Leseprobe - AAVAA Verlag

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Leseprobe - AAVAA Verlag
Hansjörg Anderegg
Der zweite Killer
Thriller
LESEPROBE
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© 2014 AAVAA Verlag
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2014
Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag
Coverbild: Fotos: ©dreamstime.com/hjanderegg
Printed in Germany
AAVAA print+design
Taschenbuch:
Großdruck:
eBook epub:
eBook PDF:
Sonderdruck:
ISBN 978-3-8459-1395-7
ISBN 978-3-8459-1396-4
ISBN 978-3-8459-1397-1
ISBN 978-3-8459-1398-8
Mini-Buch ohne ISBN
AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf, bei Berlin
www.aavaa-verlag.com
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Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken!
Alle Personen und Namen innerhalb dieses eBooks sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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KAPITEL 1
Berlin
Was lag in diesen Augen? Jedenfalls nicht,
was er erwartete. Kein Schmerz, eher Neugier.
Eine Art Vorfreude auf das, was kommen
würde, als wäre die Vergangenheit schon tot
und begraben. Der Blick erinnerte an Kinderaugen vor der ersten Jungle Cruise im Magic
Kingdom. Im Grunde genommen war alles
gesagt, aber eine letzte Frage hatte er noch:
»Angst?«
»Was für eine gottverdammt überflüssige
Frage, Mann! Ich scheiß mir in die Hose.«
Er konzentrierte sich auf die Augen. Seine
Mundwinkel zuckten unmerklich. Die Hand
hob sich wie von selbst, als wären nicht zehn
Jahre vergangen seit dem letzten Mal. Dann
drückte er ab.
Das Geräusch vernahm er kaum. Ein Stein,
der auf nassen Boden klatscht, nicht mehr.
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Der Schalldämpfer schluckte die Schockwelle.
Erstaunlich wenig Blut trat aus dem dritten
Auge genau zwischen den Brauen. Er fing den
toten Körper auf und bettete ihn sanft auf das
feuchte Gras. Ein Kopfschuss war immer ein
Risiko, aber dieser saß perfekt. Menschen erschießen will gelernt sein, wie Radfahren. Und
genau so verlernst du es nie, dachte er. Amateure, die ein halbes Magazin leerten, um ihr Ziel
zu treffen, fuhren mit Stützrädern wie kleine
Kinder. Man sollte sie auch erschießen. Alle.
Er zupfte das Jackett des Toten zurecht, legte
das Medaillon gut sichtbar auf die Brust und
faltete seine Hände. Sie waren allein in der roten Stunde am frühen Morgen. Er brauchte
sich nicht umzusehen. Die Anwesenheit eines
andern Menschen spürte er auch so. Ohne
diese Fähigkeit hätte er selbst längst ins Gras
gebissen, oder Dreck gefressen in der verfluchten Steinwüste damals bei 40° im Schatten. Trotz der Brise hielt sich der Geruch des
Schießpulvers in der Nase wie bei einem
Spürhund. Das Gras verdorrte vor seinen Augen. Der nahe Feldweg verwandelte sich in
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ein ausgetrocknetes Bachbett, die halb verfallene Hauswand, ein rot glühender Fels, vor
ihm im Staub der Gefallene. Wieder ein Held.
Jemand trug die Verantwortung. Diesmal
würde er sie finden und zur Rechenschaft
ziehen.
Es raschelte in seinem linken Ohr, mit dem er
so gut hörte wie ein Wüstenfuchs seit dem
Loch im andern Trommelfell. Ein letzter Blick
auf den Leichnam, dann zog er sich auf den
Beobachtungsposten zurück, geräuschlos wie
der Geist des Toten. Er verschmolz mit der
Umgebung. Reglos im Dunkel zwischen Blättern, blieb er so gut wie unsichtbar, vom ungeübten Auge nicht zu entdecken. Auch nicht
von Hundenasen, denn die Brise wehte vom
Tatort über den Weg zu ihm herüber. Er vernahm das Hecheln, bevor der fette Beagle aus
dem Gebüsch brach. Starr vor Schreck betrachtete der Köter den Leichnam. Der Hund
vergaß für kurze Zeit, mit dem Schwanz zu
wedeln. Er blickte sich vorsichtig nach allen
Seiten um, bevor er den ersten, zaghaften
Schritt auf den Toten zu wagte.
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Der Lauf der Pistole folgte ihm. Streunende
Hunde gehörten nicht zum Plan. Nur Zentimeter trennten die Schnauze vom Gesicht des
Toten, eine Haaresbreite den Abzug vom
Druckpunkt. Das dumme Vieh war im Begriff,
die Totenruhe zu stören. Es war imstande, das
Bild zu verändern. Der verdammte Köter zerstörte die Message! Das musste er verhindern.
Es ging nicht anders. Sorry, Schlappohr.
Ein kurzer Pfiff rettete dem Beagle das Leben.
Der Finger am Abzug entspannte sich. Ein
dürres altes Männchen mit weißem Schnurrbart und Baskenmütze näherte sich. Der Alte
rief den Hund zu sich. Der verweigerte den
Gehorsam, blieb neben dem Toten sitzen und
bellte zurück.
»Emma, Fuß! Was fällt dir ein? Eine Schande,
was die Schweine alles liegen lassen heutzutage.«
Händeringend trat er auf die widerspenstige
Emma zu, um sie an die Leine zu nehmen.
Der Mann im Versteck lebte schon lang genug
in Deutschland, um jedes Wort zu verstehen.
Der Alte reagierte nicht wie in seinem Plan
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vorgesehen. Als er erkannte, was im Gras lag,
stieß er einen Schreckensruf aus, packte den
Hund und rannte davon. Der Köter stellte jedenfalls keine Gefahr mehr dar.
Er ließ die Waffe sinken, um sie gleich wieder
mit einem unterdrückten Fluch hochzureißen.
Emma kehrte zurück. Das Männchen folgte
ihr halb hüpfend, halb hinkend. Eine junge
Frau im Trainingsanzug, Stirnband ums blonde Haar, Telefon in der Hand, begleitete ihn.
Der Beobachter im Gebüsch entspannte sich.
Die Frau passte genau in seinen Plan. Sie reagierte besonnen, betrachtete das Arrangement
aus sicherer Entfernung und sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. Gleichzeitig gelang
es ihr, den Alten und Emma zu beruhigen.
Endlich tat sie das, worauf er wartete: Sie telefonierte. Der Auftrag war erledigt. Statt sich
abzusetzen, harrte er mit den beiden bei der
Leiche aus, bis sich ein Streifenwagen näherte.
Von nun an verlief alles nach Plan. Geräuschlos die Fußabdrücke verwischend, zog er sich
aus dem Gebüsch zurück, ohne den Tatort aus
den Augen zu lassen. Bis die Beamten daran
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dachten, die Umgebung abzusuchen, war er
längst untergetaucht. Unsichtbar unter all den
andern Unsichtbaren in Berlin.
Hauptkommissar Lukas Mertens knallte die
Tür des Chefs hinter sich zu. Er hatte schon
schlimmere Tage erlebt aber nicht viele. Er
brauchte dringend seinen Adidas zum Dreinschlagen, doch das ging nicht. Er war im
Dienst. Also setzte er das Gesicht Marke
grimmiger Boxer auf und hoffte, jemand möge ihm auf die Latschen treten.
Niemand eilte ihm entgegen, freudestrahlend, als interessierte es irgendein Schwein,
was er zu sagen hatte. Ausgerechnet der Niemand musste ihm hier auf dem Flur begegnen, wo er ihn nicht ignorieren konnte wie im
Büro. Der kleine Praktikant – Referendar, wie
der Chef großspurig betonte – war schuld an
seiner üblen Laune. Übler noch als sonst beim
Betreten des Landeskriminalamts im Morgengrauen. »Kümmern Sie sich um den Referendar Seidel. Er ist begierig, von Ihnen zu lernen«, wollte ihm der Chef einreden. Vom
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Hauptkommissar zum Babysitter: geile Karriere. Der Junge war so grün hinter den Ohren,
dass er ihn dauernd wässern wollte. Das ganze verdammte Strafgesetzbuch kannte er
auswendig, aber Polizeiarbeit verwechselte er
mit Fernsehkrimis. Zwei Wochen lang hatte er
Niemand erfolgreich ignoriert, bis der Chef
glaubte, das Problem nicht länger übersehen
zu können. Mertens stellte den Schuh quer,
um dem Referendar Gelegenheit für einen
Fehltritt zu geben. Niemand blieb eine Handbreit davor stehen und rief:
»Herr Hauptkommissar, wir haben eine Leiche!«
»Was zum Teufel glauben Sie, wo wir hier
sind, im Fundbüro?«
Die Frage stoppte wenigstens das Grinsen.
»Wir befinden uns in der Mordkommission,
Herr Hauptkommissar.«
Wieder so eine Unart. Er konnte Leute nicht
ausstehen, die stets in ganzen Sätzen antworteten. Hielten sich wohl für etwas Besseres,
die arroganten akademischen Herrschaften.
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»Mordkommission, Sie sagen es. Und womit
beschäftigt sich eine Mordkommission?«
»Die Mordkommission beschäftigt sich mit
Kapitalverbrechen.«
»Und?«
»Leichen«, flüsterte Niemand betroffen.
Jetzt verzog er die Mundwinkel. »Geht doch.
Sehen Sie, Sie können ja auch normal reden.«
Das Gesicht des Jungen stimmte ihn versöhnlich.
»Also, was ist denn so besonders an dieser
Leiche?«
»Sie ist neu. Heute Morgen um 8:10 Uhr, als
Sie beim Chef …«
»Ich weiß, wo ich war!«
Niemand trat vorsichtshalber einen Schritt
zurück. »Um 8:10 Uhr traf die Meldung einer
Polizeistreife ein. Leichenfund beim alten
Asylheim. Ein Mann, circa vierzig Jahre alt,
schwarze Hautfarbe.«
»Schwarz? Gute Nacht!«
Mord aus Rassenhass gehörte nicht zu seinen
Favoriten. Niemand fuhr zögernd weiter:
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»Das Opfer ist offenbar durch einen einzigen
Schuss in die Stirn aus nächster Nähe getötet
worden. Spurensicherung und Rechtsmedizin
sind unterwegs.«
»Das sollten wir uns nicht entgehen lassen«,
brummte er.
»Wir?«
»Wir beide. Kommen Sie. Das wird ein Fest:
Ihre erste Leiche.«
Die Leiche lag im Gras neben dem Feldweg
hinter dem verfallenen Gemäuer des alten
Asylheims, wie Niemand berichtet hatte. Das
wenige Blut überraschte Mertens nicht, wohl
aber die Präzision des Schusses. Das Loch in
der Stirn sah aus wie aufgemalt. Noch seltsamer erschienen ihm Kleidung und Lage des
Toten.
»Er sieht aus wie aufgebahrt«, flüsterte ihm
der blasse Referendar ins Ohr und beschrieb
damit die Lage ziemlich genau.
»Er kann Sie nicht hören«, gab Mertens ebenso leise zurück.
Der Tote trug seinen besten Anzug, wie es
schien, Hose frisch gebügelt, Jackett sorgfältig
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zurecht gezupft, die Hände wie zum Gebet
gefaltet, als wollte ihm der Mörder so die letzte Ehre erweisen.
