hamilton beethoven s restaurant bar
Transcrição
hamilton beethoven s restaurant bar
Martin Elste ORGANISIERTES GETÖSE Das Sujet ‚Stadt‘ in der Musik und die Musik der Stadt MARTIN ELSTE Gibt es eine auditive Essenz des Städtischen? Worin besteht sie, worin hat sie bestanden? Wie hat sich ein solches idealtypisches akustisches Symbol des Städtischen im Laufe der Musikgeschichte verändert? Was war die Musik der Stadt einst und was ist sie heute? Es kann bei der Beantwortung solcher Fragen nicht so sehr darum gehen, das gesamte auditiv vermittelte Spektrum des Städtischen durch die Musikgeschichte hindurch zu betrachten, ebensowenig soll es meine Aufgabe sein, ausgewählte vertonte literarische Texte mit städtischer Thematik zu analysieren. Denn in beiden Fällen wäre die Betrachtung an außermusikalische, sprich: außerakustische Phänomene gebunden. So bleibt es beispielsweise fraglich, inwieweit die Stadt Brno in Leo Janáeks Sinfonietta musikalisch charakterisiert wird, vor allem, inwieweit es einen Erkenntnisgewinn brächte, die Komposition unter diesem Aspekt zu analysieren. Auch wenn Janáek bei den einzelnen Sätzen an bestimmte Orte der Stadt gedacht hat, wie es ein Programmentwurf nahelegt, ist in der Sinfonietta die Verknüpfung von Stadt und Musik nur willkürlich und außermusikalisch. Hier gilt Beethovens berühmtes Wort „mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey“. Die ästhetische Problematik der Programmmusik darf dabei nicht negiert werden: Wenn in diesem Text von der Stadt in der Musik die Rede ist, geht es vor allem um die Tonmalerei, das heißt um Nachahmung und Synästhesie. Was allerdings die literarischen Texte betrifft, so haben diese zumeist ein ästhetisches Eigenleben, das weitgehend unabhängig von rein musikalischen Qualitäten wie rhythmischen Schemata verläuft. Ich möchte also vielmehr das unendliche Thema eingrenzen und der Frage nachgehen, wie die Komponisten in rund vierhundert Jahren abendländischer Musikgeschichte verfahren sind, wenn sie sich der Herausforderung gestellt haben, das soziale Phänomen ,Stadt‘, das „standardisierte Chaos“, von dem Organisiertes Getöse der Stadtsoziologe Lewis Mumford1 spricht, in Klang umzusetzen und eine auditive Essenz davon zu komponieren. Ausgeklammert bleibt bei dieser Definition des Städtischen die Idee der Himmlischen Stadt Jerusalem, wie sie in der Offenbarung des Johannes beschrieben ist. Es ist gerade nicht die gezirkelte Gliederung, die göttliche Vollkommenheit des Himmlischen Jerusalem, wie sie Olivier Messiaen 1963 in seiner Komposition Couleurs de la Cité celeste gepriesen hat, sondern das menschliche Chaos Babylons, das sich als roter Faden durch meine Beispiele und Betrachtungen ziehen wird. Die musikdramaturgische Behandlung der Thematik soll in diesem Zusammenhang weitgehend unberücksichtigt bleiben, weil ich mich – wie schon angedeutet – dem Eigentlichen der Musik, dem Auditiv-Sinnlichen, zuwenden möchte. Stadt und Land sind heute beispielhafte Gegensätze. Doch in der Geschichte ist das Antonym zur Stadt nicht so sehr das Land, als vielmehr der Hof gewesen. Nicht von ungefähr waren die Stadtpfeifer Stadt- und Landmusikanten, die eine soziale Stufe unter den höfischen Musikern, vor allem unter den Zunfttrompetern, standen. Erst mit der Industrialisierung, mit der Mechanisierung der Stadt, mit dem Aufkommen einer modernen Kommunikation – im Sinne von Verkehrsverbindung –, also der Eisenbahnverbindungen zwischen den Städten, entstand der auditive Gegensatz von Stadt und Land. Das Städtische als ein spezifisches Klangphänomen beginnt historisch mit der verstärkten Intensität und Vielfalt des Glockengeläutes als einem graduellen Unterschied zum Dörflichen oder Höfischen. Nur in der Stadt läuten mehrere Glocken an verschiedenen Stellen und können sich zu einem unorganisierten Klang überlagern, dessen Anlass die Zeit vorgibt. Damit verknüpft sind auch der von der Stadtarchitektur der Renaissance vorgegebene Raum, in dem es kaum schallschluckende Objekte gibt, sowie die besondere Akustik der engen Straßen und der geschlossenen Plätze, die Teil des Stadtraums und ein gestalteter Kontrast zur Natur sind. Stadt und Musik sind spätestens seit dem Mittelalter eine enge Verbindung eingegangen, die hinsichtlich der gespielten Musik bis heute eher der Schriftlosigkeit zuzuordnen ist. Will sagen: Das, was auf den Straßen und Plätzen erklungen ist und erklingt, ist weit weniger in Noten dokumentiert als jene Musikformen, die wir unter dem Begriff des musikalischen Kunstwerks subsumieren. Die Verbindung zwischen Stadt und Musik beginnt mit den Stadtpfeifern, die in Deutschland seit dem frühen 14. Jahrhundert als „die zünftigen Musiker 1 L. Mumford, The city in history. Its origins, its transformations, and its prospects, London 1961. Martin Elste einer Stadt“ nachgewiesen sind.2 Zu deren Aufgaben gehörte das Spiel zu bestimmten Stunden des Tages: Musik als Signal. Ebenso waren die Stadtpfeifer auch für die klangliche Präsentation, die auditive Ausschmückung, gewissermaßen für die musikalische Repräsentation des Städtischen zuständig, denn zu ihren Pflichten, wie es in einem Dokument von 1701 heißt, gehörte es, zu „beßrer Zierde der Stadt bey denen Frembden“3 aufzuspielen. Ein anderer Ausdruck für ‚Stadtpfeifer‘ war der des ‚Stadtmusikanten‘ oder ‚Stadtmusikus‘, er war also ein Ausübender der Stadtmusik, das heißt jener „Musik, wie sie in der Stadt gemacht wird“.4 Was haben die Stadtpfeifer musiziert? Als Universalinstrumentalisten spielten sie das gesamte Spektrum der Musik, soweit sie es spieltechnisch bewältigten: neben den Signalen Choräle, Tanzsätze, Ratsmusiken und auch Konzerte. Sie bliesen auf Holzblasinstrumenten und auf Zugtrompeten und spielten die Streichinstrumente. Neben den offiziellen Klängen der Stadtmusikanten gab es als typisch städtische Klangphänomene die Gesänge der Marktschreier. Sie alle trugen dazu bei, dass auf den geschlossenen Plätzen und in den belebten engen Straßen der Städte ein musikalisches Durcheinander herrschte, wie es gelegentlich als Charivari in der Kunstmusik karikiert wurde. William Hogarth (1697– 1764) hat in seinem Kupferstich The Enraged Musician (1741) genau dieses akustische Durcheinander in London persifliert (Abbildung 1). Der beim Üben gestörte Geiger schaut voller Grausen aus dem geöffneten Fenster, vor dem sich allerlei Akustisches ereignet: Ein Papagei kreischt von einem Lampenpfahl herab, an diesem steht eine einfach gekleidete Mutter mit ihrem Kleinkind und trägt eine wohl autobiographisch passende Ballade mit dem Titel The Ladies Fall vor. Vor ihr spielt ein kleines Mädchen mit einer Ratsche und lässt vor Schreck einen Ball fallen, weil es einen Knaben vor sich sieht, der auf den Boden uriniert. Um seinen Körper ist eine ein kratzendes Geräusch verheißende Schiefertafel gebunden. Vor dem Fenster bläst ein Oboist, ganz in der Nähe rührt ein als Soldat verkleideter kleiner Junge die Trommel, neben ihm geht ein Scherenschleifer seiner Tätigkeit nach und wird von ei- 2 J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, 10. Bd., 2. Abteilung, 1. Teil. (= Bd. 17 in fortlaufender Zählung), Leipzig 1919, Sp. 488–489. 3 Zitiert nach A. Werner, Städtische und fürstliche Musikpflege in Zeitz bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, Bückeburg Leipzig 1922 (= Veröffentlichungen des Fürstlichen Instituts für musikwissenschaftliche Forschung zu Bückeburg, Reihe 4: Quellenstudien zur Musikgeschichte deutscher Landschaften und Städte, Bd. 2), S. 51. 