Es gibt viele Ursachen für die Gewalt

Transcrição

Es gibt viele Ursachen für die Gewalt
Es gibt viele Ursachen für die Gewalt
Christen und Muslime in Nigeria
Von: Dr. Jürgen Quack, erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe: 3 / 2010
In den letzten Jahren häuften sich die Berichte über gewaltsame Unruhen mit vielen Toten und verbrannten Kirchen aus
Nigeria. Bei der Berichterstattung wird oft verkürzt und vereinfacht dargestellt. Jürgen Quack zeigt den Zusammenhang mit
anderen Konfliktfeldern auf und sieht keine spezifische Christenverfolgung in Nigeria.
Nigeria ist mit ca. 110-130 Mio. Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Afrikas und mit je 50 Mio. Christen und Muslimen
auch eines der größten christlichen bzw. islamischen Länder der Welt. In den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren gab
es immer wieder Nachrichten über Gewalt zwischen Christen und Muslimen in Nigeria. Das wird von vielen Menschen
hierzulande mit Sorge verfolgt. Von Deutschland aus gibt es verschiedene Verbindungen nach Nigeria: Seit 1959 arbeitet dort
die Basler Mission, aus deren Arbeit die "Kirche der Geschwister" (EYN) hervorging; seit den 60er Jahren ist das Evang.
Jugendwerk in Württemberg dort durch Schulung von CVJM-Leitern und Gründung von Lehrwerkstätten aktiv. Heute ist auch
die Karmelmission durch ein Fernkurssystem im Lande tätig.
Geographie, Ethnien, Politik
Das Land ist rund 1000 mal 1000 km groß. Die Nord-Süd-Ausdehnung ist größer als die Entfernung Stuttgart - Sizilien.
Klimatisch umfasst das Land viele Zonen: Vom Urwald im Süden über die Savanne in der Mitte bis zur kargen Sahelzone im
Norden.
Über 200 Völker mit je eigener Sprache und Geschichte leben im Land. Es gibt keine einheitliche Nationalsprache. Als
Nationalsprache sind anerkannt die Sprachen der drei größten Völker: die Ibo im Südosten, die Yoruba im Südwesten und die
Haussa im Norden. Dazu Englisch als Sprache der früheren Kolonialherren.(1)
"Nigeria" ist ein künstliches Gebilde, geschaffen durch englische Eroberung und Politik. Auch der Name stammt von den
Engländern, sie nannten das Land nach dem Fluss Niger, den die meisten Einwohner nie gesehen haben. Von 1861 an
eroberten sie die Küstenregion, ab 1900 auch den Norden. 1914 wurde die Kolonie in der heutigen Größe festgelegt. 1961
wurde nach einer friedlichen Übergangsphase aus der Kolonie der selbständige Staat Nigeria.
Vor der englischen Eroberung hatte es im Gebiet des heutigen Nigeria verschiedene Reiche und Kulturen gegeben, wie die
von Ife und Benin im Südwesten oder das Kalifat von Sokoto im Norden.
Nigeria hat es auf Grund seiner kolonialen Vergangenheit schwer:
Es gibt keine einheitliche Nationalsprache. Die Abgeordneten im Parlament sind auf Übersetzer angewiesen, um einander zu
verstehen.
Es gibt keine "Nationalgeschichte", abgesehen von 100 Jahren Kolonialzeit und den 50 Jahren seit der Unabhängigkeit,
sondern nur die Geschichte von Einzelkulturen und Partikularstaaten.
Es gibt noch nicht einmal einen gemeinsamen Befreiungskampf gegen die Kolonialmacht.
Es gibt ca. 200 verschiedene Völker, die so unterschiedlich sind wie Sizilianer und Schwaben.
Das alles macht es schwer, ein Nationalgefühl und damit eine Verpflichtung gegenüber der großen Gemeinschaft zu
entwickeln. Das Militär ist die einzige Institution, die der ganzen Nation verpflichtet ist - und auch da fühlen sich die meisten
Offiziere mehr ihren jeweiligen Gruppen verpflichtet als der Nation.
