische Rahmenwerk der Public-Choice-Theorie. Sie erklärt, warum die öffentlichen Ausgaben von Sozialstaaten unentwegt wachsen – und benennt als Hauptursache das Fehlverhalten der einzelnen Akteure. Als die Kritik von Public Choice Ende der fünfziger Jahre erstmals formuliert wurde, waren Volkswirte und Politologen noch von einem Gesellschaftsmodell ausgegangen, in dem sich die Staatsdiener allein um das Gemeinwohl sorgen. Für Buchanan ging dieser Ansatz an der Realität vorbei: Warum sollte ein Politiker oder Beamter menschlich untypisch, also altruistisch handeln? Der Ökonom ging von den Beobachtungen in der privaten Wirtschaft aus und bezog diese auf den öffentlichen Sektor – volkswirtschaftliches Denken und Staatsrechtslehre wurden erstmals zusammengeführt. Aus einem kleinen Verein früher Verfechter des Buchanan’schen Ansatzes ist heute, 40 Jahre später, ein anerkanntes Fachgebiet der liberalen Schule geworden. Weil die Idee des Wohlfahrstaats als ein unrealistisches Ziel kritisiert wird, halten ihre Verfechter eine möglichst niedrige Staatsquote für die bessere Alternative. Buchanan selbst musste auf Anerkennung geraume Zeit warten – die Theorie passte schlecht zu den ehrgeizigen fiskalpolitischen Regierungsprogrammen der sechziger, siebziger und frühen achtziger Jahre. Erst 1985 fand die Theorie Eingang in das Standardwerk „Volkswirtschaftslehre“ von Paul Samuelson und William Nordhaus, nach dem weltweit unzählige Universitäten seit 1948 lehren. Mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften wurde Buchanan 1986 für seine Grundlagenforschung über politische Entscheidungsprozesse ausgezeichnet. Interview James Buchanan Text / Foto: Steffan Heuer Professor Buchanan, Sie gelten als Vater der Public-Choice-Theorie. Worum geht es darin eigentlich? Es geht darum, die Entstehung von wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen zu verstehen. Die meisten Theoretiker betrachten den öffentlichen Sektor durch die rosarote Brille. Sie haben nach wie vor jenes romantische Bild im Kopf, dass die im Auftrag der Regierung handelnden Wirtschaftssubjekte vor allem daran interessiert seien, das Gemeinwohl zu mehren. Stattdessen plädiere ich dafür, Politik auch in der Theorie nüchtern zu betrachten oder, wie ich in einer Vorlesung 1979 sagte: Die Public-Choice-Theorie ist der Versuch, Politik ohne Romantik zu begreifen. Beamte und Politiker sind ganz normale Menschen, sie verhalten sich nicht anders als Marktteilnehmer in anderen Bereichen einer Volkswirtschaft. Wieso dann Public-Choice-Theorie, wenn sich das ökonomische Verhalten von Bürokraten und normalen Marktteilnehmern ähnelt? Es gibt zwar keinen grundlegenden Unterschied zwischen Menschen, die auf Märkten oder im öffentlichen Sektor agieren. Aufgrund der verschiedenen organisatorischen Strukturen, in die der einzelne Akteur eingebunden ist, sind die Unterschiede in den Folgen des Handelns aber groß. Wirtschaftswissenschaftler sahen das in der Vergangenheit nicht so? Bevor die Public-Choice-Theorie die Diskussion in den fünfziger Jahren entfachte, wollten Ökonomen vor allem die Funktionsweise von Märkten verstehen. Wir haben versucht, ökonomisches Denken auf den öffentlichen Sektor auszudehnen. Historisch betrachtet, ist die Theorie entstanden, weil wir das Mehrheitsprinzip als die damals unangefochtene Demokratieform erstmals unter ökonomischen Gesichtspunkten kritisch hinterfragten. McK Wissen 13 Seiten: 118.119 legenden Bausteine der Wirtschaftswissenschaften und gelten für den privaten Sektor genauso wie für den öffentlichen: In idealisierten Märkten handelt der Mensch für sich allein. Er ist auf seine individuelle Nutzenmaximierung bedacht und handelt dabei, zweitens, als Vernunftwesen. Ökonomen gehen deshalb vom Individualismus und Rationalismus als Grundeigenschaften des Menschen als Wirtschaftssubjekt aus. Der dritte Faktor ist das Prinzip des Tauschgeschäftes. Märkte, egal, ob öffentliche oder private, sind nichts anderes als Orte für Tauschgeschäfte. Zur Person James Buchanan, Jahrgang 1919, gilt als geistiger Vater der Public-Choice-Theorie. Der gebürtige Südstaatler studierte während der Umbruchsperiode des Zweiten Weltkriegs in Tennessee und promovierte 1948 an der berühmten University of Chicago Business School. Als Nachwuchsakademiker lehrte und forschte Buchanan an der University of Virginia und an der University of California in Los Angeles. Was heißt das für den Staat? Wenn es solche Tauschvereinbarungen zwischen Individuen und der Gemeinschaft nicht gäbe, ließe sich staatlicher Zwang nur schwer legitimieren. Auf unterschiedlichen Ebenen – per Gesetz oder durch die Verfassung – müssen sich die Bürger verständigen, einen Teil ihrer Freiheit aufzugeben, um dafür im Gegenzug Güter oder Dienstleistungen vom Staat zu erhalten. Die Public-Choice-Theorie zwingt die Menschen dazu, über politische Prozesse als einen komplexen Mechanismus von Tauschgeschäften nachzudenken. Märkte dagegen leben von einfachen Tauschgeschäften, in denen das Spiel von Angebot und Nachfrage den Preis bestimmt. Diskussionen über die ideale Demokratie gab es schon vorher. Was haben die Ökonomen dazu beigetragen? Wenn man von Fürsorgeprogrammen, Straßenbau, öffentlicher Bildung und anderen Gütern und Dienstleistungen redet, kann man wohl kaum von diesem Spiel sprechen. Wir gehen von drei treibenden Faktoren aus, die das wirtschaftliche Verhalten eines Menschen bestimmen. Die ersten beiden sind die grund- Genau da liegt das Problem. Im Staatssektor gibt es zwar keine freien Märkte, auf denen die Als Buchanan eine deutsche Ausgabe der in Vergessenheit geratenen Werke des schwedischen Verfassungs-Ökonomen Knut Wicksell aus dem späten 19. Jahrhundert entdeckte und ins Englische übersetzte, war bei ihm der Keim für die Public-ChoiceTheorie gelegt, die er Ende der fünfziger Jahre mit seinem Kollegen Gordon Tullock zu formulieren begann. Ihr Buch „The Calculus of Public Consent“ aus dem Jahr 1962 gilt als Meilenstein. Aus einer ersten Konferenz für interessierte Wirtschaftswissenschaftler und Politologen 1963, entstanden erst eine eigene