4 J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, a. a. O., Sp. 485. Organisiertes Getöse Abb. 1: William Hogarth: The Enraged Musician. Kupferstich von 1741 nach einem Gemälde (Originaldruck im Musikinstrumenten-Museum SIMPK, Berlin) nem Hund angebellt. Im Hintergrund wirbt ein Müllmann mit seiner Glocke um Kundschaft, preist ein Fischhändler seine Ware an, und ein Schmied bläst in ein Signalhorn. Im Nachbarhaus, auf dessen Dach sich zwei Katzen anfauchen, hat ein Zinngießer seine laute Werkstatt. Und zu guter Letzt lässt der beflaggte Kirchturm volles Glockengeläut wegen eines Feiertags vermuten.5 Die Gesänge der Marktschreier sind vielleicht die ersten spezifisch städtischen Klänge, die von Komponisten aufgegriffen und als Musik über Musik idealisiert wurden. So gibt es von Orlando Gibbons (1583–1625) unter dem 5 Siehe auch die Abbildungen und Beschreibungen in: Engravings by Hogarth. 101 prints, hrsg. von S. Shesgreen, New York 1973, Nr. 47; sowie in: William Hogarth. 1697– 1764 (Ausstellungskatalog), Berlin 1980, S. 112–114. Martin Elste Titel The Cries of London einen zweiteiligen fünfstimmigen Consort Song auf Anpreisungen der Marktschreier. Dass es sich dabei um musikalisch-literarischen Humor handelt, wird spätestens dann klar, wenn einer der Marktschreier nach seiner am 30. Februar verschwundenen Stute fragt. Gibbons war nicht der einzige Komponist, der sich von den Gesängen der Straße inspirieren ließ. Auch Richard Dering und Thomas Weelkes haben die Straßenrufe Londons vertont. Dieses bis ins 18. Jahrhundert reichende Phänomen6 war aber keineswegs auf die englische Metropole beschränkt, wie man an den mehreren hundert französischen und weiteren rund einhundert fremdsprachlichen Straßenrufen sieht, die der Straßburger Musiktheoretiker und Komponist Georges Kastner (1810–1867) Mitte des 19. Jahrhunderts mit enzyklopädischer Sammlerleidenschaft in seiner Abhandlung Les voix de Paris notierte.7 Das bürgerliche Musikleben als ein Phänomen der Stadtkultur Im 18. Jahrhundert ist das Aufkommen des bürgerlichen Musiklebens mit der Herausbildung institutioneller musikalischer Organisationen wie der städtischen Orchester und später dann der Gesangvereine Teil einer typischen Stadtkultur. Auf den Punkt gebracht sind die wesentlichen Gattungen der Musik seit der Wiener Klassik, seit Mozart, Beethoven und Schubert mit den sozialen Strukturen des Städtischen aufs Engste verknüpft. Das bürgerliche Musikleben ist ein städtisches Musikleben. Von daher steckt eine scharfsinnige Beobachtung hinter dem Untertitel „Studien zur Entwicklung der Musik in der Stadtkultur“ von Adalbert Kutz’ universalgeschichtlicher Dissertation über Musikgeschichte und Tonsystematik.8 Während im 19. Jahrhundert die Stadtkultur in der Musik ihre klassische Wertschätzung, ihren ausdrücklichen Rang erhält, verwischen gleichzeitig die geographischen Merkmale des Städtischen. Die Stadt unterscheidet sich vom Marktflecken oder der Landgemeinde nicht mehr zwangsläufig durch Größe und Einwohnerzahl. Die städtischen Befesti6 Einige Straßenrufe sind abgedruckt bei W. Gardiner, The music of nature, Boston 1838, Kapitel „London cries“, S. 300–310. 7 Darüber hinaus hat Kastner seiner Monographie eine Grande Symphonie humoristique vocale et instrumentale für Solostimmen, Chor und Orchester mit dem Titel Les cris de Paris beigefügt (G. Kastner, Les voix de Paris. Essai d’une histoire littéraire et musicale des cris populaires de la capitale depuis le moyen age jusqu’a nos jours précédé de considerations sur l’origine et le caractère du cri en général. Et suivi de ‚Le cris de Paris. Grande Symphonie humoristique vocale et instrumentale‘, Paris 1857). Diese dreisätzige Komposition schildert Paris am Morgen, tagsüber und am Abend. 8 Dissertation Frankfurt am Main 1938; gedruckt Berlin 1943. Organisiertes Getöse gungswälle haben keine Schutzfunktion mehr und werden zu Grünanlagen umgestaltet. Beseitigt ist die einstige Ausschließlichkeit des zunftmäßigen Gewerbebetriebs. Der Stadtmusikus als musikalischer Universalist wird mehr und mehr von dem spezialisierten, auf dem Konservatorium trainierten Virtuosen abgelöst. Und mit der Auflösung der höfischen Trompeterzunft gehen Liberalisierung und Banalisierung der Militärmusik einher. In den Garnisonsstädten spielen nun die Militärkapellen auf den Straßen und Plätzen. Im 19. Jahrhundert ist die Militärmusik vor allem städtische Musik! Und es kommt in der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts noch etwas hinzu, was vorher kaum eine Rolle spielte: städtisches Flair. In Richard Wagners historisierenden Meistersingern von Nürnberg (1862–67) scheint dieses vor allem in der Prügelszene durch, und Giacomo Puccini hat es „Al Quartiere Latino“ (Im Quartier Latin) zur äußeren Klammer des zweiten Bildes von La Bohème (1896) gemacht. Es ist das Treiben der Menschen, der Trubel, all das, was auf Straßen und Plätzen in Lärm mündet. Für Max Kalbeck war mit Puccinis Massenszene vor dem Café Momus bereits das sündige Babylon auf die Opernbühne gebracht worden: Das wimmelt wie ein Haufen von Ameisen, das johlt und quiekt, lacht und grunzt, pfeifft und blökt, lärmt und tobt, als sollte der Thurm zu Babel wieder aufgebaut werden oder die Welt untergehen.9 Das akustische Filtrat des Städtischen bestand aus einer musikalischen Vielfalt einerseits, wie sie Oper, Konzert und Varieté, Zirkus und Militär boten, aber auch aus ganz spezifischen Instrumentalklängen wie denen der Drehorgel, auch Leierkasten genannt, dem städtischsten aller Musikinstrumente, mit dem der Gassenhauer in die Mietskasernen drang. Erst die großstädtische Bebauung mit Vorderhaus, Seitenflügel und Quergebäude und dem Hof in der Mitte gab dem Leierkasten jene Resonanz, die der Straßenmusikant benötigte, um sich der Aufmerksamkeit zu versichern. Wie flächendeckend die Drehorgeln die aktuellen Tagesschlager verbreiteten, mag die Anzahl der nach 1933 (natürlich!) registrierten Leierkastenspieler Berlins veranschaulichen: Es waren achthundert! In einer Zeit totaler Überwachung waren sie innerhalb der Deutschen Arbeitsfront in der Sparte der Drehorgelspieler, Hof- und Wandermusikanten organisiert.10 Die Beschallung des Stadtraumes 9 M. Kalbeck, Opern-Abende, Bd. 2, Berlin 1898, S. 94–95. 10 H. Renzmann, Die Entwickelung und Bedeutung des Berliner Musikinstrumentenbaugewerbes im Handwerks- und Industriebetrieb, Diss. Berlin 1942, S. 275. – Einen lokalgeschichtlichen Abriss der „Live“-Straßenmusik vom Ancien régime bis in die aktuelle Gegenwart vermittelt der Katalog zu einer Sonderausstellung des Musée national des Arts et Traditions populaires, Paris, unter dem Titel Musiciens des rues de Paris, Paris 1997. Martin Elste Zur Musik der Stadt gehört ebenso die Beschallung des Stadtraums durch traditionelle Festumzüge bis hin zur „Love Parade“, wie sie seit mehreren Jahren in Berlin veranstaltet wird und mit Veranstaltungen wie der Zürcher „Street Parade“ auch in anderen Städten Nachahmer gefunden hat. Die „Love Parade“ ist außerhalb der Stadt undenkbar, auch wenn sie inzwischen durch den Berliner Tiergarten zieht. Bezogen auf das akustische Phänomen des fortschreitenden Klanges als Charakteristikum einer solchen säkularisierten städtischen Prozessionsmusik ist eine Vorform davon Händels Wassermusik, die auf Barkassen entlang des Londoner Themse-Ufers musiziert wurde. Mit der Erfindung des Grammophons und des elektrischen Verstärkers kam man auch auf die Idee einer ‚mechanischen‘ Beschallung der Festumzüge: Rudolf von Laban ließ 1929 in Wien einen Zug von zehntausend Mitwirkenden auf sieben Kilometer Länge durch die Straßen ziehen, den „Festzug des Handwerks und der Gewerbe“, freilich nicht ohne medienspezifische Probleme, wie er in seinen Erinnerungen beschreibt: Da waren meine Lieblinge, die herrlichen Lautsprecherwagen, die in gewissen Abständen im Zug mitfuhren und neben etwa hundert am Festwege aufgestellten Orchestern für die Musik sorgen sollten. Eine Probefahrt ergab allerhand Schwierigkeiten. Man war damals noch sehr im Anfang der mechanischen Musikübertragung. Der Wind blies uns plötzlich die Töne weg; wenn die Ungetüme um die Ecke bogen, war’s auf einmal aus mit der Musik, zu der doch getanzt werden sollte.11 Eine der auf diesem Wiener Festzug gespielten Schallplatten enthielt einen Auszug aus Max Brands damals hochaktueller und vielbeachteter Oper Maschinist Hopkins, einen Marsch, der das Stampfen der Maschinen ästhetisch überhöht.12 Damit brachte Laban in die Straßen einen Musikstil, der in jener Zeit beispielhaft für das Städtische schlechthin stand. Doch darüber wird im Zusammenhang mit weiteren Kompositionen im Sinne einer musikalischen Huldigung der Maschine noch zu lesen sein. Bleiben wir zunächst bei der 11 R. von Laban, Ein Leben für den Tanz. Faksimiledruck der Ausgabe von 1935 (Dresden), hrsg. und kommentiert von C. Perrottet, Bern Stuttgart 1989, S. 174–187. 