Religionen
Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts.
Seite 1/7
Die religiöse Mischung macht die Beziehung zwischen den Bevölkerungsgruppen noch schwieriger: Es gibt drei Religionen im
Land: Christen und Muslime mit jeweils 50-60 Mio., dazu 10 Mio. Anhänger der Afrikanischen traditionellen Religion.
Der Islam kam im 14. und 15. Jh. über die Karawanenwege durch die Sahara aus dem Norden. Es waren Händler und
Gelehrte, die die neue Religion brachten. Vor allem durch die Kunst des Lesens und Schreibens verschafften sie der Religion
Einfluss und Ausbreitung. Sowohl die nomadischen Fulani als die städtischen Haussa nahmen die neue Religion an. Nur die
Bauern in den bergigen Gegenden des Nordens wollten davon nichts wissen. Dafür wurden sie immer wieder von islamischen
Sklavenjägern überfallen und unterdrückt.
Es war zunächst ein Islam, der sehr mit der traditionellen afrikanischen Religion ver­mischt war. Dann kam Usman dan
Fodio, ein Fulbe und Anhänger der strengen Qadiriyya-Tariqa. Er predigte den "reinen Islam", eroberte 1804-10 den ganzen
Norden des heutigen Nigeria, führte die Shari’a ein und ernannte sich zum Kalifen von Sokoto.
Das Christentum kam ab 1842 vom Süden ins Land. Wenig später setzte die koloniale Eroberung ein. Die Engländer
überließen den Missionen das Schulwesen. Jedes Dorf bekam seine Schule, fast alle Menschen im Süden wurden Christen.
Die Engländer verwalteten die Kolonie mit "indirect rule". Wenn sich die traditionellen Herrscher den Engländern unterwarfen,
dann ließen die Engländer sie in ihrer Position. Umgekehrt wollten die Engländer mit diesen Herrschern keine unnötigen
Probleme. Daher verboten sie den christlichen Missionen die Arbeit in den Emiraten des Nordens. Weil es im Norden keine
Mission gab, gab es dort auch keine Schulen, wo man Rechnen und Englisch lernte, sondern nur Koranschulen, wo die Kinder
den Koran auswendig lernten und auch etwas Arabisch.(2)
Diese politische Entscheidung der Engländer ist eine der wichtigsten Quellen der heutigen Unruhen. Denn mit der Entwicklung
des Landes wuchs auch im Norden der Bedarf an Menschen, die Rechnen und die Englisch konnten. Beamte und Angestellte
in Verwaltung und Dienstleistungen sowie Händler wanderten aus dem Süden in den Norden ein. So kamen Menschen mit
anderer Sprache, anderen Kleidern, anderen Sitten und Speisen, anderen Festen und anderer Musik in die Städte des
Nordens. Sie besetzten die Büros der staatlichen Verwaltung und Behörden, der Polizei, weite Bereiche des Handels, des
Verkehrswesens und Handwerks und nahmen immer mehr Schlüsselpositionen ein. Und eine andere Religion hatten sie auch:
sie waren Christen.
Der Zuzug aus dem Süden begann in der Kolonialzeit und setzte sich nach der Unabhängigkeit des Landes 1961 fort. Zwar
wurden dann auch im Norden viele moderne Schulen eingerichtet, aber die Menschen dort sahen deren Wert nicht so schnell
ein und schickten ihre Kinder nur zögernd dorthin.
Ökonomie
Nigeria ist kein armes Land. Es gibt viel Landwirtschaft, es gibt Bodenschätze. Die Engländern exportierten Palmöl aus dem
Süden, Erdnüsse und Bauwolle aus dem Norden und Zinn aus dem "Middle Belt". Entscheidend war die Entdeckung von
Erdöl im Südosten des Landes um 1950. Noch entscheidender war aber die Explosion des Erdölpreises in den 70er Jahren.