Fachzeitschrift und schließlich ein Studiengang an der Universität von Rochester im Staat New York. Ende der sechziger Jahre richteten Buchanan und Tullock ein eigenes Forschungszentrum ein, das Center for Study of Public Choice, das 1983 an der George Mason University in Fairfax, Virginia seine permanente Bleibe fand. öffentlichen Güter gehandelt werden können, aber es gibt Kosten, die jemand tragen muss. Im Gegensatz zur Privatwirtschaft können sich die Preise aber nicht entsprechend des Spiels von Angebot und Nachfrage entwickeln. Wenn ich als Bürger einer Gemeinschaft darin eingewilligt habe, dass mich der Staat doppelt so hoch besteuert wie meinen Nachbarn, dann gibt es – abgesehen von Emigration – kaum eine Möglichkeit, durch Handel aus diesem Preisgefüge herauszukommen. Ein Dilemma: Der Staat hat theoretisch die Möglichkeit, willkürlich hohe Preise zu verlangen. Was ist mit Regierungsvertretern oder Politikern, die entscheiden, wer welche Leistungen in welcher Höhe empfängt? Eine alte Schreibmaschiene, eine altes Telefon und eine alte Theorie? Keineswegs, der 85-jährige Nobelpreisträger arbeitet weiter – an drei Büchern gleichzeitig. oder rückgängig zu machen. Am Ende geht es darum, dass Lobbyisten Politiker dazu veranlassen, für ihre jeweilige Interessengruppe vorteilhafte Gesetze oder Regelungen zu verabschieden – was dann auf Kosten der Allgemeinheit geht. Welchen Preis zahlt die Öffentlichkeit für Beamte, Politiker und Gesetzgeber, die sich von Lobbyisten lenken lassen? Rent Seeking führt zu einem Nettoverlust für die Gemeinschaft. Nehmen wir Rechtsanwälte als Beispiel – sie sind in Amerika zu einer regelrechten Plage geworden. Ein Jurist, der für einen Lobbyisten in Washington arbeitet, tut grundsätzlich nichts anderes als Steuervorteile und Ausnahmen für dessen Kunden herauszuschlagen. Das kann die absonderlichsten Blüten treiben. Hier haben beispielsweise Großwildjäger gesetzlich dafür gesorgt, dass sie ihre Trophäen ausstopfen lassen und an irgendwelche, teilweise dubiosen Museen geben können, die ihnen dafür steuerlich absetzbare Spendenquittungen in absurder Höhe ausstellen. Sie wollen natürlich im Amt bleiben und reagieren deshalb auf die Wünsche und Anliegen ihrer Wähler. Die Partei, die ihnen auf den Posten verhalf, verfolgt ihre eigene Agenda, die Politiker fördern und erfüllen sollen. Das sorgt für höchst gemischte Motivationen. Sind solche Steuerschlupflöcher die Spitze des Eisbergs? Wie hoch ist der Verschleiß? Politologen haben für die Schattenseiten des öffentlichen Sektors den Begriff „Rent Seeking“ geprägt – das Streben nach privatem Gewinn auf Kosten der Gemeinschaft. Was sagt Public Choice dazu? Was schätzen Sie? Public Choice erklärt, wie und warum Ressourcen in diesem unnötigen Wettbewerb um öffentliche Zuwendungen verschwendet werden. Wenn der Staat Geld von mir nehmen und an jemand anderen geben kann, werde ich als rational handelnder Individualist in Mittel und Wege investieren, um diesen Transfer aufzuheben Das lässt sich unmöglich messen. Einige Schätzungen gehen von enormen Verlusten für die Volkswirtschaft aus, aber je nach Modell kann man jede beliebige Zahl errechnen. Ich kann Ihnen keine Ziffern nennen, aber lassen Sie es mich so versuchen: In Amerika gibt es bedeutend mehr Verschwendung durch Rent Seeking als in den rein parlamentarischen Systemen Europas. Dort sorgt die Parteidisziplin für Verhandlungen, bevor Themen zur Abstimmung gelangen. In den USA dagegen bilden sich starke Interessengruppen, die Otto Normalverbraucher Gelder vorenthalten. Amerikaner nennen das „Pork Barrel“Politik – saftige Speckschwarten für bestimmte Lobbys. In einem klassischen Fürsorgestaat wie Schweden kommt es zwar insgesamt zu mehr Ausgaben, als die Bürger finanzieren möchten, aber ein solches System ist zugleich weniger verschwenderisch als das amerikanische. Wer sich wie in den USA bezahlen lässt, um für eine Gruppe auf Kosten einer anderen Interview James Buchanan Text / Foto: Steffan Heuer Gruppe Geld herauszuschlagen, betreibt negatives Unternehmertum. Anstatt etwas zu produzieren und das Bruttosozialprodukt zu erhöhen, vernichten diese Leute Wert. Ist das nicht eine sehr negative Analyse? Ist Public Choice am Ende nicht vor allem eine pessimistische Bestandsaufnahme? Beamte und Politiker lassen sich von Eigennutz und Lobbyisten beeinflussen, einzelne Bevölkerungsgruppen haben schon rein ökonomisch schlechte Karten, sich im öffentlichen Sektor Gehör zu verschaffen. Das sind berechtigte Einwände. Es ist außerordentlich schwer, dafür zu sorgen, dass alle Gruppen gleich behandelt werden. Man kann argumentieren, dass sich diese Gruppen an der Macht abwechseln und sich so beim Abschöpfen von Vorteilen auf Dauer in Schach halten. Aber ein solches Hin und Her sorgt vor allem für eines: Der öffentliche Sektor wird zur Geisel des politischen Spiels. Je mehr sich unterschiedliche Gruppen um die Macht balgen, desto größer wird der öffentliche Sektor. Und je größer die Staatsquote wird, desto größer sind auch die Möglichkeiten für Marktteilnehmer, sich zu bereichern. Eine Menge dieser Probleme würden sich erledigen, wenn wir eine Staatsquote von zehn statt 50 Prozent hätten. Weniger Staat – das haben schon viele Ökonomen postuliert. Mir geht es um etwas anderes: um die fundamentale Frage, was den öffentlichen Sektor antreibt und wachsen lässt. Dazu habe ich vier Spielarten von Sozialstaat definiert. Was wir heute haben, ist sicherlich nicht der sozialistische Staat der zentralen Planwirtschaft. Systeme wie diese sind verschwunden. Das zweite Modell, das sich abgrenzen lässt, ist der paternalistische Staat, in dem eine Elite der Bevölkerung vorschreibt, was sie zu tun hat. Dann gibt es eine dritte Variante, die vom sozialdemokratischen Gleichheitsideal motiviert ist. Diesen Umverteilungsstaat finden wir heute allerorten, vor allem in Europa. Aber auch dieser sozialdemokratische Ansatz ist meiner Meinung nach nicht zielführend bei der Frage, was die Staatsquote nach oben treibt. Ich denke da an das Modell des fürsorglichen Elternstaats: Die Menschen wollen vom Staat abhängig