12 Musik für den Laban-Festzug Wien 1929, Marsch aus der Oper Maschinist Hopkins (M. Brand), Großes Orchester unter Leitung Dolfi Dauber, „GRAMOLA“ RECORD: AM 1929, 25 cm, aufgelistet im HMV Czechoslovakia Granat- und Schwarzetikett Verzeichnis 1930. Der 1894 in Rumänien geborene Dolfi Dauber war Geiger und Varieté-Kapellmeister. Die Rückseite der Schellackplatte enthält den Festlichen Marsch F-Dur von Egon Wellesz, ebenfalls als Musik für den Laban-Festzug. (Für die Kataloginformation und einen Umschnitt der Aufnahme möchte ich mich bei Franz Lechleitner, Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien, bedanken.) Organisiertes Getöse Stadtbeschallung. Die Erfindungen von Mikrophon und Lautsprecher beflügelten den Gedanken eines Einsatzes dieser Schallwandler zur flächendeckenden Beschallung des Stadtraumes. Jörg Mager (1880–1939), der als einer der ersten Konstrukteure elektronischer Musikinstrumente in die Musikgeschichte eingegangen ist, entwickelte prompt den Plan von Beschallungssäulen, noch bevor der totalitäre Nazi-Staat mit dem „Volksempfänger“ den Hörfunk im ganzen Reich verbreitete. Darüber hinaus träumte Mager von seinem Sphärophon als einem Musikinstrument, das als elektronischer Klangerzeuger sowohl die temperierte Stimmung aufbrechen als auch die Musik in alle Winkel bringen könnte: Das Sphärophon werde imstande sein mit seiner Fähigkeit Töne orkanartig anschwellen zu lassen, Tausenden von Menschen musikalisches Erleben zu ermöglichen. [...] Ein Frühlingstag im Treptower Volkspark. In der Mitte ein Turm, höher als der der Sternwarte, der Sphärophonturm. Das Instrument, bedient von Musikingenieuren und Sphärophonmusikern, hebt an zu tönen. Klangfarbenkaskaden, die Frühlingsblütenpracht gleichsam in Tonpracht umtransformierend, sprühen über Tausende von Menschen. Alle die Gefühle, die das Wunder des Frühlings in der Menschenseele auslöst, Jauchzen und Jubeln, zärtliche Innigkeit und kindliche Hochlust, das Sphärophon klingt sie hinaus ins Weite, verschmilzt sie und steigert sie bis zur brausenden Ekstase der Frühlingsfreude! Eine Utopie! – Aber wie lange noch Utopie?!13 1975 – ein halbes Jahrhundert später – trug der Hannoveraner Kommunalpolitiker Dieter Eisfeld in seiner die damals aktuellen Fluxus-Aktionen institutionalisierenden Schrift Kunst in der Stadt eine in künstlerischer Sicht etwas weniger idealistische, dafür umso umfassendere Vorstellung einer öffentlichen Beschallung ausgewählter Straßen vor. Seine Idee war, „Straßen der Musik“ einzurichten, auf denen über Lautsprechersäulen ein den Radio-Programmstrukturen entlehntes Musikprogramm erklingt. Durch eine inhaltliche Zuweisung zu einer bestimmten musikalischen Stilrichtung entstehe dann beispielsweise eine „Straße der russischen Klaviermusik“, eine „Straße des Jazz“, eine „Straße der experimentellen Musik“ oder Ähnliches. Als demokratisch gesonnener Politiker glaubte Eisfeld durch solche universellen Beschallungsaktionen sogar eine Demokratisierung des Musikhörens bewirken zu können14, die noch verstärkt werde, wenn man den Stadtbewohnern die Gelegenheit gebe, Wünsche und Erwartungen zu äußern. Ohne eine solche demokratische Ziel- 13 J. Mager, Eine neue Epoche der Musik durch Radio, Berlin-Neukölln 1924, S. 15 f. 14 D. Eisfeld unter Mitarbeit von D. Draser, Kunst in der Stadt. Über den Versuch, Städte durch künstlerische Objekte und Aktionen zu verändern, Stuttgart 1975, S. 152–158, hier S. 157. Martin Elste setzung entwickelten etwa zur gleichen Zeit Musiker und Musikmanager wie beispielsweise Louis Dandrel (geb. 1939) mit ihren Konzeptionen einer „Klangarchitektur“ Klangräume außerhalb traditioneller Veranstaltungssäle.15 Doch solcher zentralistischer Beschallungsaktionen bedarf es nicht: Musik in der Stadt erscheint in unserer Welt der modernen medialen Vermittlung in vielfältigen Facetten. Fast allen zu hörenden Musiken – ich gebrauche hier in voller Absicht den unüblichen Plural – ist gemeinsam, dass sie ursprünglich einem anderen Zweck dienten. Tonträger und Lautsprecher, die Medien der Klangwiedergabe und -weitergabe, haben ermöglicht, dass die ursprüngliche Zweckbestimmung der Klanggestaltung keine Rolle mehr spielt. Auf dem Marktplatz von Brüssel erklingt in den Abendstunden Barockmusik, in der Pariser Madeleine den ganzen Tag über dezent Orgelmusik vom Band. Die noch vor zwei, drei Jahrzehnten von Firmen wie der Muzak Company produzierte und vertriebene Hintergrundmusik, das Liftgedudel der Hotelketten-Häuser, ist inzwischen mehr und mehr dem Einsatz klassischer Originalmusik gewichen. Eine Vorreiterrolle spielte hierbei Japan, wo Vivaldis Quattro stagioni in unbearbeitetem Klanggewand bereits in den frühen 90er Jahren die originale Muzak-Hintergrundmusik abgelöst hatte. Inzwischen werden die Stadtmenschen in der New Yorker Pennsylvania Station mit Bachs Kunst der Fuge und im Busbahnhof der New York Port Authority mit Beethovens Fünfter Sinfonie beschallt, aber auch mit Gamelanmusik in einem thailändischen Restaurant in Berlin, mit Mozarts Requiem in einer nordamerikanischen Shopping-Mall und mit Enrico Caruso beim Edel-Italiener neben der Leipziger Nikolaikirche: Wenige Beispiele nur, wie man sie tagtäglich an vielen Orten der Welt erleben kann. Was aber bedeutet diese Generalisierung der Musik für ihre Rezeption? Nicht mehr und nicht weniger als eine Kulturrevolution, die darauf hinausläuft, dass die Musik ihre ursprüngliche, immanente Bedeutung, die außerhalb der bloßen Tonverhältnisse liegt, mehr und mehr verliert. Dies gilt für den rituellen Kontext der Gamelanmusik ebenso wie für Mozarts Requiem. Wie wäre es anders zu erklären, dass im Yamaha Music Shop auf Tokios Ginza eine Pianistin hinter dem Schaufenster eine Mozart-Sonate spielt, weiter hinten im Laden ein Video mit Alfred Brendels Meisterklasse läuft und parallel dazu moderne Popmusik aus den Lautsprechern dröhnt: Charivari am Ende des 20. Jahrhunderts. Charivari: Das war die Musik der Stadt, das ist die Musik der Stadt. Gelegentlich hat man noch die Chance, Originalmusik für öffentliche Räume zu hören. Etwa im United Airlines Terminal von Chicagos O’Hare Flugha- 15 Vergleiche L. Dandrel, Auf dem Weg zu einer Klangarchitektur, in: Welt auf tönernen Füßen. Die Töne und das Hören, Göttingen 1994, S. 165–174. Organisiertes Getöse Abb. 2: Tunnel im United Airlines-Terminal, O’Hare Airport, Chicago/IL, mit Lichtskulpturen von Michael Hayden (Foto: Martin Elste) fen (Architekten: Murphy/Jahn). Auf dem langen Weg von Concourse 1 zu Concourse 2 des Terminal 1 durchschreitet der Passagier einen 1986 mit dynamischen, das heißt sich verwandelnden Lichtskulpturen von Michael Hayden (geb. 1943) gestalteten Tunnel mit eigens für diesen Raum produzierten elektronischen Kompositionen von William Kraft (geb. 1923).16 Sie machen die ansonsten triste Verknüpfung zweier räumlicher Endpunkte zu einem sinnlichen Erlebnis, das mit dem Wandern auf einem Laufband, dem Moving Walkway, geradezu fließend-fliegend wahrgenommen werden kann und an dieser Stelle nicht stört, weil hier keine andere rezeptive Konzentration gefordert ist: Musik als Teil einer akustisch-optischen Inszenierung der Stadt (Abbildung 2). 