Frühkindliche Reflexe und Sprache
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Frühkindliche Reflexe und Sprache
Frühkindliche Reflexe und Sprache Ein Fallbeispiel Eingereicht von Hörmann Helga 20. Oktober 2012 Inhaltsverzeichnis Einleitung .................................................................................................................... 1 1 Was ist INPP? ..................................................................................................... 3 2 Grundsätzliche theoretische Voraussetzungen ................................................... 4 3 4 2.1 Das Ohr ......................................................................................................... 4 2.2 Die Aufmerksamkeit ...................................................................................... 4 2.2.1 Propriozeptive Wahrnehmung................................................................. 4 2.2.2 Die taktile Wahrnehmung ........................................................................ 5 2.2.3 Die auditive Wahrnehmung ..................................................................... 5 2.2.4 Die visuelle Wahrnehmung ..................................................................... 6 2.3 Mundmotorik .................................................................................................. 7 2.4 Atmung .......................................................................................................... 8 Übersicht über die Reflexe .................................................................................. 9 3.1 Der Furcht- Lähmungsreflex ........................................................................ 10 3.2 Moro Reflex ................................................................................................. 10 3.3 Der Asymmetrisch – Tonische Nackenreflex (ATNR) .................................. 12 3.3.1 Die auditive Differenzierung .................................................................. 12 3.3.2 Die visuelle Wahrnehmung ................................................................... 13 3.3.3 Motorisch .............................................................................................. 13 3.3.4 Körperschema und Raumwahrnehmung .............................................. 13 3.4 Tonischer Labyrinth Reflex (TLR) ................................................................ 13 3.5 Symmetrisch tonischer Nackenreflex (STNR) ............................................. 14 3.6 Such- Saugreflex ......................................................................................... 15 3.7 Palmar Reflex .............................................................................................. 15 3.8 Spinaler Galantreflex ................................................................................... 16 Fallstudie Thomas ............................................................................................. 17 4.1 4.1.1 Sprachlich ............................................................................................. 17 4.1.2 Motorisch .............................................................................................. 17 4.1.3 Psychisch/ sozial................................................................................... 18 4.1.4 Interventionen / Jetziger Zustand .......................................................... 18 4.2 Sprachliche Auffälligkeiten am Schulanfang ................................................ 19 4.2.1 Phonologische Störung ......................................................................... 19 4.2.2 Dysgrammatismus ................................................................................ 19 4.2.3 Interdentalität ........................................................................................ 19 4.2.4 Sprachliche Auffälligkeiten im Februar .................................................. 20 4.2.5 Sprachliche Auffälligkeiten am Schulschluss ........................................ 20 4.3 5 Bericht der Mutter ........................................................................................ 17 INPP Übungsprogramm .............................................................................. 20 4.3.1 Ausgangssituation................................................................................. 20 4.3.2 Veränderungen nach 16 Wochen: ........................................................ 21 4.3.3 Veränderungen nach weiteren 24 Wochen: .......................................... 21 4.3.4 Veränderungen nach den nächsten 16 Wochen: .................................. 22 Abschließende Bemerkungen ........................................................................... 22 Danksagung Bibliographie Einleitung Ich arbeite seit 28 Jahren als Sprachheil- und Integrationslehrerin von Kindern mit erhöhtem Förderbedarf. In diesen Jahren habe ich mich in vielen Bereichen fortgebildet, in theoretischer wie in praktischer Hinsicht. Je mehr ich lernte, desto mehr erkannte ich, was ich noch alles zu lernen habe, wovon ich noch viel zu wenig weiß. Somit hat sich natürlich auch mein Blick auf die Kinder, auf ihre Besonderheiten, Schwierigkeiten, Stärken, Schwächen und Bedürfnisse ebenso verändert wie mein Unterricht. Ich versuche, Rhythmik und Motorik ebenso einzubauen wie andere spielerische und sensorische Gestaltungselemente. Dennoch scheint mir bei manchen Kindern der Ansatz zu hoch zu liegen, dass sie Förderung auf einer anderen Ebene brauchten, mehr an der Basis, dass ich mit meiner Symptomarbeit nicht tief genug dringe, damit die Ergebnisse für mich befriedigend sind. Vor sechs Jahren besuchte ich den Heilpädagogischen Kongress in Güssing und durfte den Workshop von Frau D. Beigel besuchen. Hier lernte ich das Thema der frühkindlichen Reflexe und ihrer Auswirkungen das erste Mal kennen. Zu dem Zeitpunkt arbeitete ich mit einem Jungen, Lukas, in der Integration, der sämtliche LehrerInnen der Schule inklusive des Direktors an den Rand der pädagogischen Kompetenz brachte. Ich beschrieb ihn Frau Beigel kurz und sie meinte „Das schaut nach einem starken Moro Reflex aus.