sein! Heute hat das Vertrauen in den öffentlichen Sektor Gott als letzte Hoffnung McK Wissen 13 Seiten: 120.121 abgelöst. Insbesondere die Bürger der europäischen Wohlfahrtsstaaten glauben nach wie vor an den Staat als legitime fürsorgliche Institution. Während beim paternalistischen Staat Entscheidungen und Wünsche von oben nach unten fließen, fordern die Bürger im Elternstaat Güter und Dienstleistungen ein. Der Staat reagiert lediglich auf das Verlangen der Bevölkerung nach elterlicher Fürsorge. Der Bürger ist schuld daran, dass der öffentliche Sektor wächst? Der Fehler liegt im System. Wenn der Staat eine Rolle als Elternersatz annehmen soll, dann muss er das für alle tun. Jede Bevorzugung einzelner Gruppen bei Zuwendungen oder Besteuerung durch den öffentlichen Sektor verletzt das Gleichheitsprinzip. Also stehen wir vor der entscheidenden Frage, ob sich eine Gesellschaft das leisten kann. Wenn die Bevölkerung vom Staat abhängig sein will, aber nicht gewillt ist, dafür die nötige Steuerlast zu akzeptieren, stecken wir in der Klemme. Externe Faktoren machen die Situation noch schlimmer: die demografische Krise durch Überalterung, Einwanderungstrends und schließlich eine wachsende Staatsverschuldung. Der Generationenvertrag geht nicht mehr auf. Die kinderlose, überalterte Gesellschaft treibt die Staatsausgaben nach oben. Und das bei gleichzeitig wachsender Ressourcenverschwendung durch den fortschreitenden Lobbyismus. Damit will ich nicht sagen, dass die westlichen Sozialstaaten gescheitert sind. Aber ganz sicher muss sich in der Bevölkerung die Erkenntnis durchsetzen, dass ihre Ansprüche nicht durch gewöhnliche Steuersätze zu decken sind. Die George Mason Universität in Virginia hat Buchanan ein Haus gewidmet – sämtliche Wirtschaftsjournale sind respektvoll sortiert. Sie haben in der Vergangenheit immer wieder betont, dass es Ihnen auf fairen und gerechten Zugang aller Bürger zum öffentlichen Sektor ankommt. Wie passt das mit Ihren Ausführungen über den fürsorglichen Elternstaat zusammen. Haben Sie Ihre Meinung geändert? mechanismen zu sorgen. So wird ein staatliches Monopol durch ein privates ersetzt, samt Bestechungsgeldern und all den anderen Problemen. Auf der anderen Seite lässt sich nicht leugnen, dass es handfeste Vorteile wie etwa mehr Wettbewerb und Transparenz bringt, verkrustete öffentliche Strukturen aufzubrechen. Was gehört denn Ihrer Meinung nach in die öffentliche Hand? Literatur Kenneth Arrow: Social Choice and Individual Values. Yale University Press, 1970; 138 Seiten; 15,95 Euro James Buchanan: Politics without Romance. In: Institut für Höhere Studien und Wissenschaftliche Forschung: IHS-Journal, 1979, Band 3, Heft 2; S. 1–11 Anne Krueger: The Political Economy of the Rent-Seeking Society. In: American Economic Review, 1974, Band 64, Heft 3; S. 291–303 Mancur Olson: The Rise and Decline of Nations. Yale University Press, 1984; 276 Seiten; 19 Dollar Ich habe nie etwas gegen den so genannten Sozialstaat gehabt, geschweige denn den Staat als etwas grundsätzlich Schlechtes abgelehnt. Meine These ist lediglich: Marx ist passé, Bismarcks Ideen vom Sozialstaat hingegen leben weiter. Was mir Sorgen macht, ist ein Staat, der bestimmte Bevölkerungsgruppen diskriminiert. Man kann mit Fürsorgeprogrammen eine Menge Gutes erreichen – solange sie für alle gelten und solange die Bevölkerung bereit ist, für sie zu bezahlen. Gefährlich wird es für unseren demokratischen Prozess, wenn man bestimmte Bevölkerungsgruppen aus Programmen wie der allgemeinen Rentenversicherung auszuschließen beginnt. So wird aus allgemeiner Fürsorge ein Umverteilungsprogramm, das Rent Seeking und Lobbyisten geradezu einlädt. Auf uns kommen in den nächsten Jahrzehnten große Verteilungskämpfe zu. Vielleicht ist es keine schlechte Idee, bestimmte öffentliche Dienstleistungen zu privatisieren, damit weniger Ressourcen verschwendet werden und mehr Markt herrscht. An diesem Ansatz ist in der Praxis nicht viel dran, weil die Prozesse schlecht gemanagt werden. Regierungen von Lateinamerika bis Großbritannien haben ihr Glück mit Privatisierungen versucht. In vielen Fällen haben die Verantwortlichen aber nicht daran gedacht, für Wettbewerbs- Es gibt Situationen, in denen der Staat sogar eine größere Rolle spielen könnte. Wenn die Angst vor teuren Klagen im Raum steht, trauen sich private Investoren oft nicht an Projekte heran, und die öffentliche Hand sollte einspringen. Wir sollten beispielsweise bedeutend mehr Geld in neue Atomkraftwerke investieren, da diese Energie sauber und effizient ist und die Abhängigkeit von Ölimporten reduziert. Diese Aufgabe durch die öffentliche Hand anzugehen bietet Vorteile – sofern sich das politisch durchsetzen lässt. Eine private Investorengruppe müsste fürchten, bei einem Unfall in den Bankrott geklagt zu werden. Sie sind jetzt 85 und noch immer sehr engagiert. Wollen Sie nicht irgendwann einmal kürzer treten? Nein, ich arbeite gern noch viel, aber eher zurückgezogen. Die meiste Zeit verbringe ich in meinem Landhaus, wo ich meine E-Mails lesen kann und vier bis fünf Stunden am Tag schreibe. Im Moment habe ich drei Bücher in Arbeit. Das eine beschäftigt sich mit technischen Fragen der PublicChoice-Theorie. Ein weiteres Buch wird im Herbst erscheinen. Es trägt den Titel „Warum auch ich kein Konservativer bin“. Diese Sammlung von Vorlesungen lehnt sich bewusst an Friedrich von Hayeks klassisches Werk „Warum ich kein Konservativer bin“ an. Mein drittes Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen aus den vergangenen 15 Jahren mit dem Titel „The Extent of the Market“. Ich sehe mir das Konzept des Freihandels aus der Perspektive von Adam Smith an, wonach die Größe eines Marktes vom Grad der Arbeitsteilung abhängt. Je größer und je offener eine Volkswirtschaft, desto mehr Spezialisierung gibt es und desto mehr Wachstum. Logisch durchdacht, gibt es keine Rechtfertigung, den nationalen oder internationalen Handel einzuschränken. Sie sehen: In Rente bin ich noch lange nicht. Das wäre ein schrecklicher Gedanke! Bürgerengagement Text / Foto: Stefan Scholl Ein Dorf für Kinder McK Wissen 13 Seiten: 122.123 Kein Geld, keine Arbeit, keine Zukunft – eigentlich gibt es in dem bettelarmen Taigadorf Kejsess kaum noch etwas, das zu verwalten wäre. Aber um ihren Kindern eine Perspektive zu geben, entwickeln die Bewohner eine beispielhafte Eigeninitiative. Der Held dieser Geschichte könnte Alexander Baskal heißen. „14 Paar Ski habe ich selbst gekauft.