Da wird nichts kritisch hinterfragt

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Da wird nichts kritisch hinterfragt
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Expertenkommission zur Medienkompetenz von Jugendlichen
„Da wird nichts kritisch hinterfragt“
Sie surfen, chatten oder twittern, kennen Facebook und YouTube –
und dennoch fehlt es den Digital Natives, wie sie gern genannt
werden, an grundlegenden Kompetenzen im Umgang mit modernen Medien. Bedienungskompetenz sei noch keine Medienkompetenz, urteilt eine zwölfköpfige Expertenkommission, die im Auftrag des Bundesbildungsministeriums aktiv geworden ist.
„Es reicht nicht, den PC bedienen zu können
und im Internet zu surfen“, sagt Professorin Heidi Schelhowe von der Universität Bremen, Sprecherin der mit Wissenschaftlern, Medienpraktikern und Pädagogen besetzten Kommission. „Es
geht darum“, betont Schelhowe, „Informationen
zu suchen und sie für den Kontext zu bewerten,
sie etwa auch auf ihre Glaubwürdigkeit zu prüfen. Und es geht um ein zunehmend vernetztes
und gemeinsames Arbeiten.“ Mit den „Kompetenzen in einer digital geprägten Kultur“ hat sich
eine vom Bundesbildungsministerium eingesetzte Expertenkommission beschäftigt.
Die große Spaltung im Lager der Mediennutzer
besteht heute „nicht mehr im Zugang, sondern im
Umgang mit dem Computer“, sagt Dr. Sven Kommer von der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Er
hat in einer qualitativen Studie unter anderem die
Mediennutzung und das Rechercheverhalten von
Haupt- und Realschülern der neunten Klasse im Internet untersucht. Seine Folgerung: „Ein gewisses
Grundwissen ist da. Die Schüler wissen: Es gibt das
Netz. Aber sie wissen wenig über seine Struktur und
über die Funktionsweise der Hardware.“
Ein Panzer als U-Boot
Wer es geschafft hat, die Suchmaschine aufzurufen und das Suchwort für eine Recherche – bei
der Studie der Pädagogischen Hochschule Freiburg zur Sendung „Deutschland sucht den Super4
star“ – orthografisch richtig einzugeben, bekommt häufig ein
Problem bei widersprüchlichen Informationen. „Oft entscheiden die Schüler dann danach, was hübscher aussieht“, sagt
Kommer. Viele der von ihm beobachteten Schüler beschränkten sich auf „ein enges Feld, auf wenige Websites, sie lassen
sich ungern auf Neues, Unbekanntes ein. Ein Netz, das die
große, weite Welt für alle verfügbar macht – der Traum der
Internetpioniere –, wird bewusst vermieden.“
Aber nicht nur Haupt- und Realschüler am Ende ihrer
Schullaufbahn haben Schwierigkeiten, die Ergebnisse einer Suche im Internet richtig zu bewerten und einzuordnen. „Bei einer Projektarbeit an der Wirtschaftsschule wollte mir eine Schülerin mal einen Panzer als U-Boot verkaufen. Sie habe das Bild
mit dieser Beschriftung in Wikipedia gefunden. Da wird nichts
kritisch hinterfragt“, so Dr. Herbert Müller Philipps Sohn,
Abteilungsleiter Neue Technologien und Leiter des Bereichs
Jugendliche online Fast alle Jugendlichen
zwischen zwölf und 19 Jahren (insgesamt 98 %) nutzten im
vergangenen Jahr zumindest gelegentlich das Internet, 90 Prozent von ihnen sind täglich oder mehrmals pro Woche online,
drei Viertel haben einen eigenen Computer. Intensivnutzer sind
84 Prozent der Hauptschüler, 90 Prozent der Realschüler und
93 Prozent der Gymnasiasten. Das geht aus der Studie Jugend,
Information und (Multi-)Media (JIM-Studie) des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest hervor. Wenn
die Zwölf- bis 24-Jährigen im Netz unterwegs sind, bewegen sie
sich in erster Linie in Online-Communities oder Chatrooms oder
hören Musik- oder Sounddateien (siehe Grafik). Nur wenige
verfassen selbst Weblogs oder Beiträge für Wikis.
PERSONALFÜHRUNG 10/2010
Anwender oder Experte? Im PC-Umgang zeigt sich eine große Spaltung, sagen Medienwissenschaftler.
Fotos: Internettest für Hauptschüler (li.), Computerspieler auf einer Netzwerk-Party in Bremen (re.).
Weiterbildung bei der FBD-Bildungspark gGmbH in Stuttgart.
Sogar in einer von ihm durchgesehenen akademischen Abschlussarbeit habe er „deutsches, schweizerisches und österreichisches
Arbeitsrecht wild durcheinander gebraucht“ gefunden. „Und das
nach sechs Semestern Studium“, klagt Müller. Angehende Bilanzbuchhalter hätten zwar „noch nie was von ihrer Fachcommunity
gehört, aber bei Facebook sind sie alle.“
Orientierungswissen fürs Web
„IT und Medien müssen integraler Bestandteil des Bildungskanons
werden – als Teil des Stundenplans an allgemeinbildenden Schulen und als Ausbildungsmodul in praktisch allen Ausbildungsberufen“, fordert Professor August-Wilhelm Scheer, Präsident des
IT-Branchenverbandes BITKOM, in seiner Stellungnahme zum
Bericht der Expertenkommission. Und Regina Görner, im Ge-
Aktivitäten im Internet – Schwerpunkt Web 2.0
– täglich / mehrmals pro Woche – (in Prozent; n = 1 200)
Mädchen
Gesamt
Jungen
In Newsgroups / Foren schreiben
Fotos / Videos einstellen
Musik / Sound-Dateien einstellen
Twittern
Weblogs verfassen
Etwas in Wikipedia o. Ä. schreiben
Podcasts erstellen
Quelle: IIM 2009
PERSONALFÜHRUNG 10/2010
Web-2.0-Nettozählung (ohne Communitys):
Mache ich täglich / mehrmals pro Woche: 24 %
Mache ich mindestens 1 x pro Woche: 37 %
Mache ich überhaupt: 74 %
schäftsführenden Vorstand der IG Metall, sieht das Internet gar als „Informationsdschungel“, in dem man
Wissensschätze heben, aber auch zum Opfer von „Datenräubern“ und „Abzockmoskitos“ werden könne.
