Todesschatten
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Carina Mader Todesschatten Roman LESEPROBE © 2014 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2014 Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag Coverbild: Carina Mader Printed in Germany AAVAA print+design Taschenbuch: Großdruck: eBook epub: eBook PDF: Sonderdruck: ISBN 978-3-8459-1307-0 ISBN 978-3-8459-1308-7 ISBN 978-3-8459-1309-4 ISBN 978-3-8459-1310-0 Mini-Buch ohne ISBN AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf, bei Berlin www.aavaa-verlag.com eBooks sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken! Alle Personen und Namen innerhalb dieses eBooks sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Kapitel 1 „Der Tod ist nichts“, sagte sie mir. Ich schmettere meinen Schulranzen ins Eck, greife nach meiner Jacke und eile die Treppe hinunter. Dann drücke ich meiner Großmutter einen Kuss auf die Stirn, winke und renne aus dem Haus. In der Garage schnappe ich mir das Rad, ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus, denn ich muss meine Schwester besuchen. Den Weg durch die Stadt kenne ich besser als meine eigene Hosentasche, schließlich fahre ich ihn jeden Tag. Denn meine Zwillingsschwester ist krank. Wirklich krank. Sie hat Krebs, genaugenommen Leukämie. Aber sie spricht wirklich gut auf die Therapie an, manche Ärzte glauben sogar, dass sie wieder gesund werden könnte. Ich lächle bei dem Gedanken an meine Schwester, ich liebe sie, sie ist alles, was ich noch habe. Denn unsere Eltern sind beide bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Damals waren wir zwölf. Heute, drei Jahre später, leben wir bei unserer Großmutter. Ich bin oft traurig und muss jeden Tag Tabletten gegen die Depressionen nehmen. Das hilft mir zwar, die Trauer teilweise zu verdrängen, aber da ist sie trotzdem noch. Nachdem ich am Krankenhaus angekommen bin, schließe ich das Fahrrad ab. Dann nehme ich die Schokolade aus dem Korb, weiße Schokolade mit Smarties, die isst Jo am liebsten. Ich steuere durch die langen, tristen Gänge auf Jos Zimmer zu, auch diesen Weg kenne ich schon auswendig. Bei jedem Schritt schaue ich auf meine Füße, ich will es mir nicht antun, die kahlen, weißen Krankenhauswände anzusehen. Es ist deprimierend. Dann biege ich um die letzte Ecke und hebe den Kopf. Mein Blick fällt auf das kleine Schildchen neben der Tür. Josephine Sannler, Zimmer 894. Meine Schwester ist hier Dauergast. Ich klopfe an und betrete das Zimmer. „Abbey!“, ruft Jo, kaum, dass ich zur Tür herein bin. Ich spüre einen Stich im Herz, als ich meine Schwester sehe. Sie liegt blass in ihrem Bett, aber als sie meinen traurigen Blick sieht, richtet sie sich mühsam auf. „Bleib ruhig liegen“, murmle ich, aber Jo tut so, als würde sie meine Worte gar nicht wahrnehmen. Haare hat sie keine mehr, aber dafür Augenbrauen und dieselben dichten, langen Wimpern wie ich auch. Unter der Bettdecke zeichnet sich ihr schmaler Körper ab, bei uns in der Familie waren sowieso schon alle dünn und klein, aber Jo ist dann doch nochmal eine Stufe magerer. Ich vermisse ihre langen, schwarzen Haare, die meinen so geglichen haben und auch den Glanz in ihren grünen Augen. Ich gehe auf sie zu und umarme sie, dann überreiche ich ihr die Schokolade. „Hast du keine Hausaufgabe?“, fragt sie, denn normalerweise erledige ich diese immer hier, damit Jo nicht allein ist. „Nein“, sage ich und schüttle den Kopf, „Wir haben doch seit heute Sommerferien.“ Jo schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Wie konnte ich das vergessen?