Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR

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Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR
www.julim-journal.de
Matthias Krauß
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Anderbeck Verlag 2007
204 Seiten 14,80
Eigentlich könnte man annehmen, dass zum Literaturunterricht in der DDR alle Messen
gelesen seien. Es gibt eine Vielzahl von Publikationen zu einzelnen Aspekten des Literaturunterrichts, größtenteils sind dies Aufsätze in Fachzeitschriften und Monographien.
Das Urteil der Beiträger ist trotz manch partiell positiver Sicht eindeutig: Der unter dem
Diktat des Volksbildungsministeriums verordnete Literaturunterricht fand seinen Niederschlag im Einheitslehrplan und in einem streng normierten Lektürekanon, der keine
Nuancen bei der Lektüre und der Interpretation der Werke aus Gegenwart und Vergangenheit im Unterricht zuließ. Dieses Urteil mag in seiner letzthin oberflächlichen
Verallgemeinerung stimmen. Es verschließt aber den Blick auf die Details, die zu unerwarteten Einsichten führen können. Das wird auch manchem Leser des Buches „Völkermord statt Holocaust“ so ergehen. Als der Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg, Erardo C. Rautenberg, bei einer Veranstaltung die Einführung in den Text
übernahm, kam er zu dem verblüffenden Urteil, dass ihm durch die Lektüre des Buches ein Klischee abhanden gekommen sei.(nach LVZ, 1.06.2007) Allerdings soll an
dieser Stelle auf einen Aufsatz von Rüdiger Steinlein verwiesen werden, der sich ausführlich mit dem Thema „Antifaschismus – Antisemitismus – Holocaust in der Kinderund Jugendliteratur der SBZ und DDR“ befasst. (Beiträge Jugendliteratur und Medien,
10. Beiheft 1999, Darstellung des Holocaust in der Kinder- und Jugendliteratur, S. 30
– 64.) In einer abschließenden Wertung heißt es in dem Beitrag:
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Insgesamt entsteht aber v.a. seit den späten siebziger Jahren in der DDR eine literarästhetisch wie inhaltlich durchaus beachtliche KJL zum Thema Judenverfolgung/Holocaust. So
brauchen die von der Dominanz des Handlungsmodells ‚antifaschistischer Widerstand’ und
dessen Vereinseitigung befreiten Holocausterzählungen etwa von Abraham und Schulenberg einen Vergleich mit westlichen Gegenstücken nicht zu scheuen. Sie gehören zum Überzeugendsten, was die internationale deutschsprachige KJL auf diesem Gebiet vorzuweisen hat. (S. 63)
Die Besonderheit der Publikation von Matthias Krauß zeigt sich bereits mit Blick auf
den Autor des Buches.
Matthias Krauß (Jg. 1960) lebt und arbeitet als Journalist in Potsdam. Er nähert sich
dem Thema „Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR“ folglich nicht als Literaturwissenschaftler, Literaturdidaktiker oder als Historiker, sondern als sorgfältig
recherchierender Journalist. Krauß sucht nicht vordergründig nach wissenschaftlichen
Quellen, sondern geht von seinem erlebten Literaturunterricht an einer erweiterten
Oberschule (EOS) in Henningsdorf (1974–1978) aus. Er befragt seine Literaturhefter
und geht dann immer genauer nachfragend, dem Thema Judenverfolgung und Holocaust im Literaturunterricht der DDR nach. Als weitere Materialien verwendet der Autor
DDR-Lesebücher und Textsammlungen zum Literaturunterricht und er wertet pädagogische Materialien wie Lehrpläne und Unterrichtshilfen zu den Lehrplänen aus. Aus all
dem ist ein locker geschriebenes, für jeden interessierten Leser verständliches Buch mit
verblüffenden Einsichten, auch für manchen Insider, entstanden.
War die DDR-Schule antisemitisch oder verschwieg sie bewusst die Judenverfolgung
im Dritten Reich? Leicht macht sich Krauß die Beantwortung dieser Fragen nicht. Er
deckt logisch-sachlich argumentierend die ideologischen Wurzeln des Literaturunterrichts auf und schont dabei keineswegs die Schulpolitik in der DDR, aber er weist auch
nach, dass manche wiederum vordergründig politisch motivierten Urteile über diesen
Unterricht einer exakten Überprüfung nicht standhalten.