“ Er sitzt mit ein paar Elfjährigen im Lehrerzimmer, sein Blick, blau wie der westsibirische Himmel, wandert suchend übers Schachbrett. „Manchmal“, unterbricht er sich, „setzen die Jungs mich schon matt.“ Die Jungs kichern, Baskal aber ereifert sich wieder über Ski. „Kunststoffski, Fischer und Rossignol, gekauft oder eingetauscht, gegen eine Gans oder anderes Fleisch.“ In Baskals Eifer mischt sich Stolz: Fischer, Rossignol, ein Paar solcher Markenski kostet 6000 Rubel, 180 Euro, mehr als Baskal im Monat verdient. Baskal, 36, ist öffentlicher Angestellter, Sportlehrer der Mittelschule und Skitrainer des Clubs Viktoria, aber man könnte ihn auch Dorfminister für Körperkultur nennen. Er war einmal Omsker Vizemeister über zehn Kilometer Langlauf, dann verletzte er sich beim Rennradfahren zweimal dasselbe Knie, seitdem lebt er für die Siege seiner Schüler. Skilaufen ist Pflicht an der Mittelschule, 27 Kinder trainiert Baskal täglich, sie siegen nicht nur bei Kreis-, sondern auch bei Gebietsmeisterschaften. Die Loipen im Dorf spurt er mangels Motorschlitten eigenfüßig, Baskal tritt auch die zwei Meter breiten Trassen für die Skater platt, auf breiten Jagdskiern, 1050 Meter Trasse an der Schule, 1200 Meter hinter dem Friedhof, „mit einer 90 Meter langen Steigung fürs Hügeltraining“. Im Winter, nach jedem Neuschnee, sieht man den wuchtigen Mann auf seinen Holzbrettern in Zeitlupe über die verschneiten Feldern ziehen. Sisyphus in Sibirien. Wassilij Bobrowitsch, der zweite Sportlehrer, schleppt zu Winteranfang das Wasser in 40-Literkannen auf den Eishockeyplatz. Seine Jungs spielen das beste Eishockey im Kreis, dank Bobrowitsch tragen sie auch rich- tige Trikots. Es gibt hier viele solcher Helden, Sport- und Musiklehrer, Kommunalbeamte und Kolchosniki. Das große Russland sucht vergeblich eine nationale Idee, das Dorf Kejsess hat für sich eine gefunden, eine sehr einfache, aber starke Idee, um die sich alles öffentliche Leben dreht: die Kinder von Kejsess, ihr Glück, ihre Zukunft. Bettelarm – aber reich an Pädagogen Der Aprilhimmel über Kejsess strahlt blau und riesig wie die Iris einer verliebten Dorfschönheit. Der Alltag darunter ist bitterhart. Die großen Fröste, oft minus 40 Grad, sind vorbei, jetzt balancieren gestiefelte Gestalten über Holzbretter durch das Schmelzwasser, das die Hofeinfahrten überschwemmt. Das Dorf Kejsess im Rayon Sedelnikowo, 330 Kilometer nordöstlich von Omsk, ein Kolchos, elf Straßen, 400 hölzerne Haushalte, belagert von den Birken und Fichten der westsibirischen Wildnis. Gestern Nacht hat ein besonders blutrünstiger Vielfraß zwei Schweineställe am Dorfrand überfallen, fünf Schweine getötet, drei musste man notschlachten. Leben heißt hier überleben. Den 1200 Bürgern geht es wie 40 Millionen russischen Landbewohnern, von denen 25 Millionen unter der Armutsgrenze leben. 370 Erwachsene arbeiten im Kolchos „Erster Mai“, für Monatshungerlöhne von umgerechnet zehn oder 20 Euro. Lehrer verdienen 50 bis 200 Euro, sind damit die Spitzenverdiener im Dorf, aber auch das reicht nicht zum Überleben. Alle, sogar die Schuldirektorin, sind Selbstversorger. Sie melken eigene Kühe, ernten die eigenen Kartoffeln, hacken Holz, schleppen Wasser, jagen, 19 Bürgerengagement Text / Foto: Stefan Scholl McK Wissen 13 Seiten: 124.125 sammeln Pilze oder Beeren. Reich sind nur die Omsker, dank ihrer Ölraffinerien. Deswegen kann es sich der Omsker Gouverneur leisten, mehr als 30 Lehrergehälter allein in Kejsess zu bezahlen. Das Dorf ist bettelarm, aber reich an Pädagogen. Verwalten? Freiwillige vor! In den siebziger Jahren lebten in Kejsess mehr als 3000 Menschen, blühte hier sowjetisches Landleben. Aber von der Leinenfabrik stehen nur noch Ruinen, auch die Molkerei, das Traktorenwerk, die lokale Radiostation und das Krankenhaus haben längst dichtgemacht. Es gibt kein Parteikomitee und keinen Dorfsowjet mehr, wozu auch? Staatliche Verwaltung bedeutet, Kader und Ressourcen zu verteilen. Auf den Dörfern aber geht es schon lange nur noch darum, die Armut zu verwalten. Kejsess hat eine Dorfverwaltung, aber keinen Etat. Der Chef der Verwaltung, Michail Korobkow, ein kleiner Mann mit breit gearbeiteten Händen, bekommt zwar sein Gehalt vom Staat, aber jede Kopeke für die öffentlichen Belange im Dorf muss er beim Rayon beantragen. Und der ist arm. Wenn Korobkow für umgerechnet 1800 Euro Kohle beantragt, erhält er welche für 800. Auch dieses Frühjahr mussten die Heizer wieder Brennholz in der Taiga schlagen, um Schule, Kindergarten und Kulturhaus warm zu Alexander Baskal, Sportlehrer und Skitrainer in Kejsess, trainiert seine Schüler nicht nur auf der Piste. Im Schachspiel wird er von den Elfjährigen schon mal besiegt. halten. „Ohne Haushalt“, seufzt Korobkow, „kann doch von lokaler Selbstverwaltung keine Rede sein.“ Kader und Ressourcen verteilen, das heißt für ihn Freiwillige zusammenzutrommeln, Bretter oder Schlacke zu beschaffen, selbst mit anzupacken, um die vom Frost gesprengte Asphaltdecke oder eine löchrige Holzbrücke zu flicken. Verwalten, das heißt oft nur noch zu entscheiden, ob beim Beerdigen der Sarg auf einem Kolchoslastwagen oder im Krankenwagen zum Friedhof gekarrt wird. Und doch: Auf dem Flur der Dorfverwaltung hört man lachende Kinderstimmen. Im Sitzungssaal rechts bereitet die Jugendgruppe „Ich und du“ den „Tag der Familie“ am 15. Mai vor. Links, im Kabinett von Alexandra Schemtschugowa, 44, haben sich sechs Kinder und zwei Mütter versammelt. „Und jetzt erzählt mir, Kinder“, moderiert Alexandra, „welche Eigenschaften der Mutter uns das Herz wärmen. Ira, wir fangen mit dir an.“ Ira legt ihre Kinderstirn in Falten, druckst herum: „Mmm … also, Zärtlichkeit.