Lukas Vöros: Jesuitenreduktion in Paraguay

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Lukas Vöros: Jesuitenreduktion in Paraguay
Das Experiment des Jesuitenstaats
in Paraguay
Seminararbeit im Rahmen der VO-L
„Philosophie in Lateinamerika (Argentinien,Chile, Paraguay)
- Identität, Vergleich, Wechselwirkung zwischen
lateinamerikanischem und europäische Denken.“
bei
Prof. Dr. habil. Heinz Krumpel
Von
Mag. Lukas Vörös
Jänner 2012
1
Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung .................................................................................................................3
2.
Der Jesuitenorden und seine Weltmission ................................................................3
3.
Der Jesuitenstaat in Südamerika ...............................................................................4
3.1.
Die Reduktionen ...................................................................................................5
3.2.
Organisation und Verwaltung ...............................................................................6
3.3.
Arbeitsleben und Wirtschaft .................................................................................7
3.4.
Encomienda und Mita...........................................................................................8
3.5.
Erziehung und Unterricht......................................................................................9
3.6.
Stellung der Frau ................................................................................................10
4.
Widerstand und Vertreibung der Jesuiten ..............................................................11
5.
Bedeutung, Schwächen und Vorzüge – Versuch einer gerechten Beurteilung.........13
6.
Literatur .................................................................................................................17
2
1. Einleitung
Auf dem Gebiet des heutigen Paraguay, aber auch auf Teilen der angrenzenden Länder
Argentinien, Uruguay, Brasilien und Bolivien, existierte zwischen den Jahren 1609 und
1767, also fast 160 Jahre lang, der sogenannte Jesuitenstaat. Es handelte sich allerdings
nicht um einen Staat im strengeren Sinn – dazu fehlten sowohl Staatsgebiet wie
Staatshoheit – sondern vielmehr um Gruppen von indianischen Siedlungen, die allein
durch ihre gleichgerichteten Interessen und durch die Organisation des Jesuitenordens
zusammengehörten. Der Jesuitenstaat stellt ein einzigartiges soziales wie kulturelles
Experiment dar, verband es doch einerseits das zwei völlig verschiedene Kulturen – das
christliche Europa und die soziale und kulturelle Welt der Indios und setzte andererseits
eine bis lang nur in der Theorie angedachte Lebens- und Gesellschaftsform in die Praxis
um. 1 Im Folgenden gehe ich daher auf den Orden und seine nähere Mission ein um
mich dann mit ihrem Wirken in Südamerika näher zu befassen.
2. Der Jesuitenorden und seine Weltmission
Die Gesellschaft Jesu, die 1534 als Bund von sieben Freunden2 begann, nahm einen
raschen Aufstieg. So gelang es ihr, sehr bald eine neue Missionsbewegung einzuleiten
und ihre Mitglieder an verschiedenen Orten der Welt einzusetzen.
„Sie traten selbstbewusst auf, beschritten mit erstaunlicher Dynamik neue Wege,
verstanden es, sich den verschiedensten Situationen anzupassen und die geeigneten
Mittel zu gebrauchen“.3
Die Jesuiten waren als ausgesprochener Missionsorden gegründet worden. Beim Tode
des Ordensstifters 1556 wirkten bereits an die tausend Jesuiten in fast allen katholischen
Ländern Europas sowie in allen portugiesischen Kolonien: seit 1542 in Indien, seit 1547
im Kongogebiet und seit 1549 in Japan und Brasilien.4 Noch im 16. Jahrhundert
begannen die Jesuiten mit der Mission der Islamisierung in Afrika. Sie bildeten
Stützpunkte in Ostindien und erschlossen von hier aus China mit Missionsstationen in
Kanto, Nanking und Peking. Besonders erfolgreich waren Sie auf den Philippinen, wo sie
bis heute noch tätig sind, etwa in der Betreuung von Straßenkindern. Während sie also
im Osten sehr erfolgreich waren, wurden sie im Westen erst nach den Dominikanern,
den Franziskanern und anderen Orden tätig. Ab 1566 wirkten sie in Florida, 1568 in Peru,
1572 in Mexiko und 1585 in Paraguay. Beim Tode des Ordensgenerals Aquaviva 1615
1
Vgl. Wokart, S. 105
Anm: Gründung auf dem Montmarte in Paris auf Initiative von Ignatius von Loyola („Gottes General“)
3
Zitat aus „Wir Jesuiten“ http://www.jesuiten.org/fileadmin/Redaktion/Downloads/Bis_1773_mB.pdf, S.1
4
Vgl. Otruba, S. 80
2
3
bestand der Jesuitenorden aus 32 Provinzen mit 13.112 Mitgliedern und 559
Ordenshäusern, in denen 180.000 Guaraní lebten.5
Die von Papst Paul III anerkannte „Gesellschaft Jesu“ stellte einen völlig neuen
Ordenstyp dar. Der zentrale, militärisch straffe Aufbau des international tätigen
„Ordenskonzerns“. Das zusätzliche vierte Gelübde, speziell dem Papst zu dienen, die
besonders strenge, von Gegnern als „Kadavergehorsam“ verurteilte Verpflichtung, die
örtliche Ungebundenheit sowie der Verzicht auf ein Ordensgewand und gemeinsames
Chorgebet sorgten dafür, „dass dieser Orden zu einer flexiblen, effizienten und
vielseitigen Stoßtruppe der katholischen Kirche und ihres Oberhauptes wurde.“6 Die
strenge Auswahl der Novizen und die umfangreiche und lange Ausbildung brachte eine
katholische Elite hervor – auf religiösem und kulturellem Gebiet (Kirchenlied, Dichtung,
barocker Kirchenbau, Bildungswesen, Wissenschaft)
sowie im Kultur- und
Wissenschaftstransfer zwischen den Kontinenten und Kulturen.