“ Ich zucke die Achseln und grinse, sie soll nicht merken, dass mir ihre Vergesslichkeit schon seit längerem auffällt. Dann lasse ich mich auf das leere Bett gegenüber fallen. „Wie war dein Zeugnis?“, fragt Jo. Wieder zucke ich die Achseln. Ich habe nachgelassen, seit dem Tod unserer Eltern und Jos Krankheit. Aber schließlich habe ich die Versetzung in die Zehnte ja geschafft… „Hier“, sagt Jo und bricht ein Stück von der Schokolade für mich ab. Ich nehme ihr nur ungern das Essen, sie besteht doch nur noch aus Haut und Knochen. Aber sie freut sich ja auch, wenn ich die Schokolade esse. Ich bin ihr dafür dankbar, dass sie keinen Kommentar zu meinen Noten abgibt. Dann schwingt die Türe auf und Schwester Gabby tritt ein. Ihre langen blonden Haare hängen wirr aus ihrem Zopf heraus und das bedeutet, dass sie mal wieder einen anstrengenden Tag hinter sich hat. „Abigail!“, ruft sie aus, als sie mich erblickt, „Wie geht es dir?“ „Gut“, antworte ich und setze ein Lächeln auf. „Und dir?“ „Ach, es ist stressig heute“, seufzt Gabby und wischt sich mit dem Handrücken die losen Haare aus der Stirn. „In der Entbindungsstation ist heute ein Frühchen an einer Infektion gestorben. Jetzt sind natürlich sämtliche Ärzte da, um aufzuklären, ob es sich hier auf der Station angesteckt hat, oder es die Infektion schon sein Leben lang herumgetragen hat…“ Ich schaue sie bestürzt an, mir tun die Eltern des Kindes auch so leid. „Wie geht es der Mutter?“, frage ich sanft. „Ach, kannst du dir ja vorstellen. Völlig fertig, der Vater auch. Die Armen, nicht? Schlimm…“ Gabby wendet sich Jo zu, die dem Gespräch mit düsterer Sorgenfalte zugehört hat. „Ich muss dir wieder Blut abzapfen“, meint Gabby entschuldigend und wechselt damit das Thema, aber ich weiß, dass das Jos kleinstes Problem ist. Ich presse die Augen zusammen, während Gabby ihr das Blut abnimmt und öffne sie erst wieder, als die Schwester den Raum verlassen hat. Jo verdreht die Augen, aber ich ignoriere sie. „Was machst du so in den Ferien?“, will Jo wissen. Ich weiche ihrem Blick aus. „Weiß nicht… eigentlich nichts…“ „Abigail!“, ermahnt mich meine Schwester und schaut mich eindringlich an. „Ich wünsche mir von dir, dass du etwas unternimmst! Geh ins Kino oder mit den anderen ins Schwimmbad! Mit Luke oder so, der wartet doch nur drauf!“ „Aber ich kann doch auch dich besuchen…“ Jetzt wird Jos Blick doch weich. „Ja, kannst du ja auch. Am Vormittag für eine Stunde oder so. Aber doch nicht den ganzen Tag! Ich kann mich auch selbst beschäftigen. Ich schreibe mit meinen alten Freunden, skype mit Tante Rose in Berlin, schaue irgendeinen Scheiß im Fernsehen, höre Musik, male etwas… Aber du musst auch mal was machen!“ Wieder muss ich verlegen auf meine Schuhe schauen, denn sie hat eigentlich recht. Aber ich will gar nichts anderes tun. „Ich kann Luke ja mal fragen…“, meine ich vage, dabei denke ich gar nicht daran. Dabei habe ich das mit Luke schon seit über einem Jahr geklärt. Ich kann jetzt unmöglich wieder bei ihm antanzen. Aber meine Worte beruhigen Jo ein bisschen und sie wechselt wieder das Thema. Ich verbringe den ganzen Nachmittag bei ihr, wie immer, aber heute verspreche ich ihr nicht, dass ich morgen da bin. Das würde sie nur aufregen. Ich verabschiede mich von Jo und gehe dann. Draußen auf dem Gang ist jetzt um diese Uhrzeit viel los. Ich schiebe mich zwischen Schwestern, Ärzten, Abendbrotwägen und Besuchern hindurch und bin froh, als ich draußen bin. Obwohl es schon nach sieben ist, ist es noch ziemlich schwül. Kein Windchen weht und ich habe keine Lust, Fahrrad zu fahren. Aber weil mir nichts anderes übrig bleibt, öffne