Bereits auf den ersten Seiten wird man an Erstaunliches erinnert. Das im Kinderbuchverlag Berlin 1962 herausgegebene „Wilhelm Busch Album“ bringt zwar die Bildergeschichte von Plisch und Plum, lässt aber das 5. Kapitel über den schmierigen Juden
Schmulchen Schievelbeiner, das eindeutig antisemitischen Charakter hat, weg. (S. 9 f.)
Anders verfuhr ein westdeutscher Verlag mit dem „Wilhelm-Busch-Album.“. Bei Krauß
liest man dazu: „Der westdeutsche Verlag hat sich für eine mindest fragwürdige Vollständigkeit entschieden, der DDR-Verlag dagegen für das Tilgen von Antisemitismus“.
(S. 10 f.)
In einem knappen, informativen Diskurs geht Krauß auf das Phänomen ein, warum
das Wort Holocaust im Wortschatz der DDR nicht vorkam. Dies war durchaus kein Zufall, begann doch die Erfolgsgeschichte des griechisch-englischen Worts „Holocaust“
im Westen Deutschlands.
Die Initialzündung dafür ging auf einen US-amerikanischen Film gleichen Namens zurück,
der- 30 Jahre nach Kriegsende- endlich eine Art Debatte in der Bundesrepublik in Gang
setzte. Faschistische Funktionsträger hatten ihre hohen Positionen in der Demokratie inne,
ihre Seilschaften bildeten ein starkes Netz, und wie die Berichte vom Auschwitz-Prozess
heute noch künden, war das Land in seiner großen Mehrheit von der Auffassung erfüllt,
dass mit der Vergangenheitsforschung nun endlich Schluss sein müsse. (S. 14)
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Krauß beschäftigt sich im Folgenden mit der Frage, ob die Negierung des Begriffs
„Holocaust“ in der DDR die Schlussfolgerung zulässt, dass es keine Beschäftigung mit
diesem Thema gab. Er listet einen ganzen Katalog von Fragen auf, denen er nachgehen will. Einige seien hier genannt:
Wurden die unfassbaren Verbrechen an den Juden den Kindern und Jugendlichen in den
Schulen verschwiegen? Was bot das Einheits-Lesebuch? Oder vielmehr: was forderte es?
War es allein der kommunistische Widerstand, der den Schülern vor Augen gehalten wurde? Welches Bild vom Juden wurde im Unterricht gezeichnet? Welche Rolle spielten jüdische Autoren in der DDR- Schule, und was waren das für Menschen? Wie schilderten sie
selbst das Thema Juden in Deutschland? Unter welchem Blickwinkel wurden damals ihre
Werke betrachtet, und was wäre heute zu ergänzen? Welche Forderungen erhob der Lehrplan, und wie wurden diese Forderungen umgesetzt? (S.16)
Zunächst werden zur Beantwortung der Fragen vierundzwanzig Lesebuchtexte (6.–12.
Schuljahr) untersucht, die sich mit den Themen „Juden und Völkermord“ beschäftigen.
Dazu gehören Werke wie Lessings „Nathan der Weise“ (S. 17 ff.), Lion Feuchtwangers
„Geschwister Oppermann“ (S. 22 ff.), Heinrich Heines „Enfant Perdu“ (S. 30), Anna
Seghers „Das siebte Kreuz“ (S. 50 ff.), Friedrich Wolfs „Professor Mamlock“ (S. 66),
Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ (S. 98 ff.) Sarah Kirschs „Legende über Lilja“ (S.
119), J. R. Bechers „Kinderschuhe aus Lublin“ (S. 124 ff.), Stephan Hermlins „Abendlicht“ und andere. Überraschend mag für manchen auch der Nachweis sein, dass
selbst solche Werke wie Nikolai A. Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“ ausführlich von einem Judenprogrom während des Bürgerkrieges in der Ukraine berichtet. (S.
40 f.) In den Unterrichtshinweisen für Lehrer wird allerdings an keiner Stelle auf diese
bedrückende Textpassage eingegangen.
Dem angefeindeten jüdischen Schriftsteller Isaak Babel („Die Reiterarmee“) widmete
das Lesebuch der 10. Klasse immerhin eine Seite. (S. 44 ff.)