16 Die beiden 1987 realisierten elektronischen Kompositionen erschienen unter dem Titel „Sky’s The Limit“ auf einer CD der Firma LaserVideo, Inc. unter der Bestellnummer NMW 9669. Martin Elste So hat Magers Vorstellung von Stadtbeschallung – in weniger totalitärer Weise – inzwischen als ‚Ambient Music‘ eine eigene kompositorische Form gefunden. Der englische Komponist Brian Eno (geb. 1949) hat es verstanden, seiner Hintergrundmusik Music for Airports das Markenzeichen seines Namens zu geben. Dazu gehört, dass der Hörer sie auch als Kunstmusik, als absolute Musik sogar rezipieren kann, weil sie auf massenproduzierten Tonträgern im Handel erhältlich ist und dadurch ähnlich wie jedes traditionell zu rezipierende musikalische Kunstwerk für sich ästhetisch wahrgenommen werden kann. Zur spezifischen unbestimmten Funktionalität der Gebrauchsmusik im Sinne einer Hintergrundmusik ist im Fall von Enos Komposition die auf das ‚reine‘ ästhetische Wahrnehmen gerichtete Funktionalität hinzugetreten. Trotz solcher ‚Ambient Music‘ darf nicht übersehen werden, dass infolge der modernen elektronischen Medien der Musikweitergabe und Musikwiedergabe die Stadt keine eigenen spezifischen Musikgenres mehr kennt. Jede Musik ist prinzipiell überall in gleicher oder ähnlicher Weise verfügbar. Das Schlagwort vom Global Village gilt hier in besonderem Maße. Das Sujet ‚Stadt‘ in der Musik Wenn Alexander Mitscherlich in seinem „Pamphlet“ Die Unwirtlichkeit unserer Städte die Stadt als Biotop würdigt, als einen „Platz, an dem sich Leben verschiedenster Gestalt ins Gleichgewicht bringt und in ihm erhält“17, dann gilt dies genauso für die Musik der Stadt. Nur sind die Komponisten häufig dann, wenn es um städtisches Ambiente ging, auf triviale Parameter verfallen, die eben nicht die Vielfalt des Biotops Stadt vertreten, sondern einer traditionell überlieferten Sozialkritik huldigen. Das Stereotyp von den Lastern der Großstadt wurde vor einem Jahrhundert ebenso perpetuiert wie noch vor zwei Jahrzehnten. Zwei Zitate aus seriösen Lexika hierzu, das erste von 1897: [Es] gilt der Satz „Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten“ ganz vorzüglich von den Städten, insbesondere den Großstädten, in welchen sich immer viele verkümmerte und verzweifelte Existenzen ansammeln, wo dicht neben Luxus und Üppigkeit Jammer und Elend ihre Wohnstätte aufschlagen.18 17 A. Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt a. M. 1965, zitiert wird nach der 12. Auflage 1974, S. 39. – Mitscherlich ordnet seine kritische Schrift ausdrücklich der „in Vergessenheit geratenen Gattung der Pamphlete“ zu (S. 7). 18 Meyers Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, fünfte, gänzlich neubearbeitete Auflage, Bd. 16, Leipzig Wien 1897, S. 303 (Artikel ‚Stadt‘). Organisiertes Getöse und das zweite von 1977: Polarisierung von Reichtum und Armut und ihre Begleiterscheinungen Prostitution und Kriminalität sind ausgesprochene Erscheinungen der Großstädte antagonistischer Gesellschaftsformationen (Babylon Nebukadnezars legendäres Beispiel).19 Max Brand hat in seiner bereits erwähnten Zeitoper Maschinist Hopkins von 1929 immerhin mit den so unterschiedlichen Szenenbildern Proletariergasse, Maschinenhalle, Büro, Garten-Vergnügungsetablissement, Theatergarderobe und ‚Bondys Bar‘ Fixpunkte städtischer Aktivitäten auf die Bühne gebracht, die er auch in entsprechende Klangtopoi gekleidet hat.20 Noch deutlicher wurde John Alden Carpenter. Er wollte mit seinem Ballett Skyscrapers, das 1926 an der New Yorker Metropolitan Opera uraufgeführt wurde, in den Worten von Alfredo Casella, das furchtbare Drama der amerikanischen Riesenstadt auf die Szene bannen und in mimischer wie plastischer Handlung all jenes maßlose und überhebliche Strebertum gestalten, das jene zyklopischen Bauwerke gen Himmel türmt.21 Carpenters Ballett war ein früher Versuch, den modernen ‚American way of life‘ auf die Bühne zu bringen, mit all der Unpersönlichkeit, der Wandlungsfähigkeit und der Dynamik urbanen Lebens. Ein halbes Jahrhundert später ist es der 1983 uraufgeführte Film-Essay Koyaanisqatsi22 – Life Out of Balance, der die Kulturkritik an der Stadt mit ihren Autobahnen und Hochhäusern als Symbolen einer endzeithaften technisierten Kultur effektvoll in Szene setzt. Regisseur Godfrey Reggio bezeichnete seinen Film mit der suggestiv-repetitiven Musik von Philip Glass als „Concerto for Film and Orchestra“. Ganz anders noch der junge Paul Hindemith. Hat seine Suite 1922 zwar mit ihren kurzen, in Anlehnung an modische Tänze komponierten Sätzen keinen direkten musikalischen Stadtbezug23, obwohl die vom Komponisten 19 Lexikon der Kunst. Architektur, Bildende Kunst, Angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Bd. 4, Leipzig 1977, S. 626 (Artikel ‚Stadt‘). 20 Siehe M. Elste, Maschinelle Menschen, singende Maschinen. Über Max Brands Maschinist Hopkins (1929), in: Alban Bergs Wozzeck und die Zwanziger Jahre. Vorträge und Materialien des Salzburger Symposions 1997, Anif/Salzburg 1999, S. 533–546. 21 22 Bericht in der Frankfurter Zeitung Nr. 332 vom 5. Mai 1926. In der Sprache der Hopi-Indianer ein aus den Fugen geratenes Leben. 23 In Anlehnung an Zille-Zeichnungen und Photographien vom Potsdamer Platz hatte Hindemith eine Großstadtszene skizziert: Kreisverkehr mit Fußgängern, Radfahrern, Straßenbahn, Droschke und Autobus. Auch wenn sich der Komponist später abwertend über sein Opus äußerte – siehe Hindemiths Brief, datiert 9. 11. 1940, an Hugo Strecker, abgedruckt bei G. Skelton, Paul Hindemith. The man behind the music. A biography, London Martin Elste Abb. 3: Paul Hindemith, Titelblatt zur Suite 1922 (Staatsbibliothek zu Berlin PK, Musikabteilung) Organisiertes Getöse selbst gestaltete Titelblattzeichnung die Stadt als Inspirationsquelle ausweist (Abbildung 3), so gehört zur Parodie des Städtischen der Chor der Tippfräuleins im Büro für Familienangelegenheiten GmbH im dritten und achten Bild seiner Zeitoper Neues vom Tage. In diesem Chorsatz hat Hindemith das Geräusch von Schreibmaschinen ästhetisch überhöht komponiert: Xylophon und Glockenspiel imitieren im Zusammenklang mit Violinen und Bratschen, Holzbläsern und Klavier das Klappern der Tastenhebel und die Zeilenendklingel. Eine wesentlich komplexere Sicht auf das sozialästhetische Phänomen ‚Stadt‘ vermittelt Heiner Goebbels (geb. 1952) in seiner zyklischen Komposition Surrogate Cities. Hier hat sich der Komponist Einzelaspekte eines abstrakten Großstadtbildes vorgenommen und sie – meist mit literarischem Bezug – in Klanggeschehen umgesetzt. Was er hingegen in keinem Takt versucht hat, ist das städtische Leben illustrativ nachzubilden. In diesem 1994 komponierten Werk verweist Goebbels nicht nur mit dem Kompositionstitel auf den Berlin-Roman Surrogate City des 1953 geborenen irischen Schriftstellers Hugo Hamilton24, sondern er lässt auch in dem Teil „Surrogate“ eine kurze Textpassage daraus als Melodram rezitieren. Doch Goebbels eliminiert den konkreten Bezug auf Berlin in der von ihm verwendeten kurzen Textpassage – war die Komposition doch ein Auftragswerk der Alten Oper Frankfurt im Rahmen der Frankfurt Feste anlässlich des 1200-jährigen Jubiläums von Frankfurt am Main, der Stadt, in der Goebbels lebt. Darüber hinaus geht es ihm, wie er mir mitteilte, um Großstädte im Allgemeinen, um ein Feeling, dem sich Berlin, in den Worten von Goebbels, „in vielem durch etwas provinzielle kiezige Substrukturen“ nachgerade entziehe. Das Werk setzt sich aus sieben Teilen zusammen, die alle für großes Orchester in leicht variierender Besetzung geschrieben sind: 1. einer zehnsätzigen Suite für Sampler und Orchester, 2. drei „Horatier Songs“, das sind drei zusammengehörige Gesänge für Mezzosopran und Orchester nach Texten von Heiner Müller („Rom und Alba“, „Daß das Blut auf die Erde fiel“, „Mit den Hunden wohnen als ein Hund“) in der englischen Übersetzung von Carl Weber, 3. einer sinfonischen Dichtung „D & C“, 4. dem bereits erwähnten Melodram „Surrogate“, 5. dem Melodram „In the Country of last Things“ nach einem Text von Paul Auster, 6. dem Melodram „Die Faust im Wappen“ nach einem Motiv [so der Komponist] von Franz Kafka und 1977, S. 185–186 –, so hatte er damals mit seiner tagesbezogenen Komposition genau ins Schwarze getroffen. 