ich schließlich doch das Schloss und mache mich auf den Weg nach Hause. Ich fahre gerade gedankenverloren über eine Kreuzung, als ich plötzlich einen schnellen Radfahrer von links wahrnehme. Ich bremse heftig ab, aber es ist für uns beide zu spät. Er fährt voll in mein Vorderrad und wir kippen um. Ich habe die Augen fest zusammengepresst, aber der Schmerz durchzuckt mich trotzdem. Das Fahrrad ist voll auf mich draufgeknallt und der Radfahrer von links liegt stöhnend eingeklemmt zwischen den Reifen. Er registriert, dass er meinen Fuß platt macht und steht schnell auf. Als er mich so demoliert am Boden sieht, rauft er sich niedergeschlagen die Haare, die dunkelblond in alle Richtungen abstehen. Ich mustere ihn schnell, groß, aber nicht riesig, muskulös, aber nicht protzig, stechend blaue Augen, gerade, schmale Nase, schmale Lippen. Ich schätze ihn auf sechzehn oder siebzehn. Er sieht gut aus, vor allem jetzt, als er mich so entschuldigend anlächelt. Und jetzt erkenne ich ihn auch, er ist aus der Klasse über mir. Mittlerweile haben ein paar andere Autos angehalten, eine Frau ist zu uns herüber gekommen. „Oh Gott, was ist passiert?“, fragt sie hysterisch und hilft dem Jungen schnell, das Fahrrad von meinem Körper zu ziehen. Ich schaue an mir herunter, meine Beine haben viel abbekommen, weil ich nur abgeschnittene kurze Hosen anhabe und auch meine Arme sind ziemlich verkratzt, ich trage nur ein dünnes Top. An beiden Knien habe ich eine Schürfwunde, die aber nicht so schlimm ist. Meine Schienbeine sind blutig und aufgeschürft, an meinem linken Oberschenkel prangt ein hübscher Bluterguss. Auch meine Ellenbogen sind wund und schmerzen. Aber alles sind, Gott sei Dank, nur oberflächliche Wunden. Unsere Familie scheint das Unglück förmlich anzuziehen, stelle ich in Gedanken fest. Der Junge nimmt jetzt meine Hand und zieht mich vorsichtig hoch, er hat nur einen Kratzer je an Ellenboden und Knie abbekommen. Ich bedanke mich und erkläre der Frau vier Mal, dass alles in Ordnung sei, ehe sie wieder zurück zu ihrem Auto geht. „Oh man, tut mir echt leid!“, sagt der Junge zum x-ten Mal. „Schon gut“, winke ich ab, obwohl mein Knie höllisch schmerzt. „Ich bin übrigens Finn“, stellt er sich dann mir vor und kramt in seinem Fahrradkorb nach Pflastern. „Abigail“, antworte ich trocken. Finn holt eine kleine Dose heraus, die vollgestopft ist mit Pflastern. Er öffnet sie und besteht darauf, sich persönlich um mich zu kümmern. „Das Unglück hat es auf mich abgesehen“, erklärt Finn mit einem Blick auf die vielen Pflaster. Ich muss grinsen, denn er passt anscheinend zu mir. „Da bist du wohl nicht der Einzige“, erwidere ich deshalb. „Wieso?“, will Finn wissen und bedeutet mir mit einer Bewegung, dass ich ihm den Arm entgegen strecken soll. Ich zögere kurz, doch dann antworte ich ihm. „Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, vor drei Jahren. Meine Schwester und ich sind zu meiner Oma gezogen, aber ein halbes Jahr nach dem Unfall wurde bei Jo Leukämie diagnostiziert.“ Ich weiß nicht, warum ich das alles erzähle, denn normalerweise erfahren nicht mal meine Freunde davon. Naja, seit dem Unfall habe ich ja auch nicht mehr viele, schließlich habe ich mich völlig zurückgezogen. Ich schüttle verwundert über meine Antwort den Kopf, denn irgendetwas an Finn lässt mich ihm vertrauen, er fasziniert mich auf seltsame Art, aber irgendwie macht mir das auch Angst. „Oh, das, äh, tut mir wirklich leid. Sorry“, meint Finn leise mit gesenktem Blick, bevor er sich wieder verlegen durch die Haare fährt. Ich räuspere mich. „Ist schon gut“, sage ich dann schwach, „Mittlerweile kann ich davon sprechen.