»Schlechtes Gewissen oder neuartiges Ritual?«, fragte er sich laut.
»Sieht eher nach einem Gnadenschuss aus«,
sagte der Pathologe.
»Wie pervers ist das denn!«, platzte Niemand
heraus.
Mertens und der Rechtsmediziner wechselten
einen Blick, der deutlich ausdrückte, dass beide anderes gewohnt waren.
»Seine Erste«, murmelte der Kommissar,
während er an den Händen des Opfers vergeblich nach Abwehrspuren suchte. »Sonst irgendwelche Verletzungen?«
»Nicht auf den ersten Blick. Der Mann
scheint ruhig auf den Schuss gewartet zu haben, ohne sich zu wehren.«
Er drehte den Kopf der Leiche zur Seite, um
die klaffende Austrittswunde zu zeigen.
»Präzisionsschuss aus circa einem Meter Abstand. Der Mann war sofort tot.«
Mertens nickte. »Fundort gleich Tatort?«
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»Definitiv. Die Techniker haben Patronenhülse und Projektil sichergestellt.«
Der Täter war also kaum ein professioneller
Killer – oder einer, der sich sehr sicher fühlte.
Der Mediziner fasste dem Toten unter die
Schulter.
»Kann mir mal jemand helfen? Ich muss mir
die Rückseite ansehen.«
Mertens stand wie durch ein Wunder schon
bei der Chefin der Kriminaltechnik und rief
Niemand zu:
»Anfassen, junger Mann!«
Die Patronenhülse im Plastikbeutel stimmte
ihn nicht euphorisch: Kaliber 9 mm, Massenware, sehr verbreitet.
»Sonst gibt es keine Spuren am Tatort«, versicherte die Technikerin, »nicht einmal verwertbare Fußabdrücke außer denjenigen der
Zeugen.«
Der Täter war ein verdammter Geist, der
schießen konnte wie ein Profikiller. Dieser Fall
gefiel ihm schon jetzt nicht mehr. Mürrisch
wandte er sich an die Zeugen. Der Alte und
die sportliche junge Dame beantworteten die
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Fragen ebenso mürrisch. Fragen, die sie alle
schon beantwortet hatten. Am Ende bestätigte
sich, was von Anfang an zu befürchten war:
Die Zeugen hatten nur den Leichnam im Gras
liegen sehen, sonst gar nichts. Nach den vorläufigen Angaben des Pathologen war der Alte mit seinem Hund nur wenige Minuten zu
spät am Tatort erschienen – glücklicherweise.
Sonst gäbe es hier mit Sicherheit ein bis zwei
zusätzliche Kunden für die Pathologie. Er
kehrte an den Tatort zurück.
»Keine äußeren Verletzungen, keine Abwehrspuren«, bestätigte der Mediziner, nachdem
er auch die Rückseite der Leiche untersucht
hatte. »Das Opfer muss dagestanden haben,
hat seinem Mörder ruhig ins Gesicht gesehen,
als es passiert ist.«
Sein Tonfall verriet eine gewisse Verblüffung,
die Mertens vorbehaltlos teilte. Ging es so
weiter, entwickelte sich der Mordfall bald zu
einem Fall aktiver Sterbehilfe.
»Was steht auf dem Grabstein?«, fragte er.
Das Medaillon auf der Brust des Toten ähnelte einer Erkennungsmarke der Bundeswehr.
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»Das ist ein sogenannter Dog tag, Herr
Kommissar«, warf Niemand ein wie aus der
Pistole geschossen.
»Eine Hundemarke?«
»Dog tags nennt man im angelsächsischen
Sprachraum
umgangssprachlich
Erkennungsmarken der Streitkräfte.«
»Was Sie nicht sagen. Unser Kunde war also
ein angelsächsischer Soldat?«
Referendar Seidel schluckte leer, bevor er
weitersprach:
»Soldat oder Ex-Soldat der Vereinigten Staaten. Unser Toter heißt Jones, Eddie. Er ist
männlich, katholisch und diente bei der USNavy. Das sieht man am USN auf dem Dog
tag.«
»Männlich, soso. Sozialversicherungsnummer?«
Zu seiner Überraschung spulte Niemand die
neun Ziffern ohne Zögern ab. Mertens konnte
nur den Kopf schütteln.
»Ich kann mir eben Zahlen gut merken«, verteidigte sich der Referendar kleinlaut.
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»Schon gut, daran ist noch keiner gestorben.
Auf alle Fälle hat uns der Mörder eine ganze
Menge Arbeit erspart mit der Hundemarke,
falls sie dem Toten gehört.«
Das war der Punkt, vor dem ihm graute: Ermittlungen bei den Amis. Bisher hatte er nur
einmal Informationen benötigt von den guten
Freunden jenseits des großen Teichs. Es war
keine schöne Erinnerung. Er fragte sich noch
heute, wie er damals ohne bleibenden Schaden wieder von der Decke heruntergekommen war. Wenn die Amis nichts sagen wollten, sagten sie nichts, Gerichtsbeschluss und
Antragsformular hin oder her, Punkt. Vielleicht lag es auch ein wenig an seinem miserablen Englisch. Fluchen musste er jedenfalls
auf Deutsch. Die Antwort war ein verständnisloses Lächeln gewesen.
Nein, er verspürte nicht das geringste Bedürfnis, sich nochmals mit denen anzulegen.
Genau in diesem Augenblick flüsterte ihm ein
barmherziger Engel eine geniale Idee ins Ohr.
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Dahlem
Der Parkettboden im Flur knarrte beruhigend
unter den Füßen wie im Haus ihrer Jugend im
nahen Potsdam. Der Spiegel an der Garderobe, halb erblindet, wirkte wie ein Weichzeichner. Er musste gut und gerne hundert Jahre
alt sein wie das Haus. Chris hörte Jamies
Schritte im Obergeschoss. Sie trat näher an
den Spiegel heran, bis die Nasenspitze beinahe das Glas berührte. Sah man die Veränderung in ihrem Gesicht? Sahen Ehefrauen anders aus als Singles? Vor der Heirat mit Dr.
Jamie Roberts hatte sie das ernsthaft geglaubt.
Sie wirkte älter, gesetzter, anders als vor der
Hochzeit, fand sie. Also doch. Oder war es
Wunschdenken, weil sie sich auch nach einem
halben Jahr noch nicht ans neue Leben gewöhnt hatte?
Sie spielte nachdenklich mit ihrem dicken,
strohblonden Zopf. Für diese Haarpracht
brauchte sie einen Waffenschein wie für die
Glock in ihrem Schulterhalfter. Der Zopf hatte
Jamie bei der ersten Begegnung den Verstand
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geraubt. Sie brauchte nur das Haar hängen zu
lassen wie Rapunzel, schon griff der sonst so
kühle und brillante Mediziner danach wie ein
Ertrinkender nach der Rettungsleine. Das Geflecht hatte magische Kräfte. Anders war seine
Wirkung auf Jamie und Männer im Allgemeinen nicht zu erklären. Wie sonst könnte ein
mit rationalem Verstand gesegneter Mann,
selbst ein zu allem entschlossener Engländer,
sich auf eine Beziehung zu einer Kommissarin
beim Bundeskriminalamt, Abteilung SO für
schwere und organisierte Kriminalität, einlassen? Fortgeschrittener Masochismus wäre eine Erklärung. Nicht bei Jamie. Nein, es war
der magische Zopf. Selbst Frauen waren nicht
sicher vor dieser gemeinen Waffe. Jedenfalls
hatte sie schon mehrfach verstörende Signale
empfangen.
Eigentlich ganz niedlich, dachte sie über das
Bild im Spiegel. Andererseits – sie war jetzt
Mrs. Roberts, nicht mehr Fräulein Hegel, Da
passte ein Adjektiv wie niedlich schlecht dazu. Sie musste sich verändern, den alten Zopf
abschneiden.
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Jamie kam die Treppe herunter. Er warf ihr
einen gequälten Blick zu.
»Ich weiß nicht, Darling«, seufzte er mit Sorgenfalten auf der Stirn.
»Kannst du Gedanken lesen?«
»Excuse me?«
»Nichts«, lachte sie. »Gefällt dir das Haus
nicht?«
Es war die Mutter aller rhetorischen Fragen.
Die Bezeichnung Haus wurde dem Bauwerk
aus der Jahrhundertwende an ruhiger Wohnlage in Dahlem in keiner Weise gerecht. Sie
befanden sich in einer Villa: Zimmer, in denen
man atmen konnte, mit hohen Decken, entsprechend großen Fenstern, durch die viel
Licht herein flutete. Und der romantisch wuchernde Garten mit dem Pavillon unter der alten Buche – sie konnte nicht erwarten, hier
einzuziehen. Solcher Luxus wäre unerschwinglich für sie beide ohne ihre guten Beziehungen zum pommerschen Uradel. Ein
Kollege aus Schwerin, Hauptkommissar Alexander von Kleist, vermietete das Bijou zum
Schnäppchenpreis: 1’200 Euro statt 5’000 oder
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mehr. Der Mann hieß tatsächlich so. Blutsverwandt mit dem Autor des ›Michael Kohlhaas‹, wäre auch er verarmt ohne die reiche
Tante, die ihm das Haus vererbt hatte – wie
das Geld für seine Armani-Anzüge. Kleist zog
es nicht nach Dahlem, also würde das Ehepaar Roberts-Hegel hier einziehen, so wahr sie
Chris hieß und Mörder jagte. In Jamies Gesicht las sie etwas anderes. Er ließ sich Zeit
mit der Beantwortung ihrer Frage.
»Ja – nein – doch – das ist es nicht«, stammelte er schließlich.
Sie wartete.
»Es ist etwas groß für uns zwei, findest du
nicht?«
Es war ihm peinlich. Sie wartete weiter.
»Also – die Wohnung in Berlin ist doch auch
sehr romantisch und außerdem mitten in der
Stadt.«
Sie begann, ihren Zopf zu zwirbeln und fragte: »Zwei Zimmer für 1’500 Euro findest du
romantisch?«
Er zuckte verlegen mit den Achseln. Sie griff
ihm unter den Arm und dirigierte ihn ans
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Fenster zum Park, wie sie den Wildwuchs
hinter dem Haus nannte.
»Sieh mal, da könntest du deinen Kräutergarten pflanzen.«
Er blickte lange schweigend hinaus, als suchte er den sonnigsten Fleck für sein Gemüse.
Dann nickte er und murmelte:
»Zitronenmelisse hat sich schon angesiedelt.«
Sie belohnte die Beobachtung mit einem leidenschaftlichen Kuss. Der Widerstand war
noch nicht gebrochen aber so gut wie. Er ging
zurück in den Flur.
»Ich sehe mich mal hier unten um.«
»Tu das, die Küche ist im Westflügel«, rief sie
ihm nach.