In einem FAZIT zu diesem Teil seiner Untersuchungen stellt Krauß fest, dass das Thema „Völkermord an den Juden“ aus den im Unterricht behandelten Werken nicht verbannt wurde. Das literarische Niveau dieser Werke sei über „jeden Zweifel erhaben“.
(S.132) Das Judentum als solches wurde allerdings ebenso wenig wie Christentum
oder Islam Gegenstand des Unterrichts. Eine DDR-Spezialität, so Krauß, sei, dass die
dargestellten Juden nicht passiv ihr Schicksal erduldeten, sondern sich aktiv zur Wehr
setzten (z.B. „Prof. Mamlock“).
Spezifisch für den Literaturunterricht in der DDR war auch, dass den ostdeutschen Kindern 40 Jahre lang im wesentlichen Exilliteratur vorlag, die in Frankreich, Mexiko,
Großbritannien, den USA und in der Sowjetunion geschrieben wurden. (S. 133)
Namhafte jüdische Autoren der DDR wie Stefan Heym und Jurek Becker erhielten nicht die
Schulbuch-Weihe, da die politischen Differenzen zwischen ihnen und dem DDR-Staat zunahmen und zuletzt unüberbrückbar waren. (S. 134)
Die jüdischen Autoren, die im Literaturunterricht präsent waren, bekannten sich als
Gegner des Zionismus „oder aber sie hätten das Postulat Ernst Blochs unterschrieben:
„Zionismus mündet im Sozialismus, oder er mündet überhaupt nicht.“ (S. 134)
Anzumerken bleibt, dass Matthias Krauß sich im wesentlichen auf Materialien stützt,
die ihm vom Schulmuseum Reckahn (Brandenburg) zur Verfügung gestellt wurden.
Nicht immer wurden Lesebücher und Lehrplanveränderungen berücksichtigt, die in
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den Lehrplangenerationen der DDR vorgenommen wurden. Das betrifft z.B. die Textsammlung zum Literaturunterricht 11./12. Klasse. In der letzten Ausgabe von 1980
fehlen u .a. einige Texte von Heinrich Heine („Hymnus“, „Lebensfahrt“) Dafür kamen
neue Texte in die Auswahl, z.B. „In der Fremde“ und „Erinnerung aus Krähwinkels
Schreckenstagen“. Auch bei den Unterrichtshilfen gab es veränderte Sichten auf die
jeweiligen literarischen Werke. So wurde z.B. bei den Unterrichtshilfen Klasse 9 (S. 90,
1970) bei Friedrich Wolfs „Professor Mamlock“ noch stärker auf den historischen Hintergrund des Werkes orientiert:
Warum wurde das Schauspiel „Professor Mamlock“ zu einem Welterfolg? In erster Linie
deshalb, weil Friedrich Wolf ein – wie er selbst sagt-‚fast nationales Thema- den Judenboykott April 1933-‚auf Grund seiner historisch- .materialistischen Weltansicht künstlerisch so
gestaltet, dass es nicht nur ein Stück gegen den Antisemitismus wurde, sondern ein Stück, in
dem der Klassenkampf im Mittelpunkt steht.
Auch in der Ausgabe von 1980 (S. 87) wird noch auf zeitgeschichtliche Fakten Bezug
genommen:
Dabei werden auch einige zeitgeschichtliche Fakten und Begriffe wie Reichtagsbrand, Hindenburgwahl, Judenboykott, Kriegsteilnehmerklausel eingeführt, sofern der Geschichtsunterricht noch keine Vorleistungen geschaffen hat.
In der Ausgabe 1986 (S. 96) tritt die Autor-Werk-Beziehung in den Mittelpunkt der Betrachtung. Begriffe wie „Judenboykott“ und „Antisemitismus“ fehlen, dafür werden biografische Zusammenhänge besonders akzentuiert hervorgehoben:
Er [der Dichter, J.S.] kannte das Schicksal jüdischer Gelehrter, die 1933 aus ihren Stellungen vertrieben wurden, am Pranger stehen mussten oder den Freitod wählten. Anders als
Mamlock hatte Wolf ‚den anderen Weg’ gefunden. Seit 1928 Mitglied der KPD, kämpfte er
als Arzt, Agitator und Schriftsteller gegen den Faschismus. Sowohl einige Angaben aus seinem Leben als auch ein knapper Einblick in die Entwicklung seiner ästhetisch-ideologischen
Position helfen, in den Gehalt des Dramas einzudringen.