“ Ich vertiefte mich in Literatur, begann mit „Flügel und Wurzeln“. In diesem Buch erklärt Frau Beigel sehr verständlich die frühkindlichen Reflexe und wie sie sich auswirken, wenn sie persistieren, also in ihrer Urform bestehen bleiben. Sie gibt auch gut umsetzbare Tipps für Eltern, ErzieherInnen und LehrerInnen, wie sie mit betroffenen Kindern umgehen und sie fördern können. Ich veränderte meinen Unterricht, indem ich auf die Besonderheiten von Moro-Kindern Rücksicht nahm und ihn entsprechend organisierte. Die Veränderung war eklatant. Der Unterricht verlief wesentlich entspannter, geregelter, mit viel weniger Ausbrüchen. Die Mutter war dann auch bereit, mit Lukas eine Therapie durchzuführen, sein Verhalten verbesserte sich merklich. Die kritischen 1 familiären und schwachen intellektuellen Anteile blieben natürlich, aber der Unterschied war auffällig. So vertiefte ich mich weiter in die Materie, las und besuchte Fortbildungen, suchte auch nach TherapeutInnen in der Gegend. Die Ergo- und PhysiotherapeutInnen kennen zwar die Reflexe, haben aber keine spezifische Ausbildung zu deren sensorischer Integration. Darum reifte in mir der Gedanke, die Ausbildung selbst zu absolvieren. Man kann nur sehen, was man weiß. Seit ich mich mit frühkindlichen Reflexen auseinandersetze, bemerke ich bei einigen der SchülerInnen, die ich im Sprachheilunterricht (SHU) betreue, offensichtliche Zusammenhänge. Manche Eltern sind bereit, sich auf die Thematik einzulassen, es gibt aber auch andere, die nicht offen für andere Lösungsansätze sind und von mir keine Vorschläge oder Hinweise annehmen wollen. Es ist also ein stetiger Lernprozess, was man wem wie weit zumuten kann. Inzwischen gibt es in der weiteren Umgebung eine INPP (Institute for Neurophysiological Psychology, s.u.) Therapeutin, Margit Joachim. Sie war so freundlich, mich bei sich hospitieren zu lassen. Sie betreut einen Jungen, Thomas, den ich bei der Reihenuntersuchung in einer der von mir betreuten Volksschulen überprüfte. Ich hatte die Gelegenheit, ihr bei der Arbeit mit Thomas zuzusehen. Er hatte eine Sprachstörung, ich konnte ihn aber wegen Platzmangels nicht gleich im SHU betreuen. In Kapitel 4 werde ich näher auf Thomas‘ Fall eingehen. Als ich im Februar Thomas‘ Betreuung starten konnte, war ich sehr erstaunt, welche Veränderungen in diesen wenigen Monaten geschehen waren. Auf Grund meiner beruflichen Tätigkeit und dieser Erfahrung entschloss ich mich, meine Hausarbeit zum Thema INPP und Sprache zu schreiben und an Hand dieses Fallbeispiels näher zu dokumentieren. Thomas‘ Mutter stimmte zu, dass mir Frau Joachim die Unterlagen zum Therapieverlauf zur Verfügung stellt und war zusätzlich zu einem ausführlichen Anamnesegespräch mit mir bereit. Sie hat sich selbst eingehend mit dieser Thematik befasst, viel nachgelesen und ist selbst ganz begeistert von INPP. 2 1 Was ist INPP? „Das Institute for Neurophysiological Psychology INPP wurde im Jahre 1975 von Dr. Peter Blythe gegründet, um zu untersuchen, inwieweit zentralnervöse Dysfunktionen und Unreifen an spezifischen kindlichen Lernstörungen und Angst-, Zwangs- und Panikstörungen im Erwachsenenalter beteiligt sind, und um gezielte Förderprogramme für Betroffene zu entwickeln.“1 Seither hat sich das INPP auch im deutschen Sprachraum ausgeweitet und bietet Ausbildungslehrgänge an. Die TherapeutInnen führen zuerst ausführliche Anamnesegespräche mit hilfesuchenden Eltern. Wenn sich genügend Hinweise ergeben, dass ein Problem im Bereich frühkindlicher Reflexe besteht, führen sie verschiedene Testungen durch, die etwa zwei Stunden dauern. Dies sind „standardisierte und adaptierte Tests aus der Neurologie, Pädiatrie und Physiotherapie“2 und überprüfen folgende Bereiche: - Grobmotorik, Koordination, Gleichgewicht - Kleinhirnbeteiligung - Diadochokinese (bezeichnet die Fähigkeit, schnelle, alternierende Bewegungen auszuführen) - Primitive Reflexe und Halte- und Stellreflexe - Seitigkeit - Okulomotorik (Augenbewegungen) - Visuelle Wahrnehmungsfähigkeit Nach der Testung kommt es zu einem ausführlichen Elterngespräch, bei dem die Auffälligkeiten und Schwierigkeiten besprochen werden. Anschließend erfolgt die Übungsvergabe. Die Übungen müssen täglich durchgeführt werden und erstrecken sich auf einen Zeitruam von ca. 1 – 1,5 Jahren. Alle 6 - 8 Wochen wird das Kind zu 1 Handbuch zur europhysiologischen Entwicklungsförderung, Arbeitsmaterialien zu Modul 1, S 3 2 Ebda. 3 einem Retest bestellt. Dabei wird überprüft, ob die Übungen richtig ausgeführt werden, wie sie wirken, welche Veränderungen bemerkbar sind und welche Übungen weitergemacht werden bzw. neu hinzukommen sollen. 