Ihre erste gemeinsame Wohnung in Berlin
war ein teurer Witz, eine Notlösung, nichts
weiter. Der einzige Vorteil: Sie gelangten beide in zwanzig Minuten zu Fuß an den Arbeitsplatz. Falls man das als Vorteil bezeichnen wollte. Daraus würde nun eine halbe
Stunde Autofahrt oder eine Stunde radeln
nach ihren Ermittlungen. So what? Hier
stimmte alles. Die Lage, das Gebäude, der
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Park mit dem Gartenhäuschen, das zu allerlei
Zeitvertreib einlud: perfekt. Ihr Herz aber hatte sie im Dachgeschoss verloren. Es war ein
Saal mit riesigem ovalem Oberlicht. Atelier,
Labor und Musikzimmer gleichermaßen oder
einfach ein Ort zum Träumen. Sie brauchte
sich nur auf den Boden zu legen und befand
sich im Himmel. Dieses Zimmer allein machte
den Umzug aus Kreuzberg unumgänglich.
Ein lauter Ruf riss sie jäh aus ihrem Tagtraum. Nach wenigen Sätzen stand sie im
Westflügel. Jamie kehrte ihr den Rücken zu.
In tiefe Kontemplation versunken, ließ er seinen Blick durch die Halle von der Größe ihrer
Berliner Wohnung schweifen.
»Good Lord, hast du schon so eine Küche gesehen?«
»Nein«, gab sie zu.
Er wagte kaum laut zu sprechen, so sehr ergriffen ihn Atmosphäre und Großzügigkeit
dieses kulinarischen Tempels. Kein Zweifel:
Diese Küche war sein Dachgeschoss, und er
war ihr mit Haut und Haar verfallen. Andächtig strich er mit der flachen Hand über das al23
te Holz des Tisches, an dem zwanzig Leute
bequem Platz fanden.
»Wir könnten Gäste einladen, Schaukochen
veranstalten, einen Dinner Club für Musikfreunde gründen. Vielleicht einmal im Monat,
was meinst du?«
Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie betrachtete sich nicht als Misanthrop, aber jeden Monat
Parties mit zehn oder zwanzig Gästen? Ein
Dutzend Einwände lagen ihr auf der Zunge,
bis sie sich daran erinnerte, dass sie beide sowieso keine Zeit für solche Späße übrig hatten. Sie schenkte ihm daher ein süßes Lächeln
und fragte nur:
»Dann ziehen wir also ein?«
»Keine Frage.«
»Eines musst du mir allerdings versprechen«,
fügte sie mit ernster Miene hinzu. »Ich beharre auf dem Vetorecht bei der Gästeliste.«
»Selbstverständlich, ich auch.«
Ihr Telefon summte, eine unterdrückte
Nummer.
»Ja bitte?«
»Dr. Christiane Roberts?«
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»Am Apparat.«
»Tag Frau Kommissarin. Ich bin Staatsanwältin Klara Winter, SO, Treptow. Wir sind für
Montag verabredet.«
»So steht's in meinem Kalender«, antwortete
Chris kühl.
Sie kannte die Chefin am neuen Arbeitsplatz
am Treptower Park noch nicht, wusste jedoch
genau, worauf dies hinauslief. Arbeitsbeginn
Montag 8:00 Uhr, hieß es in der Vereinbarung.
Auch ein Witz.
»Wir haben ein Problem«, begann die Staatsanwältin wie erwartet. »Leichenfund am alten
Asylheim, und uns sind zwei Leute für längere Zeit ausgefallen.«
»Ist das nicht ein Fall fürs LKA?«
»Das Opfer ist Staatsbürger der USA, ExSoldat der US-Navy, um genau zu sein.«
Die Staatsanwältin schwieg, als reichte diese
Erklärung.
»Und?«
»Haben Sie mich nicht verstanden?«, platzte
die Staatsanwältin heraus. »Ein Soldat der USNavy ist in Berlin erschossen worden!«
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»Sagten Sie nicht Ex-Soldat?«
»Soldat, Ex-Soldat, was spielt das für eine
Rolle? Der Fall braucht äußerstes Fingerspitzengefühl, gerade jetzt, wo die Beziehungen
zu den USA nicht die besten sind, wie Sie
wohl wissen. Nein, das ist kein Fall für das
LKA. Die wären heillos überfordert. Wir müssen auf Bundesebene ermitteln. Um es kurz zu
machen: Sie übernehmen den Fall. Nehmen
Sie umgehend Kontakt auf mit Hauptkommissar …«
»Augenblick«, unterbrach Chris. »Ich habe
mich auf Montag eingestellt. Zurzeit bin ich
nicht in Berlin.«
Die Bemerkung dämpfte den Eifer der Staatsanwältin nur für eine Sekunde. »Wann können Sie beim LKA sein?«
Chris unternahm einen letzten Versuch: »Ich
bin nicht gerade berühmt für mein diplomatisches Fingerspitzengefühl, wie Sie sicher aus
meiner Akte entnommen haben.«
»Damit müssen wir leben. Also wann?«
»Vielleicht schaffe ich es heute noch«,
brummte sie mit einem wehmütigen Blick auf
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Jamie, der in der Küche hantierte, als erwarte
er die Gäste in einer Stunde.
»Hauptkommissar Mertens heißt der Kontakt«, sagte die Staatsanwältin und legte auf.
Die Stimme jagte Chris kalte Schauer über
den Rücken. Willkommen beim BKA Berlin.
Jamie maß den zweiten Einbauschrank aus. Er
hatte nichts vom Gespräch mitbekommen.
»Tut mir leid, mein Schatz. Ich muss dringend nach Berlin und brauche den Wagen.«
Er war noch nicht zufrieden mit der Planung
seiner Laborküche, schüttelte den Kopf und
murmelte undeutlich, ohne sie anzusehen. Sie
warf ihm einen Handkuss zu und eilte hinaus.
Sie befand sich schon am Stadtring, als er anrief.
»Das Auto ist weg. Wo bist du?«
Seine Stimme klang verzweifelt.
»Ich musste dringend nach Berlin, hab ich dir
doch erklärt.«
»Aber – wie komme ich jetzt hier weg?«
Bei der Vorstellung seines betroffenen Gesichtsausdrucks verspürte sie große Lust, ihn
noch einmal zu heiraten.
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»Ruf ein Taxi, du Ärmster. Ich muss Schluss
machen, bis später.«
Berlin
Im Schritttempo näherte sich Chris dem Tatort. Das Sträßchen hinter dem Asylheim war
ein Rad- und Wanderweg, besonders beliebt
am Freitagnachmittag, wie ihr zahlreiche Mittelfinger bestätigten. Das LKA hatte den Tatort freigegeben, nachdem Spuren und Beweisstücke gesichert worden waren. Trotzdem bestand sie darauf, Hauptkommissar Mertens
hier zu treffen. Berichte und Fotos in den Akten ersetzten keine Tatortbegehung.
Die ersten Tropfen fielen, als sie aussteigen
wollte. Kaum war die Tür offen, begann es
kräftig zu regnen. Es sah nicht nach einem
kurzen Platzregen aus. Sie hievte den gelben
Koffer vom Rücksitz nach vorn. Er enthielt
das wichtigste Zubehör für kriminaltechnische Untersuchungen und begleitete sie seit
dem ersten Tag an der Front. Mühsam zwäng28
te sie sich in den weißen Einwegoverall. Ein
junger Mann empfing sie, Erstsemester an der
Uni und Mobbingopfer, nach dem blassen Gesicht zu urteilen. Sein Schirm reichte für vier
seinesgleichen. Sie musste Staatsanwältin
Winter recht geben: Das LKA war heillos
überfordert, wenn es Schüler wie den als
Kommissare beschäftigte.
»Sie haben sich reichlich Zeit gelassen«,
knurrte eine Stimme hinter dem Studenten.
Sie atmete auf, denn der Mittfünfziger, der
jetzt auf sie zutrat, hatte den Stimmbruch
schon hinter sich.
»Chris Roberts, BKA«, stellte sie sich vor. »Sie
sind HK Mertens, nehme ich an?«
Die ausgestreckte Hand griff ins Leere. Statt
sie zu grüßen, schüttelte er das Wasser vom
Schlapphut und brummte weiter:
»Ich verstehe nicht, was das hier soll. Steht
doch alles im Bericht.«
Bevor sie den Mund öffnete, schaltete sich
das Erstsemester ein:
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»Sie konnten den Bericht ja noch nicht lesen,
Dr. Roberts. Wenn ich kurz zusammenfassen
darf …«
Mertens rollte die Augen, ließ ihn jedoch weitersprechen. Ihre Achtung vor dem jungen
Mann stieg mit jedem Satz. Kurz und präzise
beschrieb er den Tathergang, soweit man ihn
bisher rekonstruiert hatte, fasste die Ergebnisse der Gerichtsmedizin und der KT zusammen und zeigte ihr den genauen Fundort von
Eddie Jones Leiche.
»Noch Fragen?«, grinste Mertens.
»Wer ist der junge Mann?«
»Niemand.«
Der Student wagte keinen Widerspruch. Erst
als sie ihn auffordernd anblickte, sagte er unsicher:
»Mein Name ist Horst Seidel, Referendar und
Praktikant im ersten Jahr.«
Sie schüttelte ihm die Hand. »Gut gemacht,
Referendar Seidel.«
»Hotte«, murmelte er verschämt mit leuchtenden Augen, als hätte sie ihn zum Abschlussball eingeladen.
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»Wie weit wurde die Umgebung abgesucht?
Das Asylheim? Gibt es weitere Zeugen?«
Sie richtete die Fragen direkt an den Referendar, der offenbar Mertens wandelndes Gedächtnis darstellte. Der Kommissar fuhr dazwischen:
»Hören Sie, Frau … Ich habe einen wichtigen
Termin. Herr Seidel wird Sie über alles Weitere informieren. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen.«
Er drehte sich um und ging zu seinem Wagen. Nach zwei Schritten blieb er stehen, kehrte zurück und fragte sie leise:
»Brauchen Sie Unterstützung?«
»Immer«, antwortete sie verwundert.
Sein Blick streifte den Referendar, der etwas
abseitsstand.
»Er kennt sich bestens aus mit dem Fall.«
»Sie wollen mir Niemand überlassen?«
Er ignorierte den absichtlichen Fallfehler und
präzisierte:
»Sie könnten ihn ausleihen – natürlich nur für
diesen Fall.«
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»Natürlich.« Nach kurzem Zögern fragte sie:
»Stimmt etwas nicht mit dem jungen Mann?«
Kommissar Mertens zuckte die Achseln. »Er
schreibt lauter Einsen.«
Ein Genie! Sie begann zu verstehen. Da prallte Intellekt auf jahrzehntelange Praxis, eine
explosive Mischung. Sie erinnerte sich an die
angespannte Personalsituation am Treptower
Park und lächelte Referendar Seidel zu, um
etwas Farbe in sein Gesicht zu zaubern.
»Sie meinen das ernst, nicht wahr?«, fragte
sie zur Sicherheit.
»Todernst.«
»O. K., Deal, aber er bleibt auf Ihrer Gehaltsliste und ich unterschreibe kein einziges Formular.«
»Deal.«
Diesmal schlug Mertens ein. Blieb nur noch
übrig, Seidel zu überzeugen. Sie spürte keinen
Widerstand. Im Gegenteil: Der arme Kerl war
froh, seinem Tyrannen zu entrinnen, obwohl,
oder besser, weil er ihre problematischen
Charakterzüge noch nicht kannte. Mertens
seinerseits fuhr mit einem Lächeln davon. Er
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war nicht nur den heiklen Fall los, sondern
auch den neunmalklugen Praktikanten. Besser
ging es nicht, sagte sein Gesicht. Ihr sollte es
recht sein. Einen ergebenen Sklaven konnte
sie gut gebrauchen. Notfalls würde sie ihn mit
dem Zopf ruhigstellen.