24 H. Hamilton, Surrogate City, London Boston 1990. Martin Elste 7. dem einsätzigen Orchesterstück „Die Städte und die Toten 4 / Argia“25, das sich auf einen Text aus dem Roman Le città invisibili („Die unsichtbaren Städte“) von Italo Calvino bezieht, ohne diese sprachlich zu verarbeiten. Von diesen sieben Teilen ist die Suite und das abschließende Orchesterstück wegen des Nichtvorhandenseins eines Textes am freiesten mit dem Topos des Städtischen verknüpft. In der Suite zeigt sich die Stadt in der Mechanik der Klangabläufe und der Geschichtlichkeit von mit dem Sampler bearbeiteten Klangfetzen wie jüdische Kantoreigesänge auf Schellackplatten. Man meint überdies Autohupen ebenso zu hören wie Fabrikenlärm, doch ist jegliches Geräuschmaterial rhythmisch-diastematisch in einen musikalischen Ablauf eingearbeitet, bei dem Goebbels mit der barocken Bezeichnung eines jeden Satzes (Sarabande – Allemande – Courante – Gigue – Bourée – Passacaglia – Chaconne – Menuett – Gavotte – Air) ausdrücklich auf Topoi der musikalischen Tradition verweist, ohne dass diese im Sinne eines Akademismus der Komposition als rhythmische Muster durchscheinen. Musikalische Huldigungen einzelner Städte Einzelne Städte haben häufig eine musikalische Huldigung erfahren. Musikalisch-analytisch taucht hierbei ein Problem auf: Inwieweit ist das Spezifische der musikalisch verklärten Stadt auch akustisch vermittelt? Im Fall der Verknüpfung von Musik mit Text ist in der Regel der Bezug auf eine bestimmte Stadt nur durch die Worte gegeben. Dies gilt beispielsweise für Hanns Eislers Römische Kantate op. 60 (1937) ebenso wie für Billy Joels Song „New York State of Mind“ (1976; auf COLUMBIA: CK 33 848). Beide Musikstücke stehen für eine Vielzahl von Kompositionen über Städte wie London, New York, Wien, Berlin und Paris, um nur einige der musikalischen Metropolen zu nennen. Neben Kompositionen mit solchen manifesten Konnotationen des Städtischen gibt es auch Kompositionen, meist sinfonische Dichtungen, mit einem mehr oder weniger expliziten Programm, das häufig im Titel den Bezug zur Stadt vorgibt. So schuf Frederick Delius 1899 am Ende seiner Jahre in der 25 Das nur die Teile 1 bis 5 enthaltende CD-Album „Surrogate Cities“ ist eine Art Konzeptalbum, das insofern schallplattenspezifisch ist, als seine Musik zwar im Konzertsaal aufgeführt werden kann, aber ihre Zusammenstellung und Abmischung idealtypisch für eine Musikproduktion auf Tonträgern ist. Darüber hinaus ist die Satzfolge der Suite gegenüber der Partitur umgestellt, nämlich: Chaconne – Allemande – Gigue – Sarabande – Bourée – Passacaglia – Courante – Menuett – Gavotte – Air (ECM NEW SERIES: ECM 1688 = 465 338-2; veröffentlicht 2000. Besetzung: Jocelyn B. Smith, Gesang; David Moss, Rezitation; Junge Deutsche Philharmonie; Peter Rundel, Leitung). Organisiertes Getöse französischen Wahlheimat das Orchesterstück Paris. Nocturne, eine Art sinfonischer Dichtung, als Hommage an die französische Metropole. Und er fügte als Erklärung noch zweierlei hinzu: den Untertitel The Song of a Great City und einige Zeilen, die merkwürdigerweise nicht den Weg in die gedruckte Partitur26 gefunden haben: Mysterious city – Geheimnisvolle Stadt – City of pleasures, Of gay music and dancing Of painted and beautiful women – Wondrous city, Unveiling but to those who, Shunning day, Live through the night And return home To the sound of awakening streets And the rising dawn.27 Stadt der Vergnügen, Fröhlicher Musik und des Tanzes Geschminkter und schöner Frauen – Wunderbare Stadt, Die sich nur denen erschließt, die, dem Tag ausweichend, Die Nacht hindurch leben Und heimkehren Zu den Klängen der erwachenden Straßen Und des Morgengrauens. Es ist eine der wenigen Kompositionen, die das Leben in der Stadt affirmativ verklären. Dazu gehört auch Paris, eine von Jacques Ibert (1890–1962) 1930 komponierte sinfonische Suite für Kammerorchester, die in sechs kurzen Sätzen Großstadtszenen musikalisch umreißt: Die Metro am Morgen (Le Métro), vorstädtisches Leben (Les Faubourgs), eine Moschee (La Mosquée de Paris), eine Tanzbar (Restaurant au Bois de Boulogne), die Reiseträume eines jungen Paares (Le Paquebot ‚Ile-de-France‘) und einen Jahrmarktsumzug (Parade foraine).28 In dieser programmmusikalischen Melange ist der erste Satz am typischsten für das, was die Komponisten im frühen 20. Jahrhundert primär mit der Stadt verbunden haben: den Rhythmus der Maschine. Gleichwohl fasst Nicolas Slonimsky seine Begriffsdefinition eines „Urbanistic romanticism“ zu weit, wenn er darunter die musikalische Überhöhung des Maschinellen schlechthin versteht, also Arthur Honeggers Pacific 231 ebenso wie Luigi Russolos (1855–1947) Geräuschkomposition Convegno dell’automobili e dell’aeroplani („Stelldichein der Automobile und Flugzeuge“) und Kurt Weills Kantate Der Lindberghflug. Das Thema Stadt hat die seit der überwundenen Naturfeindlichkeit des Mittelalters bis in die deutsche Klassik hineinwirkende Bestimmung der Kunst als Nachahmung der Natur keineswegs aufgehoben, sondern direkt fort- 26 Universal Edition 13874. 27 Zitiert nach L. Carley, Delius, the Paris years, o. O. 1975, S. 76, deutsche Übersetzung: M. Elste. 28 Basierend auf der Bühnenmusik zu „Donogoo“, vergleiche A. Laederich, Catalogue de l’œuvre de Jacques Ibert (1890–1962), Hildesheim Zürich New York 1998, Nr. 42 a. Martin Elste geführt. Denn das Phänomen der Nachahmung ist geblieben. In diesem Sinne ist Boris Asaf’evs Rechtfertigung der Stadt als Imaginationsfundus des Komponisten die Weiterschreibung einer Ästhetik aus dem Geiste des 19. Jahrhunderts: Es wäre seltsam, wenn in unserm geschäftigen Zeitalter, dem Zeitalter der Organisation und Disziplin, zwischen den mächtigen Gebäuden, dem Rhythmus der Maschinen und der Dynamik des Lärms, den Plakaten und den elektrischen Reklamen der Straßen bei Nacht, dem Gedränge und Gehetze der Automobile, Lastwagen und Passanten […] – es wäre wirklich seltsam, wenn die Musik nicht die volle Realität unseres Lebens reflektieren […] sollte.29 Doch geht es den Komponisten nicht um Imitation oder gar Substitution der Natur durch Kunst – etwa im Sinne künstlicher Blumen –, sondern um die ästhetisch geplante, organisierte Bearbeitung von assoziativ mit dem Topos ‚Stadt‘ verknüpften Klängen und Geräuschen. Spätestens mit ihrem benannten, programmatischen Bezug zum Städtischen verliert die Komposition ihren Status der absoluten Musik, und es ist kein Zufall, dass dieser Begriff der „absoluten Musik“ zu einer Zeit von Richard Wagner geprägt wurde, als immer mehr infolge des musikalischen Realismus der Status des Absoluten zur Debatte stand.30 Der Hörer wie der analysierende Theoretiker sollte sich darüber im Klaren sein, dass die Musik an sich noch nicht auditive Aspekte der Stadt widerspiegeln kann. Die Musik enthält allenfalls Klangereignisse, die in der kognitiven Verknüpfung von Wahrnehmung des Auditiven und Zuordnung dessen zum Topos Stadt im Verständnis des Hörers einen bestimmten Sinn ergeben. Die Verknüpfung von der Idee des Mechanischen mit dem sozialen Phänomen der Stadt findet sich in äußerst subtiler Weise in einer musikalischen Huldigung ganz besonderer Art, wie sie dem Filmregisseur und dilettierenden Cellisten Walther Ruttmann (1887–1941) gelungen ist. Sein Dokumentarfilm Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, 1927 gedreht, ist alles andere als ein Stummfilm im üblichen Sinn. Ruttmanns Film hat eine immanente ‚optische Musik‘ – so die treffende Bezeichnung des Filmhistorikers Béla Balázs –, ist gefilmter Rhythmus. Seinen eigenen Worten zufolge stand Ruttmann eine „sinfonische Kurve“ vor Augen, „das Gefüge einer komplizierten Maschine“, und er hat tatsächlich umgesetzt, was ihm vorschwebte: „die Menschen zum 29 B. Asaf’ev unter dem Pseudonym I. Glebov, Kniga o Strawinskom [Buch über Strawinsky], Leningrad 1929, S. 351, zitiert nach F. K. Prieberg, Musik in der Sowjetunion, Köln, 1965, S. 69–70. 