2 Grundsätzliche theoretische Voraussetzungen Es gibt eine Reihe frühkindlicher Reflexe, manche haben mehr, manche weniger bis kaum einen Einfluss auf die Sprache. Ich beschreibe im Folgenden Organe und Bereiche, die für einen reibungslosen Spracherwerb von Bedeutung sind und von nicht gut integrierten frühkindlichen Reflexen betroffen sein können: 2.1 Das Ohr Das Gleichgewichtsorgan befindet sich im Innenohr, es ist also das gleiche Organ, welches wir auch zum Hören benötigen. Durch Bewegungen, insbesondere Drehen und Schaukeln, werden die Härchen und Sensoren im Innenohr stark stimuliert. Dies hat somit gleichzeitig auf das Hören als auch das Gleichgewichtsempfinden einen starken Einfluss. Liegt in diesem Bereich eine Blockade vor, sind Menschen nicht in der Lage, akustische Signale adäquat aufzunehmen und zu verarbeiten. Die auditive Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung ist ein weites Thema, zu dem ich immer wieder an Seminaren teilgenommen und auch selbst welche organisiert habe. Sehr viele Faktoren spielen hier hinein, dem Innenohr kommt dabei eine wesentliche Bedeutung zu. 2.2 Die Aufmerksamkeit Um Sprache reibungsfrei entwickeln zu können, muss man sich der Welt konzentriert zuwenden und sie in sich aufnehmen können. Dazu müssen sich alle Sinne gut entwickeln und zusammenspielen. 2.2.1 Propriozeptive Wahrnehmung Damit ist die Eigenwahrnehmung gemeint, wie der Körper im Verhältnis zur Umwelt und die einzelnen Körperteile zueinander positioniert sind. Man weiß also etwa auch mit geschlossenen Augen, ob man liegt oder sitzt, die Beine abgewinkelt sind, wo sich die Arme und Hände befinden. Kinder, die hier Störungen haben, sind nicht nur verletzungsgefährdeter, sprachlich gesehen entwickeln sie keinen Bezug zu Präpositionen, können sich in Raum und Zeit nicht orientieren. Was man nicht versteht und erfährt, kann man nicht in Sprache umsetzen. Ich erlebe oft in meinem 4 Unterricht, dass diese Kinder vorwiegend zwei Präpositionen verwenden: „bei“ als statische Ortsangabe und „zum“ als Richtungsangabe. Wir müssen mit eigenen Erfahrungen, durch eigenes Handeln erarbeiten, was „auf, unter, hinter, vor, neben, zwischen, …“ bedeutet. 2.2.2 Die taktile Wahrnehmung Tastempfindungen ermöglichen dem Menschen, die Eigenschaften der Dinge, der Umgebung zu erfahren. Was ist weich, hart, kuschelig,…? Indem man unterschiedliche Merkmale, Oberflächen ergreift, kann man sie begreifen und benennen. Eigenschaftswörter sind ein wesentlich aussagekräftigeres Kriterium für die Sprachentwicklung als etwa Nomen. Nomen können leichter trainiert werden, auf sie wird normalerweise das Hauptaugenmerk gelegt. Es fällt mir bei vielen von mir betreuten Kindern auf, dass sie viele Adjektive nicht kennen und sie noch weniger aktiv benützen, überhaupt Adjektive im Allgemeinen selten verwenden. Manche Kinder haben ausgeprägte Abneigungen bis Allergien auf Stoffe und Materialien. Sie wollen etwa keine Erde angreifen, vermeiden damit unangenehme Empfindungen, vermindern dadurch aber auch die Bandbreite der Erfahrungen, die sie mit verschiedenen Materialien sammeln. Über Tastempfindungen tritt das kleine Kind auch in Beziehung zu Menschen. Der Urkontakt ist jener zur Mutter/ zur Bezugsperson, die das Baby füttert, versorgt, trägt. Es spürt die Wärme, den unterschiedlichen Druck an unterschiedlichen Stellen. Später sucht das Kind die Nähe, krabbelt auf den Schoß, kuschelt, fasst zumindest die Hand, wenn es sich unsicher fühlt. Wird dem Menschen diese Erfahrung vorenthalten oder verweigert er den Körperkontakt, weil er als unangenehm empfunden wird, wirkt sich das auf die emotionale Entwicklung und in Folge auch auf die Sprache aus. 2.2.3 Die auditive Wahrnehmung Ich habe schon zuvor auf den Zusammenhang zwischen Innenohr, Gleichgewichtssystem, auditiver Wahrnehmung und Verarbeitung hingewiesen. Weiters ist es wichtig, dass man den Kopf gut kontrollieren, sich einer Geräuschquelle zuwenden kann, um sie zu lokalisieren. Nur so entwickelt sich Richtungshören und man lernt abzuschätzen, wie weit eine Geräuschquelle entfernt 5 ist. Das Kind muss sich dem Sprechenden zuwenden, um ihn wahr- und aufzunehmen. Feinheiten und Inhalte können unterschieden werden, indem man darauf hinhört - das ist ein bewusster Akt. Geräuschempfindlichen Menschen entgehen viele Erfahrungen, weil sie durch Lärm gestört, abgelenkt sind oder weil sie Situationen vermeiden, in denen sie unangenehme Erfahrungen erwarten. Ich hatte einen Schüler, der beim Anblick eines Luftballons bereits panisch reagierte, weil er Angst hatte, er könne zerplatzen. Somit konnte er sich nicht mehr auf das Fest, die Veranstaltung einlassen, war komplett blockiert, konnte nichts mehr rundherum aufnehmen, nicht in Kontakte treten. In diesen Zeiten der Abkapselung kann sich natürlich auch Sprache schlecht weiterentwickeln. 2.2.4 Die visuelle Wahrnehmung Beim Stillen besteht der optimale Abstand zum Gesicht der Mutter, das Kind kann es scharf sehen. Dieser Blickkontakt ist immens wichtig zum Aufbau einer emotionalen Beziehung. Schaut die Bezugsperson das Kind nicht an, z.B. weil sie nebenbei mit jemand anderem spricht oder gar fernsieht, kann das Kind den Aufbau des Blickkontakts nicht erlernen. Später schaut das Kind die Bezugsperson an, fokussiert dann einen Gegenstand, sucht wieder den Blickkontakt. Dabei kommentiert die Bezugsperson mit Worten, was Kind und Bezugsperson beide sehen. Besonders Barbara Zollinger, eine Logopädin aus Zürich, die ich oftmals bei Kongressen erleben durfte, betont die Bedeutung dieses sogenannten „triangulären Blickkontakts“: „Die erste Anbahnung von Verständnis von Sprache im eigentlichen Sinn geschieht relativ früh und meistens unbemerkt. Es handelt sich um den „triangulären Blickkontakt“, der zu einem Zeitpunkt erscheint, zu dem Gespräche noch in weiter Ferne zu sein scheinen. Das Kind verständigt sich dabei mit einer zweiten Person über eine Sachlage, einen Gegenstand, eine Wahrnehmung oder Ähnliches, und zwar – und das ist essentiell -, über einen Blickkontakt, der von ihm hergestellt wird. Es sieht den Partner an und verweist ihn mit seinem Blick auf den Gegenstand des gemeinsamen Interesses […]. Die kurz vorher noch geplapperten einzelnen Wörter verwandeln sich von dem Augenblick dieser ersten Verständigung an, in der der Blickkontakt diese besondere 6 Rolle spielt, in Einwortsätze, in Mitteilungen, die an die zweite Person gerichtet sind.