Der Preis stieg um das 17-fache und spülte viel Geld in die Staatskasse - und in die Taschen der Oberschicht. Das Geld
blieb bei einigen einflussreichen Männern hängen - und bei denen, die die Nähe dieser Reichen suchten. Die meisten
Menschen im Lande hörten, dass Millionen Dollar ins Land flossen und sie sahen auch die Autos und Paläste der Reichen aber sie bekamen nichts davon ab.
Damals begann das Interesse an der Politik im Land. Seitdem macht man Politik, um an Geld zu kommen. Ich sage es
zugespitzt: Man geht in Nigeria in die Politik, um reich zu werden. Politik ist Streben nach Macht. Und Macht heißt in Nigeria:
Zugang zum Geld, zum Erdöl-Geld. Im Kampf um Macht und Geld wird alles eingesetzt, was eingesetzt werden kann: auch
die Stammeszugehörigkeit, das Misstrauen gegen Fremde - und die Religion.
Die Unruhen
Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts.
Seite 2/7
Die Gewalt zwischen Christen und Muslimen ist nur ein Teilaspekt des Gesamtspektrums der Gewalt im Land und kann nicht
losgelöst davon betrachtet werden. Ich komme zu einigen Aspekten dieser Gewalt:
Der Biafra-Krieg
1967 kam es zu blutigen Unruhen im Norden. Der Hass der Einheimischen auf die Fremden aus dem Süden entlud sich.
Tausende wurden umgebracht, ihre Häuser geplündert. Die Überlebenden flohen zurück in den Süden. Es waren vor allem
Ibos aus dem Süd-Osten. Dort waren gerade die Ölquellen entdeckt worden, und die versprachen Wohlstand.
Die Pogrome im Norden und die Entdeckung der Ölquellen führten zu Entscheidung der Ibos, nicht länger zu Nigeria, dieser
Gründung der Engländer, zu gehören. Sie wollten einen eigenen Staat, Biafra, errichten und die Ölquellen für sich behalten.
Der nigerianische Staat reagierte wie zu erwarten war: die Armee wurde in Marsch gesetzt, um die Sezession zu beenden.
Biafra geriet in Bedrängnis und schrie um Hilfe. In diesem Zusammenhang hieß es auch aus Biafra: "Wir werden als Christen
verfolgt, die Muslime wollen uns ans Leben!" Im Westen wurde von Christenverfolgung gesprochen.
Richtig daran ist, dass es bei den Pogromen im Norden Muslime waren, die Christen ermordeten. Aber Religionszugehörigkeit
war nicht die Ursache des Mordens gewesen. Und beim anschließenden Krieg spielte die Religion auchkeine Rolle. Der
nigerianischen Bundesregierung unter dem Christen Gowon ging es allein um die Einheit des Landes - und um die Ölquellen.
Drei Jahre dauerte der Krieg (1967-70) mit über 1 Mio. Toten. Er ist heute Geschichte - aber nicht vergessen.
Maitatsine-Unruhen und Boko Haram
Anfang der 80er Jahre kam es in den Städten des Nordens erneut zu Unruhen. Dort war vom neuen Reichtum des Landes
nichts angekommen. Aber die Menschen sahen, dass andere vom Reichtum profitierten. In den Armenvierteln hatten sich
Gruppen um Mohammed Marwa, genannt Maitatsine, geschart. Dieser predigte einen radikalen Islam und kritisierte den Staat
und die herrschende Politik. - In anderen Gesellschaften wäre es wohl eine kommunistisch-revolutionäre Bewegung
geworden, aber diese Gedanken waren hier nicht bekannt. Hier kleidete sich die sozial-revolutionäre Bewegung in religiöse
Gewänder. Die Visionen von einem besseren Leben wurden in Bildern aus der religiösen Tradition ausgedrückt.