30 Vergleiche C. Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, Kassel und München 1978, sowie C. Dahlhaus, Musikalischer Realismus. Zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1982. Organisiertes Getöse Schwingen zu bringen“.31 Natürlich gab es auch eine Filmmusik dazu. Aber die Partitur von Edmund Meisel (1894–1930), dem vielbeschäftigten Starkomponisten der Babelsberger Stummfilmzeit bot indessen nur redundante Doppelung.32 Meisel transformierte die Großstadtklänge in Notation für ein großes Orchester, „die Tempi der Geräusche, das Klingeln der Straßenbahn, das Hupen der Autos, den Rhythmus nächtlicher Schienenarbeit“33. Meisel selbst ließ die „Herren Kapellmeister“ wissen, seine Musik „zunächst rhythmisch aufzufassen, nicht starke Klangwirkungen zu geben, sondern Farbe [...]“. Jedes lyrische Portamento sei zu vermeiden, „nur Rhythmus, Rhythmus!“34 Mit dem Rhythmus der Maschine ist die Fabrik untrennbar verbunden. Sie wiederum gehört im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu einem der sozialen Schwerpunkte der modernen Stadt und kam als Topos spätestens 1854 auf das Theater, als der Bühnenbildner Gilbert Lehner am Wiener Hofburgtheater für die szenische Umsetzung von Schillers Lied von der Glocke eine Kulisse schuf, die einen Maschinenraum darstellte.35 Doch auf der Musiktheaterbühne hat es die Fabrik meines Wissens bis zu Alexander Mossolows Ballett Stal’ („Stahl“) von 1926, Sergej Prokofievs Ballett Le pas d’acier op. 41, 1927 für Sergej Diaghilev komponiert, und Max Brands Maschinist Hopkins (1929) nicht gegeben. Die Nibelungenszene im Rheingold (komponiert 1853–1854), das Nähatelier in Gustave Charpentiers Louise (1889–1896) und die Werkstattgrotte in Arnold Schönbergs Glücklicher Hand (1910–1913) sind ja nur Vorstufen einer musikalischen Fabrikdarstellung. Zwar hat Hanns-Werner Heister bereits Bachs Wohltemperiertes Klavier als ästhetisch-überhöhte Widerspiegelung der Manufaktur interpretiert36, doch wohl erst durch die Ästhetisierung des Geräuschs seit dem frühen 20. Jahrhundert ist die Fabrik ein mu- 31 W. Ruttmann in: Lichtbild-Bühne vom 8. 10. 1927, zitiert nach Berlin. Aussen und innen. 53 Filme aus 90 Jahren. Materialien zu einer Retrospektive, hrsg. von U. Berg-Ganschow, Berlin 1984, S. 23. 32 Zu Meisels Musik siehe W. Thiel, Filmmusik in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1981, S. 348–351. 33 Meisels eigene Worte, zitiert nach dem Programmzettel zur Sondervorführung aus Anlass der Wiederentdeckung der Originalmusik in einer Einrichtung für zwei Klaviere und Schlagzeug bei den 32. Internationalen Filmfestspielen Berlin, 12.–23. Februar 1982. 34 Ebenda. 35 Vergleiche Vom Bild zum Raum. Bühnenmodelle 1781–1987, Wien 1988, Kat.-Nr. 36. 36 H.-W. Heister, Fortschritt und Rückzug der bürgerlichen Musik. II. Manufaktur und Fuge. Bezüge zwischen materieller und musikalischer Produktion am Beispiel von J. S. Bachs „Wohltemperiertem Klavier“, Manuskript einer Rundfunksendung, WDR Köln o. J. 1972. Martin Elste sikalisches Thema geworden: Von Mossolows Orchesterstück Sawod (Die Fabrik, auch als Eisengießerei bekannt) op. 19 – einer Episode aus dem Ballett Stal’ – bis zu Luigi Nonos La fabbrica illuminata (Die beleuchtete bzw. durchleuchtete Fabrik) für Tonband und Gesangsstimme. Zwischen beiden Werken liegt ein knappes Jahrhundert, und damit der Schritt von der unkritischen Verherrlichung der sowjetischen Industrialisierung zur Kritik an der Fabrikarbeit schlechthin. Ist Mossolows Komposition, die erstmalig ein Stück Stahlblech als Musikinstrument einsetzt, ebenso wie Prokofievs Komposition eine orchestrale Hymne auf die Maschinenwelt, so gehört Nonos Stück zum ideengeschichtlichen Genre einer Musik, die politisch wirksam sein soll: Nono mischte und bearbeitete in seiner der Stilistik und Methodik der Musique concrète verpflichteten Komposition in der Fabrik aufgenommene Geräusche und Sprachklänge mit elektronischen Klängen und zwölftönig komponierten Chören. Während des Abspielens des abgemischten Resultats singt eine Frauenstimme live. Nachdem er die Komposition Fabrikarbeitern vorgespielt und mit ihnen darüber diskutiert hatte, behauptete Nono, mit ihr eine Sensibilisierung der Fabrikarbeiter für ihre belastenden Arbeitsbedingungen erzielt zu haben.37 Was liegt näher, als sich der vielfältigen Geräusche der Stadt direkt zu bedienen? Walther Ruttmanns Klangcollage Weekend, ein 1930 auf Lichttonfilm aufgenommenes Hörspiel, ist auch ein Stück komponierte Musik, deren Material eben die vielfältigen Stadtgeräusche und -klänge sind, wenn sie auch zum größten Teil im Studio nachproduziert wurden.38 Dank des Tonbandgeräts konnten die Komponisten seit etwa 1945 im Sinne der von Pierre Henry und Pierre Schaeffer apostrophierten Musique concrète die klanglichen Reize der Stadt nicht nur aufnehmen, sondern vor allem damit differenziert arbeiten: schneiden, abmischen. Mit diesen Studiotechniken entstand beispielsweise eine Collage des Australiers Gunter Christmann mit dem Titel Audio Plastic No. 4. Auf dieser 1974 produzierten Langspielplatte sind typische monotone Stadtgeräusche – vornehmlich Straßenverkehrslärm – mit dem ebenso monotonen Vibrieren einer Maultrommel abgemischt. Einer der Väter der Musique concrète, der bereits erwähnte Pierre Henry hat mit La Ville. Metropolis Paris eine solche Klangcollage zusammengestellt, die im Unterschied zu Christmanns Collage das Spezifisch-Städtische einer bestimmten Metropole zuordnet. Sie entstand im Rahmen der „Metropolis“- 37 38 J. Stenzl, Luigi Nono, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 64–66. Auf CD veröffentlicht in der Collection Cinéma pour l‘oreille: MKCD 010 1994. Siehe auch J. Goergen, Walter Ruttmanns Tonmontagen als Ars Acustica, Siegen 1994 (= Massenmedien und Kommunikation, H. 89). Organisiertes Getöse Reihe des Studios Akustische Kunst des Westdeutschen Rundfunks Köln, für die internationale Komponisten bis 1996 dreißig Klangcollagen aus großen Städten kompilierten, sogenannte „Soundscape“-Kompositionen.39 Angeregt zu seinem Städteportrait40 wurde Henry von Ruttmanns Berlin-Film. Wie Ruttmanns legendärer Stummfilm zurecht als ‚optische Musik‘ bezeichnet wurde, könnte Henrys La Ville sinngemäß als ‚akustischer Film‘ charakterisiert werden. Henry fügt akustische Szenen aneinander, die mehr oder weniger dem Tagesablauf folgen, beginnend mit dem Wecken (Eveil) über achtzehn weitere Stationen bis zur Ferne des Schlafes (Lointain), symbolisiert durch das beständige Ticken des Weckers und schließlich lang durchgezogene tiefe Klänge, die den Schlaf einleiten und an Schiffsirene und Didgeridoo erinnern, von ganz weit weg, in der Tiefe der Welt des Hörers. Musik im traditionellen Verständnis tritt als Folge elektronischer Schlagzeug-Klänge mit monoton-mechanischer Struktur auf, denen meistens, aber nicht immer, die Musique concrète hinzugemischt ist. Doch es dominiert die Collage aus O-TonGeräuschen vom Zähneputzen bis zur aleatorischen Musik der Flipper-Automaten (Track 16 der CD). Was