3. Der Jesuitenstaat in Südamerika
Nach der Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus 1492 unterwarfen die Spanier
und Portugiesen Lateinamerika. Mit der Eroberung erfolgte zugleich auch die
Missionierung der neu gewonnen Gebiete. Die spanische Kolonialpolitik ist nach
Hartmann
„ein treffendes Beispiel für das in der Geschichte immer wiederkehrende allgemeine
Phänomen, nämlich, daß Ideal, wohlmeinende Gesetze, humanitäre Erklärungen auf der
einen Seite und die wenig erfreuliche Wirklichkeit auf der anderen Seite
auseinanderklaffen.“ 7
Papst Paul III. war ein entschiedener Gegner der von den Kolonialisten vertretenen
These, dass Indianer, die oftmals noch nackt umherliefen und zum Teil noch Nomaden
waren, als minderwertige Rasse, gleichsam als Wesen zwischen Mensch und Tier sahen.
80% der Einwohner galten noch als Kannibalen: „Ihre einzige Hausarbeit bestand darin,
ihre Frauen zu mästen und, wenn sie fett genug waren, zu schlachten.“8 Die weißen
Siedler gingen deshalb mit den Eingeborenen nicht sehr zimperlich um: „Sie zählten nicht
selten beim Auspeitschen ihrer Sklaven die Schläge am Rosenkranz ab.“9 Die Jesuiten
konnten oder wollten die Sklaverei nicht abschaffen, denn sie protestierten nicht einmal
dagegen – ausgenommen bei der Vielweiberei 10, hielten sie doch selbst Leibeigene auf
5
Vgl. Otruba, S. 81 und Barthel, S. 253
Hartmann. Die Jesuiten, S. 7
7
Hartmann. Der Jesuitenstaat, S. 12
8
Hans Staden (1557), zit. in: Barthel, S. 249
9
Barthel, S. 249
10
Anm: siehe Kapitel „Stellung der Frau“
6
4
den Plantagen, denen sie – wie es alle Siedler taten – ein Brandmal aufdrückten.11
Sklavenhaltung war in dieser Zeit selbstverständlich. Die Kirche sollte erst viel später
dagegen ihre Position beziehen.
Der Papst erklärte aber in dem Beve „Veritas Ipsa“ 1537 ausdrücklich: die Indianer seien
vollwertige Menschen, zum Heil berufen und hätten auch als Haiden das Recht auf
Freiheit.12
Die Wirklichkeit sollte hingegen anders aussehen. Obwohl das von Spanien für ihre
Kolonialpolitik entwickelte „Encomienda“-System 13 mit dem „servio personal“ der Indios
deren Schutz und persönliche Förderung gewährleisten sollte, entwickelte es sich zu
einem System der Leibeigenschaft. Die Encomenderos – als Lehrer und Schutzherren ins
Land gekommen – wurden zu Ausbeutern der Indianer. Die Ureinwohner lehnten sich
immer wieder auf und die noch nicht unterworfenen Indios versteckten sich vor den
Jesuiten und verwickelten die Siedler immer wieder in Kämpfe.
Eine Änderung dieser Situation war erst erfolgreich, als die Jesuiten begannen, die Indios
nach Vorbildern in Peru in feste Dörfer anzusiedeln, in sogenannte „Reduktionen“. Der
Erfolg dieser Maßnahme war aber vornehmlich darin begründet, dass diese Reduktionen
unmittelbar dem König unterstellt waren und damit dem Kommendensystem mit seiner
Leibeigenschaft entzogen werden konnte.14
Übrigens: Sao Paolo, die heutige Zehn-Millionen-Stadt, geht auf die Gründung der ersten
sechs Jesuiten-Patres zurück, die als Missionare in dieses Gebiet gekommen waren.15
3.1.
Die Reduktionen
Pater Antonius Sepp von Reinegg, ein Südtiroler Jesuitenpater und verlässlicher
zeitgenössischer Chronist berichtet:
„Auff ein Dorff kommen … sechs, sieben, acht und noch mehr tausend Seelen. … Das
Dorff hat bey der Kirchen einen überaus grossen, schönen Renn-Platzt, im Quadro 4
hundert Schuh breit und soviel lang. Die werden ausgetheilt in breite Gassen, wie in den
Städten Europae, doch mit diesem großmächtigem Unterscheid: sie seynd sehe nieder/
und wohnen die Indianer gleich ohne Oestrich oder höltzern Boden auf blossen Erden. Die
Gmäuer seynd nicht aus Steinen, sondern aus wohlauffeinander gestampffter Erden
11
Vgl. Barthel, S. 250
Ebd.