»Also Herr Seidel«, sagte sie mit einem letzten Blick auf Mertens Wagen.
Der junge Mann sprang ihr fast ins Gesicht.
»Dr. Roberts?«
»Vergessen Sie den Doktor. Sie Seidel, ich
Chef, O . K.?«
Die Antwort war ein Gurgeln, aber er nickte
eifrig.
»Also, Seidel«, begann sie nochmals, »sind alle Bewohner des Asylheims befragt worden?«
»Das Gebäude ist eine Ruine. Es gibt keine
ständigen Bewohner, nur Obdachlose, die hier
gelegentlich übernachten und ein paar Junkies, die sich manchmal auf dem Hof auf der
andern Seite treffen.«
»War einer von denen anwesend zum Tatzeitpunkt?«
Seidel verneinte. »Allerdings …«
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»Was?«
»Ein Obdachloser hat ausgesagt, es hätte in
der Nacht vor der Tat eine wilde Party stattgefunden.«
»Eine wilde Party, soso – und?«
Seidel sah sie ängstlich an.
»Nichts«, sagte er leise, »Hauptkommissar
Mertens meinte, es lohne sich nicht, dem
nachzugehen.«
»Sie sind anderer Meinung?«
Er nickte stumm, offensichtlich überwältigt
vom Umstand, nach seiner Meinung gefragt
zu werden.
»Ich auch«, sagte sie. »Wir machen Folgendes: Wir klappern jetzt die Umgebung ab und
sammeln Hinweise auf die Teilnehmer der
Party. Sobald wir Namen haben, gehen Sie jedem Einzelnen nach und bestellen die Person
zur Befragung aufs Präsidium am Treptower
Park, verstanden?«
Sie gab ihm ihr Kärtchen mit den Koordinaten und fügte hinzu:
»Noch etwas: Wir benötigen Kopien aller Akten beim BKA, und lassen Sie sämtliche As34
servate an die Kriminaltechnik in Wiesbaden
schicken.«
Sie schrieb ihm die Adresse ihrer Freundin
Caro Lenz, Leiterin der KTU, auf die Rückseite. Seine Wangen glühten, während er die
Aufträge notierte. Es gab ihr ein gutes Gefühl.
Sie war ausgelaugt, als sie den Wagen beim
BKA in Treptow parkte. Das Ergebnis der
stundenlangen Suche nach Namen fiel ernüchternd aus. Drogenabhängige, die ihren
eigenen Namen nicht kannten, Alkoholiker,
die beim Stichwort Polizei sofort einschliefen,
und unterernährte Hunde bevölkerten die Ruine des Asylheims. Ganze zwei Hinweise
blieben übrig, die ihr Juniorpartner jetzt verfolgte. Als genügte das nicht, um ihre Laune
zu verderben an diesem Freitagnachmittag,
hielt der Regen hartnäckig an bis fast vor die
Bürotür. Berlin mit nassen Straßen am Start
ins Wochenende: nicht zu vergleichen mit
Wiesbaden und Kloppenheim, wo sie früher
gewohnt hatte. Staus wie eben auf der Brücke
gab es dort nur an Ostern. Sie hatte es nicht
anders gewollt.
35
Es war ihr Vorschlag gewesen, den Arbeitsplatz in die Zentrale am Treptower Park zu
verlegen, um hier mit Jamie zusammenzuziehen. Das Zentrum für regenerative Therapien
in Berlin, BCRT, hatte ihn vom Imperial College in London abgeworben – mit einem Angebot, das er nicht ablehnen konnte. Der Abschied von den Kollegen in Wiesbaden war
ihr etwas leichter gefallen, nachdem sich ihr
Partner Sven nach Hamburg abgesetzt hatte.
Die Liebe: Es gab endlich eine Frau, die sich
nicht nur für seinen Porsche Spyder interessierte.
Als Erstes fielen ihr die allgegenwärtigen
Überwachungskameras auf, die hier jeden
Pfosten schmückten, nicht nur jeden Zweiten
wie in Wiesbaden. Beim Anblick rümpfte sie
die Nase. Sie hatte sich den Einzug anders
vorgestellt oder gar nicht, jedenfalls nicht so
deprimierend. Der Eindruck besserte sich
kaum, als sie das Büro betrat. Die Luft roch
nach Schimmelpilz. Die nackten Möbel und
leeren Schränke verbreiteten Endzeitstimmung. Dazu passte die vergilbte Reprodukti36
on von Munchs ›Schrei‹ an der Wand. Auf
dem Aktenschrank neben dem Pult stand ein
Gemüse, das früher vielleicht einmal grün
gewesen war. Die vertrockneten Blätter hätten
wohl auch einem Gärtner Rätsel aufgegeben.
Sie war allein und froh darüber. So brauchte
sie die vernichtenden Kommentare nicht
stumm zu schlucken. Eine Reihe Fenster wie
in einem alten Schulhaus zeigte direkt auf das
Backsteingebäude des Terrorismus-Abwehrzentrums, an das sie sich lieber nicht erinnerte. Kurbeln für die Rollläden gab es nicht. Automatische Jalousien: Der Architekt musste
ein Sadist sein. Die geistige Mängelliste quoll
über. Sie hätte ihr Saxofon mitbringen sollen,
um die negativen Schwingungen zu kompensieren. Sinnlos, sich zu ärgern, sie würde ohnehin nicht viel Zeit in dieser HightechFolterkammer verbringen. Dafür gab es jetzt
den Sklaven Seidel.
Die Tür schwang auf.
»Da sind sie ja. Ich habe Sie heute nicht mehr
erwartet.«
37
Die Frau, die ihr gegenüberstand, mochte
zehn oder fünfzehn Jahre älter sein, hatte sich
aber gut gehalten. Glattes Gesicht, ein wenig
straff vielleicht, kurzes, braunes Haar, dunkelgrauer Zweiteiler mit Nadelstreifen, sonst
war nichts auszusetzen an der Erscheinung,
die so gar nicht zur eiskalten Stimme passen
wollte. Chris kompensierte ihr ernstes Gesicht
mit einem freundlichen Lächeln.
»Staatsanwältin Winter, nehme ich an. Chris
Roberts, freut mich.«
Klara Winter trug keinen Ehering mehr. Der
Abdruck war aber deutlich zu sehen. Solche
Sachen fielen ihr jetzt auf. Daher rührte vielleicht die Unterkühlung. Es bestand also
Hoffnung auf Besserung. Die Zeit heilt Wunden, sagt man. Die Staatsanwältin hielt sich
nicht mit Begrüßungsfloskeln auf. Sie fragte
nur:
»Wo stehen wir?«
»Die Akten sind unterwegs hierher. Die Beweisstücke werden zur KTU nach Wiesbaden
geschickt. Ich rechne spätestens Dienstag mit
Ergebnissen.«
38
»Hat das LKA nicht schon alles untersucht?«
Chris schüttelte den Kopf. »Die haben alle
Arbeiten eingestellt, als sie hörten, dass wir
den Fall übernehmen.«
»Kann ich verstehen«, murmelte die Staatsanwältin, »heikel, sehr heikel.«
»Immerhin wissen wir, dass Eddie Jones den
Dienst bei der US-Navy vor zehn Jahren quittiert und seither in Deutschland gelebt hat«,
sagte Chris. »Es gibt keine lebenden Verwandten mehr. Seine letzte Adresse ist ein Wohnblock in Marzahn. Wir werden die Nachbarn
am Montagmorgen befragen.«
»Wir?«
»Referendar Seidel und ich. Kommissar Mertens überlässt ihn uns für die Dauer der Ermittlungen. Er kann ihn nicht leiden.«
»Sind ja gute Voraussetzungen. Ein Student?«
»Referendar mit ausgezeichneten Zensuren.
Ich glaube, wir können ihn gut gebrauchen
bei unserer Personalknappheit.«
Die Staatsanwältin schüttelte den Kopf in gespielter Verzweiflung. »Können Sie sich vor-
39
stellen, welcher Papierkram da auf Sie wartet?«
»Kein Formular, das ist der Deal.«
»Aber – ein blutiger Anfänger?«
»Das wird sich schnell ändern.«
Wieder schüttelte Winter den Kopf. Sie starrte ihr eine Weile abwesend auf die Bluse,
dann wandte sie sich ab mit der Bemerkung:
»Ich will den jungen Mann sehen, sobald er
auftaucht. Haben wir uns verstanden?«
Weg war sie, ohne die Antwort abzuwarten.
Das Handy summte: Referendar Seidel.
»Chef, ich habe die Leute aufgespürt, die von
der Party, wissen Sie.«
»Ja, ich kann mich erinnern. So lautet Ihr Auftrag.«
Seidel zögerte. »Das – ist das Problem. Namen und Adresse habe ich, aber da ist niemand zu Hause.«
Er überholte sich selbst beim Sprechen, damit
sie nicht unterbrach.
»Es fand wohl eine Art Polterabend im alten
Asylheim statt. Der Bräutigam ist in den Flitterwochen auf Mallorca. Der Aufenthalt des
40
zweiten Mannes ist unbekannt. Ich habe versucht, das Hotel ausfindig zu machen über
das Reisebüro, aber die haben schon geschlossen.«
»Vergessen Sie nicht zu atmen«, unterbrach
sie besorgt.
Er nahm die Aufforderung ernst. »Ich atme
ganz normal, Chef.«
»Da bin ich ja beruhigt, Seidel, gute Arbeit.
Aber jetzt schalten Sie einen Gang runter. Es
ist Wochenende und die Zeugen laufen uns
schon nicht weg, falls es überhaupt Zeugen
sind, was ich im Übrigen stark bezweifle.«
Das stimmte ihn nachdenklich. Es entstand
eine kurze Pause, bevor er zaghaft fragte:
»Chef, sind Sie im Büro?«
»Sieht so aus.«
»Gut, ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen
mit den Akten.«
Sie sah auf die Uhr: Feierabend, Wochenende.
Der junge Mann hatte kein Privatleben. »Ideale Voraussetzung für diesen Job«, murmelte
sie beim Auflegen.
Es klopfte.
41
»Herein«, sagte sie verwundert, als niemand
ins Zimmer stürzte.
Die Tür ging auf. Zuerst erschien ein kleiner
Kaktus. Ihm folgte ein Mann am Stock mit
schütterem, grauem Haar, dessen Bauch vom
Mangel an Bewegung zeugte. Er stellte den
Topf auf den Schreibtisch und streckte ihr
strahlend die Hand entgegen.
»Tach Frau Kommissar. Jens Haase, Faktotum im Innendienst mit steifem Bein und
Mädchen für alles in diesem Irrenhaus.«
»Alles klar«, lachte sie und erwiderte den
kräftigen Händedruck. »Für mich?«, fragte sie
mit einem Blick auf den grünen Zwerg.