“3 Überdies muss man in der Lage sein, diesen Blick überhaupt zu halten. Hier ist wieder das Zusammenspiel mit dem Gleichgewichtssystem gefragt, denn wer nicht stabil ist, kann auch den Blick schwer längere Zeit halten. Dies ist aber Voraussetzung, um Gesprächskompetenz zu erwerben. „Die Situation des Kindes, das mit einem Erwachsenen spricht, ist spezifisch. Sein Kopf ist zum Erwachsenen nach oben gerichtet.“4 Manche Erwachsene machen es instinktiv, manchen muss man sagen, dass sie sich auf Augenhöhe des Kindes begeben sollen. In vielen Situationen ist dies aber nicht möglich, was die Führung des Gesprächs erschwert und die Kompetenzentwicklung des Kindes behindert. 2.3 Mundmotorik Die mit einigen Reflexen, besonders Moro, einhergehenden Überempfindlichkeiten betreffen auch den Geschmacksbereich. Die Kinder verweigern bestimmte Nahrungsmittel, Konsistenzen oder Geschmacksrichtungen. Die Kaumuskulatur ist die gleiche wie die Sprachmuskulatur, alles was sie stärkt, verbessert auch die Artikulation. Heutzutage steigen die mundmotorischen Störungen stark an, die Kinder sind immer häufiger Mundatmer, haben in Ruhelage keinen Mundschluss, die Zunge liegt zwischen den Zähnen. Ringmuskel der Lippen und Kaumuskulatur sind ebenso schwach wie die Zunge, die ja ein Muskel ist. Gefördert wird diese Tendenz durch die Ernährungs- und Essgewohnheiten. Was unsere Kinder zu sich nehmen ist meist weich, breiförmig oder fein aufgerieben. Die meisten dieser Kinder können nicht richtig kauen. Letztes Schuljahr betreute ich einen achtjährigen Jungen, der konnte nicht einmal Soletti kauen. Viele Kinder haben ständig Nuckel oder Trinkfläschchen im Mund, nehmen diese auch zum Sprechen nicht heraus. Nimmt man sie ihnen weg, verwenden sie statt dessen Daumen oder andere Gegenstände. Bei manchen Kindern ist der Halsausschnitt des T-Shirts ständig nass, weil sie ständig daran 3 4 Graumann Brunt, Dr. Sigrid, die Entwicklung der Sprache beim Kind, S 8 Ebenda S 22 7 lutschen Wie sehr die Sprache davon beeinträchtigt wird, vor allem die Artikulation und damit Verständlichkeit, ist naheliegend. 2.4 Atmung Grundsätzlich gibt es zwei Arten von Atmung: Die Bauchatmung ist die natürliche, in Ruhe und im Schlaf von so gut wie allen Menschen verwendete Atemform. Sie ist eine sympathische Funktion. „Wie die übrigen Anteile des vegetativen Nervensystems steuert der Sympathikus lebenswichtige Vorgänge. Diese Regulation erfolgt weitgehend ohne bewusste Wahrnehmung und kann kaum willentlich beeinflusst werden.“5 Sie läuft also automatisch ab, kann nicht bewusst gesteuert, allerdings unterstützt werden. Da man nicht daran denken muss, ist die Energie für andere Aktivitäten frei. Im Gegensatz dazu steht die Brust - oder Hochatmung, die bewusst gesteuert wird, kommt bei großer körperlicher Belastung oder Stress zum Einsatz und ist eine parasympathische Reaktionsform. Je nachdem, ob man mit Hoch- oder Bauchatmung spricht, verändert sich der Klang, die Stimme: Die Hochatmung führt zu gepresstem, schnellerem Sprechen in höherer Stimmlage, belastet und verspannt die Stimmbänder und kann damit langfristig zu Stimmstörungen führen. Das Sprechen ermüdet, der/ die SprecherIn wird schnell heiser. Bei der Bauchatmung ist der Stimmklang voller, tiefer, ruhiger. Die Stimme ist belastbarer, angenehmer für SprecherIn und ZuhörerIn, beide ermüden nicht so schnell. Daher ist Training auch in diesem Bereich wichtig. 5 http://de.wikipedia.org/wiki/Sympathikus 8 3 Übersicht über die Reflexe Im Folgenden möchte ich zuerst in einem Mindmap einige Reflexe und ihre Zusammenhänge darstellen und dann auf ihre Entstehung, Funktion und Auswirkung auf die Sprache eingehen. Mindmap: Übersicht über frühkindliche Reflexe 9 3.1 Der Furcht- Lähmungsreflex Er entsteht in der 5.- 12. Schwangerschaftswoche (SSW) und sollte dann vom Moro Reflex abgelöst werden. Wird er in utero nicht gehemmt, so kann er sich ganzkörperlich durch Aktivierung des parasympathischen Nervensystems zeigen und zum Erstarren auf allen Ebenen führen. Das Kind erstarrt in der Bewegung, ist unfähig auszuatmen, kann somit nicht mehr auf die Umwelt reagieren. Puls und Blutdruck sinken, die Gefäße werden zusammengezogen, die Kinder erblassen. In dieser Situation sind sie nicht mehr in der Lage zu sprechen, etwas zu äußern oder aufzunehmen. Sie wirken dadurch auf die Umgebung dumm, können ihr Leistungspotential nicht ausschöpfen, werden unter ihrem Wert eingeschätzt. Die Angst, die von ihnen Besitz nimmt, verhindert auch Kommunikation, weil diese Erstarrung Kontaktnahme ausschließt. Außerdem sind diese Kinder extrem auf ihre Bezugsperson fixiert, haben Trennungsängste, treten nicht mit anderen in Kontakt, verhindern dadurch auch viel sprachlichen Austausch, Erfahrungen, Gespräche. Die Blockade beeinträchtigt die ganze Entwicklung, das Lernen und somit die Sprache. Durch die Unfähigkeit, in Panik auszuatmen, kann sich überhaupt eine falsche Atemtechnik etablieren, in extremen Fällen Asthma mitbedingen, was sich auf Sprechduktus und –modulation auswirkt. Die Stimme klingt, gepresst, gehetzt, kurzatmig. 3.2 Moro Reflex Er entsteht in der 9. SSW, sollte bei der Geburt komplett vorhanden und im Laufe des 2.