“ Es folgt kurzes Schweigen, dann schaut Finn wieder zu mir und lächelt. „Nur noch die Knie“, erklärt er. Ich bringe ein schwaches Lächeln zustande, dann reiche ich Finn noch ein Pflaster. „Tut es arg weh?“, fragt er. „Nein, gar nicht mehr“, lüge ich, weil ich ihm kein schlechtes Gewissen bereiten will. „Sag doch gleich ja. Wo wohnst du?“, fragt Finn. „Hinterm Wald“, antworte ich und weise mit der Hand vage in die Richtung. Finn zieht entschlossen die Augenbrauen hoch. „Du willst jetzt durch den Wald durch!?“, stellt er dann fest. Ich zucke mit den Schultern. „Ich kann nicht drüber fliegen.“ „Kommt gar nicht in Frage. Es wird bald dunkel und ein Mädchen kann nicht verletzt im Dunkeln durch den Wald“, widerspricht Finn. „Und was soll ich machen?“, frage ich, „Ich kann ja schlecht hier übernachten.“ Ein Lächeln huscht über Finns Gesicht, ehe er spricht. „Dann begleite ich dich eben.“ „Fahren kann ich mit dem da…“ Ich nicke in Richtung meines verbeulten Fahrrads. „…Eh nicht mehr. Und zu Fuß bin ich eine halbe Stunde unterwegs. Du würdest dir den ganzen Abend versauen“, halte ich skeptisch dagegen. „Nein!“, wehrt Finn ab, „Vor allem nicht, wenn du auch noch dein Fahrrad schieben musst. Was soll ich eigentlich dafür zahlen? Du hattest Vorfahrt.“ Ich schaue nachdenklich auf das alte Schrottteil. „Nichts“, sage ich dann, „Es war eh nichts mehr wert.“ Finn schüttelt den Kopf, aber ich lasse ihn nicht zu Wort kommen. „Ich wollte es sowieso weggeben. Ich bekomme das von meiner Schwester. Die kann nicht mehr fahren.“ Das ist nicht einmal gelogen. Finn schaut mich stirnrunzelnd an. „Dann habe ich aber ein schlechtes Gewissen.“ „Ach was“, sage ich, „Ich wollte das Teil sowieso loswerden.“ Finn schaut noch immer skeptisch, aber ich wende mich einfach ab und klaube mein Fahrrad auf. Oder das, was noch übrig ist. „Dann ist das Mindeste, was ich für dich tun kann, dich nach Hause zu begleiten.“ Seufzend gebe ich schließlich nach und wir machen uns zu Fuß auf den Weg. Eine Weile lang laufen wir schweigend den Weg entlang, dann räuspert sich Finn irgendwann. „Wenn ich dich das fragen darf…“, fängt er verlegen an, „…Wie geht es deiner Schwester, mit…, du weißt schon…“ Ich schaue überrascht zu Finn hoch, seine Frage kam unerwartet. Aber ich antworte ihm. „Naja, eine Zeit lang war es wirklich schlimm. Nach den ganzen Therapien hat sie halt ihre Haare verloren, das ist für uns beide am Schlimmsten. Aber mittlerweile ist es besser geworden und wir sind alle optimistisch.“ Finn antwortet nichts darauf, aber das ist mir nur recht so. „Und du?“, frage ich nach einer Weile, „Was ist mit deiner Familie?“ „Mein Vater starb bei einem Brand. Ich habe keine Geschwister, meine Mutter und ich lagen nach dem Feuer eine Weile im Krankenhaus, sind aber beide gesund…“ Irgendetwas an seinem Ton lässt mich aufhorchen, irgendwas ist da… „Tut mir echt leid für dich“, flüstere ich, aber in Gedanken versuche ich immer noch, her- auszufinden, was mich an seinem Ton gestört hat. „Was machst du morgen Abend so?“, fragt Finn dann plötzlich. „Ich, äh, nichts“, antworte ich, überrascht über den Themenwechsel. „Darf ich dich auf ein Eis einladen? Am Abend steigt bei einem Kumpel von mir ne Party, wir können da danach hingehen… Wenn du willst, meine ich ja nur.“ „Ich weiß nicht…“, sage ich vorsichtig, aber dann denke ich an Jos Worte. Und was sie sich wünscht. „Also ja. Ich kann. Party… Ich weiß noch nicht, aber Eis essen klingt gut.“ „Cool!“, meint Finn, „Wir sehen uns also morgen! Passt vier Uhr bei dir?