Architektur und Bauprozesse - Knochenstruktur
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Architektur und Bauprozesse - Knochenstruktur
90 Architektur und Bauprozesse – Knochenstruktur – gotische Kathedralen Wissenschaft und Kunst Den Knochen neu entdecken OSTAK Den Knochen in der Kunst neu entdecken – das ist das Anliegen von Dr. Peter Diziol und dieser Rubrik, die interessante Bauwerke, Plastiken und Gemälde vorstellen wird. Treten wir aus der Hektik und Reizüberflutung unserer Zeit in eine gotische Kathedrale, so ergreift uns nicht nur die Größe und Höhe des Raumes und das Lichtspiel der farbigen, großen Bleiglasfenster im Raum, sondern wir bewundern vor allem die filigrane Struktur der Bauweise. Wie konnten Menschen im Mittelalter ohne Kenntnis unserer heutigen Statik mit scheinbar einfachsten Geräten und Mitteln so etwas Großartiges schaffen? Welche geheimnisvolle Faszination ergriff die Menschen im Mittelalter, wenn sie eine dieser Kathedralen betraten? Uns geht es nach gut 800 Jahren sehr ähnlich, wir werden zum Nachdenken angeregt. Die filigrane Säulen- und Gewölbestruktur gotischer Kathedralen können wir mit dem Knochenbau und den Knochentrabekeln vergleichen, die jeweils einer großen Gewichts-, Druck- und Zugbelastung ausgesetzt sind. Der Knochen ist kein starres Gewebe, die Umbauspezialisten OsteoOsteologie 2/2014 klasten und Osteoblasten sind ständig aktiv. Ebenso ist eine ständige Arbeit an den filigranen Steinstrukturen der Kathedrale beispielsweise in Folge der Umweltverschmutzung notwendig. Als „Giganten der Gotik und des Knochenbaus“ können wir die Feinstruktur im Oberschenkelhals und des gotischen Kirchenschiffs bezeichnen. Dieser Beitrag und folgende Kapitel in der Zeitschrift Osteologie sind nicht als Fachliteratur zur Gotik gedacht, sie sollen Neugierde wecken und verschiedene Aspekte der Gotik beleuchten: Woher kam die Idee und wo entstanden erste gotische Kathedralen? Wer beherrschte die Planung, Statik, Konstruktion und Bauweise? Wie konnten so große Glasfenster gebaut werden? Die Bedeutung des Lichts für die gotische Kathedrale ist der Durchbruch der Lichtarchitektur. Wie werden antike Gläser hergestellt? Wer waren die Künstler und Handwerker? Was ist Gotik? An Beispielen und zahlreichen Fotos möchten wir zu diesen Ausblicken einladen. Kreuzzüge und der Wandel in der Architektur Wie häufig in der Kunst führten auch im 12. Jahrhundert große Veränderungen in der Geschichte und Kultur zu einer Revolution, hier zum Bau von Kathedralen. Es war die Zeit der Kreuzzüge, zu denen Papst Urban II. im Jahr 1095 aufrief. „Gott will es“ riefen die Kreuzritter bei der Eroberung Jerusalems im Jahr 1099. Wie erklären Kreuzzüge die Idee zum Bau neuer, großer Kirchen? Die Religiosität der Menschen im Mittelalter war die Triebfeder für den Kirchenbau im Namen Gottes. In der Offenbarung des Johannes im neuen Testament wird das „neue Jerusalem“ als Vision beschrieben: „und ich sah eine heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, mit Gassen aus Gold wie durchscheinendes Glas, göttliches, gleißendes Licht und Farben im Glanz dieses Lichts.