13
Anm.: Das Wort bedeutet unter anderem „Schutz“
14
Vgl. Hartmann. Jesuitenstaat, S. 12
15
Vgl. Barthel, S. 249
12
5
gebauet. Das Dach ist mit Stroh bedeckt, etliche wenige ausgenommen, so wir mit
gebrennten Ziegeln nunmehr anfangen zu decken.“16
Auch der Aufgabenbereich der Patres mutet heute als unvorstellbar an:
„Der Seelsorger muß sein der Koch, Dispensator, Procurator, oder Einkaufer, Ausgeher,
Krancken-Warter, Leib-Artzt, Baumeister, Gärtner, Weber, Schmid, Mahler, Müller, Beck,
Corregent, Schreiner, Haffner, Ziegel-Brenner, und was noch mehr Aempter seyn mögen
in einer wohlgeordneten Republic, gemeinen Nutzen, Stadt, Marckfleck, Dorff, oder
Collegio Societitas, Closer oder Convents Heiligen Ordens.“17
Im 18. Jahrhundert waren diese Siedlungen mittlerweile zu barocken Landstädten
ausgebaut – mit oft zweigeschossigen gleich großen Steinhäusern, Arkaden, einem
Kollegiengebäude mit Schule, einem Witwenhaus mit Hospital, Vorratshäusern,
Scheunen und Speichern für Gemeinschaftseigentum, einem Friedhof und vor allem:
einer prächtigen Kirche in der Mitte der Siedlung.18 All dies erinnerte nicht zufällig an das
Bauschema eines römischen Militärlagers. Bis zu 4.000 Tausend Indios lebten in solch
einem Pueblo.19
„Dieser mechanischen Regelmäßigkeit entsprachen die Gleichförmigkeit des Lebens und
die Gleichartigkeit der Bewohner, denn ein wichtiges Ziel der Jesuiten war es, den
Egoismus aus den Menschen auszutreiben, was ihnen, unterstützt durch eine
eigentümliche Sanftmut gerade der Guarani-Indios, immerhin so weit gelang, daß die
Spanier bei der Übernahme der Reduktionen von der Einförmigkeit der Städte und der
Menschen betroffen waren, wie zeitgenössische Quellen berichten.“20
3.2.
Organisation und Verwaltung
Geleitet wurde eine Reduktion gewöhnlich von zwei Jesuiten, die faktisch alle wichtigen
Entscheidungen trafen.21 Die Indios verfügten auf dem Papier über eine eigene
Selbstverwaltung, an deren Spitze eine Magistrat stand, der sich aus den
Stammesführern, den sogenannten Kaziken bildete.22 Nur diese besaßen Vorrechte. Sie
waren vom Tribut befreit, hatte Ehrenplätze in der Kirche und hoben sich auch in ihrer
Kleidung von ihren Landsleuten ab. Ihren Erfolg bei der Missionierung hatten die
16
Otruba, S. 117.
P. Sepp, zit. in: Hartmann. Jesuitenstaat, S. 75
18
Vgl. Hartmann. Jesuitenstaat, S. 16
19
Vgl. Barthel, S. 253
20
Vgl. Wokart, S. 110
21
Vgl. Barthel, S. 253
22
Vgl. Wokart, S. 109
17
6
Jesuiten – wie schon eingangs erwähnt – ihrer Flexibilität und Anpassung an die
Weltsicht und Lebensgewohnheiten der Indios zu verdanken. Dafür entscheidend war
auch, dass sie die Sprache der Indios lernten und den Schulunterricht in deren
Muttersprache vermittelten. Noch heute wird in Paraguay Guarani gesprochen, während
anderswo indianische Sprachen faktisch ausgestorben sind.
3.3.
Arbeitsleben und Wirtschaft
Das Alltags- und Arbeitsleben war natürlich auch durch die religiöse Bestimmung der
Reduktionen geprägt: der Tag war gegliedert in Gottesdienste, deren Besuch Pflicht war.
Dadurch ergib sich eine Arbeitszeit von acht Stunden, was für die damalige Zeit wenig
war. Die wirtschaftliche Organisation erinnerte an sozialistische oder kommunistische
Ideen. Geld war ebenso unbekannt wie privates Eigentum, auch nicht an Grund und
Boden. Es wurde nur ein persönlicher Hausrat geduldet. Das so geplante
Wirtschaftssystem bestand aber vorerst nicht in der Praxis, kannten doch die Indios
keine Vorratshaltung. So aßen sie in Unkenntnis selbst das Saatgut auf oder schlachteten
Zugochsen. Daher behandelte man sie bald wie unmündige Kinder, denen man
wöchentlich ihren Bedarf zuteilte.
„Allhier schweige ich, dass wir sogar in den Zeitlichen für sie sorgen müssen. Jedweder
Familie täglich so viel Fleisch, Brod, Mehl wird vorgestreckt, welches, wann man es denen
Indianer in ihren Händen ließe, fräßen sie alles miteinander auf einen Tag sauber auf.23
Hier scheiterten die Jesuiten mit ihrem Anspruch, die ihnen Anvertrauten zu mündigen
Menschen zu erziehen. Die Indios kannten keine geregelte Arbeitszeit, was sie bei ihrer
Lebensweise auch nicht nötig hatten, aber das alleine war nicht der Grund. Die Jesuiten
hatten mit der Gemeinschaftssorge für den Lebensunterhalt ihrer Anvertrauten den
wichtigsten Anreiz zur Arbeit uns Sorgsamkeit verhindert und nur unzureichend durch
Erziehung zu Gehorsam ersetzt. Diese Form von Privatwirtschaft entsprach offensichtlich
weder der Tradition noch der Mentalität der Indios, so war es wenig verwunderlich, dass
sie trotz ehrlichen Bemühens durch die Jesuiten kaum Ehrgeiz oder einen besonderen
Fleiß an den Tag legten. Sie mussten daher von den Patres „angetrieben“ werden, ihre
Privatäcker überhaupt zu bebauen. Pater Sepp klagt etwa, dass er die Arbeit nur
erreichen könne, wenn er
„mit Streichen und immerwährenden Visitiren auff den faulen Ackersmann trucket.“24
Und er bedauert weiter:
23
24
Pater Sepp, zitiert in Otruba, S. 27
Hartmann. Der Jesuitenstaat, S. 25
7
(sonst würden) „sie auch in 2 Monat nit umgebaut haben, machen kaum alle Tag ein
Furch, liegen den gantzen Tag in ihren an 2 Bäum ausgespannten Fischer-Netz, und
machen immerwährenden blauen Montag.“25
Damit der Maisanbau überhaupt gesichert war, musste auch dies überwacht werden –
von der Zuteilung des Saatguts bis zur Bereitstellung von Ochsen zum Pflügen der Felder.