Als die Bewegung der Regierung zu unheimlich wurde, schlug die Staatsmacht zu. Es gab mehrere Hundert Tote. Bei den
Auseinandersetzungen gingen auch Kirchen in Flammen auf und Christen wurden umgebracht. Aber das war nicht der
Kernpunkt der Unruhen.(3)
Kain und Abel
"Abel ward ein Schäfer; Kain aber war ein Ackermann." (Gen. 4,2) - Wenn die Bevölkerung wächst und das Land knapp wird,
dann kommt es zum Konflikt zwischen Bauern und Nomaden. Solange es genug Land gibt, können sie einander aus dem
Weg gehen. Wenn das Land knapp wird, ist der Konflikt unausweichlich, wenn die Nomaden ihr Vieh über die Äcker treiben,
wenn die Kühe die Hirse abweiden oder die Erdnüsse fressen.
In Nigeria gehören die Bauern und die Nomaden zu unterschiedlichen Völkern, sie sprechen verschiedene Sprachen, haben
verschiedene Kulturen - und nicht selten auch verschiedene Religionen. Immer wieder kommt es zu blutigen
Zusammenstößen zwischen den Gruppen. Oft sind es Christen und Muslime, die sich da bekriegen und töten. Aber der
eigentliche Konflikt liegt anderswo.
Die Ölgebiete im Südosten
Die gewalttätigsten Unruhen gibt es seit Jahren im Südosten. Dort fördern Shell und andere Ölfirmen das Erdöl, zahlen
Lizenzen an die Nigerianische Bundes-Regierung und wollen verdienen. Sie sind nicht gekommen, um das Land zu
entwickeln, nicht um die Bevölkerung zu beglücken. Deswegen investieren sie so wenig Geld wie möglich in den
Umweltschutz. Bei der Erdölförderung wird aber leicht die Umwelt verschmutzt, sowohl im eigentlichen Fördergebiet, wie an
den Orten der Verarbeitung und entlang der Transportleitungen. Die größte Umweltverschmutzung gibt es entlang der
Transportleitung, nicht nur durch Unachtsamkeit der Ölfirmen, sondern vor allem, weil Menschen die Leitungen anbohren und
Öl abzapfen. Das führt zu riesigen Öltümpeln, Vergiftungen und Bränden.
Diese Situation, die sich immer mehr verschlimmerte, führte zur Gründung verschiedener Bewegungen. Einigen der Gruppen
Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts.
Seite 3/7
geht es um eine gesunde Umwelt. Sie verlangen von den Firmen und vom Staat besseren Umweltschutz. Und da weder der
Staat noch die Firmen viel dafür tun, werden die Gruppen immer radikaler: Überfälle und Entführungen von Firmenmitarbeitern
und Politikern sind an der Tagesordnung. Der Staat reagiert mit Härte: das Todesurteil gegen Ken Saro Wiwa brachte es
sogar bis in unsere Zeitungen.
Was hat dieser Konflikt mit der Religion zu tun? - Die Proteste der Delta-Bewohner, die fast alle Christen sind, richten sich
gegen die Bundesregierung. Diese sei von Muslimen beherrscht und ihre Anliegen würden dort nicht beachtet, weil sie
Christen seien.
Der Kampf der Politiker
Als sich die ersten Parteien bildeten, waren es Regional-Parteien, die die Interessen bestimmter Regionen und Stämme
vertraten - und damit auch oft eine bestimmte Religion. Das führte zu großen Problemen - ich habe die Geschichte der
Militärputsche und Verfassungsreformen ausgelassen - und Nigeria hat daraus gelernt: Heute dürfen nur noch Parteien zu
Wahlen antreten, die über Mitglieder in allen Bundesstaaten verfügen. Aber das verhindert nicht, dass im regionalen Bereich
die meisten Parteien mit bestimmten Cliquen und Stämmen - und damit auch mit Religionen - verbunden sind.
Bei Wahlen wenden die Politiker viel Geld auf, um traditionelle Häuptlinge zu kaufen und Geschenke an Schlüsselpersonen zu
machen. Um das Geld wieder zu bekommen, muss die Wahl gewonnen werden. Darum muss gekämpft werden. Und dazu
sind alle Mittel recht: Ethnische Animositäten und religiöse Radikalisierung sind billig zu schüren. Auch Schlägertrupps sind
leicht anzuheuern, die die politischen Gegner einschüchtern und vertreiben.