Er nickte. »Auf die Schnelle konnte ich nichts
anderes finden. Wir haben Sie erst am Montag
erwartet.«
»Der ist niedlich, danke.«
Sie betrachtete die Pflanze genauer. Im Moment, als sie den gelben Punkt bemerkte, klarte es draußen auf. Die letzten Strahlen der
Abendsonne brachen durch die Regenwolken.
Warmes Licht verwandelte das Büro in einen
halbwegs erträglichen Arbeitsplatz.
42
»Er bekommt eine Blüte«, sagte sie lächelnd.
»Unmöglisch, der hat noch nie jeblüht.«
»Da, sehen Sie.«
Es wurde wieder düster im Raum. Die Rollläden, diese Intelligenzbestien, reagierten auf
das Sonnenlicht. Ihr Gesicht war eine einzige
Anklage. Jens Haase begriff sofort.
»Das haben wir gleich, warten Sie.«
Er humpelte davon. Nach kurzer Zeit kehrte
er mit schwarzem Klebeband und Werkzeug
zurück.
»Ich kann es leider nicht selbst tun. Das Bein,
wissen Sie. Aber ich sage Ihnen, wie's geht. Es
ist ganz einfach.«
Er versprach nicht zu viel. Mit wenigen
Handgriffen gelang es ihr, den Sensor zu verkleben. Die Rollläden fuhren hinauf und blieben oben. Sie fühlte sich schon fast zu Hause
am Treptower Park. Ihr neuer Kollege grinste
zufrieden. Sie nahm sich vor, Jens Haase trotz
Innendienstes nie zu unterschätzen.
»Bin in der Bierstube«, meldete ihr Handy.
43
»Mist!« Sie hatte Jamie ganz vergessen. »Ich
muss mich entschuldigen«, sagte sie zu Haase. »Bleiben Sie noch eine Weile?«
»Ich bin immer da.«
Das Lachen blieb ihr im Halse stecken, denn
er meinte es durchaus ernst. Noch einer ohne
Privatleben. Sie begann, sich schuldig zu fühlen. Jetzt, da sie erste, zaghafte Versuche unternahm, so etwas wie eine Familie zu gründen.
»Ich bitte Sie um einen Gefallen. Noch einen«,
fügte sie nach kurzem Zögern lächelnd hinzu.
»Referendar Horst Seidel wird in Kürze mit
den Akten eintreffen. Er soll für eine Weile
hier arbeiten. Würden Sie sich bitte um den
Jungen kümmern? Staatsanwältin Winter ist
informiert.«
»Oh, Sie hatten schon das Vergnügen.«
»Weiß nicht, ob man es so bezeichnen kann.
Sie hat wohl nicht viel Spaß im Leben.«
Haase nickte zustimmend. »Das ist offensichtlich. War sie sehr kurz angebunden?«
»Sehr.«
44
Seine Mundwinkel wanderten wieder nach
oben. »Dann hat sie Angst.«
»Angst?«, rief Chris verblüfft aus, »wovor?«
»Vor Ihnen, Frau Kommissar.«
Er wollte die seltsame Antwort nicht begründen, dennoch sorgte sie für gute Laune, als sie
das Haus verließ.
Montagmorgen. Seidel saß am Steuer des
Dienstwagens. Ihr Sklave navigierte geschickt
durch den Berufsverkehr, obwohl er sich seit
Arbeitsbeginn am frühen Morgen mit Selbstzweifeln zerfleischte.
»Es tut mir echt leid«, wiederholte er zum
dritten oder vierten Mal. »Sie müssen mir
glauben, Chef. Ich habe keinen Aufwand gescheut. Die Zeugen auf Mallorca waren während des ganzen Wochenendes nicht erreichbar. Es ist zum Verzweifeln, echt jetzt.«
Sie konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Er sprach nicht nur in ganzen, korrekten, deutschen Sätzen. Auch der Genitiv war
ihm nicht fremd, eine Seltenheit unter jungen
45
Leuten. Um ihn abzulenken, wechselte sie das
Thema:
»Sobald wir zurück sind, sollten Sie bei
Staatsanwältin Winter vorbeischauen.«
Der Wagen drohte, auf den Bürgersteig auszubrechen, so heftig riss er am Lenkrad, als er
herumfuhr, die Augen weit aufgerissen, das
Gesicht grau wie auf einem Schwarz-WeißFoto. Er korrigierte erschrocken. Der Wagen
beruhigte sich.
»Was kann Frau Staatsanwältin Winter von
mir wollen?«, fragte er heiser.
»Erschrecken Sie jetzt nicht wieder«, warnte
sie. »Sie will Sie kennenlernen.«
»Staatsanwältin Winter will mich kennenlernen? Warum möchte sie das?«
Die Frage klang verzweifelt.
»Keine Panik, Seidel. Ich glaube, sie steht
nicht auf junge Männer. Sie will nur wissen,
mit wem sie's zu tun hat. Das ist alles.«
Es schien ihn nicht zu beruhigen.
»Sie werden doch dabei sein?«, fragte er
ängstlich.
46
Es kostete sie einige Anstrengung, nicht zu
lachen. Glücklicherweise brauchte sie nicht zu
antworten, denn sie näherten sich dem Häuserblock am Ende der Quartierstraße in Marzahn, wo Eddie Jones gewohnt hatte.
»Am besten überlassen Sie mir das Reden«,
sagte sie beim Aussteigen.
Der Block erinnerte an DDR Zeiten, obwohl
die Häuser kaum älter als zehn, fünfzehn Jahre sein konnten. Grauer Verputz bröckelte von
grauem Beton und eingeschlagene Fensterscheiben im Erdgeschoss ließen nichts Gutes
erahnen. Umso erstaunter stellte sie fest, dass
Mr. Jones Wohnung nicht aufgebrochen worden war und das Polizeisiegel unversehrt an
der Tür klebte.
»Wo bleibt der Hausverwalter? Haben sie ihn
nicht informiert, Seidel?«
»Doch, selbstverständlich habe ich ihn informiert, aber wir sind wohl etwas zu früh.«
»Besser früh als zu spät«, brummte sie und
versuchte, die Tür aufzustoßen.
Sie war verschlossen, was bei Seidel hektische
Aktivität auslöste. Er nestelte aufgeregt in sei47
ner bodenlosen Aktentasche, bis er einen
Schlüsselbund in einem Plastikbeutel zutage
förderte.
»Ich dachte, wir könnten Mr. Jones Schlüssel
heute brauchen«, sagte er verlegen. »Ich habe
das Asservat deshalb zurückbehalten. Hätte
ich das nicht …«
»Seidel, Seidel!«, unterbrach sie schmunzelnd. »Geben Sie schon her.«
Der Junge hatte eine große Karriere vor sich.
Die Wohnung bestand im Wesentlichen aus
dem Wohnzimmer mit einem Wandschrank,
in dem Küche und Bad zusammen Platz gefunden hätten. Sie blieb verblüfft stehen.
»Was fällt Ihnen auf, Seidel?«
»Man sollte lüften.«
»Das auch, sonst?«
Er zuckte die Achseln und lief rot an.
»Sehen Sie Kleider, Schuhe, sonst irgendetwas, was auf den Bewohner hindeutet?«
»Stimmt, nicht einmal ein Handtuch im Bad«,
gab er in ungewohnter Kürze zu.
Die Billigmöbel standen noch da, Bratpfanne
und Suppentopf nebst einigen Gläsern und
48
Besteck in der Küche ebenfalls, aber sonst erweckte die Wohnung den Eindruck, der Mieter wäre ausgezogen.
»Gibt es in den Akten einen Hinweis auf seine neue Anschrift?«
Seidel schüttelte den Kopf, sprachlos, als trüge er die Schuld an der Verwirrung. Wer hatte
hier ausgeräumt? Wollte jemand Spuren beseitigen? Der Scharfschütze vielleicht? Als läse
er ihre Gedanken, sagte Seidel:
»Vielleicht haben die Nachbarn etwas gesehen.«
Sie nickte. »Wir werden sie gleich fragen.«
Acht Uhr war vorbei. Der Verwalter ließ sich
noch immer nicht blicken. In der Wohnung
gab es nichts mehr zu sehen. Sie beschloss,
mit der Befragung zu beginnen. Die Tür des
Nachbars zur Linken öffnete sich, als sie auf
den Flur traten. Eine alte Dame, deren sorgfältig lackierte Fingernägel wohl ihren einzigen
Luxus darstellten, kam ihnen entgegen.
»Wer sind Sie, was haben Sie in Mr. Jones
Wohnung zu suchen?«, fragte sie streng.
49
Der Ausweis beruhigte sie nur teilweise. Sie
musterte den jungen Referendar misstrauisch.
»Schon wieder Polizei? Ich kann mir nicht
vorstellen, dass der nette Mr. Jones etwas verbrochen hat, im Gegensatz zum andern Gesindel in diesem Haus. Alles Ganoven, wenn
Sie mich fragen. Aber vor Mr. Jones haben alle
großen Respekt. Wissen Sie, früher …«
»Sie kennen ihn gut?«, unterbrach Chris
rasch, um Seidel an einer unvorsichtigen Bemerkung zu hindern.
»Natürlich, was denken Sie denn, wir sind
Nachbarn.«
»Natürlich. Wann haben Sie ihn zum letzten
Mal gesehen?«
Die Frau sah sie an, als vermute sie unanständige Hintergedanken. Dann antwortete
sie so, dass nur Chris es hören sollte:
»Freitagmittag vor einer Woche.«
»Seither nicht mehr?«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Er müsse eine Weile weg, hat er gesagt.«
»Wohin?«
»Keine Ahnung.«
50
Die Frau schien Eddie Jones recht gut zu
kennen. Chris stellte ihr die üblichen Fragen
nach dem Befinden des Opfers in der letzten
Zeit, Auffälligkeiten, Freunden, Feinden, Besuchern, Auseinandersetzungen, die sie vielleicht beobachtet hatte. Die Antwort war stets
eine Variante von: Mr. Jones war ein ruhiger,
anständiger Mensch. Die Nachbarin wurde
misstrauisch.
»Warum stellen Sie mir all die seltsamen Fragen? Ihm ist doch nichts zugestoßen?«
Sie musste der alten Dame die Wahrheit sagen. Offenbar hatte sie die Zeitungsmeldung
übersehen, oder sie las keine Zeitungen. Eine
Todesnachricht zu überbringen, empfand
Chris als schlimmste Pflicht in ihrem Beruf.
Die Eröffnung schockierte Eddie Jones’ Nachbarin, als hätte sie ihren eigenen Sohn verloren. Die Fassungslosigkeit der alten Dame
übertrug sich auf Seidel. Stumm notierte er
die spärlichen Ergebnisse weiterer Befragungen, bis Chris sich schließlich nach seinem Befinden erkundigte. Er zögerte mit der Antwort, suchte nach Worten.
51
»Wie schaffen Sie das?«, murmelte er nach
einer Weile undeutlich.
»Was meinen Sie?«
Er gestikulierte hilflos mit den Armen. »Das
alles – nicht an sich heranzulassen.«
»Gar nicht«, gab sie unumwunden zu. »Man
kann so etwas nicht einfach wegstecken. Es ist
der Punkt, wo aus Opfern Menschen werden,
Menschen mit Beziehungen zu andern Menschen.« Nach kurzer Pause fügte sie hinzu:
»Das war ehrliche Trauer. Die Nachbarin
trauert um den Toten, ein tröstlicher Gedanke,
finden Sie nicht?«
Die Ankunft des Hausverwalters unterbrach
sie. Außer Atem entschuldigte er sich für die
Verspätung und reichte ihr eine Mappe mit
Dokumenten.