allerdings das Klangspezifische der Metropole Paris in dieser Collage ausmacht, sind die Fahr- und Bremsgeräusche der Me- 39 Es handelt sich dabei um folgende Produktionen (in alphabetischer Folge der Komponisten): Charles Amirkhanian: Metropolis San Francisco (1986), Klarenz Barlow: CCU. Metropolis Kalkutta (1980), Barry Bermange: Radioville. Metropolis London (1987), Alvin Curran: Metropolis Rom. Cartoline Romane (1987), Richard Farber: Metropolis Tel Aviv (1990), Raimund Fleiter, Richard Ortmann und Ralf Wassermann: Klanglandschaft Ruhrgebiet. Einmal Herne und zurück (1995), Bill Fontana: Metropolis Köln (1985), ders.: Metropolis Stockholm (1987), ders.: Ohrbrücke Köln – San Francisco. Satelliten-Klangskulptur (1987), ders.: Satelliten-Klangbrücke Köln – Kyoto (1993), Marlis A. Franke: Metropolis Berlin. Berlin Ricercar. Insel-Topophonie (1987), dies.: Metropolis Venedig. Venezia Exaudi. Insel-Topophonie (1987), Sorrel Hays: The Hub. Metropolis Atlanta (1990), Pierre Henry: La Ville/Die Stadt. Metropolis Paris (1984), Arsenije Jovanovic: Metropolis Arles (1992), Richard Kostelanetz: Metropolis New York City (1984), Francisco Kröpfl: Metropolis Buenos Aires. Themen und Variationen über eine Stadt (1989), ders.: Der Zerrspiegel oder Die andere Metropolis. Ein halluzinatorisches Rondo mit Variationen (1995), ders.: Metropolis Buenos Aires III. A Remembrance (1996), Joan La Barbara: Klangbild Köln (1991), Emmanuelle Loubet: Metropolis Tokyo. Tokyo im Rennschritt (1990), Charly Morrow: Metropolis Kopenhagen (1986), Nicola Sani: Metropolis Matera Sassi (1988), Peter Pannke: Metropolis Benares. Shri Kashi Vishvanath Shabdamala. Eine Girlande von Klängen aus der Stadt des Lichts (1988), Vincent Plush: Metropolis Sydney (1988), Gerhard Rühm: Metropolis Wien. wien wie es klingt (1992), David Schein und Florian Steinbiß: Metropolis Las Vegas (1987), Stephen Schwartz: Metropolis Kopenhagen (1996), Paul Wühr: Soundseeing. Metropolis München (1986). 40 So Henry im Booklet zu der CD WERGO: WER 6301-2 = 286 301-2, veröffentlicht 1994. Martin Elste tro (Track 19 der CD). So sind es vor allem die Geräusche des öffentlichen Nahverkehrs, an denen sich die klangliche Individualität der Stadt dingfest machen lässt. Die Londoner Tube klingt anders als die Berliner U-Bahn, die New Yorker Subway anders als die U-Bahn von Tokio. So hat jede Stadt erst in unserem Jahrhundert den ihr eigenen ‚Klang‘ erhalten. In Amsterdam wäre dies das Fahrgeräusch der Straßenbahn, das dem Straßenlärm dieser Stadt seinen besonderen Charakter gibt – jedenfalls im Verständnis des Niederländers Han Reiziger, der in seiner Klangcollage The Hans Brinker Symphony von 197941 versucht hat, das typisch Holländische quasi im Zeitraffer aneinanderzureihen, wozu für ihn neben dem Carillon des Rathauses von Hilversum eben auch der Straßenlärm Amsterdams gehört. So entstand als musikalisches Porträt der Niederlande eine Collage aus Straßenmusik, funktionaler Musik wie dem Pausenzeichen von Radio Hilversum, sinfonischer Musik, Bachs Matthäuspassion als integralem Bestandteil holländischer bürgerlicher Musikkultur und einer Travestie derselben von Louis Andriessen aus Sprache, Straßenbahngeklingel und sonstigen Straßengeräuschen. Eine weitergehende kompositorische Gestaltung findet man bei dem „imaginären Stadtrundgang“ Salzburgtrum 78 von André Ruschkowski (geb. 1959) insofern, als das Ausgangsmaterial, Tonaufnahmen von zwölf charakteristischen Orten Salzburgs, im elektronischen Studio nicht nur zusammengeschnitten, sondern musikalisch verarbeitet wurde, so dass die originale Vorlage zur Unkenntlichkeit musikalisch verarbeitet wird. Es ist damit eine Komposition entstanden, die weit entschiedener einer autonomen Ästhetik der absoluten Musik verpflichtet ist, als wir es bei den übrigen akustischen Stadtporträts erleben. Sind die meisten dieser Collage-Kompositionen ohne offengelegtes Kompositionsprinzip sozusagen „aus dem Bauch heraus“ zusammengeschnitten, so hat John Cage dem Prinzip der Collage eine strenge Methode zugrunde gelegt, die er in der Verbalpartitur zu O-Ton-Klängen Circus on, means for translating any book into a performance without actors, a performance which is both literary and musical or one or the other nach seinem 1979 realisierten radiophonen Hörstück Roaratorio, an Irish Circus on Finnegans Wake auf der Basis von James Joyces Roman (Realisation: IRCAM, Paris; WDR Köln) notiert hat. Aus dieser Verbalpartitur hat im Rahmen des Berliner Festivals für Neue Musik „Ultraschall“ der Berliner Musikwissenschaftler Volker Straebel (geb. 1969) eine musikalische Collage rund um die Stadt Berlin mit ihren Klängen und Geräuschen zusammengestellt: Urban Circus on Berlin Alexanderplatz 41 Erschienen auf einer Schallfolie als Beilage zu Key notes. 1979, No. 2. Organisiertes Getöse für Sprecher und 32-Kanal-Tonband und zusätzlich live ausgesteuertem Stereo-Tonband. Straebels „Transkription“ nimmt als literarische Vorlage Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz. Aus diesem Text erstellte Straebel 120 zwölfzeilige Mesosticha, das heißt Gedichtstrophen, die nach einem besonderen Schema konstruiert sind. Was die Realisierung zu einer höchst artifiziellen, durchkonstruierten Komposition macht, ist ihre fast serielle Collagetechnik, die (theoretisch) jedes Klangerlebnis konstruktiv und damit unsinnlich rechtfertigt. Die Umsetzung der Partituranweisungen sieht folgendermaßen aus42: Partituranweisung Umsetzung 1. Auswahl des Buches Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz 2. Verdichtung des Ausgangstextes nach einem algorithmischen Verfahren (Mesosticha) 3. Erstellen einer Liste der im Buch erwähnten Orte 995 Orte, von denen 447 berücksichtigt werden, weil der Roman so viele Seiten hat. „Diese Orte wurden unter Verwendung alter Stadt- und Straßenbahnpläne historisch möglichst genau rekonstruiert und akustisch aufgezeichnet.“ 4. Erstellen einer Liste der im Buch erwähnten Klänge. 732 Klangereignisse, davon 152 Musikstücke. „Im Urban Circus bleiben einzig 51 lautmalerisch beschriebene Geräusche unberücksichtigt. Die Musikstücke erscheinen grundsätzlich in Einspielungen aus der Zeit vor 1930. […] Die übrigen Geräusche wurden dem SFB-Archiv entnommen.“ 5. Tonaufnahme von 3. und 4. 6. Tonaufnahmen zweckdienlicher Musik oder komponierte Variationen dieser Solos werden zu einem zufallsbestimmten ‚Circus‘ überlagert. Verwendung situativer Musik aus dem historischen Hörspiel Die Geschichte vom Franz Biberkopf (1930) und Phil Jutzis Film Berlin Alexanderplatz (1931), an deren Realisation Alfred Döblin selbst mitwirkte. 42 Zitate aus dem Einführungtext von Volker Straebel im Programmbuch zur Uraufführung am 24. Januar 2001 im Großen Sendesaal des Senders Freies Berlin im Rahmen von Ultraschall – Das Festival für neue Musik, S. 69–73. Martin Elste 7. Lesung der Mesosticha (2.) und gleichzeitige Wiedergabe der Tonaufnahmen (5. und 6.) Das Resultat ist eine Realisation, bei der, rein statistisch gesehen, mehr als bei allen anderen in meinem Text erwähnten Kompositionen das Städtische klangbestimmend ist. Doch ihr fehlt die ästhetische Konzentration auf einen bestimmten Aspekt des Städtischen, ihre quasi demoskopische Klang- und Geräuschauswahl wird ihr zum ästhetischen Verhängnis. Jahre bevor die Komponisten der Musique concrète originale oder nachgebildete, aber immer naturalistische Geräusche der Stadt als Material eines organisierten, komponierten Ablaufs bestimmten, experimentierten die Futuristen mit dem Geräusch an sich. Und hier waren es vor allem die Geräusche der Stadt, die Luigi Russolo faszinierten. Sie waren für ihn, dem bekanntesten Vertreter des musikalischen Futurismus, im wesentlichen mechanisch erzeugt – beispielsweise von Lokomotive, Straßenbahn und Automobil – und von Straße