“ Es wird denen verheißen, die ihre Heimat verließen, um für die Befreiung einer Stadt in der Fremde zu kämpfen, ewiger Ruhm im Himmelreich wurde versprochen. Es war Zeit zur Geburtsstunde der Gotik. Unbemerkt und ohne scheinbare Entwicklung entstanden zuerst in Frankreich, dann auch in Europa zahlreiche gotische Großprojekte. In der Abteikirche von St.Denis im Norden von Paris (Chorweihe 1144) entsteht mit dem Chor der Kirche die gotische Bauweise der Kathedralen. Die einzelnen Elemente der Gotik – Kreuzrippengewölbe, Spitzbogen, Strebebogen und Strebepfeiler – entstanden nacheinander, wurden aber durch Abt Suger des Klosters als neues faszinierendes Ideal zu einer Einheit zusammengefasst und ist damit der „Gründungsbau“ des gotischen Bauwerks. Magie des Lichts im Kirchenschiff Es war auch eine Zeit genialer Baumeister, die ohne Mathematik und heutiger Statik einfach dem Prinzip „Trial and Error“ imAuswahl einiger gotischer Kathedralen in Europa Zeittafel 1144 Saint-Denis bei Paris Chorweihe des „Gründungsbaues“ gotischer Kathedralen 1140/1145 Kathedrale von Sens Baubeginn 1163 Notre Dame, Paris Baubeginn der Kathedrale 1175 Kathedrale von Canterbury Baubeginn 1194 Kathedrale von Chartres Baubeginn 1208 Magdeburger Dom Baubeginn; erste gotische Kathedrale in Deutschland 1211 Kathedrale von Reims Grundsteinlegung, Neubau 1220 Kathedrale von Amiens Baubeginn 1225 Straßburger Münster Umbau in gotischen Stil 1248 Kölner Dom Grundsteinlegung © Schattauer 2014 91 OSTAK Foto: Dr. P. Diziol Foto: Dr. P. Diziol Abb. 1 Plan St. Denis. Die Architektur gotischer Kathedralen braucht keine tragenden Wände. Das System aus Pfeilern und Streben verteilt die Last des Gewölbes nach außen. Modell des Plans von St. Denis; Martin Papirowski und Susanne Spröer, „Giganten der Gotik. Die Baukunst der Kathedralen“; © 2011 DuMont Buchverlag, Köln, S. 101. mer höher und „filigraner“ bauten, mit immer weniger Baumaterial nach der Romanik auskamen und wie in Träumen bauen konnten. Sie hatten die Fantasie, sich nur auf Grund von Zeichnungen das fertige Gebäude vorzustellen. So entstanden Kirchenschiffe, die scheinbar nur aus Säulen mit wunderbaren Glasfenstern dazwischen ausgestattet waren (▶Abb. 1) (siehe auch Kasten „Zeittafel“). Wir lassen uns berauschen in diesen Kathedralen des Lichts und dieser mit Farbe durchfluteten Räumen (▶Abb. 2). Welchen Eindruck mussten diese Gebäude auf die Menschen von damals ausüben, die in einfachen Gebäuden wohnten, meist waren Schweinsblasen die „Fensterscheiben“ und plötzlich standen sie in lichtdurchfluteten Kirchenhallen mit farbigem Abb. 2 Raum Gotische Kapelle des King‘s College, Cambridge; lichtdurchfluteter Abb. 3 Kathedrale von Canterbury. Wilhelm von Sens begründet hier eine neue Dimension der Gotik. © Schattauer 2014 Fotos: Dr. P. Diziol Abb. 4 Kathedrale von Canterbury, Chor und Trinitätskapelle; Flächengewölbe der Westvierung Osteologie 2/2014 Foto: Dr. P. Diziol 92 Fotos: Dr. P. Diziol OSTAK Abb. 6 Kathedrale von Lincoln Fotos: Dr. P. Diziol Abb. 7 Kathedrale von Lincoln, Langhaus nach Osten mit Blick auf das große Chorfenster; Blick auf die Rosette bei Führung im Kreuzgewölbe. Die Kathedrale ist eines der monumentalsten Räume englischer Gotik. Abb. 5 Kathedrale von Canterbury, Langhaus nach Osten (oben); rechtes Seitschiff, Blick nach Westen (unten). Glas, das sich nur Edelleute leisten konnten. Es war wie ein Blick in den Himmel, sie sahen das Königreich des Himmels mit eigenen Augen, es war etwas Unvergleichliches, das