»Mietvertrag, Referenzen, Adresse des Arbeitgebers, alles da, wie Sie sehen«, bemerkte
er dazu.
Er sah das zerschnittene Siegel und strahlte.
»Heißt das, die Wohnung ist freigegeben?«
»Leider nein, Sie müssen sich gedulden, bis
der Fall abgeschlossen ist.«
52
Er wich entsetzt einen Schritt zurück. »Aber –
wie lang dauert das noch? Die Wohnung
muss gereinigt werden, bevor die neuen Mieter einziehen.«
»Neue Mieter? Das ging aber flott.«
»Was glauben Sie, wie lang unsere Warteliste
ist?«
Es gab zwar kaum bezahlbaren Wohnraum in
dieser Stadt, aber Eddie Jones' Wandschrank
konnte man auch nur mit viel gutem Willen
als Wohnung bezeichnen. Sie schwieg und
staunte über die nächste Bemerkung des
Hausverwalters:
»Mr. Jones hat die Wohnung vorletzte Woche
gekündigt. Da mussten wir natürlich handeln.«
»Wann genau war das?«
»Die Kündigung? Wir haben sie Freitag vor
einer Woche erhalten.«
Zur gleichen Zeit hatte sich Eddie Jones von
der Nachbarin verabschiedet nach der Räumung seiner Wohnung. Es war ein Abschied
für immer, und er wusste es, wie eine Katze,
die sich zum Sterben in ein dunkles Versteck
53
verkriecht. Die Kopie der Kündigung lag bei
den Dokumenten des Hausverwalters. Sie
enthielt keine Begründung.
»Gab es Schwierigkeiten am Arbeitsplatz?«
Der Hausverwalter zuckte die Achseln. »Mir
ist nichts bekannt, aber das müssen Sie bei
Siemens nachfragen. Er hat dort im Sicherheitsdienst gearbeitet. Steht alles in den Unterlagen.«
Bevor sie wieder ins Auto einstiegen, sagte
sie zu Seidel:
»Melden Sie uns bei Siemens an. Wir möchten mit dem Personaldienst und den Kollegen
sprechen.«
Sie selbst musste nachdenken.
Die Lagebesprechung bei Staatsanwältin
Winter geriet zur Nagelprobe für den armen
Seidel. Sie richtete die Fragen nur an ihn, begierig darauf, den jungen Mann bei einem
Fehler zu ertappen. Ihr Verhalten erinnerte
Chris fatal an den Griesgram Mertens. Seidel
schwitzte Blut. Man sah es ihm an. Umso
lustvoller versuchte Winter, ihn in die Enge
zu treiben. Chris bereitete sich auf die Rettung
54
in letzter Sekunde vor, doch er hielt stand,
wiederholte die Fakten sachlich, auch wenn
sie zum dritten Mal danach fragte. Auch ihre
eigenen Recherchen bei der US-Navy gab er
korrekt wieder. Sie konnte sich zurücklehnen
und einmal mehr im Geiste Hauptkommissar
Mertens danken.
»Wie wir wissen«, fuhr er fort, »hat Mr. Jones
als SCPO der US-Navy in Afghanistan gedient. Dort ist er schwer verwundet worden.
Nach einem längeren Klinikaufenthalt im Lazarett Landstuhl bei Kaiserslautern hat er vor
zehn Jahren den Dienst quittiert. Seither führte er ein zurückgezogenes, unauffälliges Leben in Deutschland. Er ist jedenfalls nicht aktenkundig.«
Die Staatsanwältin öffnete den Mund, doch
er nahm ihre Frage vorweg:
»SCPO ist das offizielle Kürzel für Senior
Chief Petty Officer, was etwa dem Stabsbootsmann der Deutschen Marine, also einem
höheren Unteroffiziersrang, entspricht.«
Immer noch kein Fehler. Die Enttäuschung
stand der Staatsanwältin ins Gesicht geschrie55
ben. Mangels Alternative wandte sie sich an
Chris und fuhr sie an:
»Mir scheint, wir gewinnen jedes Quiz über
Mr. Jones, aber gibt es vielleicht auch einen
winzigen Hinweis auf den Täter?«
»Nur Vermutungen. Wir stehen erst am Anfang.«
Winter spielte ungeduldig mit ihrem Stift
und wartete. Da niemand weitersprach, platzte ihr der Kragen:
»Verdammt, wissen Sie, was da los ist? Die
Presse rennt mir die Bude ein. Ein schwarzer
US Soldat von einem Profikiller mitten in Berlin erschossen – ein Albtraum!«
»Vor allem für den Soldaten«, bemerkte Chris
kühl.
Sie konnte es nicht lassen. Die Presse interessierte sie einen feuchten Kehricht, und an den
Profikiller glaubte sie nicht. Der hätte sich
nicht mit einem einzigen Schuss zufriedengegeben. Drei Schüsse in Kopf und Herz, um sicher zu gehen, das war die übliche Methode.
Sie verspürte keine Lust, die Winter aufzuklären. Die Sitzung hatte schon zu viel Zeit ge56
kostet, doch die Staatsanwältin gab noch nicht
auf:
»Können wir ein rassistisches Motiv ausschließen?«
»Erst, wenn wir den Täter gefasst haben«,
antwortete Chris getreu nach Lehrbuch.
»Das weiß ich auch. Vielen Dank für die Aufklärung. Ich will aber wissen, was Sie denken.«
»Eddie Jones hat seinen Abgang geplant, so
viel ist bekannt. Er hat die tödliche Kugel ruhig erwartet, ohne sich zu wehren. Für mich
sieht das nicht nach rassistischer Gewalttat
aus.«
»Trotzdem, solang der Täter ein Phantom
bleibt, müssen wir in alle Richtungen ermitteln.«
»Wir müssten«, gab Chris zu, »aber ohne
Leute? Wir nehmen uns jetzt das Arbeitsumfeld des Opfers vor. Es könnte sich sehr wohl
um eine Beziehungstat handeln.«
Winter verzichtete auf Einspruch und schloss
die Sitzung mit dem Allgemeinplatz: »Halten
Sie mich auf dem Laufenden.«
57
Seidel holte tief Luft und räusperte sich umständlich, bevor er sie unter der Tür ansprach:
»Frau Dr. Winter, Sie wollten mich sprechen?«
Sie blickte ihn abwesend an. »Ich? Ach so, ja,
hat sich erledigt, danke.«
Chris sah die Endorphine in seinen Augen
tanzen wie Derwische.
»Haben Sie das gehört, Seidel? Sie hat Danke
gesagt, Danke, unvorstellbar.«
Er nickte ergriffen mit dem Lächeln der Mona
Lisa im Gesicht.
Jens Haase erwartete sie auf dem Flur, ein
Bündel Akten unter dem Arm.
»Das sind Ihre Unterlagen für den Besuch bei
Siemens«, sagte er.
Verblüfft nahm sie die Papiere entgegen. »Ich
habe eher ein Blatt A4 erwartet, kein Buch,
aber vielen Dank.«
»Das Wichtigste steht auf dem Deckblatt.«
Haase mochte nicht der Schnellste sein zu
Fuß, beim Recherchieren hingegen schlug er
sie um Längen. Ein süßlicher Duft nach gerös-
58
tetem Getreide und Kakao strömte aus seinem
Büro.
»Betreiben Sie eine Kaffeerösterei da drin?«
»Riecht gut, nicht wahr? Ich habe die neue
Arabica-Mischung erst vor Kurzem entdeckt.
Darf ich Ihnen ein Tässchen offerieren?«
»Schwarz ohne alles«, antwortete sie lächelnd.
Er nickte zufrieden. »Die einzige Art, diese
edlen Bohnen zu genießen.«
Sie hatte den Tempel der Glückseligen am
Treptower Park gefunden. Sie ließ erst ihre
Nase trinken, bevor sie die Tasse zum Mund
führte. Haase trank mit geschlossenen Augen
in kleinen Schlucken. Plötzlich schlug er sich
an die Stirn.
»Ich alter Esel!«, rief er aus, »Dr. Lenz von
der KTU Wiesbaden hat angerufen. Entschuldigung, ich werde vergesslich.«
»Kaffee hilft eben nur dem Langzeitgedächtnis«, lachte sie. »Was hat Caro zu berichten?«
»Sie wollte mir nichts sagen, aber es scheint
wichtig zu sein. Sie sollen sie zurückrufen.«
59
War die Kriminaltechnik schon fertig mit der
Analyse? Ihre Freundin Caro Lenz, Chemikerin wie sie, arbeitete schnell, aber so schnell?
Die ersten Worte aus dem Hörer dämpften ihre Freude sogleich:
»Wir kommen nicht weiter«, sagte Caro.
»Mal was ganz Neues. So etwas aus deinem
Mund?«
»Ich hoffe, du amüsierst dich gut.«
Caro litt, wie schon früher an der Uni, wenn
sie ein Problem nicht lösen konnte. In solchen
seltenen Fällen war es besser, den Mund zu
halten, also wartete sie auf ihre Erklärung.
»Zuerst das Offensichtliche«, begann sie mürrisch. »Der Täter hat Munition vom Kaliber
9x19 mm Parabellum benutzt. Die Tatwaffe ist
mit großer Wahrscheinlichkeit eine Beretta
M9, die offizielle Pistole der US-Navy. Soweit
ist alles klar. Verwertbare Fremd-DNA gibt es
keine. Fingerabdrücke auf der Patronenhülse
sind durch die Hitze zerstört worden. Die
Abdrücke auf der Erkennungsmarke hat der
Täter wohl abgewischt.«
60
»Das ist Pech, aber nichts Ungewöhnliches«,
bemerkte Chris.
Caro reagierte unwirsch: »Ich bin noch nicht
fertig. Wie gesagt, die konventionelle Methode liefert keine Fingerabdrücke, aber wir haben ›Bullet Fingerprints‹ sichergestellt, und
zwar sowohl auf dem Dog tag wie auf der
Patronenhülse.«
»Was sind ›Bullet Fingerprints‹?«
Die Frage verbesserte Caros Laune augenblicklich.
»Sieh an, die allwissende Chris ist nicht auf
dem neusten Stand«, lachte sie. »Zugegeben,
die Methode der ›Bullet Fingerprints‹ ist neu.
Wir können damit Abdrücke auf Metall sichtbar machen, selbst nachdem sie abgewischt
sind. Man behandelt die Oberfläche mit einem
Keramikpulver und legt eine hohe Spannung
an. Das Pulver reagiert so mit feinsten Korrosionsspuren, die Finger auf dem Metall zurücklassen. Dadurch konnten wir identische
Zeigefinger- und Daumenabdrücke auf der
Hülse und dem Dog tag sicherstellen, die
nicht vom Opfer stammen.«
61
Das hörte sich an wie Weihnachten, und sie
gab es Caro zu verstehen.
»Schon, aber jetzt ist Ende der Fahnenstange«, klagte ihre Freundin. »Wir haben alles
abgesucht. Es gibt keinen Treffer in unseren
Datenbanken. Ich packe alles in eine Mail und
wünsche dir viel Erfolg.«
Chris teilte Caros Pessimismus nicht. Sie waren einen enormen Schritt vorangekommen.