- 4. Lebensmonates sensorisch integriert sein. Er wird durch plötzliche, unerwartete Reize auf allen Sinnesebenen ausgelöst, etwa durch laute Geräusche (Knall, Luftballonplatzen), zuckende Blitze, ruckartige Bewegungen und damit verbundener Stimulation des Labyrinths, unerwartete Temperaturschwankungen wie durch kaltes / heißes Wasser, Schmerz, etc. Das Kind reagiert mit schnellem Einatmen, kurzem Erstarren, dann heftigem Ausatmen, manchmal begleitet von einem Schrei. Das sympathische Nervensystem wird aktiviert, wodurch Adrenalin und Cortisol freigesetzt werden, das Kind 10 hyperventiliert, die Gefäße weiten sich, weshalb Puls und Blutdruck steigen, die Haut sich rötet. Die Folgen sind hier gleich wie beim Furcht – Lähmungsreflex, sowohl auf der Kommunikations-, der Lern- und Sprachentwicklungsebene wie im Bereich von Atmung und Stimme. Durch die Überempfindlichkeit auf allen Sinnesebenen vermeidet das Kind viele Situationen, in denen es diesen ausgesetzt ist, zieht sich zurück. Die vestibulären (=den Gleichgewichtssinn betreffend) Probleme führen zu Gleichgewichts- und Koordinationsproblemen aber auch zu allen Folgen, die von einer eingeschränkten Funktion des Innenohrs ausgehen. Das Kind kann also auditive Reize schwer auseinanderhalten, hat auditive Diskriminierungsprobleme, allgemein bekannt unter „phonologischer Störung“. Die Augenstellreflexe reifen in Folge nicht korrekt aus, das verkürzt und erschwert den Blickkontakt mit oben beschriebenen Auswirkungen. Die leichte Ablenkbarkeit, weil sich das Kind nicht gegen äußere Reize abgrenzen kann, vermindert die Ausdauer, die aber Grundlage für Hörverarbeitung und Hörmerkspanne ist und damit auch das Gesprächsverhalten, die Intensität und Tiefe der Kommunikation beeinträchtigt. Sprache ist Ausdruck der Persönlichkeit. Die „Neigung zu sich ständig wiederholenden Verhaltensmustern, Abneigung gegen Veränderungen, schlechte Anpassungsfähigkeit, Selbstwertgefühl“6 Schwierigkeit, prägen die Kritik Entwicklung zu akzeptieren, des Kindes schwaches und sein Kommunikationsverhalten. „Durch beibehaltende Restreaktionen des frühkindlichen Moro–Reflexes kann ein Kind ständig in Angst und Spannung leben, bei empfundener Bedrohung überreagieren und sich in verschiedenen Sinneskanälen hypersensitiv zeigen.“7 Das Kind nimmt Nebensächlichkeiten verstärkt wahr, merkt sich Kleinigkeiten, entwickelt eine Art „Elefantengedächtnis“, verliert aber den Überblick über die Zusammenhänge. Die Sprache kann sich nicht in ihrer gesamten Vielfalt entwickeln, bleibt einfach, rudimentär, mit wenigen Adjektiven, ungenauen Bezeichnungen, undifferenzierten Verben, wenig ausschmückend, phantasielos, beschreibend, eng an die Situation gebunden. 6 7 Beigel, Dorothea: Flügel und Wurzeln, S 115 Beigel, Dorothea: Flügel und Wurzeln, S 109 11 Da die Hochatmung bei Kampf- oder Fluchtsituationen physiologisch vorgesehen ist und Moro- Kinder sich häufig auf dieser Empfindungsebene befinden, ist ihre Stimme in der unter 1.4 beschriebenen Form belastet. 3.3 Der Asymmetrisch – Tonische Nackenreflex (ATNR) Er erscheint etwa in der 18. SSW, sollte bei der Geburt voll entwickelt und zwischen dem 3. und 6. Lebensmonat gehemmt sein. Der Fötus braucht ihn zur Förderung der Bewegung, er trägt zur Entwicklung des Muskeltonus und der homolateralen Bewegung bei und ist maßgeblich am Geburtsvorgang beteiligt. Er wird passiv, reflexartig ausgelöst. Wenn das Kind den Kopf dreht, strecken sich die Extremitäten auf dieser Seite, jene auf der anderen Seite beugen sich (s. Abb.). Diese Haltung wird auch „Fechterstellung“ genannt. Sie ermöglicht die freie Atmung des Säuglings in Bauchlage und ist wichtig für erstes Auge-Hand Koordinationstraining. Wenn er persistiert, hat das negativen Einfluss auf eine Reihe von Bereichen: 3.3.1 Die auditive Differenzierung Ist sie beeinträchtigt, kommt es zur phonologischen Störung, Kinder verwenden falsche Laute oder vertauschen sie. Das schwache auditive Gedächtnis, also eine kurze Hörmerkspanne, verhindert ein optimales Abspeichern von Inhalten, sich längere, komplexe Sätze oder Aufträge zu merken, zu verstehen, danach zu handeln, oder auch ein intensives Gespräch zu führen. Ähnliches gilt für die schlechte auditive Serialität, also das Merken von akustischen Reihenfolgen. Die Seitigkeit (rechts- links Dominanz) kann sich nicht richtig ausprägen. Auch die Ohrigkeit ist für das Lernen von hoher Bedeutung. „Die dominante Ohrigkeit sollte im günstigsten Fall auf der rechten Seite angelegt sein, damit die neuronale Verschaltung zur linken Hemisphäre (das Sprachzentrum des Menschen ist in den meisten Fällen in der linken Gehirnhälfte angelegt) ohne Verzögerung von statten geht. (….) Linksohrigkeit oder wechselnde Ohrigkeit könnte nach Tomatis mit schlecht funktionierendem Gleichgewicht in Verbindung gebracht werden. Die daraus 12 ständig erforderliche Kompensation von höheren Gehirnzentren verbraucht Energien für Aufgaben des Interpretierens, des Reagierens und des Aufnehmens von Information. Somit reagiert das Kind langsamer, ermüdet schneller und konzentriert sich schwerer. Das linksohrige oder wechselohrige Kind überhört die Laute mit hoher Frequenz und kann sie sprachlich nicht reproduzieren. Es verwechselt Phoneme (Laute), die auf derselben Tonstufe liegen, spricht, liest und singt oft mit einer monotonen Stimme.“8 3.3.2 Die visuelle Wahrnehmung Die Schwächen im Bereich der visuellen Differenzierung, des Gedächtnisses für visuelle Inhalte und der Serialität (erkennen und merken von Reihenfolgen) führt häufig zu Lese- Rechtschreibschwächen, die gesprochene Sprache und Leistungen in diesem sind erheblich besser als im geschriebenen Bereich. 