“ Gruppentherapie in Gummistiefeln: Die Acht- bis Elfjährigen und ihre Mütter kommen aus Familien, die Alexandra und die anderen Pädagogen im Dorf als „Risikogruppe“ bezeichnen. Alexandra leitet das einzige Komitee der Dorfverwaltung, das Komitee für Jugendfragen. Eine Frau mit kastanienroter Kurzhaarfrisur und klugen hellen Augen. „Die Löhne bei uns sind niedrig“, untertreibt sie. „Leute mit schwachem Willen geben sich auf, fangen an zu saufen.“ Meist saufen „Die Schule gibt keine Ruhe. Die wollen, dass sich die Kinder entfalten.“ Alexandra Schemtschugowa (rechts) leitet das einzige Komitee der Dorfverwaltung und diskutiert Jugendfragen. die Väter, manchmal die Mütter. Auch tagsüber straucheln schwarze Gestalten durchs Dorf. Oft liegt schon vormittags die erste Schnapsleiche im Straßengraben. Der Dorfvorsteher vermutet, 20 Prozent der Leute hier seien Alkaschi, Alkoholiker. Der Kolchosdirektor hat einmal gesagt, er würde am liebsten die Hälfte seiner Belegschaft wegen Sauferei entlassen. Der Dorfpolizist und die Schuldirektorin vermuten, dass ein Drittel der Bevölkerung regelmäßig trinkt. Sibirische Zweidrittelgesellschaft. Die Alkaschi schlagen ihre Kinder nicht. „Sie kümmern sich einfach nicht mehr um sie“, sagt Alexandra. Ihre Gruppentherapie, zweimal die Woche, soll die Eltern wieder für ihre Kinder interessieren. „Aber meist kommen nur die Mütter. Und auch nicht alle.“ Alexandra traktiert auch die Kinder, die allein kommen, mit Fragespielen, Volksmärchen und Hausaufgaben, die auf die Eltern zielen: „Stellt euch vor, ihr seid Reporter. Und zu Hause macht ihr ein Interview mit eurem Vater. Fragt ihn, wie seine Kinder einmal sein sollen!“ Die ölblauen Holzwände ihres Kabinetts sind mit Fotografien von Kinderfesten und filzstiftbunten Merkblättern tapeziert: „Was fühlt das Mutterherz?“ – „Was ist Liebe?“ Alexandra ist die vielleicht öffentlichste Frau in Kejsess, ihr Alltag eine endlose Kette von Veranstaltungen. Treffen der Jugendlichen mit örtlichen Kriegsveteranen, Lektionen und Diskussionsabende über die Gefahren von Alkohol, Nikotin oder Aids, Gruppenspiele mit Schulklassen: „Wie soll eine Familie reagieren, wenn die Tochter sich in einen Taugenichts verliebt?“ Auch das Sisyphusarbeit, aber die Frauen in Sibirien sind noch schwerer zu verdrießen als ihre Männer. „Manchmal stehe ich um fünf Uhr morgens auf“, sagt Alexandra. „Da habe ich die besten Ideen.“ Die Häuser im Dorf sind meist einstöckig, aus vom Alter geschwärztem Holz, auch die Gebäude der Dorf- und der Kolchosverwaltung. Nur der Giebel des Kulturhauses ist höher, seine Steinwände sind beige verputzt. Auch sibirische Architekturen haben ihre Hierarchien. Im Direktorenzimmer des Kulturhauses wird gesungen. Die 45-jährige Nadeschda Chaponkowa und ein wetterbrauner Kolchosnik, er hat die Hände auf die Knie gelegt und blickt versonnen, feilen an der Tonlage eines Liedes, das der Dorfchor zum 9. Mai, dem „Tag des Sieges“ einstudiert. Sie verstummen, sinnen schweigend. „Etwas höher“, sagt der Kolchosnik. „Ja, etwas höher“, sagt Nadeschda. Die Direktorin trägt ähnlich rote Haare wie Alexandra vom Jugendkomitee. Nadeschda Chaponkowa, 45 Das Kulturhaus, offiziell heißt es jetzt „Erholungszentrum“, ist Konzertbühne, Kino, Diskothek und vor allem Jugendclub. Natürlich gibt es den Erwachsenenchor. Und der indische Spielfilm „Liebe ohne Worte“, der morgen um 22 Uhr gezeigt wird, ist auch nichts für Kinder. Aber die meisten Kulturträger im Dorf sind jünger als 18 Jahre. 149 Kinder und Jugendliche engagieren sich in der Volkstanzgruppe, der Theatergruppe, dem Kreis für Kunsthandwerk, dem Kinoclub „Traum“ oder dem patriotischen Klub „Spiegel“. Teilnahme kostenlos. Sie lernen tanzen, musizieren, Theater spielen, moderieren, organisieren, improvisieren. Schuldirektorin – die stärkste Frau im Dorf Und sie treten auf. Erst am Sonntag gab es ein Wohltätigkeitskonzert, die meisten Nummern trugen Jugendliche vor. „Kinder, strengt euch an“, hat Nadeschda ihnen gesagt, „Eure Großväter haben für euch gekämpft, sind gefallen, mit den Einnahmen renovieren wir das Kriegerdenkmal.“ Nadeschda hat 25 Jahre Erfahrung mit Kulturarbeit, sagt, früher hätte es weniger Geldprobleme gegeben, aber heute veranstalte man mehr. Ob die feierliche Verabschiedung der Wehrpflichtigen oder die nicht weniger feierliche Verteilung der ersten Pässe für die 16-Jährigen, die meisten Feste stellt das Kulturhaus gemeinsam mit dem Jugendkomitee und der Schule auf die Beine. „Die Schule gibt keine Ruhe“, sagt Nadeschda. „Die wollen, dass sich die Kinder entfalten.“ Die Architektur und die Hierarchien sind niedrig in Kejsess. Aber es ist kein Zufall, dass die Schule zweistöckig und aus Stein ist. Die Direktorin residiert im Obergeschoss, Irina Chromowa, 39, die vielleicht stärkste Frau im Dorf. „Es gibt Eltern, die ihre Kinder nicht mehr in die Schule schicken“, schimpft die Hünin. „Aber wir zwingen sie. Schlimmstenfalls gehe ich selbst hin.“ Kein Zweifel, wie solche Besuche enden, die Oberarme der Direktorin sind mächtig. Irina Chromowa war einmal Komsomolvorsitzende des Kreises. Eine Enthusiastin, die an die glückliche Zukunft des Sowjetvolkes glaubte. Diese Zukunft ist längst Asche, aber Irina hat ihren Enthusiasmus nicht verloren. Die sibirischen Dorfschullehrer pflegen ihr eigenes Selbstverständnis. „Lehrer ist ein zutiefst schöpferischer Beruf“, erklärt Schulrat Rjadowoj, früher selbst Direktor der Kejsesser Schule. Lehrer seien wie Künstler oder Bürgerengagement Text / Foto: Stefan Scholl Schauspieler, sie könnten nicht einfach nach Tarifvertrag arbeiten. „Wir haben die alten Stereotypen der sowjetischen Pädagogik noch nicht überwunden“, räsoniert Rjadowoj ironisch. „Wir wollen die Kinder nicht nur informieren, wir wollen sie begeistern, ihren Charakter entfalten.“ Seit 19 Jahren leitet Irina die Kejsesser Mittelschule, 23 Lehrer, vier Erzieher, 180 Schüler, elf Jahrgänge. Für viele Kinder sei die Schule das zweite Zuhause. „Ein Junge kam, als er aus der Armee entlassen wurde, direkt zu uns in die Schule, schleppte seine Koffer mit. Erst danach ist er nach Hause gegangen.