Es gab eindeutige Fingerabdrücke des Täters,
anders waren die Spuren auf der Patronenhülse kaum zu erklären, und sie wusste nun,
dass der Täter die Erkennungsmarke angefasst hatte. Weshalb, blieb ein Rätsel, aber es
könnte ein wichtiges Indiz sein. Die Armeepistole als Tatwaffe passte zu ihrem Verdacht, es handle sich um eine Beziehungstat
unter ehemaligen Kameraden. Es lag auf der
Hand, durch welche Datenbank sie die Fingerabdrücke nun schicken mussten.
»Haben Sie gute Verbindungen zur USNavy?«, fragte sie Haase mit ironischem Unterton.
62
»Kann man nicht behaupten, aber mailen Sie
mir die Bilder. Ich kümmere mich um den Papierkram und schicke sie ans EUCOM in
Stuttgart.«
»Das wird dauern«, sagten beide gleichzeitig.
»Wir müssen aufbrechen«, mahnte Seidel.
Sie nickte, wollte ausloggen, als der Groschen
fiel. Es gab möglicherweise einen schnelleren,
kleinen Dienstweg: Sofie Neubauer, ihre Bekannte beim Bundesnachrichtendienst. Ein
Schuss ins Blaue, aber einen Versuch wert.
BND, MAD und Verfassungsschutz besaßen
ihre eigenen Archive und Datenquellen. Sie
traute Sofie zu, die Fingerabdrücke zu identifizieren, falls sie dort gespeichert waren. Auf
dem Weg zu Siemens wuchs ihr Optimismus.
Sofie würde bald zurückrufen. Sie spürte es in
den Nieren.
Dagmar Krause, die Personalchefin im Siemensturm, hörte Seidels juristischem Monolog mit offenem Mund zu. Chris wähnte sich
in einem alten ›Fall für Zwei‹. Sie traute nicht
allen Argumenten ihres Referendars, doch
seine Rede wirkte Wunder. Die Personalche63
fin gab die Akte Eddie Jones ohne Gerichtsbeschluss heraus. Chris überflog die jüngsten
Einträge und stutzte.
»Mr. Jones hat vor einem Monat gekündigt?
Was war der Grund?«
»Wir wissen es nicht. Es war sein Entschluss,
völlig überraschend für Herrn Weller, den Sicherheitschef. Mit dem Personaldienst hat Mr.
Jones nicht darüber gesprochen.«
»Seltsam«, murmelte Chris.
»In der Tat. Es gab nie Probleme mit Herrn
Jones, wie sie der Akte entnehmen werden.«
Ein vorbildlicher Mitarbeiter kündigt von einem Tag auf den andern. Einen Monat später
liegt er erschossen im Gras. Was war geschehen? Die Personalakte musste genau analysiert werden, doch Chris versprach sich nicht
viel davon.
»Gab es private Kontakte zu andern Mitarbeitern?«
Dagmar Krause zuckte die Achseln. »Keine
Ahnung. Solche Fragen stellen Sie am besten
dem Sicherheitschef. Herr Weller kennt Herrn
64
Jones, seit er bei uns angefangen hat vor sechs
Jahren.«
Paul Weller empfing sie mit festem Händedruck und dem offenen Blick des ehrlichen
Mannes. Er war der zweite Mensch, der sich
tief betroffen zeigte vom gewaltsamen Tod
des Eddie Jones.
»Eddie – ich kann es immer noch nicht fassen«, sagte er. »Eddie war ein Glücksfall für
uns, müssen Sie wissen. Ein ehemaliger Elitesoldat der US-Navy, Afghanistan-Veteran, anständig, verschwiegen, gute Manieren, gutes
Deutsch: Was will man mehr in einem Sicherheitsdienst?«
»Gab es besonders enge Kontakte zu andern
Personen in der Firma oder privat, Freunde,
Feinde?«
»Eddie war ein Einzelgänger. Er trat niemandem auf die Füße, ließ aber auch niemanden
an sich herankommen, wenn Sie verstehen,
was ich meine. Außer Alvarez, mit dem verband ihn eine alte Freundschaft. Diego Alvarez ist Ex-Soldat wie er, kämpfte auch in Afghanistan.«
65
Chris horchte auf. »Diesen Herrn Alvarez
möchte ich zuerst sprechen.«
»Das ist leider zurzeit nicht möglich. Er befindet sich auf Heimaturlaub, wie er es nennt.
Einmal im Jahr verreist er für einen Monat in
die Staaten, meist über den Militärflugplatz
Ramstein.«
»Wann ist er abgereist?«
»Moment.« Er beugte sich über den Einsatzplan auf seinem Schreibtisch. »Letzten Dienstag. Wir erwarten ihn am 26. zurück.«
Ihre Hoffnung schwand. War er tatsächlich
am Dienstag abgeflogen, hatte Mr. Alvarez
ein perfektes Alibi. Der tödliche Schuss war
am darauffolgenden Freitag gefallen.
»Wie kann ich Herrn Alvarez erreichen?«
Weller grinste verlegen. »Ich führte, gar nicht.
Wir kennen leider keinen Kontakt in den
USA. Er besitzt zwar ein Handy, nimmt aber
grundsätzlich im Urlaub keine Anrufe darauf
entgegen.«
Er schrieb die Telefonnummer auf einen Zettel und schob ihn mit einer Entschuldigung
über den Tisch.
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Die Befragung von Wellers Leuten auf dem
weitläufigen Gelände zog sich bis in den
Abend hin. Seidel sank am Ende erschöpft auf
den Beifahrersitz, unfähig, weiterhin den
Chauffeur zu spielen. Er zog ein mit Seidenpapier umwickeltes Ding aus der Tasche, das
auf den ersten Blick an gefriergetrocknetes
Erbrochenes erinnerte. Er brach ein Stück ab,
schob es in den Mund, lehnte sich zurück und
begann glücklich darauf zu kauen. So etwas
Widerliches hatte sie zuletzt an einem Tatort
gesehen. Es gelang ihr nicht, den Blick abzuwenden. Die Hand mit dem Zündschlüssel
rutschte ab.
»Entschuldigen Sie, möchten Sie auch ein
Stück?«
Das Erbrochene schwebte unmittelbar vor ihrem Gesicht. Unfähig zu sprechen, wich sie
zurück.
»Makrobiotisch«, erklärte er, »garantiert keine Chemie. Diese Riegel produziere ich selbst
aus lauter natürlichen Zutaten.«
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»So sehen sie auch aus«, murmelte sie undeutlich. »Natürlich, sagen Sie? Was ist denn
da drin?«
»Es ist ein Geheimrezept«, sagte er stolz.
»Bananen, Äpfel, Getreideflocken und vieles
mehr.«
»Keine Chemie, soso. Sie essen also keine
Glutaminsäure, kein Glyzin, Leuzin und keinen Methylbutylester?«
»Igitt, um Gottes willen, nein!«
»Dann dürfen Sie keine Bananen mehr verwenden, auch keine Äpfel. Die böse Chemie
steckt nämlich da drin, zusammen mit etwa
hundert andern Chemikalien, deren Namen
Sie wahrscheinlich noch nie gehört haben.«
Er hörte auf zu kauen und betrachtete den
Rest des Riegels in seiner Hand wie Erbrochenes.
»Sind Sie sicher?«
»Ich bin vom Fach.«
Der Riegel verschwand in seiner Tasche. Sie
konnte abfahren. Seidel blätterte stumm in
seinen Notizen.
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»Da kommt viel Arbeit auf uns zu«, stellte er
nach einer Weile fest. »Zehn Alibis überprüfen, vier Befragungen stehen noch aus, und
dieser Mr. Alvarez muss kontaktiert werden.«
»Sie sagen es, und was schließen Sie daraus?«
Er antwortete ohne Zögern: »Wir brauchen
Verstärkung.«
Sie nickte, beeindruckt vom praktischen Nutzen der Fernsehkrimis.
»Mal sehen, wie die Beamtenhierarchie auf
dieses Ansinnen reagiert«, murmelte sie und
wollte die Freisprechanlage betätigen.
Sofie Neubauers Anruf aus der Zentrale des
BND kam ihr zuvor.
»Treffer?«, fragte sie, den Puls auf 180.
»Ja, halt dich fest.«
Das Adrenalin trieb Chris den Schweiß auf
die Stirn. Mit feuchten Händen lenkte sie den
Wagen an den Straßenrand und hielt an.
»Es ist ein Zufallstreffer«, sagte Sofie. »Ich
darf nicht verraten, woher wir die Information
haben, aber die Übereinstimmung mit den
Fingerabdrücken in deiner Mail beträgt nahezu hundert Prozent.«
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»Irrtum ausgeschlossen?«
»Ausgeschlossen. Die Abdrücke stammen
von einem ehemaligen Soldaten der US-Navy,
Lieutenant David Martinez.«
»Wer sagt’s denn!«, rief sie ins Telefon. »Anschrift und Telefonnummer des Herrn Martinez kennt ihr sicher auch noch?«
»Lieutenant David Martinez ist vor zehn Jahren in der Provinz Helmand in Afghanistan
gefallen.«
Eine lange Pause entstand, während Chris
versuchte, die unglaubliche Information zu
verarbeiten.
»Bist du noch dran?«
»Ja – ja, klar, aber das kann nicht sein.«
»Ist aber so.«
»Die Fingerabdrücke sind keine zehn Jahre
alt. Die sind neu, eine, zwei Wochen vielleicht.«
»Kann nicht sein«, murmelte Sofie nun ihrerseits.
»Sag ich ja.«
Wieder entstand eine Pause, bis Sofie unterbrach:
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»Ich kann nur wiederholen: Die Übereinstimmung beträgt 99%. Der Rest ist wohl dein
Problem. Ich drücke dir alles, was ich an
Daumen besitze.«
»Ein Mord aus dem Jenseits«, fasste Seidel
wie immer korrekt zusammen.
Am nächsten Morgen standen sie vor dem
Eingang zur Pathologie in der Charité. Seidel,
blasser als üblich, machte keine Anstalten,
auch nur einen weiteren Schritt zu tun ohne
seine Beschützerin.
»Gehen Sie schon vor«, sagte Chris, als ihr
Handy klingelte.
Das Schild an der Tür der Leichenhalle beschäftigte ihn so sehr, dass er ihre Aufforderung überhörte und selbst in Leichenstarre
verfiel. Es war seine erste Leichenschau.
Die Winter war am Apparat.
»Damit erübrigt sich Ihr Antrag auf Verstärkung, nehme ich an«, sagte die Staatsanwältin.