Wenn alle damit fertig waren
„so ward ihnen ein Tag bestimmt, an welchem alle nach dem Hause des Patres kommen,
wo jedweder ein gewisses Maaß Mais zur Aussaat gegeben wird.“26
Schon durch ihre isolierten Lagen mussten die Reduktionen wirtschaftlich vielseitig
autark sein. Neben der Erzeugung und Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte
erwiesen sich die Indios als geschickte Handwerker und Künstler.27 Der Jesuitenstaat –
mitten in der Wildnis – war damit das einzige Industrieland Südamerikas. Eigene
Handelsagenturen verkauften die Produkte und sicherten somit den Reichtum der
Reduktionen. Der Handel wurde zentral organisiert und der Gewinn auf die Reduktionen
verteilt. Das sicherte ein gleichmäßiges einheitliches Gefüge von gesellschaftlichen
Klassen und verhinderte wirtschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse.28
3.4.
Encomienda und Mita
Die spanische Krone konnte allerdings die Eingeborenen nicht militärisch unterwerfen,
so setzte sie auf die „conquista espiritual“, also auf die geistige Eroberung durch die
Verkündigung des Evangeliums: Teile der Ländereien wurden an verdiente Personen
übergeben, die dafür Abgaben der Arbeitsleistungen der Indios an die Kronen zu leisten
hatten – als Gegenleistung für ihren Schutz und ihre christliche Erziehung. Die
„Encomienda“
wurde auch durch die „Mita“ erweitert, eine weitere
Arbeitsverpflichtung im öffentlichen Interesse, etwa beim Straßen- oder Brückenbau.
Encomienda und Mita wurden häufig missbraucht bis zur Leibeigenschaft, wenn nicht
sogar bei zur Sklaverei.29 Daran änderten auch einige Edikte der spanischen Krone und
ein Breve von Papst Paul III. nichts.30 Dem Gesetz nach waren die Indios so frei wie
Spanier, aber aus Furcht vor Aufständen war ihnen das Tragen von Waffen und das
Reiten von Pferden verboten. Da sie aber sie aber wegen ihrer „kindlichen
Unwissenheit“31 als Personen mit eingeschränkter Rechtsfähigkeit galten, hatten sie
25
Hartmann. Der Jesuitenstaat, S. 25
Hartmann. Der Jesuitenstaat, S. 24
27
Vgl. Wokart, S. 113
28
Vgl. Wokart, S. 113
29
Vgl. Wokart, S. 107
30
Vgl. Wokart, S. 107
31
Otruba, S. 96
26
8
außer dem Tribut an die Krone keine weitere Steuer zu entrichten. Auch hatte die
Inquisition für sie keine Geltung. In der Praxis aber galten die Indios weiterhin als
„inferiore Rasse“, die selbstverständlich zum Dienen bestimmt war.
3.5.