“ „Ich denke schon. Außer, meine Schwester…“ „Ach so. Warte, ich geb dir meine Nummer, dann kannst du mich anrufen…“ Wir tauschen unsere Handys und ich speichere mich schnell unter Abbey ein. Dann stecke ich mein Handy wieder ein. „Abbey“, sagt Finn leise, als er meinen Namen liest. Ich presse kurz die Lippen aufeinander, dann nicke ich. „So nennt mich meine Schwester.“ „Und deine Freunde?“ Ich schweige, weil ich nicht weiß, was ich darauf antworten soll. „Verstehe“, flüstert Finn. Dann herrscht Schweigen, aber ich überlege krampfhaft, was ich dagegen sagen soll. Ich habe plötzlich das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. „Es ist nicht so, dass ich keine Freunde habe, Finn. Ich hatte sogar mal ganz viele. Aber erst der Unfall, dann die Krankheit… Ich hab mich halt voll zurückgezogen.“ Ich warte darauf, dass eine Antwort kommt, aber Finn sagt nichts. „Ich verstehe dich“, sagt er schließlich. Aber ich erwidere auch nichts. Als wir bei mir zu Hause sind bedanke ich mich, dass er mich begleitet hat, zum Abschied umarmt Finn mich. Dabei schließe ich kurz die Augen, aber ich weiß, dass das lächerlich ist. Ich muss mich doch um Jo küm- mern. Trotzdem spüre ich in diesem Moment, dass Finn etwas Besonderes ist. Und auch, als ich ins Bett gehe, denke ich noch an ihn. Am nächsten Mittag mache ich mich gleich nach dem Essen auf den Weg zu Jo. Wieder habe ich Schokolade für sie dabei, dieses Mal Nougat mit Keksfüllung. Auch die gehört zu ihren Lieblingssorten. Im Krankenhaus ist die Luft erleichternd kühl und ich trete schnell ein, die Hitze bringt mich um. Ich nehme den üblichen Weg nach oben zu Jos Zimmer, aber oben ist plötzlich viel los: Ärzte rufen sich komplizierte Worte zu und Schwestern rennen besorgt von Zimmer zu Zimmer. Ich realisiere geschockt, dass etwas mit Jo passiert sein muss und stürze die letzten Treppenstufen hoch. Ich renne schon auf ihre Türe zu, als mir ein Mann den Weg versperrt und mich zurückschickt. Mittlerweile bin ich total panisch geworden und die Tränen in meinen Augen drohen, mir übers Gesicht zu laufen. Was ist mit meiner Jo passiert? Wieso lassen sie mich nicht zu ihr? Ich stolpere benommen zurück und knalle mit dem Rücken gegen die Wand. Aber sie gibt mir Halt, denn mittlerweile ist mir so schwindelig, dass ich Angst habe, umzukippen. Ich schließe die Augen, wische mir die Tränen aus dem Gesicht, durch sie sehe ich alles wie durch einen Schleier. Mein Herz klopft viel zu schnell und ich muss mich ziemlich beherrschen, damit ich nicht anfange, hysterisch loszuheulen. Am liebsten würde ich einfach zur Tür rennen, den Mann wegstoßen und zu meiner geliebten Schwester gelangen. Aber ich weiß, dass das nicht das Beste für sie wäre und das ist das Einzige, was mich noch zurückhalten kann. Ich gehe immer wieder auf die Ärzte zu, versuche sie anzuhalten, etwas aus ihnen herauszuquetschen, aber sie ignorieren mich. Stoßen mich beiseite, ich gehe im Weg um. Aber ich will einfach nur zu meiner Jo! Kann mir hier niemand helfen? Völlig entnervt raufe ich mir die Haare und gehe mit hinterm Kopf verschränkten Armen ein paar Schritte. Doch als ich mich wieder umdrehe, sehe ich ihn. Unweigerlich geht er auf das Zimmer meiner Schwester zu. Mit einem mitleidigen Blick schaut er auf die Tür. Dann tritt er ein. Und die Welt um mich versinkt zu einem einzigen Durcheinander. Kapitel 2 Der Tod ist nichts. Ich bin nur in das Zimmer nebenan gegangen. I ch stehe da, wie erstarrt, kann mich nicht rühren, kann mich nicht mehr bewegen. Ich kann nichts mehr tun. Ich spüre, wie mir die Knie einknicken und ich dumpf auf dem Boden aufschlage. Die Schokolade landet mit einem Knacken neben mir, es ist unschwer zu erkennen, dass sie jetzt zerbröselt ist. Mir ist schwindelig und ich kann noch immer nichts sehen, die Tränen versperren mir die Sicht. Und dann, mit einem Mal springe ich auf. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Aber ich renne einfach los. Lasse das Fahrrad stehen und renne einfach. Achte nicht auf die Autos und die anderen Passanten, die mir in den Weg kommen. Ignoriere lautes Hupen und wilde Beschimpfungen. Renne einfach nur. Erst, als ich zu Hause bin, registriere ich meine Umgebung wieder. Ich bin total verschwitzt, bin den ganzen Weg nach Hause durchgerannt. Aber es hat mir gutgetan. Über den alten Apfelbaum klettere ich durch das Fenster in mein Zimmer. Ich will niemandem über den Weg laufen. Und dann lasse ich mich aufs Bett fallen und weine mich in den Schlaf. Alles habe ich in meinem Traum wieder durchlebt. Jede Einzelheit. Jedes Detail. Jedes meiner Gefühle habe ich nochmal erlebt. Wie wir fröhlich lachend über die Landstraße gefahren sind. Meine Eltern vorne drin, ich auf dem Rücksitz. Wir haben gelacht, Witze gerissen. Es war später Abend, es war schon dunkel. Und dann hat Dad das Reh geblendet. Es ist erschrocken auf die Straße gesprungen. Wir sind alle aufgeschreckt, total entsetzt hat Dad den Lenker herumgerissen. Ich erinnere mich ganz genau an Moms erschrockenen Ausruf. Als der Traktor am Straßenrand immer näher auf uns zukam. Der Aufprall, der Schmerzensschrei meiner Eltern, während sie zwischen Auto und Traktor immer enger eingequetscht wurden. Bis sie tot waren. Ich presse feste die Augen zusammen. Ich kann nicht mehr. Ich muss meine Gedanken unterdrücken. Es ist zu viel für mich, all die Trauer, alles kommt wieder frisch hoch. Ich schnappe mir mein Kopfkissen und vergrabe den Kopf darunter. Ich will und kann nichts mehr sehen, hören und vor allem nichts mehr fühlen von dieser Welt. Aber es geht noch nicht. Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende und ich muss sie beenden, damit ich mich beruhigen kann. Meine Gedanken schweifen zurück zu der Zeit, als ich im Krankenhaus lag. Im Koma, stand kurz vor dem Tod. Und seit dieser Nahtoderfahrung kann ich etwas, das nicht normal ist. Ich kann den Tod sehen. Als Schatten, immer verschwommen, aber ich kann ihn sehen. Und wenn er da ist… Ich muss die Augen aufeinander pressen und nach Luft schnappen. Jetzt ist Schluss. Ich kann nicht mehr. Aus. Ich presse das Kissen fester auf meinen Kopf, damit ich nichts mehr mitbekomme. Allein schon die Erinnerung an den Schatten, der den Tod bedeutet, wird mir schlecht und schwindelig. Und noch dazu die Erinnerung an meine Eltern, die Nacht, in der der tödliche Unfall stattfand… Das alles ist zu viel für mich. Vom Vibrieren meines Handys wache ich auf. Im Spiegel an der Wand kann ich mich sehen, meine langen schwarzen Haare zerzaust, die Augen verheult und zugeschwollen. Ich taste vorsichtig nach meinem Handy, weil ich befürchte, jeden Augenblick wieder umzukippen. Aber schließlich spüre ich seine kalte Hülle zwischen meinen Fingern und ziehe es zu mir herüber. … Ein Großteil der im AAVAA Verlag erschienenen Bücher sind in den Formaten Taschenbuch, Großdruck und Mini-Buch sowie als eBook in den gängigen Formaten erhältlich. Bestellen Sie bequem und deutschlandweit versandkostenfrei über unsere Website: www.aavaa.de Wir freuen uns auf Ihren Besuch und informieren Sie gern über unser ständig wachsendes Sortiment. Einige unserer Bücher wurden vertont. Die Hörbücher finden Sie unter www.talkingbooks.de www.aavaa-verlag.com