Die Herrschenden wissen, dass die Kritik der Armen sich leicht gegen sie wenden könnte. Daher lenken sie den Hass lieber
auf die "Fremden", auf die "anderen".
Muslime gegen Christen - Christen gegen Muslime?
In all diesen Konflikten kommt es zu Gewalt von Muslimen gegen Christen und von Christen gegen Muslime. Christen werden
ermordet und Kirchen angezündet, Moscheen werden angezündet und Muslime ermordet. Oft ist es so, dass nur ein Aspekt
des Konflikts bei uns bekannt wird. Wenn es irgendwo zu Unruhen kommt, dann kommt die Meldung: so viele Christen
ermordet, so viele Kirchen angezündet. Der Kontext, die Vorgeschichte, die Verflechtungen fallen der unmittelbaren Not, dem
aktuellen Hilferuf zum Opfer.(4)
Die Anlässe für die blutigen Auseinandersetzungen sind oft klein und banal: ein Streit auf dem Markt um ein Stück Fleisch, ein
Streit in der Schule um das rechte Verhalten, ein Konflikt um den Neubau eines Hauses. Zwei fangen an zu streiten, beide
finden Sympathisanten. Einer schlägt mit der Hand, der zweite nimmt einen Stock, der dritte greift zum Stein. Blut fließt, Feuer
wird gelegt. Gerüchte machen die Runde. Angst macht sich breit. Lieber zuschlagen als geschlagen werden. Wenn ein Fass
des Misstrauens voll ist, reicht ein Tropfen, um es überlaufen zu lassen. Wenn eine Pulverladung herumliegt, reicht ein
Funken für die Explosion. Inzwischen ist soviel geschehen, sind so viele Menschen ermordet, so viele Gebäude angezündet
worden, dass viele Fässer voll sind und viele Pulverladungen offen liegen.
Meinen Informationen nach geht die Gewalt meistens von Muslimen aus. Aber in der Regel schlagen die Christen zurück. Oft
hört man: "Wir haben die Wange gereicht, wir haben keine Wange mehr frei".
Muslime haben zum Teil ein anderes Verhältnis zu Gewalt als Christen. Mohammed war nicht nur Prophet, sondern auch
Staatsoberhaupt und militärischer Befehlshaber. Der Islam will alle Lebensbereiche nach dem Willen Gottes ordnen. - Jesus
sagte: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt"; daher haben Christen oft getrennt zwischen dem Reich des Glaubens und dem
Reich des Schwertes. Andererseits haben sie oft das Reich des Schwertes in Anspruch genommen: Kreuzzüge, Hexenmorde
und Kolonialismus waren keine kirchlichen Aktivitäten, aber sie wurden von den Kirchen oft gefördert - oder zumindest nicht
kritisiert. So sind diese Gewalterscheinungen für Außenstehende auch Teil des Christentums.
Viele Muslime sehen Nordnigeria als "islamisches Gebiet", das durch die Kolonialmacht erobert und erniedrigt wurde und
heute durch damals eingeführte "westliche" Werte unten gehalten wird. So gibt es auch in Nigeria islamistische Gruppen, die
es speziell auf Christen abgesehen haben, die die Christen aus dem traditionell islamischen Norden verdrängen wollen. Sie
Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts.
Seite 4/7
sagen: "Das hier ist islamisches Gebiet, wir wollen hier keine Kirchtürme und keine Glocken." Aber dass diese Gruppen ihre
Ziele mit Gewalt durchsetzen können, ist nur durch das geschilderte Gesamtfeld möglich.
Die Ausweitung der Sharia in Nordnigeria
Vor der Kolonialzeit galt im Norden des Landes die Sharia. Die Engländer ließen die Sharia in Geltung, aber nur für den
Bereich des Zivilrechts, also im Familienrecht, für Fragen der Ehe, Scheidung, Erbrecht usw. für muslimische Bürger. Für das
Strafrecht wurde das englische säkulare Recht eingeführt. So gab es zwei Rechtssysteme nebeneinander.(5) Das wurde mit
der Unabhängigkeit nicht geändert.