Erziehung und Unterricht
Neben der Vermittlung religiösen Wissens und er Frömmigkeit galt das Augenmerk der
Jesuiten in der Lehre der Grundkompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen sowie der
Gewöhnung an regelmäßiges Arbeiten und das Erlernen von Handwerksberufen,
Künsten und Anbaumethoden.32Die Schulen besuchten nur Knaben, und da auch nur die
intelligenteren. Alle anderen wurden sehr bald zur Arbeit gezwungen. Sie gingen unter
Anleitung ihrer Aufseher und Aufseherinnen aufs Feld zur Gemeinschaftsarbeit. Neben
dieser schulischen Bildung gab es unentwegt Bemühungen um die Erziehung – auch der
erwachsenen – Indios. Diese wurden fortwährend belehrt, überwacht, ermahnt, belohnt
und bestraft, wenngleich auch nur sehr milde. Sogar von Druckereien wird berichtet, in
denen unter anderem auch Wörterbücher und Grammatiken der Indianersprachen
publiziert wurden.33
Die Patres verstanden sich als liebende Väter:
„Sonst seynd diese überaus fromme Christen, seynd uns nicht anderst als ein Kind seinen
Vatter, werden von uns gekleidet, unterwiesen und erzogen, seynd sehr gelernig, was sie
immer sehen, machen sie nach.“34
„zu Morgens, eine Stund vor Abrechnung des Tags, wecket mich mein Indianer Büblein
mit Namen Franciscus Xaverius, sein Gesell heißet Ignatius auf. Er aber wird von dem
Sacristan und dieser vom krähenden Kucker-Hahn aufgeweckt: zündet mir in meinem
Zimmerlein die Inschlicht-Kertzen an, dann Ampel haben wir hie keine aus Mangel des
Oels – vor dem Venerabile in der Kirchen brennet eine Ampe aus Schmaltz. Nachdem ich
mich bekleidet und gewaschen, geh ich in die Kirchen, grüße das Hochwürdige Gut, fange
davor meine stundige Meditationen an kniend. Nacher dieser beichte ich, wann unser
zwey Patres. Alsdann läutetman mit der großen Glocken das Ave Maria und so die Sonne
auffgegangen zur Heiligen Meß. Nach dieser bete ich meinen Receß eine Viertelstund,
alsdann gehe ich in den Beichtstuhl, so täglich geschicht. Darauff folget die Christliche
Lehr zu den kleinen Kindern, Mägdlein und Büblein, so noch nicht verheyrat, täglich 35
32
Vgl. Hartmann. Jesuitenstaat, S. 42
Vgl. Wokart. S. 110
34
Pater Sepp, zit. in: Otruba, S. 27
35
Otruba, S. 40
33
9
Sozialwesen und tägliches Leben
In allen mir zur Verfügung stehenden Quellen wird immer eine weitgehende Gleichheit
der Indios in den Reduktion hervorgehoben, sieht man von davon ab, dass die
Stammesältesten bei der gleichmäßigen Verteilung des Bodens an ihre Leute sowie bei
den Verwaltungspostionen der Reduktionen Privilegien genossen, wie ich schon
eingangs erwähnt habe. Aber es historisch belegt, dass jede Indio-Familie das gleich
Ackerland und das gleich Haus mit einheitlicher Ausstattung und denselben Werkzeugen
erhielt. Alles zum Leben Benötigte – vom Saatgut an bis zu Fleisch. In der Gemeinschaft
angefertigte Kleidung wurde ebenso gerecht verteilt, wobei Männer wie Frauen und
Kinder einheitlich eingekleidet wurden. Besonderer Schmuck war unerwünscht.
Anlehnungen etwa an die Kleiderordnungen der damaligen deutschen Städte waren
nicht zufällig.36 Ausnahmen bestätigten allerdings die Regel.
In den Jesuitenreduktionen gab es zum Unterschied zu Europa keine Bettler und
praktisch keine Armen. Vielmehr war die Versorgung aller Kranken, Schwachen und
Bedürftigen, also alte Menschen, Witwen und Waisen durch die Gemeinschaft gesichert.
In eigenen großen Gebäuden untergebracht, leistetet sie – soweit es ihnen möglich war
– auch ihren Beitrag zum Gemeinwohl oder fanden Aufnahme im Hospital. Dort waren
eigens ausgebildete Krankenpfleger tätig. Die Patres selbst nahmen sich ebenfalls sehr
der Betreuten an:
„Für die Kranken wird täglich in dem Hause und der Küche und der Jesuiten Väter das
Essen zubereitet. Die Krankenwärter der Mission müssen alle Morgen dem Koch
anzeigen, wie viel Kranke im Flecken sind, und für sie insgesammte, es mögen zufällige
oder chronische seyn, wird das Essen veranstaltet, so dass jedweder eine gute Schüssel
Fleisch und ein gutes Stück Waizen-Brod bekommt. Der Krankenwärter, welcher die
Wache hat, bringt es jedem zu, wobey er einige Knaben brauchet, welche ihm tragen
helfen.“ 37
3.6.
Stellung der Frau
Vor der Christianisierung hatten die Kaziken der Guaraní bis zu 30 Frauen. Sie sahen
diese als Sklavinnen an und konnten sie daher jederzeit verstoßen. Manche ließen ihre
Frauen sogar zurück, wenn sie weiterzogen.38 Das wichtigste Anliegen der Jesuiten war
es nun, die christliche Einehe durchzusetzen. Nun stellte sich aber das Problem, die
Nebenfrauen unterzubringen. Die Patres betätigten sich gleichsam als Heiratsvermittler,
36
Vgl. Hartmann. Der Jesuitenstaat, S. 36
Aus: „Schreiben des Jesuiten Juan des Escagon an seinen Ordensbruder im Collegio Imperial zu Madrid,
den P. Andreas Marcus Burriell, worinnen er ihm von der Verfassung und Regierung der Missionen des
Ordens in Paraguay Nachricht gibt. Madrid, den 18. Julius 1760“ (Druck). In: Otruba, S. 152
38
Vgl. Caraman, S. 34
37
10
die sogar Stammesfürsten Frauen abkauften, um sie an andere Männer zu verheiraten.