sie in Bann zog. Gotische Kathedralen versuchten den Himmel zu berühren. Die Menschen standen in dem großen lichtdurchflutendem Gotteshaus, alle Bewegungen der Säulen und Gewölbe streben Osteologie 2/2014 nach oben. Der Spitzbogen und die Rippen tragen das Gewicht, das über Bögen an die Außenseite des Gebäudes abgeleitet wird. Diese Struktur wird auch „skeletthaltige“ Struktur genannt. In den Zwischenräumen ist ein großer Platz entstanden, der durch farbiges Glaswerk, gehalten von einer BleiStruktur ausgefüllt wird. Wer bei Sonnenlicht in einer Kathedrale wandelt, versteht die Magie und den Geist der Gotik, in der das farbige Licht sich an den wenigen Wänden widerspiegelt, lebendige Bilder malt, die sich mit dem Zug der Sonne laufend verändern. Von kühnen Bauherren und Menschen geschaffen, ist es wie ein Stück Himmel auf Erden. Gotische Kathedralen entstanden in ganz Europa, früh auch schon in England, in Canterbury und Lincoln. Sie sind Paläste des Lichts. Canterbury war im 6. Jahrhundert Ausgangspunkt der Christianisierung Englands. Die erzbischöfliche Kathedrale, erbaut mit dem extra importierten silbrig schimmernden Kalksandstein aus Caen (Normandie), spielte eine bedeutende Rolle in der englischen Geschichte. Abgerissen und erneuert wurde der ursprüngliche Bau ab dem Jahr 1096. Es war der erste große gotische Chorneubau Englands, der bis 1178 von dem Franzosen Wilhelm von Sens ausgeführt wurde. Er baute auch schon an © Schattauer 2014 93 tät neben einer besonderen filigranen Struktur, das Kirchenschiff gehört zu den großzügigsten Räumen der englischen Gotik. Dies ist umso eindrucksvoller, wenn keine Kirchenstühle im Langhaus stehen und uns das Licht auf den großen Bodenplatten mit dem Glanz der farbigen Fenster ganz in den Bann zieht. Es ist das Licht, das farbige Licht, das zu den nachhaltigsten Merkmalen der Gotik zählt. Die Reihe wird fortgesetzt. Dr. Peter Diziol, Baden-Baden Abb. 8 Kathedrale von Lincoln, Glasfenster: Engelschor, das Chorfenster war zu seiner Erbauungszeit das größte Europas; Strebewerk, rechtes Seitenschiff der Kathedrale von Sens in Frankreich mit. An dieser Kathedrale in Canterbury wurde während des gesamten Mittelalters gebaut. So zeigen einzelne Teile ganz verschiedene Stilepochen, die typisch für den mittelalterlichen Bauprozess in England waren (▶Abb. 3, ▶Abb. 4, ▶Abb. 5). Spektakulär steht die Kathedrale von Lincoln (▶Abb. 6, ▶Abb. 7, ▶Abb. 8) auf der Spitze eines Hügels und ragt weit aus der Landschaft heraus. Schon die Römer erkannten die Bedeutung des Ortes und er- © Schattauer 2014 richteten ein Fort. Um 1075 wurde mit dem Bau der gotischen Kathedrale begonnen. Fünf sich in die Höhe steigernde steile Nischen gliedern die massiv wirkende Westfassade. Dieser Westbau wurde ein einflussreiches Vorbild in der Entwicklung englischer Kirchenfassaden. Die Kathedrale von Lincoln präsentiert sich als eines der bedeutendsten Werke der englischen Gotik. Beim Betreten der Kathedrale erfasst jeder sofort diese besondere Monumentali- OSTAK Osteologie Akademie GmbH Hellweg 92, 45276 Essen Tel.: 02 01/38 45–627 Fax: 02 01/805–27 17 E-Mail: [email protected] Impressum Verantwortlich für den Inhalt Dr. Barbara Kastner, Geschäftsführung OSTAK Osteologie Akademie GmbH Osteologie 2/2014 OSTAK Fotos: Dr. P. Diziol Literatur beim Verfasser