“ In Irina Chromowas Stimme mischt sich Stolz mit Sorge. Natürlich sei es schwer, gegen saufende Eltern an zu erziehen. „Familien, auch schlechte Familien, prägen das Kind zu mehr als der Hälfte.“ Sie macht ein Gesicht wie Winston Churchill 1941, ernst, aber zuversichtlich, „aber wir halten die Kinder so lange wie möglich hier.“ 180 Stunden Bildung und Freizeit So lange wie möglich, elf Jahre lang, bis zur Hochschulreife. Und so lange wie möglich jeden Tag, die Schule öffnet morgens um halb acht und schließt ersten gegen zehn Uhr abends. Sechs Unterrichtsstunden, das Mittagessen danach ist kostenlos. Nachmittags verwandelt sich die Schule in ein Pionierhaus, einen Sportclub und einen Spielplatz. Eishockey, Umweltschutz, Volleyball, Klavier, Computer, Flugzeugmodellbau, insgesamt bieten Schule und Kulturhaus mehr als 180 Stunden Freizeitangebot. Aber auch nachmittags wird weiter gelernt: „Fakultative“, Wahlfächer, oft werden sie als kostenlose Förderstunde für schwache, aber auch für besonders talentierte Schüler genutzt. „Damit sie bei den Aufnahmeprüfungen mit den Stadtkindern konkurrieren können“, sagt Irina. Die schöne Katja mit den riesigen schwarzen Augen sitzt mit nur einer Klassenkameradin im Fakultativunterricht Deutsch. Katja ist Musterschülerin, fröhlich, fleißig, hilft schwächeren Altersgenossen bei den Hausaufgaben. Und sie gehört zu den 16 Jugendlichen, die als Anerkennung für ihren Eifer im Kulturhaus umsonst in die Disco dürfen. Zum Tag des Sieges fährt sie gemeinsam mit ihrem Geschichtslehrer nach Moskau, zu einem Empfang beim Präsidenten, eine Auszeichnung für das vorbildliche Heimatkundemuseum. Ihren Studienplatz hat sie schon sicher, der Kreis hat ein Stipendium für sie ausgeschrieben. Katja will in Omsk Wirtschaft studieren. Und wie fast alle Abiturienten will sie weg aus McK Wissen 13 Seiten: 126.127 Kejsess. „Hier gibt es doch keine Arbeit für uns. Ich möchte zuerst Karriere machen, danach eine Familie gründen.“ Katja lächelt, sie ist 16, und die Zukunft lockt. „Je besser unsere Dorfschulen ihre Kinder vorbereiten, je mehr einen Studienplatz in der Stadt erobern, desto weniger Intelligenz bleibt im Dorf“, klagt Schulrat Rjadowoj. Zu Sowjetzeiten verdiente eine Melkerin doppelt so viel wie ein Lehrer. „Das Verhältnis hat sich gründlich umgekehrt“, sagt die Direktorin. Jetzt ackern die Eltern, um ihren Kindern eine gute Bildung zu finanzieren. In den vergangenen Jahren verschwanden mehr als 30 Prozent der Schulabgänger an die Hochschulen nach Omsk oder Tara. Aber von 16 Absolventen der letzten Abschlussklasse arbeiten zwei auf der Kolchose, vier lernen in einer Berufsschule, acht an Colleges, vergleichbar den deutschen Fachhochschulen, nur zwei an der Universität. „Wir brauchen in der Landwirtschaft junge, gut ausgebildete Spezialisten“, erklärt Irina. Deshalb hätten die Lehrer ihre Schüler diesmal bewusst auf mittlere Ausbildungen orientiert. Kaderpolitik im Klassenzimmer. Die Mittelschule baut auf zwei Hektar eigene Kartoffeln und eigenes Gemüse an. Im Herbst helfen Schüler und Lehrer der Kolchose bei der Ernte. „Deine beste Brigade, Chromow“, sagt Irina zu ihrem Ehemann, dem Kolchosvorsitzenden, „ist doch unsere Schule.“ Der Kolchos revanchiert sich mit Milch zum Selbstkostenpreis, aber auch mit 14 Stipendien zu Schuldirektorin Irina Chromowa hat eine wirkungsvolle Methode, Eltern davon zu überzeugen, ihre Kinder in die Schule zu schicken: Sie besucht sie. Pionierapell der 6. Klasse „Ich möchte Geschichte studieren. Historiker wissen nämlich am meisten.“ Sweta, 11 400 Rubeln. „Ohne uns kommt hier keiner aus“, sagt Irina, „aber wir auch nicht ohne die anderen.“ Jeden Montagmorgen um acht treffen sich die Jugendbeauftragte und die Dorfbibliothekarin bei Irina zur Kabinettsitzung: Was bieten wir unseren Kindern diese Woche an? Soll nicht die Dorfverwaltung in den Kindergarten ziehen, damit das neue Sozialzentrum „Rodnik“ (Quelle) ihr Gebäude übernehmen kann? Kinder selbst erziehen mit. „Jura benimm dich gefälligst“, schimpft die blaugrüngoldäugige Sweta nach einer Rempelei mit ihrem wilden Klassenkameraden Jura. „Er ist zwar nicht mein Bruder“, erklärt die Elfjährige mit energischer Stimme. „Aber ich schäme mich trotzdem für sein Benehmen.“ Auch die kleine Sweta weiß schon, was sie vom Leben will: „Ich möchte Geschichte studieren. Historiker wissen nämlich am meisten.“ Die Kinder und ihre Zukunft sind die Hoffnung des Dorfes, seine Ideologie. Und das Dorf hat Glück, dass die Ölraffinerien in Omsk RiesenKein Geld, aber viel Hoffnung gewinne machen. Und dass der Omsker Gouverneur, ein alter Parteikader, Seit einigen Monaten nimmt auch Nina Troptowa an den Beratungen bei sich so viele Rubelplanstellen für Lehrer und Pädagogen leistet. Immer Irina teil. Nina, 37, leitet das im vergangenen Jahr eröffnete Zentrum für mehr wirtschaftsliberale Gouverneure und Bürgermeister kalkulieren ihren sozial schwache Familien. „Es gibt Kinder im Dorf, die sich nicht satt Haushalt eiskalt, schließen Musik- und Sportschulen, Kulturhäuser, auch essen können.“ Auch Ninas Haare sind hennarot gefärbt, sie ist kräftig und Dorfschulen. „Warum bringst du Kinder zur Welt, wenn du kein Geld hast?“, fröhlich, als wäre sie Irinas kleine Schwester. „Meist Kinder aus Säuferfami- herrschte ein Beamter in Twer, 170 Kilometer nördlich von Moskau, eine lien. Unsere Risikogruppe.“ junge Mutter an, die sich beklagt hatte, weil die Stadt alle Milchküchen Also lädt der Rodnik für drei Monate 30 Kinder ein. Hier gibt es etwas zu dichtgemacht hat. Sibirien ist bäuerlicher, konservativer, sozialer. essen, Kleider, einen warmen Platz zum Lernen und Spielen. Aber vor allem Im November hat der Kreis Sedelnikowo einen neuen Landrat gewählt, Selbstbewusstsein. „Die Kinder sehen in der Schule, dass sie schlechter einen ehemaligen Lastwagenfahrer, der es als Bauunternehmer zum reichsangezogen sind als die anderen, verkriechen sich in sich selbst. Wir wollen ten Mann von Sedelnikowo gebracht hat. Ein Mann der Tat, mit guten Verihnen die Möglichkeit geben, sich zu entfalten.