zu Straße mit der Art der Pflasterung unterschiedlich. Das Zittern der Straßenbahnoberleitungen hatte Russolo ebenso als ästhetisches Phänomen wahrgenommen wie das „hohe und feierliche Atmen einer schlafenden Stadt“, wie er in seinem Traktat über die Geräuschkunst geradezu pathetisch ausführte.43 Die Veränderung aus diesem ‚Aggregatzustand‘ des Schlafes der Stadt heraus zu dem des Taggeschehens hatte er 1914 in seiner Komposition Risveglio di una città für sogenannte Intonarumori, von ihm entwickelte Geräuschtöner, stilisiert und dafür eine besondere Notation entwickelt (Abbildung 444), wobei die Geräusche als Klangkontinuum in Strichlinien notiert sind. Für diese Geräusche hatte Russolo acht verschiedene Geräuschtöner (auch als Geräuschintonatoren bezeichnet) gebaut: Heuler (Ulalatori), Dröhner (Rombatori), Knisterer (Crepitatori), Krächzer (Stropicciatori), Berster (Scoppiatori), Brummer (Ronzatori), Gurgler (Gorgogliatori) und Zischer (Sibilatori).45 Die Musik der Straße Ist Straßenmusik Kunstmusik? Gehört zur Kunstmusik, dass ihre Ausführenden mit Namen angekündigt werden, und sei es wie beim Orchester mit einer 43 L. Russolo, Die Kunst der Geräusche, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von J. Ullmaier, Mainz 2000, S. 33. 44 Aus Russolo: Die Geräuschkunst 1913–1931, Ausstellungskatalog 9. November 1985 – 5. Januar 1986, Museum Bochum, Kunstsammlung 1985, S. 37. 45 Die mit rekonstruierten Geräuschtönern realisierte Komposition befindet sich auf Track 1 der dem Buch von L. Russolo, Die Kunst der Geräusche, a. a. O., beigefügten CD. Organisiertes Getöse Abb. 4: Anfangstakte von Risveglio di una città (1914) von Luigi Russolo Kollektivbezeichnung, aber nicht unbedingt, dass sie sichtbar sind – weil die Tonträger ihre Leistung als Klanggeschehen dokumentieren –, so ist es im Fall der Straßenmusik genau umgekehrt: Ihre Musiker sind zwar für jedermann sichtbar, bleiben aber namenlos. Insofern fällt das Phänomen des Straßenmusikers Louis Hardin46 durch das Raster unserer Musikkulturen. Hardin 46 Auch (fälschlicherweise) gelegentlich als Louis Harding bekannt. Hardin wurde am 26. Mai 1916 in Marysville, Kansas geboren und starb am 8. September 1999 in Münster/ Westfalen (laut The New York Times vom 12. 9. 1999, S. 47). Martin Elste erblindete mit 16 Jahren und musizierte ab 1947 auf verschiedenen, teilweise selbstkonstruierten Instrumenten im Zentrum von Mid-Town Manhattan, direkt am Times Square, bis er 1974 in die Bundesrepublik Deutschland übersiedelte. An sich keine nennenswerte Karriere47, wenn von Moondog, wie Hardin sich nannte, nicht mehrere Schallplatten erschienen wären, die fast Kultcharakter bekamen. Sein Song „All is Loneliness“ wurde sogar von Janis Joplin gesungen. Inzwischen hat auch das Kronos Quartet eine seiner Kompositionen eingespielt.48 Hardins erste Aufnahme war eine 1953 auf Epic veröffentlichte Single mit dem Titel On the Streets of New York. Später erschienen mehrere LP-Alben, darunter More Moondog und The Story of Moondog als die wohl bekanntesten.49 Es sind Kompilationen von kurzen Stücken, die in ihrer rhythmischen Struktur als Vorläufer der Minimal Music eines Steve Reich gelten können. Sie haben keinen komponierten Anfang, kein komponiertes Ende, sind wie Musik auf Bandschleifen. Eben so, wie man in jeder Großstadt heutzutage Straßenmusiker auf Schlagzeuginstrumenten erleben kann. Interessant an den Aufnahmen von Hardins Musikstücken ist, dass sie, obwohl sie im Studio eingespielt wurden, die Illusion der Straßenmusik schaffen sollen: Immer wieder umrahmen städtische Geräusche wie das Rauschen der Straße, Autohupen und Konversationsfetzen Hardins eigentliche Musikdarbietungen. Und auch die Titel seiner Stücke sind der Straße entlehnt: Conversation and Music at 51st St. & 6th Ave (New York City) heißt es beispielsweise, oder: Up Broadway und In a Doorway. So ist Hardins schriftlose Musik, die nur in Form von Tondokumenten existiert, eine ganz eigene Verbindung von Musique concrète und Improvisation auf traditionellem Instrumentarium. Erst durch die Schallplatte wurde Hardins Gebrauchsmusik als Kunstmusik rezipiert. Eine der subtilsten Hommagen an die Stadt stammt indessen von John Cage. Seine berühmteste Komposition 4‘33” lässt sich zwar zwei ideologischen Schubladen zuordnen – der der Zufallskomposition und der des idealen Zustands der Unbestimmtheit der Aufführung, insofern als hier ein Pianist vier Minuten und 33 Sekunden lang vor dem Klavier sitzt und keinen Ton spielt50 –, doch die sinnliche Voraussetzung für die Komposition liegt eher in 47 Nach The Guinness encyclopedia of popular music, Bd. 4, hrsg. von C. Larkin, London 1995, S. 2899, und nach dem Nachruf in The New York Times vom 12. 9. 1999, S. 47. 48 Synchrony No. 2 (1994) auf dem Album Early Music; NONESUCH: 7559–79457–2. 49 Beide Alben wurden 1991 auf einer CD wiederveröffentlicht, wobei Hardin fälschlicherweise „Harding“ genannt wird; PRESTIGE [UK]: CDJZD 006. 50 So zum Beispiel bei J. Pritchett, The music of John Cage, Cambridge u. a. 1993, S. 59–60. Organisiertes Getöse der Erfahrung der Mannigfaltigkeit der Geräusche einer Stadt wie New York, der modernen Großstadt schlechthin, mit ihren ewig rauschenden Klimaanlagen, dem permanenten Autolärm mit dem Aufheulen der Motoren, den Sirenen der Streifenwagen und Löschzüge, dem Hupen, den ohrenbetäubenden Subway-Trains, dem permanenten Dröhnen der Holzbohlen auf der Manhattan Bridge … Die aller modernen Ästhetik abholde Cembalistin Eta HarichSchneider hat als Zeitzeugin einen Besuch am 10. Mai 1953 bei Cage in 326 Monroe Street, New York, NY beschrieben: Das Zimmer war achteckig mit großen Fenstern nach Osten und Süden. Die direkte Aussicht auf den Hafen war schon am Vormittag sehr farbenreich, abends ein glanzvoll wildes Schauspiel und eine Ohrenorgie maßlosen Umfanges. John setzte sich dann bei weit offenen Fenstern still ans Klavier und ließ die Freunde nach draußen hin lauschen: „Das ist meine schönste Komposition“.51 1952 konzipiert, ist 4‘33” kein Werk für den Konzertsaal, sondern ein Stück Ambient Music, bei der die Stadt mit ihrer Klangvielfalt den Zufall steuert. Worum es nicht geht bei dieser Komposition, ist die Stille, allenfalls geht es um die tobende Stille.52 Die Stadtklänge, die Cage für sich hat wirken lassen, hat Steve Reich (geb. 1936) in seiner 1995 komponierten Suite City Life in eine fixierte Form gebracht, bei der er Manhattans Stadtgeräusche als Ausgangsmaterial elektronisch bearbeitet und strukturiert hat und mit den Klängen eines traditionellen Instrumentalensembles mischt.53 Hier findet man, ohne sie im einzelnen identifizieren zu können, Samples von Autohupen, Polizei- und Autoalarmsignalen und ähnlichen Klangereignissen, die auf zwei Samplers installiert sind und auf Tastendruck abgerufen werden können, als seien sie traditionelles Tonmaterial, das auf einem Klavier zur Verfügung steht. Reichs Komposition ist eine eindeutige Hommage an New York City aufgrund von Wortfetzen im fünften Satz der Suite, die erkennbar bleiben. Diese Bruchstücke stammen aus dem aufgenommenen Wortwechsel der New Yorker Feuerwehrmänner am Tag, als auf das World Trade Center ein Bombenanschlag verübt wurde (26. Februar 1993). So vermischt sich auch in dieser Komposition die Musik der Stadt mit dem Konzept der Stadt in der Musik. 51 E. Harich-Schneider, Charaktere und Katastrophen. Augenzeugenberichte einer reisenden Musikerin, Berlin u. a. 1978, S. 363. 52 So der Titel von David Revills Cage-Biographie: D. Revill, The roaring silence, New York 1992, wobei ‚roaring‘ eine doppeldeutige Bedeutung von „tobend, brüllend“ einerseits und „famos, enorm“ usw. andererseits hat. 53 Eingespielt vom Steve-Reich-Ensemble unter der Leitung von Brad Lubman auf der CD NONESUCH: 7599-79430-2; veröffentlicht 1996.