Viele Muslime waren nie mit der Rückdrängung der Sharia auf das Familienrecht einverstanden. Für sie ist die Sharia Gottes
Wille und sie vertraten, dass in allen Fragen nach der Sharia geurteilt werden solle. Als am Ende der ersten Militärdiktatur die
Verfassung überarbeitet wurde, versuchten sie, eine Ausweitung der Sharia zu erreichen, was scheiterte. Allerdings kam es
dabei zu einer Formulierung, die nicht eindeutig war. Diese Formulierung benutzen die Gouverneure der nördlichen
Bundesstaaten Ende der 90er Jahre, um die Geltung der Sharia in ihren Bundesstaaten auszuweiten. Es gibt dort weiter zwei
Rechtssysteme, aber Muslime werden dort auch im Strafrecht jetzt nach der Sharia abgeurteilt.
Einige der Änderungen: Alkoholverkauf und Drogenkonsum wurden verboten. Die meisten Bürger begrüßten das; sogar die
Kirchen sehen darin einen Fortschritt. Die Prostitution wurde verboten. In Zamfara, dem Bundesstaat, wo die Sharia als erste
ausgeweitet wurde, werden staatliche Mittel bereitgestellt, um ehemalige Prostituierte in einen anderen Beruf zu führen.
Gemeinsamer Transport von Männern und Frauen in Taxis wurde verboten. Das führt zu vielen Unruhen und kann kaum
durchgesetzt werden. Aber es führt auch dazu, dass viele Frauen zu Hause bleiben müssen.
Theoretisch gilt das alles nur für Muslime, aber da die Christen in diesen Bundesstaaten eine kleine Minderheit sind, wird auf
sie nicht viel Rücksicht genommen. Manche Islamisten sehen darin eine weitere Möglichkeit, sie einzuschüchtern und letztlich
zu vertreiben.
Die Einführung der Sharia wird im Norden von der Bevölkerung weitgehend begrüßt. Warum? Das nigerianische säkulare
Rechtswesen ist kompliziert und korrupt. Prozesse dauern oft jahrelang, werden verschleppt und schließlich durch
Bestechung entschieden. Die neuen Sharia-Gerichtshöfe urteilen schnell und ihre Richter nehmen kaum Bestechungsgelder.
Außerdem sehen viele Bürger in der islamischen Zakat-Abgabe einen direkten Beitrag der Reichen zugunsten der Armen.
Die Gouverneure des Nordens haben die Sharia ausgeweitet, um sich beim Volk beliebt zu machen und um der
Bundesregierung unter dem Christen Obasanjo eins auszuwischen und sie zu schwächen.
Der Aspekt der Sharia, der international das größte Aufsehen erregte, die Amputationen für Diebe und die Steinigung für
Ehebrecherinnen, hat in Nigeria selber nicht durchgeschlagen: Die Todesstrafe gilt allgemein und das Schicksal vieler armer
Gefangener in den säkularen Gefängnissen ist auch nicht besser. Von den Steinigungsurteilen ist m.W. noch kein einziges
vollzogen worden; sie wurden alle von Berufungsgerichten kassiert. Sie dienen wohl vor allem der Abschreckung. Und dass
unter der Sharia vor allem die Frauen zu leiden haben, dass stört in der von Männern dominierten Kultur auch wenig.
Das Kernproblem
Das Kernproblem ist m.E. nicht eine allgemeine Christenverfolgung in Nigeria, sondern ein verdorbenes Gesamtsystem von
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ich will mich hier nur auf einen Aspekt beschränken(6), nämlich auf die - in meinen
Augen - Mitschuld der Mission und der Kirchen an der verfahrenen Lage.