3.3.3 Motorisch Alles, was eine Überkreuzung der Mittellinie verlangt, sei es beim Krabbeln, Kriechen, Lesen, Schreiben, macht Schwierigkeiten. Viele Sportarten bereiten deshalb dem Kind keine Freude. Es kommt zu Gleichgewichtsproblemen und Veränderungen des Tonus (Körperspannung), wenn der Kopf zur Seite gedreht wird, zu Schwierigkeiten bei der Auge- Handkoordination. „Die Anstrengung (…..) stört unweigerlich geistige Prozesse, weil das gleichzeitige Schreiben, Zuhören und Verstehen kaum zu bewältigen ist.“9 3.3.4 Körperschema und Raumwahrnehmung Körperschema bedeutet, sich am eigenen Körper orientieren zu können. Wo ist bei mir oben, unten, links, rechts, vorne hinten? Was spüre ich wo? Raumwahrnehmung ist das Pendant dazu, die Orientierung im mich umgebenden Raum. Wenn diese beiden Bereiche gestört sind, führt dies sprachlich gesehen zu den in 1.2.1 beschriebenen Problemen. 3.4 Tonischer Labyrinth Reflex (TLR) Er entsteht in der 13. SSW in der Flexion (Beugung, s. Abb.) und 8 9 Beigel, Dorothea: Flügel und Wurzeln, S 122 Beigel, Dorothea: Flügel und Wurzeln, S 124 13 zu Geburtsbeginn in der Extension (Streckung, s. Abb.), ist zu Geburtsbeginn vollständig vorhanden und sollte zwischen der 6. Woche und 3,5 Jahren gehemmt werden. Er wird durch die Kopfbewegung ausgelöst und ist eine primitive Reaktion auf die Schwerkraft. Er ist wichtig zur Entwicklung des Beuge- und Strecktonus. Wird er nicht gut integriert, kommt es zu Gleichgewichtsproblemen mit bereits mehrfach geschilderten Folgen. „Das Kind findet keinen festen räumlichen Bezugspunkt. Es kommt zu Schwierigkeiten in der Einschätzung von Raum, Entfernung, Tiefe und Geschwindigkeit“10 In gravierenden Fällen verhindert der TLR das Krabbeln, was als Basis der Synchronisation von Sehen, Fühlen und Bewegung nötig ist. Die Umwelt wird dadurch nicht so vollständig, komplex erfasst. Was man nicht durchdringt, kann man nicht adäquat versprachlichen. Die verschiedenen Sinnesebenen arbeiten nicht gut koordiniert. Es kommt zur muskulären Hypotonie (Schlaffheit) bei der Flexion, zur Hypertonie (Überspannung) bei der Extension. Diese muskuläre Schwäche kann sich einerseits im Mundbereich auswirken, das myofunktionelle (die Muskelfunktion betreffend) Problem führt oft zu Zahn- und Kieferfehlstellungen, undeutlicherer Artikulation und Interdentalität, also, dass die Zunge beim Sprechen zwischen den Zähnen hervorkommt (s. 1.3). Sowohl die Hyper- wie die Hypotonie haben Auswirkungen auf den Stimmeinsatz. Er kann entweder zu schwach, leise verhaucht oder gepresst, laut sein. Weiters können sich durch diese Schwäche die Kopfstellreflexe nicht optimal entwickeln, was zu eingeschränktem Blickkontakt mit seinen beschriebenen Störungen der Kommunikation und des Wortschatzerwerbs führt. 3.5 Symmetrisch tonischer Nackenreflex (STNR) Er ist während der Geburt nur kurz präsent, erscheint regulär zwischen 6. – 9. Lebensmonat und bricht die Wirkung des TLR. Bisher wurde kein direkter Zusammenhang dokumentiert. sprachauffälliger 10 Bei der mit Sprachstörungen Testung SchülerInnen auf einiger diverse Beigel, Dorothea: Flügel und Wurzeln, S 96 14 frühkindliche Reflexe traten mehrere davon in persistierender Form auf. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass die eingeschränkte Konzentration und Aufmerksamkeit Einfluss auf Lernen, Wahrnehmung und Verarbeitung sowie die Kontaktaufnahme und damit Kommunikation hat. 3.6 Such- Saugreflex Er erscheint in der 24.- 26 SSW, ist bis zur Geburt voll entwickelt und wird im 3. – 4. Lebensmonat gehemmt. Bei diesem Reflex reagiert das Baby auf Stimulation der Wange oder des Mundwinkels, indem es sich dem Reiz mit dem Mund zuwendet, die Lippen öffnet, die Zunge herausstreckt und zu saugen beginnt. Die Stimulation versteht es als Aufforderung zur Nahrungsaufnahme. Beim Fortbestehen sind die Kinder im Mundbereich überempfindlich, wollen zwar nicht berührt werden, stimulieren sich aber selbst ständig, saugen an Tüchern, Fingern, Kleidungsteilen, Haaren etc. Sie sabbern, der Speichelfluss ist zu stark. Dadurch klingt die Sprache undeutlich, sie müssen häufiger schlucken oder „schlürfen“ den Speichel ein, was für den Zuhörer unangenehm ist. Feste Nahrung wird abgelehnt, was die Mundmuskulatur nicht gut entwickeln lässt, es kommt zu myofunktionellen Problemen mit oben geschilderten Folgen. „Die Zunge kann sich zu weit vorn im Mund befinden, was das Schlucken und Kauen bestimmter Nahrungsmittel erschwert- das Kind beginnt vielleicht zu sabbern. Das Fehlen voll entwickelter Schluckbewegungen kann zu einer übermäßigen Wölbung des Gaumens führen; später wird dann vielleicht eine Gebisskorrektur nötig sein.“11 3.7 Palmar Reflex Er erscheint in der 11. SSW, entwickelt sich bis zur Geburt vollständig und wird im 2. – 3. Lebensmonat gehemmt. Im Hirn sind im motorischen Zentrum die Hand- und die Mundmotorik ganz nahe beieinander: 11 Goddard Blythe, Sally: Greifen und BeGreifen, S 39 15 Darum sind Bewegungen von Hand(teilen) und Mund(bereichen) häufig gekoppelt. Noch bei Erwachsenen kann man beobachten, wie die Zunge mitarbeitet, wenn sie konzentriert etwas mit den Händen machen, etwa einen Faden in ein Nadelöhr einfädeln. Um die Mund- und Handmotorik zu entflechten, kann man Finger- und Handspiele einbauen. „[…] die durch die BabkinReaktion bedingte fortgesetzte Beziehung zwischen Handbewegungen und Mundbewegungen wird die Entwicklung unabhängiger Muskelkontrolle an der Mundvorderseite verhindern, was sich wiederum auf die Artikulation auswirken wird.