In einem ausführlichen Anhang geht Matthias Krauß auf Autoren, Werke und Filme
ein, die im Kontext zum Literaturunterricht zu sehen sind. Diese Materialien standen
dem passionierten Literaturlehrer zur Vorbereitung und Gestaltung seines Unterrichts
zur Verfügung. Dazu gehört ein „Streifzug durch die DDR-Buchproduktion zum Thema." (S. 135 ff.)
Im Einzelnen wird auf die Belletristik, auf Sachbücher (z.B. „Der gelbe Fleck) und ganz
zum Schluss auf den Vierteiler des DDR-Fernsehens „Die Bilder des Zeugen Schattmann“ nach dem Roman von Peter Edel eingegangen. Die Romanverfilmung aus dem
Jahr 1973 gestaltet sehr emotional die Auswirkung des Rassismus und speziell der
Judenverfolgung auf das Alltagsleben im faschistischen Deutschland. Der Film zeigt
die Spitzeldienste von deutschen Nachbarn gegenüber jüdischen Familien, aber auch
die aktive Solidarität deutscher Mitbürger in jener Zeit der faschistischen Diktatur.
Krauß zu diesem Film:
Das Potsdamer Filmmuseum hat in Zusammenarbeit mit der Rosa Luxemburg Stiftung am
17. Februar 2007 einen Film öffentlich gemacht, der gängige Klischees über das Verhältnis
von DDR und Juden in mehrfacher Weise verletzt und der vermutlich deshalb seit der Wende weder im Kino noch im Fernsehen eine Chance bekam. (S. 199 f.)
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Sehr aufschlussreich, mit vielen Fakten und Kommentaren ausgestattet, erweist sich die
Abhandlung „Offizieller und geschichtswissenschaftlicher Blick der DDR auf das Thema Juden/Israel“ (S. 144 ff.) Anhand zahlreicher Fakten und Quellen skizziert Krauß
das sehr diffizile Verhältnis der offiziellen DDR-Politik zum Thema „Jüdische Bürger in
der DDR“. Einerseits dokumentiert der Autor das gestörte Verhältnis zum israelischen
Staat und die Ablehnung des Zionismus, andererseits verweist er auf das Wirken jüdische Bürger in der DDR, wobei er die Propagandabroschüre „Was und Wie“ 3/1988
zum Thema „Jüdische Bürger in der DDR“ als Quelle beizieht. (S. 171 f.)
Es dürfte weithin unbekannt ein, dass in den ersten Jahren der DDR durchaus ein Bemühen um ein gutes Verhältnis zum jungen israelischen Staat zu verzeichnen war. Bei
Krauß findet sich dazu:
Der nachmalige Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, begrüßte in den vierziger Jahren die
Gründung Israels ‚ um Tausende von Menschen, denen der Hitlerfaschismus schweres Leid
zugefügt hatte, den Aufbau eines neuen Lebens zu ermöglichen. ’Der spätere DDR- Ministerpräsident Otto Grotewohl (SPD, dann SED) setzte sich im April 1948 für die Bereitstellung eines Schiffes ein, das überlebende Juden nach Palästina bringen sollte. Zunächst
wurde auch in der ostdeutschen Führung die Zahlung einer pauschalen Aufbauhilfe für Israel erwogen. In dem Maße allerdings, wie Israel als Vorposten der USA im arabi-
schen Raum operierte, wuchs die Distanz zu den sozialistischen Staaten zur partiellen Feindschaft aus. (S. 146)
Dem Rezensenten ist es nicht möglich, auf alle Facetten der sehr informativen Publikation „Völkermord statt Holocaust“ einzugehen. Das Buch ist allen am Thema Interessierten und allen mit der DDR-Geschichte befassten Experten nicht nur schlechthin zur
Lektüre, sondern zum Studium zu empfehlen.
Prof. Dr. Jörg Schlewitt für das
JJ
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