“ Hausaufgabenhilfen, Nähen, bindungen nach Omsk. Gerade erst hat der Gouverneur den Rayon besucht, Basteln, Spiele und Feiern. Tag des Witzes, Tag des Frühlings, Tag der hat Geld für neue Wohnhäuser bewilligt, auch die Straßen sollen repariert Gesundheit, Geburtstage. Die Piroggen zum feierlichen Teetrinken sind werden. Der neue Landrat ruft die Kolchosbauern auf, die Milch ihrer selbst gebacken, die Pfefferminze und die Melisse für die Teemischung Privatkühe an die Molkerei im Kreiszentrum zu verkaufen, will Butter und selbst gesammelt und getrocknet. Auch Liebe steckt im Detail. Käse aus Sedelnikowo in Omsk vermarkten. Auch in Kejsess kommt neue Erzieherinnen und Kinder helfen bei großen Aufräumaktionen zum Früh- Hoffnung auf. lingsanfang mit, die Schule stellt ihre Basteleien zum Verkauf aus, die Kin- Und Skilehrer Baskal denkt über seinen Nachwuchs nach: „Ich stelle die der lernen, dass sie nützlich sind. Schule und Kolchose helfen mit Gemüse Kinder lieber auf Skier, als dass sie im Dorf herumlungern“, sagt er. „‚Du und Kartoffeln, Brot gibt es aus dem Rayonzentrum. Aber der Rodnik ist gewinnst bei den Dorfmeisterschaften‘, sage ich ihnen, ‚dann bei den noch ärmer als das übrige Dorf, lebt von Spenden. Stifte oder Stoffe bezah- Kreismeisterschaften, dann bei den Gebietsmeisterschaften. Und dann len die Frauen – neben Nina noch zwei Sozialarbeiterinnen und zwei sehen wir weiter.‘“ Natürlich kann auch Baskal nicht aus jedem Dorfkind Psychologinnen – oft aus eigener Tasche. „Wir haben im Monat gerade einen Olympiasieger machen. Aber gute Skiläufer seien in Sibirien immer Lebens- und Sachmittel für 1000 Rubel“, seufzt Nina. „Aber dafür viel gefragt. Der 24-jährigen Oksana beispielsweise hatte Baskal auch einst Hoffnung.“ das Skilaufen beigebracht. Ihre Eltern soffen, aber sie gewann bei den Kejsess lebt für seine Kinder. Wenn die Eltern sich besaufen, nehmen die Omsker Gebietsmeisterschaften, studierte Sport. „Jetzt ist Oksana wieder Nachbarn ihre Kinder oft zum Übernachten zu sich. Hier kennt jeder in Kejsess. Unsere zweite Skitrainerin.“ Manchmal kommt auch Sisyphus jeden, fühlt sich nicht nur für die eigenen Kinder verantwortlich, die ans Ziel. Nina Troptowa bietet Kindern aus sozial schwachen Familien im Sozialzentrum Rodnik einen warmen Platz zum Lernen und Spielen. McK Wissen 13 Autoren / Consultants Seiten: 128.129 Köpfe Text 1 1 2 3 Katja Apelt schreibt über Wirtschaft, Finanzen, Reise und Gastronomie. Bei ihrer Recherche über E-Government entschloss sie sich, wenigstens ihre eigene Bürokratie besser zu vernetzen, warf ihr Filofax weg und kaufte sich einen PDA. 2 Dass Freud und Leid manchmal sehr nahe beieinander liegen, erfuhr Helge Bendl bei seiner Recherche in Bad Münster am Stein-Ebernburg. Eigentlich waren die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Kurbetrieb ideal, und doch ist die Stadt heute pleite – und wenig attraktiv. Pflichtbewusst übernachtete Bendl in Bad Münster, abends jedoch hielt er die Grabesruhe nicht aus und flüchtete zum Nachbarn Bad Kreuznach, um gemütlich ein Glas Nahe-Wein zu trinken. 3 Ralf Grauel lebt in Berlin und schreibt als fester Autor für brand eins und McK Wissen. 4 Elisabeth Gründler lebt als freie Autorin in Hannover und zog aus ihrer Recherche das Fazit: Berlin ist ein besonderes Biotop. 5 Steffan Heuer berichtet seit 1994 aus den USA über Wirtschafts- und Technologiethemen, unter anderem für brand eins, Technology Review Deutschland und die Weltwoche. Nach seinem Interview mit dem betagten Nobelpreisträger James Buchanan hat er sich (wieder einmal) vorgenommen, etwas gesünder zu leben, um mit Mitte 80 vielleicht auch noch so fit zu sein wie sein Gesprächspartner heute. 6 Andreas Molitor, Wirtschaftsjournalist aus Berlin, besuchte die Modell-Arbeitsagentur in Halle gleich zweimal. Ein beleibter Mensch hatte sich im Zug versehentlich auf seine Kamera gesetzt und sie zerstört. Für die 4 5 6 7 8 9 10 11 Fotos wurde deshalb ein zweiter Besuch notwendig. 7 Im Zuge seiner Recherchen über den österreichischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk wurde brand eins-Autor Dr. Gerhard Pretting eine Ehre zuteil, auf die er während seiner aktiven ORF-Karriere niemals zu hoffen gewagt hätte: Er bekam einen Termin sowohl mit der Generaldirektorin als auch mit dem Kaufmännischen Direktor. 8 Stefan Scheytt ist freier Journalist, lebt in der Nähe von Tübingen und schreibt unter anderem für die Schweizer Weltwoche und brand eins. In der Kreisverwaltung Osnabrück traf er auf so viel Eifer und Engagement, wie er es bislang nur von privatwirtschaftlichen Unternehmen kannte. 9 Stefan Scholl, freier Autor in Russland, stellte bei seiner Recherche über das bettelarme, aber kinderliebe Taigadorf Kejsess erneut fest, dass sich Enthusiasmus vor allem dort finden lässt, wo es sehr wenig Geld gibt. 10 Der Berliner Journalist Florian Sievers hat sich auf dem niederländischen Trinkwasser-Markt umgesehen. Weil er dabei auch etwas über die gute Wasserqualität an seinem Wohnort gelernt hat, trinkt er im Büro jetzt ausschließlich Berliner Grundwasser – und nervt seine Gastgeber im Ausland seit neuestem mit der Frage, ob man ihr Leitungswasser eigentlich trinken kann. 11 Dr. Christian Weymayr, Medizinjournalist und brand eins-Autor in Tübingen, schreibt vor allem über Forschungs- und Wirtschaftsthemen. Seit seiner VivantesRecherche sieht er Spenden an Kliniken mit anderen Augen. Consulting 1 2 3 4 5 6 1 Dr. Uta Böllhoff ist Engagement Manager im Berliner Büro und Mitglied der Human Resources Initiative von McKinsey. Die Volkswirtin berät vorwiegend Klienten aus dem öffentlichen Sektor und der Telekommunikationsbranche in den Bereichen HR und Strategie. 2 Russell Cake ist Engagement Manager im Londoner Büro und derzeit im Rahmen eines Sabbaticals Mitarbeiter der Delivery Unit in Großbritannien. Vor seinem Wechsel in den öffentlichen Dienst war der gelernte Ingenieur für Klienten in der Hightech-Industrie und im Public Sector tätig. 3 Dr. Diana Circhetta de Marrón hat Rechtswissenschaften und Sprachen in Deutschland und den USA studiert. Als Senior Associate im Stuttgarter Büro gehört sie seit 2003 dem Public Sector von McKinsey an. Sie arbeitet schwerpunktmäßig für Regierungen und Behören, vor allem an der Verbesserung der Aufbau- und Ablauforganisation öffentlicher Verwaltungen sowie an Personalthemen. 