“12 3.8 Spinaler Galantreflex Er erscheint in der 20 SSW, entwickelt sich bis zur Geburt vollständig, wird zwischen 3. – 9. Lebensmonat gehemmt. Dabei dreht sich der Unterleib bei Stimulation im Lendenwirbelbereich auf jene Seite, von der der Reiz kommt. Er hilft, bei der Geburt leichter aus dem Geburtskanal zu kommen. Man vermutet, dass er möglicherweise als primitiver Schallleiter in der Gebärmutter fungiert und somit ein Zusammenhang zwischen ihm und der Hörverarbeitung besteht. Diese ist Basis jedes Spracherwerbs. Belegen lässt sich diese Vermutung durch eine Studie von Butler Hall und Hadley. „Diese Studie untersuchte die Auswirkungen des auditiven Integrationstrainings (AIT) auf aberrante (= abweichende, Anm. d. Verf.) primitive und Haltungsreflexe. AIT ist ein Klangtherapiesystem, das von Guy Bérard entwickelt wurde, um eine Reihe von hör- und sprachbezogenen Problemen zu behandeln. Butler Hall (1998) fand heraus, dass der Spinale Galantreflex bei Kindern nach dem AIT – Training durchgehend reduziert war, was darauf schließen lässt, dass es einen 12 Goddard Blythe, Sally: Greifen und BeGreifen, S 31 16 funktionalen Zusammenhang zwischen dem Spinalen Galantreflex und dem Hören gibt.“13 4 Fallstudie Thomas Thomas ist jener Schüler, den ich in einer der von mir betreuten Schulen am Schulbeginn auf Sprachschwierigkeiten überprüfte, anfangs aber nicht betreuen konnte. Ich durfte im Herbst bei Frau M. Joachim hospitieren, als sie mit ihm arbeitete. Da ich die rasante sprachliche Veränderung nach einem Semester bei der neuerlichen sprachlichen Überprüfung feststellte, beschloss ich, diesen „Fall“ in meine Hausarbeit einzubauen. 4.1 Bericht der Mutter Die Probleme wurden der Mutter bewusst, als Thomas 3-4 Jahre alt war. Wenn sie Filmaufnahmen von früher anschaut, fallen ihr aber erst jetzt Besonderheiten auf, etwa, dass er schon früh Ausgleichsbewegungen mit der Hand vollführte. 4.1.1 Sprachliche Ebene Zwischen dem 3.-4. Lebensjahr gab es keinen Fortschritt auf sprachlicher Ebene. Er sprach sehr undeutlich, stark dysgrammatisch, verwechselte die Zeiten (gestern – morgen). Die Stimmdosierung war sehr schwierig für ihn. Er presste, drückte, sprach sehr laut, man hörte den Druck in seiner Stimme, merkte die Überspannung auch in der Sprache. 4.1.2 Motorische Ebene Er robbte als Baby ohne Beinbeteiligung. Er krabbelte sehr schnell, wahrscheinlich homolateral. Unter Druck, Stress begannen seine Hände zu flattern, Ausgleichsbewegungen zu machen, er versteifte sich. Vor allem die rechte Hand wurde sehr steif, verkrampfte, was zu Schwierigkeiten bei der Stifthaltung und damit dem Zeichnen, Malen und Schreiben führte. 13 Goddard Blythe, Sally: Greifen und BeGreifen, S 42 17 Die Handdominanz entwickelte sich spät. Er bastelte nicht gerne. Die liegende 8 war nicht möglich. Er vermied es, die Körpermitte zu kreuzen. Er ging nie normal, lief meist. Wenn er langsamer ging, schlurfte er. Ab 4,5 Jahren wurde er ergotherapeutisch betreut, was auf einigen Ebenen zu Fortschritten führte. Es wurde mit Feldenkrais gearbeitet, einer körpernahen Therapieform . Er liebte Schwimmen, konnte dies bereits mit 5 Jahren, lernte gut Rad fahren. Er erlernte alles zum richtigen Zeitpunkt, aber irgendwie nicht richtig, mit Ausgleichsstrategien. Er setzt sich zum Arbeiten nicht gerne hin, werkt lieber im Stehen. Er hatte keine Spannung in der Bauchmuskulatur, sondern mehr im Rücken. 4.1.3 Psychisch/ soziale Ebene Er war ein ruhiges Baby, wollte nicht gerne getragen werden, lag lieber auf dem Boden. Im Bett liegt er aber heute noch bei der Mutter. Er fremdelte nicht. Thomas brauchte immer klare, starke Strukturen, Grenzen. Die Mutter zog seine Aufmerksamkeit auf sich, indem sie sich auf seine Augenhöhe begab und Berührungsreize setzte. Er wurde lange nicht sauber. Er war von klein auf auffällig schmerzunempfindlich, erstaunte damit sogar den Arzt, ein Draufgänger, der Gefahren nicht einschätzen konnte. Er konnte Geräusche nicht zuordnen, erkannte z.B. ein herannahendes Auto nicht. Im Kindergartenalter umarmte er oft vor Freude seine Freunde sehr / zu fest, weil er seine Kraft nicht einschätzen, dosieren konnte. Er konnte eigene Gefühle nicht wahrnehmen und ausdrücken. 4.1.4 Interventionen / Jetziger Zustand Ergotherapie, v.a. nach Feldenkrais Body Mapping Massage, dabei durfte er am Schnuller saugen, dadurch verbesserte sich seine Mundmotorik, er aß schöner. Auch der Palmar Reflex schien dadurch gelöst worden zu sein, er konnte seitdem den Löffel richtig halten. 18 Er ist ausgeglichener und geerdeter. Seit August 2011 in INPP Behandlung, begann mit embryonaler Bewegung Er entwickelte ein Sprachgefühl für Grammatik. Er kann jetzt Gefühle ausdrücken, körperlich wie sprachlich. Humor und Witz haben sich entwickelt. Stimmmodulation, sprachliche Umgangsformen haben sich verbessert, angepasst. Er spricht viel deutlicher. Die Flatterbewegungen der Hände sind verschwunden. 4.2 Sprachliche Auffälligkeiten am Schulanfang Ich überprüfte Thomas nur sehr grob bei der Reihenuntersuchung im September. Zu diesem Anlass teste ich jede/n SchulanfängerIn nach einem einheitlichen, tirolweit gebrauchten Sprachscreening kurz durch. Dabei können nur augenscheinliche Auffälligkeiten festgestellt werden. Eine umfassendere Begutachtung erfolgt, wenn die Kinder in die Betreuung übernommen werden. In Thomas‘ Schule und in seinem Jahrgang sind so überdurchschnittlich viele sprachlich auffällige Kinder, dass ich ihn vorerst nicht im SHU betreuen, sondern erst im Februar aufnehmen konnte. 4.2.1 Phonologische Störung Thomas konnte klangähnliche Laute schwer unterscheiden, verwendete sie auch in der aktiven Sprache falsch. Er passte bei Konsonantenhäufungen die Laute einander an. Beispiele: „pfohn“ statt „gfohn“, „dsehng“ statt „gsehng“, „Graktor“ statt „Traktor“, „Schugraupe“ statt „Schubraupe“, „Brizlegg“ statt „Brixlegg“ etc 4.2.2 Dysgrammatismus Artikel vertauschte er manchmal, die Verbbeugungen waren nicht immer korrekt, die Zeitangaben gestern- morgen unsicher. 