»Wie muss ich das verstehen?«
»Kommen Sie! Es liegt doch auf der Hand,
dass niemand von der Belegschaft als Täter in71
frage kommt, nachdem die Fingerabdrücke
eindeutig auf David Martinez hinweisen.«
»Glauben Sie an Gespenster?«, fragte Chris
gereizt. »Ich muss Sie darauf hinweisen, dass
David Martinez seit zehn Jahren tot ist.«
»Dieses Rätsel müssen Sie lösen.«
Chris schnaubte innerlich. »Eben, und deshalb müssen wir alles verifizieren, was uns
erzählt wird. Das braucht Zeit und Ressourcen. Wir dürfen uns in so einem heiklen Fall
keine Nachlässigkeit erlauben. Das ist doch
nur in Ihrem Sinn, nicht wahr?«
»Vor allem brauchen wir schnell Resultate«,
brummte die Staatsanwältin. »Das Opfer war
ein hoch dekorierter amerikanischer Elitesoldat, ein Navy SEAL, wie uns die zuständigen
Stellen versichern. Mr. Jones soll in den USA
mit allen militärischen Ehren bestattet werden. Die wollen seinen Leichnam unverzüglich.«
»Zuerst wird ihm der Pathologe die Ehre erweisen«, entgegnete Chris trocken. »War das
alles?«
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Sie öffnete die Tür und bedeutete Seidel, einzutreten. Er zögerte.
»Hereinspaziert, Herr Referendar«, ermunterte sie ihn. »Es wird schon nicht schlimmer
sein als Ihr Riegel.«
Eddie Jones lag auf dem Stahltisch, als hätte
er sich glücklich von dieser Welt verabschiedet. Der Rechtsmediziner wiederholte, was er
schon am Tatort festgestellt hatte:
»Ein präziser Gnadenschuss. Der Schusskanal
verläuft von der Mitte der Stirn schräg nach
unten zum Cerebellum, dem Kleinhirn. Das
Opfer war sofort tot. Die Waffe war nicht aufgesetzt. Aufgrund der Verletzungen gehen
wir davon aus, dass der Schuss aus achtzig bis
hundert Zentimeter Entfernung abgefeuert
worden ist. Es braucht eine sehr ruhige und
geübte Hand dazu.«
»Die SEALs sind Killermaschinen«, murmelte
Seidel tonlos.
Chris musste schmunzeln. »Das erklärt ja alles.«
»Echt jetzt. Die SEALs sind die Elite der Elite.
Denken Sie an Bin Laden.«
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»Ich werde es mir merken«, versicherte sie.
Der Pathologe unterbrach den geistreichen
Dialog:
»Möchten Sie wissen, was wir in Mr. Jones'
Blut und Magen gefunden haben?«
»Nicht wirklich, aber Sie werden es uns
trotzdem sagen.«
»So ist es. Es könnte durchaus wichtig sein.
Das Opfer hat in letzter Zeit häufig Cannabis
konsumiert. Sie werden es kaum glauben,
aber ich habe Anzeichen von Unterernährung
festgestellt. Der Mann litt an einer schweren
und offenbar langwierigen Gastroenteritis.«
»Eine Magen-Darm-Infektion! Was verstehen
Sie unter schwer?«
»Seine Nieren sind geschädigt. Ohne intensive Behandlung in einer Klinik wäre Mr. Jones
daran gestorben.«
Die Äußerung des Pathologen stand in krassem Widerspruch zum Ausdruck des Friedens
auf dem Gesicht des Toten. Tödliche Krankheit, Drogenkonsum: Ihre Gedanken begannen sich zu überschlagen. Sie hatte keine Ah-
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nung, wie sie die neue Information einordnen
sollte. Der Arzt war noch nicht fertig:
»Die Ursache der Infektion sind gramnegative Pathogene.«
Seidel zückte sein Smartphone.
»Das ist eine Leichenhalle, junger Mann«, belehrte ihn der Pathologe, »hier wird nicht telefoniert.«
Kaum hatten sie das Haus verlassen, platzte
ihr Referendar heraus:
»Ich wollte nur nachsehen, was gram-negativ
bedeutet.«
»Was, Sie wissen das nicht? Warum haben Sie
nicht gefragt?«
Damit ließ sie es bewenden. Sie selbst konnte
sich nichts unter dem Begriff vorstellen, aber
ihr privates Wikipedia hieß Jamie, war Arzt
und würde sie bald erschöpfend über gramnegative Pathogene aufklären. Seidel sprach
kein Wort während der Fahrt zurück zum
Treptower Park. Möglicherweise bedrückten
ihn ähnliche Gedanken wie sie. Eddie Jones
musste unter großen Schmerzen gelitten haben. Das könnte den erhöhten Konsum von
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Haschisch erklären und den friedlichen Gesichtsausdruck. Der Tod als Erlöser. Wieso
beendete er seine Qualen nicht selbst, wenn er
keinen Ausweg mehr sah? Vielleicht war ihm
der Täter nur zuvorgekommen. Hatte er sich
deshalb nicht gewehrt? Die schwere Krankheit des Opfers warf ein neues Licht auf den
Fall, doch Eddie Jones blieb ihr auch nach
dem Bericht des Pathologen ein Rätsel.
Sie saß noch keine Minute am Schreibtisch,
als Seidel auf sie zutrat und sich umständlich
räusperte. Leise, als wagte er es nicht auszusprechen, sagte er:
»Chef – ich glaube, wir haben etwas übersehen.«
Weiter kam er nicht. Staatsanwältin Winter
platzte herein.
»Neues vom Phantomkiller?«
Chris schüttelte den Kopf. »Nicht vom Täter
aber vom Opfer.«
Das Stichwort Cannabis elektrisierte Winter.
»Drogen?«, rief sie aus. »Dem müssen Sie sofort nachgehen. Schalten Sie die Drogenfahndung ein, dann haben Sie Ihre Verstärkung.«
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Sie rauschte hinaus, beflügelt von der neuen
Entwicklung.
»Gut, sehr gut«, hörte Chris, bevor die Tür
hinter ihr ins Schloss fiel.
Seidel nahm einen neuen Anlauf. Diesmal
unterbrach ihn Jens Haase, der vorsichtig ins
Zimmer spähte. Als er sah, dass die Luft rein
war, trat er ein.
»Schlechte Nachrichten, fürchte ich«, meldete
er. »Der Kollege des Opfers, Diego Alvarez,
ist bis jetzt nicht aufzutreiben. Es sind jede
Menge Anfragen bei Fluggesellschaften und
Flughäfen am Laufen, inklusive eines offiziellen Unterstützungsantrags ans Oberkommando in Ramstein. Bisher herrscht Funkstille.«
»Was ist mit seiner Wohnung, den Nachbarn?«
»Negativ. Mr. Alvarez zieht es vor, nur eine
Postfachadresse zu haben. Die Post kennt natürlich die richtige Anschrift, gibt aber nur mit
gültigem Gerichtsbeschluss Auskunft. Ich habe es versucht, aber der Richter stellt sich
quer, da Mr. Alvarez nicht mehr zum engen
Kreis der Verdächtigen gehöre.«
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»Nicht zum engen Kreis der Verdächtigen!«,
brauste sie auf. »Was für ein Schwachsinn. Ich
fasse es nicht. Aber danke, Herr Haase, kümmern wir uns eben selbst darum, sobald wir
Zeit haben.«
»Ich könnte unsere IT einschalten.«
Die vom Bund lizenzierten Hacker, meinte er.
Sie nickte ihm lächelnd zu und schwieg fürs
Protokoll.
»Jetzt aber zu Ihnen, Seidel. Was haben wir
übersehen?«
»Also – so absolut habe ich es nicht formuliert.« Er hüstelte verlegen, bevor er fortfuhr:
»Die Krankheit unseres Opfers hat mich daran
erinnert. Unter den Asservaten aus der Wohnung des Toten befindet sich eine leere Medikamentenschachtel. Falls es sich um ein rezeptpflichtiges Präparat handelt, finden wir so
vielleicht den Arzt …«
»Seidel, aus Ihnen wird noch ein guter
Schnüffler«, unterbrach sie schmunzelnd.
»Welche Nummer ist es?«
»Zwölf.«
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Das Beweisstück Nummer zwölf aus Eddie
Jones' Abfalleimer erschien auf ihrem Bildschirm, sauber abgelichtet von allen Seiten.
»Neomycin«, las sie laut. »Es handelt sich
wohl um ein Antibiotikum.«
»Ich kann das abklären«, sagte Seidel, bereit
zum Sprung an den Computer.
»Nein, warten Sie, wir fragen den Fachmann.«
Sie drückte die Kurzwahltaste 1 auf ihrem
Handy. Jamie antwortete nach dem ersten
Klingelton:
»Dienstlich oder privat?«
»Dienstlich«, sagte sie und schaltete auf Lautsprecher. »Neomycin, sagt dir das etwas?«
»Hast du Durchfall?«, fragte er bestürzt.
»War das Soufflé nicht in Ordnung? Warst du
beim Arzt?«
Sie brach in Gelächter aus. »Dienstlich, sagte
ich, beruhige dich. Ich möchte nur mehr über
dieses Medikament erfahren.«
»Gott sei Dank. Mit Durchfall ist nämlich
nicht zu spaßen. Ich kann ein Lied davon singen, wie du weißt. Neomycin ist ein weitver79
breitetes Antibiotikum. Es wird üblicherweise
bei Infektionen durch gram-negative Bakterien verschrieben, zum Beispiel Escherichia
Coli. Allgemein wirkt es gegen aerobe Bakterien, nur in Ausnahmefällen gegen anaerobe
Keime.«
»Man verschreibt es also zum Beispiel bei
Gastroenteritis?«
»Ja, sicher, bei schweren Fällen.«
Sie las Dosierung und Konzentration von der
Packung ab.
»Good Lord! Das ist starker Tobak. Der arme
Kerl, der so etwas braucht, muss sehr krank
sein. Zudem ist die Einnahme in dieser Konzentration über einen längeren Zeitraum gefährlich. Neomycin greift die Nieren an – unter anderem.«
Das passte zum Obduktionsbefund. Eddie
Jones musste über längere Zeit starke Dosen
des Präparats geschluckt haben. Warum war
so ein schwerer Fall nicht in stationärer Behandlung?
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»Danke, Dr. Roberts. Dr. Roberts möchte sich
später ausführlich mit Ihnen darüber unterhalten.«
»Lassen Sie sich einen Termin geben«, lachte
er. »Ich kann es kaum erwarten.«
Seidel hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Er
saß vor seinem Bildschirm, schnitt unmögliche Grimassen, als wäre es ein Spiegel, klimperte auf der Tastatur und stöhnte schließlich
erleichtert auf.
»Brauchen Sie ein Neomycin?«, fragte sie.
Er blickte sie verwirrt an, bis er die Ironie
verstand. »Ach so – nein, aber sehen Sie sich
das bitte einmal an.«
Er hatte den Aufkleber der Packung im
Computer bearbeitet, die fehlende Ecke digital
ergänzt, sodass die Herkunft des Neomycins
nun klar lesbar war:
1st Lt. Matt Fisher, MD
LRMC, Germany
»LRMC ist das Kürzel für ›Landstuhl Regional Medical Center‹«, erklärte er mit ge81
schwellter Brust. »Es ist das größte Lazarett
der US Streitkräfte außerhalb der USA.«
Sie klopfte ihm auf die Schulter, dass er zusammenzuckte wie von 10’000 Volt getroffen.
Ihre Ermittlungen hatten sich eben auf das
Bundesland Rheinland-Pfalz und das Territorium der Vereinigten Staaten von Amerika
ausgedehnt. Sie freute sich jetzt schon auf den
Schlagabtausch mit der Staatsanwaltschaft.
…
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