So konnten die Kaziken ihre Position innerhalb ihres Stammes sichern ohne ihr Gesicht
zu verlieren.39 Alte unverheiratete Frauen kamen im Witwenhaus unter. Zweifellos
stärke diese Maßnahme im Laufe der Zeit erheblich die gesellschaftliche Position der
Frau. Im Gegensatz zu den spanischen Grundbesitzern, die ihre leibeigenen Indianer
ohne deren Zustimmung verheirateten, bestanden die Jesuiten auf die freie Wahl des
Lebenspartners. Pater Sepp überraschte, dass
„wann die Indianer eine Heyrath eingehen wollen, durchaus nicht der Indianer die
Indianerin, sondern das Weib den Mann zu heiligen Ehe (aussuchte).“40
Glaubt man Pater Sepp, so wurden bereits Mädchen mit 14 oder 15 und Jungen mit 16
Jahren verheiratet, um ja keinen vorehelichen Sexualverkehr zu begünstigen. Als Vorteil
gestaltete sich der Umstand, dass kein Heiratsgut nötig war, wurden doch Haus, Grund,
Ausstattung wie auch das Hochzeitsessen von der Gemeinschaft der Reduktion
gestellt.41 Die Eheschließung gestaltete sich als alltägliche Angelegenheit. Ein Mädchen
suchte sich einen Mann aus, ging zum Pater, der fragte den Burschen und schon war die
Ehe genehmigt. Manchmal wurden gleich bis zu 90 Paare gleichzeitig an einem Samstag
in der Kirche getraut. 42
4. Widerstand und Vertreibung der Jesuiten
Ein Gerücht sollte unter Anderem das Scheitern der Mission der Jesuiten einleiten: erst
hinter vorgehaltener Hand, dann offiziell verbreitet wurde die Nachricht, dass die
Jesuiten in ihren Reduktionen unermessliche geheime Schätze gehortet hätten.43 Und so
entstand dieses Gerücht: Zur religiösen Vorstellungswelt der Indios gehörte etwa der
„Mythos von einem Paradies, von einem ‚Land ohne Übel‘“44, in dem das Leben in purer
Glückseligkeit weiter gehen sollte. Das Paradies sollte sich aber nicht erst nach dem
Tode eröffnen, sondern war irgendwo auf der realen Welt zu finden. Propheten und
Schamanen versprachen ihrem Stamm, sie auf großen Wanderungen in das Paradies zu
führen. Zwischen den Jahren 1539 und 1549 fand eine der größten Wanderungen statt,
bei der Indios von Ostbrasilien aus den gesamten südamerikanischen Kontinent
durchwanderten, bis sie in Peru auf spanische Konquistadoren trafen. Sie erzählten
ihnen mythische Geschichten von goldenen Städten.45 Diese Andeutungen hatten sehr
bald Europa erreicht. Die Auflösung der Reduktionen wurde beschlossen und Soldaten
39
Vgl. Caraman, S. 35
Vgl. Hartmann. Jesuitenstaat, S. 40
41
Vgl. Hartmann. Jesuitenstaat, S. 41
42
Vgl. Caraman, S. 167f
43
Vgl. Barthel, S. 258
44
Vgl. Wokart, S. 111
45
Vgl. Wokart, S. 111
40
11
konnten offiziell nach Gold und Silber suchen. Gefunden wurde allerdings nichts,
wenngleich sich bis heute unter der Bevölkerung das Gerücht weiterhin erhalten hat.46
Seit der Errichtung der Reduktionen hatten die Jesuiten aber auch immer schon gegen
drei Gegner zu kämpfen: Sklavenjäger, Siedler und Lokalbehörden. Die Sklavenjäger,
Bandeirantes oder auch Mamelucken genannt, stellten eine immerwährende Bedrohung
für die Bewohner der Siedlungen dar. Einmal starben viele Einwohner von über 12
Reduktionen, die im Gebiet des heutigen Brasilien lagen, an den Strapazen einer
Umsiedelung auf der Flucht vor diesen. Als weitere Bedrohung erwiesen sich die
spanischen und portugiesischen Siedler, die sich ihrer billigen Arbeitskräfte durch die
Missionare beraubt sahen. Und auch den lokalen Kolonialbehörden – sie vertraten nur
ihre eigenen Interessen – passte der Schutz der Indios durch die Jesuiten nicht.47 Dazu
kam der wirtschaftliche Erfolg der Jesuiten, die ihre Neider – auch in Europa – auf den
Plan riefen. Sie wurden verleumdet und herabgesetzt.48 Schließlich verfehlte der 1757
publizierte „Kurtze Bericht (über die Republik der Jesuiten in Paraguay)“ portugiesischen
Ministers Pombal49 nicht seine Wirkung. Er bezog sich auf den sogenannten GuaraníKrieg (1751 – 1756). Spanien und Portugal hatten einen Grenzvertrag beschlossen, der
das Gebiet von sieben prosperierenden Reduktionen den Portugiesen zusprach. Die dort
lebenden 30.000 Indios sollten in unbewohnte Gebiete oder zu anderen Kolonien in
Panama umgesiedelt werden. Den Vertrag hatte vor allem Minister Pombal und der
englische Gesandte in Lissabon, Keene, aus (handels)politischen aber auch aus
weltanschaulichen Gründen geschlossen: beide waren Freimaurer und somit erklärte
Gegner der Jesuiten.50 Die Indianer widersetzten sich der Anordnung, hatten sie doch die
Reduktionen als ihre neue Heimat schätzen gelernt. In einem grausamen Krieg wurden
die Indios besiegt, waren sie sowohl kämpferisch wie ausrüstungsmäßig den Soldaten
unterlegen. Die Wissenschaft ist sich nicht einig, auf welcher Seite die Jesuiten
gestanden waren: als passive, der spanischen Krone gegenüber gehorsame, wie sie
behaupteten, oder doch auf Seiten der ihnen anvertrauten Indios.51
Die Stimmung in Europa gegen die Jesuiten war auf dem Tiefpunkt, geschürt auch durch
den Konkurrenzneid von anderen Orden und Bischöfen, die sich darüber ärgerten, vom
Reichtum der Ordensleute in Übersee nichts abbekommen zu haben, durch die
Pamphlete von antikatholische und antijesuitischen Aufklärungsphilosophen, der schon
angesprochenen Freimaurern und den von dieser Ausrichtung bestimmten
Staatsmännern.