Die Kirchen haben die Christen in Nigeria - immerhin die Hälfte der Bevölkerung und die Mehrheit der Gebildeten - nicht auf
die heutige Situation vorbereitet. Die Missionen haben den Menschen eine neue Beziehung zu Gott gebracht, auch eine neue
Beziehung zum unmittelbaren Nächsten, aber sie haben wenig zur Gestaltung des Gemeinwesens mit den Bereichen Politik
und Wirtschaft beigetragen. Themen wie Korruption, Demokratie, Zusammenleben mit Menschen anderer Religion und
gemeinsamer Einsatz für das Wohl aller tauchten in den Predigten und den Lehrplänen der Ausbildungsstätten kaum auf.
Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts.
Seite 5/7
Das ist das Erbe der europäischen Ursprungskirchen, aus denen die Missionare kamen. Wo hat man sich in unseren Kirchen
früher Gedanken über Korruption und Demokratie gemacht, über multikulturelles Zusammenleben und den Einsatz der Kirche
für Frieden und Gewaltlosigkeit? Es war bei uns nicht Sache der Kirche, daher war es auch nicht Sache der Mission und so ist
es auch heute für die Kirchen in Nigeria nicht wichtig.
Dort wie hier nimmt man z.B. gerne die Spenden der Reichen entgegen und fragt nicht, wo das Geld herkommt. Bei uns hat
das ein geringes Ausmaß und macht gesellschaftlich nicht viel aus. Aber in Nigeria hat es gewaltige Dimensionen
angenommen und ist verderblich für das ganze Land. Die Christen fragen ihre christlichen Politiker nicht: Was macht ihr für
unser Land? Sondern sie fragen: Was macht ihr für uns, für die Christen, für unser Volk? Sie fragen bei einem Richter nicht:
Urteilt er nach dem Recht, sondern - jedenfalls wenn es ein Prozess mit einem Muslim oder dem Glied eines anderen
Stammes ist: Zu welchem Stamm und welcher Religion gehört der Richter? Und wenn er zu ihrem Stamm und ihrer Religion
gehört, dann verlangen sie von ihm, dass er das Recht beugt und parteiisch urteilt. So machen es die Muslime auch. Beides
dient nicht dem friedlichen Zusammenleben.
Das ist der Boden, auf dem die Gewalt wächst und gedeiht, auch die Gewalt von Muslimen gegen Christen. Nur auf diesem
Boden kann sie bekämpft und ausgerottet werden. Nur wenn wir uns auf diesem Feld mehr anstrengen, wird es ein Ende der
Gewalt geben. Ich halte dieses Grundproblem für entscheidender als andere Punkte christlicher Mitschuld, z.B. die Rede von
"Evangelisations-Kreuzzügen", oder dem für Muslime bedrohlich klingenden Slogan "Ganz Nigeria für Christus". Auch
Evangelisationsmethoden wie eine Evangelisationspredigt durch ein Lautsprecherauto direkt vor einer Moschee tragen nicht
zum Frieden bei.
Gegenbewegungen
Es gibt natürlich auch Gegenbewegungen, sowohl unter Christen wie unter Muslimen. Ich nenne drei Beispiele:
Die "Kirche der Geschwister" hat neuerdings einen Beauftragten für Friedensarbeit ernannt. Es ist Pfarrer Toma Ragnyija,
z.Zt. auch Leiter des Kulp Bible College. Gerade in den Tagen, als es im Januar in Jos wieder Unruhen mit 400 Toten gab,
hatte er im College muslimische und christliche Führer zu einer Konferenz unter dem Titel "Christlich-muslimische
Beziehungen in Nigeria" eingeladen. Und beide Seiten kamen. Es war das erste Mal, dass so etwas geschah.
In Jos gibt es das "Centre for Peace Advancement in Nigeria" (CEPAN), gemeinsam getragen von Christen und Muslimen.