4 Dr. Henrik Haenecke ist Associate Principal im Berliner Büro. Der Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler promovierte im Bereich Marketing an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP) und berät vorwiegend Verwaltungen und öffentliche Unternehmen in strategischen Fragestellungen. 5 Holger Haenecke, Engagement Manager im Berliner Büro, legte nach seiner Ausbildung zum Rechtsanwalt seinen Schwerpunkt auf die Herausforderungen im öffentlichen Sektor. Als Projektleiter und Mitglied des Public Sector berät er sowohl privatwirtschaftliche Unternehmen als auch öffentliche Verwaltungseinrichtungen in den Bereichen Marktstrategie, Marketing und IT. 6 Dr. Michael Jung ist Director bei McKinsey und Gründer des Wiener Büros sowie der europäischen Leadership & Organization Practice. Die Beratung entwickelt aus seinen Initiativen neue Ansätze zu Large Scale Change Management in Konzernen und im öffentlichen Sektor. Jung studierte Wirtschaftswissenschaften, Jura und Philosophie an der LMU in München und promovierte über die Grundlagen der Organisationstheorie. 7 Dr. Markus Klimmer ist Partner im Berliner Büro und Leiter des Public Sector. Er studierte Politik- und Verwaltungswissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Öffentliches Recht an der London School of Economics, der University of California in Los Angeles und an der Universität Hamburg und promovierte anschließend im Bereich der regionalen Strukturpolitik. 8 Dr. Katrin Krömer ist Engagement Manager im Berliner Büro und Mitglied des 7 8 9 10 11 12 13 14 Public Sector. Sie berät hauptsächlich öffentliche Institutionen bei der Entwicklung und Umsetzung von Steuerungssystemen und Konzepten zur Leistungssteigerung. Regionale Wirtschaftsentwicklung und Standortentscheidungen bilden einen weiteren Schwerpunkt ihrer Arbeit. 9 Dr. Timo Meynhardt ist Practice Specialist im Berliner Büro und beschäftigt sich vor allem mit Fragen des Change Management in großen Transformationsprozessen. Als Mitarbeiter der Einheit „MyWorkPlace“ konzentriert sich der Psychologe besonders auf neue Möglichkeiten der Organisationsdiagnose. 10 Dr. Stefan Niemeier, promovierter Wirtschaftswissenschaftler, ist Associate Principal im Büro Frankfurt. Seit seinem Firmeneintritt 1998 berät er vorwiegend Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung und Klienten aus der Konsumgüterbranche. Im Fokus seiner Arbeit stehen Transformationsprozesse, Turnaround-Strategien und die Gestaltung von Organisationsstrukturen. 11 Dr. Rainer Salfeld ist Director im Münchener Büro und Mitglied der Führungsgruppe des europäischen Healthcare Sector. Seit 1986 bei McKinsey, leitete der promovierte Jurist zahlreiche Beratungsprojekte für Leistungserbringer und Krankenkassen und sammelte weitreichende Erfahrungen im Bereich der Medizintechnik und der IT-Systeme im Gesundheitswesen. Neben der Arbeit für seine Klienten unterrichtet er Betriebswirtschaftslehre an der Universität Augsburg. 12 Dr. Peter Sander ist Partner im Frankfurter Büro und Mitglied der Führungsgruppe der European Real Estate Practice. Seit 1993 beschäftigt er sich mit Sales & Marketing, Organisation und Verbesserung der operativen Leistung von Unternehmen und berät vorwiegend Klienten aus der Prozessindustrie sowie der Immobilienbranche. 13 Dr. Marko Schulz ist Partner im Berliner Büro und gehört dem Führungsteam des Public Sector und der Travel & Logistics Practice an. Seine Klienten sind vorwiegend öffentliche und private Unternehmen der Entsorgungs-, Versorgungs- und Energiewirtschaft sowie des Dienstleistungssektors, die er unter anderem in Strategie- und Organisationsfragen berät. 14 Dr. Moritz Viehweger ist Partner im Berliner Büro und Mitglied der europäischen Führungsgruppe des Public Sector sowie der Media, Entertainment & Information Practice. Seit neun Jahren berät der Kommunikationswissenschaftler vor allem Klienten aus der europäischen Medienindustrie sowie dem öffentlichen Sektor in Fragen der Unternehmensstrategie und der Produktivitätssteigerung. Team / Kontakt Impressum Herausgeber Rolf Antrecht, McKinsey & Company Chefredaktion (verantwortlich) Susanne Risch, [email protected] Design Mike Meiré, Creative Director Redaktion Sophie Büning, Textredaktion Detlef Diederichsen, Textredaktion Tania Ehrentraut, Organisation / Dokumentation Kerstin Friemel, Textredaktion Kristina Haaf, McKinsey Communication Services Renate Hensel, Schlussredaktion Kathrin Lilienthal, Dokumentation Katja Ploch, Dokumentation Victoria Strathon, Dokumentation Michaela Streimelweger, Chefin vom Dienst Gestaltung Katja Fössel Jens Wiemann Illustration Martina Wember Text Katja Apelt Helge Bendl Oliver Fahrni Ralf Grauel Elisabeth Gründler Steffan Heuer McK Wissen 13 Seiten: 130.131 Andreas Molitor Dr. Gerhard Pretting Stefan Scheytt Stefan Scholl Florian Sievers Dr. Christian Weymayr Redaktionsadresse brand eins Wissen GmbH & Co. KG Schauenburgerstraße 21 20095 Hamburg Telefon: 0 40/80 80 589 - 0 Fax: 0 40/80 80 589 - 89 E-Mail: [email protected] Verlag brand eins Verlag GmbH & Co. oHG Schauenburgerstraße 21 20095 Hamburg Telefon: 0 40/32 33 16 -70 Fax: 0 40/32 33 16 - 80 E-Mail: [email protected] Leitung: Eva-Maria Büttner, [email protected] Anzeigen Joachim Uetzmann, [email protected] Telefon: 0 40/32 33 16 - 76 Michael Rühl, [email protected] Telefon: 0 40/32 33 16 - 75 Bestell-Service Michaela Pflug, [email protected] Telefon: 0 40/32 33 16 - 78 Bankverbindung Dresdner Bank Konto-Nr.: 924 759 200 BLZ: 100 800 00 Reproduktion 4mat Media Kleine Reichenstraße 1 20457 Hamburg Druck Mohn Media Mohndruck GmbH Carl-Bertelsmann-Straße 161 M 33311 Gütersloh Vertrieb ASV Vertriebs GmbH Süderstraße 77 20097 Hamburg Telefon: 0 40/34 72 59 82 Fax: 0 40/34 72 95 17 Heftpreis 15 Euro ISSN-Nr. 1619-9138 Martina Sander, [email protected] Telefon: 0 40/32 33 16 - 82 Barbara Freitag, [email protected] Telefon: 02 11/49 89 40 Gerichtsstand und Erfüllungsort Hamburg