46
Vgl. Barthel, S. 259
Vgl. Wokart, S. 110, Hartmann. Jesuitenstaat, S. 54, Otruba, S. 178
48
Vgl. Wokart, S. 108
49
Vgl. Hartmann. Jesuitenstaat, S. 57
50
Vgl. Hartmann. Jesuitenstaat, S. 55, Otruba, S. 180
51
Vgl. Hartmann. Jesuitenstaat, S. 56
47
12
1759 wurde der Jesuitenorden aus Portugal und seinen Kolonien vertrieben, 1764 aus
Frankreich, 1767 aus dem Königreich Neapel. In Brasilien wurden 500 Jesuiten
ausgewiesen, 1766 erfolgte die Ausweisung in Spanien (man machte sie für Unruhen
wegen neuer Steuern verantwortlich).
„Ohne Zweifel (haben) der spanische Staatsminister Wall und der Politiker Herzog Alba
in Übereinstimmung mit dem englischen Protestantismus und er europäischen
Freimauerei die Vertreibung der Jesuiten betrieben.52
Als 1766 ein Attentat auf den spanischen König Karl III verübt wurde, brachte man auch
damit die Jesuiten damit in Zusammenhang. Diese mussten sich in stolzem Gehorsam
beugen. Der Gouverneur in Paraguay, Bucarelli – er galt als Gegner des Ordens – ließ am
22. Juli 1767 mit großem militärischen Aufwand die Patres verhaften. Er wollte
verhindern, dass sie ihren im wahrsten Sinne des Wortes „sagenhaften“ Reichtum
verstecken könnten. Die ob ihres Misserfolgs enttäuschten Spanier behandelten die
Patres brutal und hielten sie wie Verbrecher in Haft. Die ausländischen Patres, davon
viele Österreicher, wurden in ihre Heimatländer entlassen.53
Der Untergang der Reduktionen war eingeleitet.
Der innere Zerfall der
Jesuitenreduktionen trat in den nächsten Jahren rasch ein. Bucarelli hatte zu den
Jesuiten nun auch weltliche Verwaltungsbeamte eingesetzt, die sich schamlos
bereicherten. Die Viehbestände und damit die Lebengrundlage der Bewohner
schrumpften dramatisch.54 Die Indios konnten mit ihrer verzweifelten Lage nicht
umgehen, flüchteten teils in den Urwald zurück, leisteten Widerstand oder verfielen in
Resignation.55
„Urwald umwuchert heute die majestätischen Ruinen einst prächtiger Kirchen, die letzten
Zeugen dafür, daß selbstlose Aufopferung hier aus Wildnis Kultur geschaffen und roher
Eigennutz sie wieder versinken ließ.“56
5. Bedeutung, Schwächen und Vorzüge – Versuch einer gerechten
Beurteilung
Trotz seiner sozialpolitischen Relevanz hat dieses einzigartige sozial-kulturelle religiös
motivierte Experiment keine erkennbaren geistes-, sondern bloß siedlungsgeschichtliche
Spuren hinterlassen. Es lag gewiss nicht daran, weil es an seinen risikoreichen
52
Mörner, Introduction, in: Mörner (Hg.) Expulsion, S. 19. Zit. in: Hartmann: Jesuitenstaat, S. 57
Vgl. Caraman, S. 281-282
54
Vgl. Hartmann. Jesuitenstaat, S. 61; Otruba, S. 183
55
Vgl. Hartmann. Jesuitenstaat, S. 60; Otruba, S. 181
56
Otruba, S. 184
53
13
Einrichtungen gescheitert wäre57, sondern weil es aus Unverständnis, aus Neid und
Misstrauen gegen die Jesuiten zwangsweise abgebrochen und zerstört wurde, ehe es
den Beweis seiner Berechtigung antreten konnte. Eine nachträgliche Beurteilung dieses
Experiments gestaltet sich also insofern schwierig. Was in 160 Jahren – wenn auch mit
Mängeln behaftet – von den Jesuiten geschaffen worden war, hätte sich bei längerer
Dauer und unter veränderten Umständen auch als nicht tragfähig erweisen können. So
erscheint der Jesuitenstand aus heutiger Sicht ein sowohl negatives wie positives
Beispiel kolonialer Politik. Geht man von der damaligen Situation der Indios in
Südamerika aus, gilt er das Modell gelungener Akkulturation, sodass das Etikett „heiliges
Experiment“58, mit dem man ihn bedacht hat, gerechtfertigt zu sein scheint.59 Als
Historiker betrachte ich aber auch die beschränkten geistigen und humanen
Bedingungen des Statthabens, mit denen sich auch dieses Experiment konfrontiert sah.