Das Zentrum organisiert Friedensgruppen in Ober-Schulen und Jugendkonferenzen mit Wettbewerben in Drama und Liedern
zum Thema "friedliches Zusammenleben". Es führt Gespräche mit Politikern, traditionellen Führern, Pfarrern und Imamen,
aber auch mit Polizisten und Schulrektoren. Es schickt auch interreligiöse Teams in Spannungsgebiete, die helfen sollen,
Gewalt zu vermeiden.(7)
Als Letztes nenne ich den anrührenden Film "Der Imam und der Pastor" (2006), der zeigt, was zwei mutige Männer tun und
erreichen können.
Anmerkungen:
1
Das Konfliktpotential durch die Vielfalt der Sprachen ist groß: Welche Sprache müssen Beamte und Polizisten sprechen,
die in einem Stammesgebiet tätig sind? In welcher Sprache werden Schulbücher gedruckt und in welcher nicht? Wie werden
Verwaltungs- und Wahlbezirke abgegrenzt?
2
Nur in bergigen abgelegenen Gebieten des Nordens, wo die Menschen den Islam abgelehnt hatten, durften die Missionare
arbeiten - und auch Schulen bauen. Das ist auch das Kerngebiet der "Kirche der Geschwister".
3
Eine ähnliche Bewegung machte im Juli 2009 von sich reden: "Boko Haram", wieder entstanden in den Armenvierteln des
Nordens. "Haram" ist arabisch und heißt "verboten, verflucht". "Boko" kommt von "book, Buch". Gemeint ist der westliche
Lebensstil, der sich auf Bücher stützt. Der Prediger Mohammed Yusuf lehrte die Leute: "Eure Armut kommt daher, dass die
Regierung einem fremden Lebensstil folgt. Besinnt euch auf eure alte Tradition, denkt an die frühere Herrlichkeit des
Sokoto-Kalifates. Werft die westliche Kultur ab, dann geht es uns allen besser. Der Koran verkündet Gerechtigkeit und
Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts.
Seite 6/7
Solidarität mit den Armen - nicht Ausbeutung und Unterdrückung wie die Kultur des Westens." - Auch hier schlug die
Staatsmacht zu. Es gab über 1000 Tote. Wieder wurden bei den Kämpfen Christen getötet und Kirchen verbrannt. Aber es
ging nicht eigentlich gegen die Christen, sondern gegen die Verarmung, gegen die Ungerechtigkeit im Land und die Werte
dahinter. Diese Werte schrieb man dem Christentum zu.
4
Ein Beispiel für die gefährliche Seite der Verkürzung der Zusammenhänge: Bei den Unruhen im Februar 2006 in mehreren
Städten des Nordens aus Anlass der Mohammed-Karikaturen in Dänemark wurden Christen aus dem Süden getötet. Diese
wurden zur Beerdigung in ihre Heimatstädte im Süden gebracht. Dort kam es dann zu Racheakten an Menschen aus dem
Norden, die völlig unbeteiligt waren. - Ich vermute, dass in der islamischen Presse nichts von der Vorgeschichte erwähnt
wurde, sondern nur, dass in Städten des Südens unschuldige Muslime von Christen überfallen und getötet wurden. Und die
Meldung ist ja noch nicht einmal falsch. Aber wenn der Kontext fehlt, ist sie noch lange nicht richtig.
5
Eigentlich sind es drei, denn in Südnigeria gab es für Familienfragen auch besondere Gerichte nach dem traditionellen
Stammesrecht.
6
Es gibt weitere Gründe für die desolate Lage der Gesellschaft. Ein Grund ist z.B. die traditionelle Sitte, dass man bei
Vorsprache beim "chief" ein kleines Geschenk mitzubringen hatte. Daraus hat sich heute das Übel der Korruption entwickelt.
Nicht nur Beamte, sondern auch viele Lehrer, Krankenschwestern usw. erwarten erst ein Geschenk, ehe sie tätig werden.
7
Finanziell wird das Zentrum u.a. unterstützt von der Gesamtkirchengemeinde in Balingen.
Deutsches Pfarrerblatt, ISSN 0939 - 9771
Herausgeber:
Geschäftsstelle des Verbandes der ev. Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V
Langgasse 54
67105 Schifferstadt
Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts.
Seite 7/7