„Wer da den Überblick behalten will, braucht eine Art
Survival-Training“, folgert Görner. IT- und Medienkompetenz gehörten deshalb nicht nur auf die Lehrpläne der Schulen, sondern ebenso in die Berufsausbildung, gerade in der Metall- und Elektroindustrie, wo
ohne digitale Kommunikation nichts mehr gehe.
„Webzubis“ bei der Bahn
Zu den Unternehmen, die gezielt die Medienkompetenz auch der gewerblichen Auszubildenden fördern,
gehört die Deutsche Bahn. Sie hat zusammen mit dem
Fachgebiet Wissensverarbeitung der Universität Kassel und dem Lehrstuhl für Informationstechnik im
Maschinenwesen der Technischen Universität München das Projekt „Webzubi“ gestartet. Zunächst wird
es im Raum Kassel getestet, es soll dann aber auf die
gesamte Erstausbildung der Bahn und die berufsbegleitenden Studiengänge ausgeweitet werden. Die Webzubi-Lernplattform bietet aufeinander abgestimmte
Web-2.0-Anwendungen wie Wikis, Blogs, Chatrooms,
Podcasts, Feedbacksysteme und Social Bookmarks.
„Wikis und Foren funktionieren immer dann besonders gut, wenn die Gruppe der Nutzer ein gemeinsames Ziel hat – etwa eine Prüfung zu schaffen oder
ein bestimmtes Problem zu lösen“, erläutert Heidi Palm,
Leiterin Personalmarketing und Nachwuchsgewinnung
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der Deutschen Bahn, die Idee für das Azubi-Wiki. Indem sie sich
vernetzen, sollen sich die Auszubildenden über die vielfältige Technik im Unternehmen austauschen und selbstständig Lösungen für
Problemstellungen entwickeln können.
HR trifft Controlling, jedenfalls im Lebenslauf von Dr. Thomas König. Der 45-Jährige
Online-Lernen mit Tutoren
Für kaufmännische Auszubildende gibt es den Online-Lernraum „Online-Fitter“, der von Tele-Tutoren betreut wird. Zu
deren Aufgaben gehört es je nach Projekt auch, für die Glaubwürdigkeit von Quellen zu sensibilisieren. „Wir wünschten uns
allerdings, dass unser dualer Partner, die Berufsschulen, seiner
Verantwortung mehr gerecht würde, den gezielteren Umgang
mit einschlägigen Programmen einzuüben und die dahinter stehende Logik zu verdeutlichen“, mahnt Heidi Palm.
Diesen Vorwurf wird man der Friedrich-List-Schule in Kassel
kaum machen können. In dem Schulzentrum gibt es am Beruflichen
Gymnasium neben bilingualen auch zwei Notebook-Klassen, in denen zwar noch Präsenz-Unterricht stattfindet, viele Texte und Aufgaben beziehen die Schüler aber aus Intra- oder Internet, und am Wochenende vor Klassenarbeiten ist der Lehrer eine Stunde lang für Fragen im Chat erreichbar. Kaufmännische Assistenten für das
Fremdsprachen-Sekretariat und Assistenten für Informationsverarbeitung lernen ebenfalls in Notebook-Klassen.
verantwortet künftig das Personalwesen und das kaufmännische Ressort im Vorstand von E.ON Ruhrgas, Essen. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre, Assistenzzeit und Promotion am Lehrstuhl für Unternehmensforschung der Universität Münster kam König
1995 zur E.ON-Vorläufergesellschaft Veba, zunächst als Mitarbeiter in der Abteilung Planung
und Systeme. 1998 wurde er Abteilungsleiter Planung und Betriebswirtschaft und 2000 Leiter
Unternehmensplanung und Be-
Informationen verstehen und bewerten
Aber auch die Schüler anderer Schulformen üben an der Friedrich-List-Schule das Recherchieren im Internet. Abteilungsleiterin Anke Vogel bereitet die Internetsuche erst einmal in einer klassischen Bibliothek vor. Die Aufgabe kann zum Beispiel eine Zielgruppenanalyse für das Marketing sein. Die Schüler müssen
Suchstrategien entwickeln, um im Katalog diejenigen Fachbücher
zu finden, die sie bei der Problemlösung benötigen. Später suchen
sie dann in der Universitätsbibliothek weiter und erst anschließend im Internet. Häufig bespricht die Lehrerin auch vorab, gelegentlich sogar mithilfe von Rollenspielen, bei denen Interessenkonflikte deutlich werden, auf welche möglichen Meinungen und
Blickwinkel man bei der Internetrecherche treffen kann. Die Schüler sollen lernen, wie sich Informationen von glaubwürdigen Organisationen, Forschungsarbeiten, Privatmeinungen oder einfach
nur gut verpackte Werbung unterscheiden lassen.
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