Und da zeigt sich das Ungenügende, das Bedenkenswerte und – wenn man so will – das
„Unheilige“ dieses Experiments. Auf der Homepage der Jesuiten findet man
verständlicherweise die Aussage:
„Es handelte sich um den Versuch, zusammen mit der Bekehrung der Indianer ein
christliches Sozialsystem einzuführen und die Indianer so vor der Ausbeutung durch
Spanien zu schützen.“60
Die liberale Geschichtsschreibung zeigt aber nur wenig Verständnis für den Zwang und
die Planwirtschaft der Jesuiten:
„Die Jesuiten sahen in den Indianern nur Kinder. … In der Religion wie in der Wirtschaft
hatten sie eines nicht gewahrt, was der köstlichste Erwerb der neueren Zeit ist: Die
Freiheit des Individuums.“61
Meiner Meinung nach lässt sich also der Jesuitenstaat nicht als kapitalistisches System
bezeichnen, sehr wohl schließe ich mich aber der Kritiken an, die den Jesuiten die
mangelnde Absicht unterstellen, die Indios in die Selbständigkeit zu führen. Als Beweis
für meine These finde ich in der Literatur keinen Hinweis darauf, dass der Jesuitenstaat
keine ausreichenden historisch belegten indianischen Führungsschichten hervorbrachte.
Andererseits muss man den Jesuiten zu Gute halten, dass sie für den Erhalt der
Population der Eingeborenen einen maßgeblichen Anteil hatten.
57
Anm.: was das Schicksal vieler anderer sozialer Experimente in der Geschichte zeigt
Anm.: Der österreichische Dramatiker Fritz Hochwälder verfasste unter diesem Titel in den Jahren
1941/42 ein Schauspiel, das aber die Verhältnisse des Jesuitenordens und seines Missionsprojekts
unangemessen idealisiert.
59
Vgl. Wokart, S. 105
60
www.jesuiten.org
61
Gothein, E.: Der christlich-soziale Staat der Jesuiten in Paraguay (1883), in: Otruba, S. 73
58
14
In Paraguay sind heute 95% der Bevölkerung Mestizen, die zu einem großen Teil nach
nordamerikanischen Kriterien als Indianer eingestuft würden. 90% sind katholisch und
die von den Jesuiten zur Schriftsprache erhobene Sprache der Guaraní gilt neben der
spanischen Amtssprache als die offiziell anerkannte Umgangssprache des Landes.62 Auch
in Bolivien – hier befanden sich ebenfalls zahlreiche Jesuitenreduktionen, stellen die
Indios heute noch die Mehrheit der Bevölkerung.
Man könnte also ihr Bemühen als den Versuch der Schaffung eines Sozial- und
Wirtschaftssystems mit einer weitgehenden Gleichheit, einer Hebung der Stellung der
Frau, einer weitgehenden schulischen Bildung und einem mildem Rechtswesen zu
sehen. Dies war einerseits nur möglich, waren die Jesuiten-Patres doch hochgebildete
Ordensleute mit einem hohen idealistischen und religiösen Anspruch sowie der
Fähigkeit, sich den kulturellen und sozialen Gegebenheiten anzunähern, etwa indem sie
die physische wie psychische Begrenztheit der ihnen anvertrauten Indios erkannten. Der
Jesuitenstaat kann somit als eine christliche Alternative zum Kolonialsystem mit seiner
Unterdrückung und Ausbeutung der Indios gesehen werden oder wie sie Rehbein
bezeichnet, als „Repräsentanten der katholischen Aufklärung.“63
Wie alle Aufklärer sahen die Jesuiten vor Allem ihre Erziehungsmission. Nach heutigem
Verständnis zeigten sie zu wenig Verständnis für die Werte, Sitten und Gebräuche, die
Religion und die Kultur der Ureinwohner. Ihre Wertvorstellungen und ihre daraus
resultierenden Wirkungsweisen waren seit den ersten Begegnungen der Weißen mit
Indios von einer europäischen Sicht geprägt. Verurteilt man deshalb die Jesuiten,
müssten in gleicher Weise alle Spanier und Europäer, also alle Eroberer Amerikas
verurteilt werden. Ohne die Mission der Jesuiten hätte dies die Unterdrückung,
Versklavung und möglicherweise sogar die Ausrottung eines großen Teils der
Ureinwohner durch Sklavenjäger und Siedler bedeutet.
Hätte das Modell der Jesuiten Erfolg gehabt, „wäre Südamerika heute 100 Jahre
weiter“.64
62
Vgl. Hartmann. Jesuitenstaat, S. 63
Vgl. Rehbein, Los jesuitas, S. 332; ders., regiliosidad, S. 347-348; ders., La Christianición de América, S.
130-131. In: Hartmann. Jesuitenstaat, S. 65
64
Vgl. Caraman, S. 290
63
15
Abbildung: Landkarte der Reduktionen in Südamerika65
65
Caraman, Anhang
16
6. Literatur
Barthel, M. (1991): Des Heiligen Vaters ungehorsame Söhne. Die Jesuiten zwischen
Gestern und Morgen. Gernsbach: Kasimir Katz Verlag
Caraman, P. (1979): Ein verlorenes Paradies. Der Jesuitenstaat in Praguay. München:
Kösel-Verlag
Hartmann, P. (2001): Die Jesuiten. München: Verlag C.H. Beck
Hartmann, P. (1994): Der Jesuitenstaat in Südamerika (1609 – 1768). Eine christliche
Alternative zu Kolonialismus und Marxismus. Weißenhorn: Anton H. Konrad
Verlag
Otruba, G. (1962): Der Jesuitenstaat in Paraguay. Idee und Wirklichkeit. Wien: Bergland
Verlag
Wokart, N.: Das (un-)heilige Experiment des Jesuitenstaats in Pragaguay. In: Faber, R.
(Hg., 1994): Sozialismus in Geschichte und Gegenwart. Würzburg: Königshausen
und Neumann
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