4.2.3 Interdentalität Die S- Laute bildete er leicht interdental. Die Mundmotorik war eher schlaff, dadurch waren die Lippen auch in Ruhestellung oft leicht geöffnet. 19 4.2.4 Sprachliche Auffälligkeiten im Februar Er ersetzte noch manchmal „DR“ durch „GR“, aber auch nicht konstant. Manchmal passte er in der Mundart noch das „G“ im Partizip Perfekt dem nachfolgenden Konsonanten an, meist sprach er es aber richtig. Die Interdentalität war viel schwächer, der Mundschluss meist gegeben. Er sprach viel mehr, wirkte geerdeter, sicherer, erzählte und sprach von sich aus. 4.2.5 Sprachliche Auffälligkeiten am Schulschluss Die Betreuung im SHU konnte mit Schulschluss beendet werden, weil er keine Auffälligkeiten mehr zeigte. Nur sehr selten artikulierte er einen S- Laut interdental, aber das wird sich noch geben, da sich die Mundmotorik bereits verbessert hat. 4.3 INPP Übungsprogramm Zum Start der Betreuung durch Margit Joachim im Sommer 2011 war Thomas 7,11 Jahre alt. Das INPP Programm wurde mit Übungen aus der Bilateralen Integration kombiniert. Anfangs hatte er zusätzlich noch Ergotherapie. Auf Anraten von Frau Joachim bekommt er auch eine osteopathische Behandlung wegen der schiefen Körperhaltung und weil die Kopfbewegungen teilweise schmerzhaft waren. 4.3.1 Ausgangssituation 4.3.1.1 Ergebnisse der Testung: - Auffälligkeiten im Gleichgewicht - Ängstlich, wenig Selbstbewusstsein, braucht viel Sicherheit - „Flattert“ mit den Armen, wenn er emotional überfordert ist - Kann sein Potential nicht ausschöpfen („es steckt mehr in ihm, als er zeigen kann“) - Schwierigkeiten, still zu sitzen - Auffällige Augenfolgebewegungen 4.3.1.2 Persistierende Reflexe Auffälligkeiten zeigten sich massiv beim Tonischen Labyrinthreflex TLR und beim Asymmetrisch Tonischen Nackenreflex ATNR. Nicht so stark aber klar persistierten 20 der Such- und Saugreflex, der Symmetrisch- tonische Nackenreflex STNR und der Moro Reflex. Rollreflexe, Kopfstell- und Labyrinthkopfstellreaktionen waren auffällig. 4.3.2 Veränderungen nach 16 Wochen: - Alle frühkindlichen Reflexe sind weniger auffällig, nicht mehr so stark vorhanden, Moro und Such- Saugreflex überhaupt unauffällig. - Seine Feinmotorik hat sich verbessert. - Er isst nun ordentlich mit dem Besteck. - Er zappelt weniger. - Der Alltag verläuft einfacher. Den Urlaub empfand die Familie viel angenehmer, das war früher anstrengend, weil er immer wieder „Ausflipper“ hatte, diesmal hielt er es besser aus. - Seine Handlungsplanung hat sich verbessert, er bastelt nun strukturiert und in Schritten. - Das Sprachverständnis hat sich gesteigert, er fragt viel nach. - Er ist selbständiger geworden. - Er „flattert“ kaum mehr mit den Armen. - Er lässt sich nicht mehr alles gefallen, er argumentiert und wehrt sich. - Die Augenfolgebewegungen gelingen etwas leichter. - Gleichgewicht und Koordination haben sich deutlich verbessert. 4.3.3 Veränderungen nach weiteren 24 Wochen: - TLR, ATNR und STNR noch leicht persistierend, alle anderen frühkindlichen Reflexe ausgereift - „beherrschter, vernünftiger, reifer“ - Konzentration deutlich verbessert - Selbständigkeit weiter verbessert - Positive Veränderung fiel auch dem weiteren Umfeld auf, etwa Bekannten, der Nachbarin - Wurde in der Schule von der Vorschule in die erste Klasse aufgestuft - Kann mit Stresssituationen deutlich besser umgehen - Gleichgewicht und Koordination weiter verbessert - Zusammenarbeit der Augen verbessert 21 4.3.4 Veränderungen nach den nächsten 16 Wochen: - Interessiert sich für die Uhr. Stunden und halbe Stunden kann er nun lesen, benennen - Will sich selber fordern und stellt sich schwierige Aufgaben, die eine Herausforderung für ihn darstellen. - Untertags gibt er sich zum Teil ziemlich „cool“. - Die Mutter ist sehr zufrieden, mit der „Therapie“ und berichtet, dass alles gut läuft. - Gleichgewicht und Koordination haben sich weiter verbessert, sind kaum mehr auffällig. 5 Abschließende Bemerkungen Durch die Auseinandersetzung mit den frühkindlichen Reflexen habe ich eine erweiterte Sicht auf die mir anvertrauten SchülerInnen erhalten. Die Kinder, die ich jetzt in der Ausbildung betreue, haben in sehr kurzer Zeit gewaltige Fortschritte auf verschiedenen Ebenen gemacht. Ich bin ebenso wie die Eltern erstaunt und begeistert. Die neurophysiologische Entwicklungsförderung ist eine Therapieform. Sie kann nicht im normalen Unterricht durchgeführt werden, das würde den zeitlichen und organisatorischen Rahmen sprengen. Außerdem sind die Eltern intensiv eingebunden und müssen die Übungen konsequent täglich mit dem Kind machen. Dennoch halte ich es für sehr wichtig, dass möglichst viele LehrerInnen und ErzieherInnen sich mit der Thematik auseinandersetzen. Nur dadurch können manche Probleme richtig eingeordnet werden. Man nimmt die „Schuld“ von den Kindern und kann ihnen helfen. Sei es, indem man ihnen die entsprechende Therapie zukommen lässt, sei es, indem man auf ihre Schwierigkeiten adäquat reagiert und sie allgemein fördert. Allein der veränderte Blickwinkel nimmt schon viel Stress weg, sowohl vom Kind als auch dem/ der BetreuerIn. Ich freue mich darauf, die weitere Entwicklung der von mir betreuten Kinder beobachten und begleiten zu dürfen. Ich bin dankbar, diese Therapieform kennengelernt zu haben und selbst etwas gegen mein Unbehagen tun zu können, 22 manchmal auf der falschen Ebene zu arbeiten, anstatt den Kindern basale Hilfe anzubieten. 23 Danksagung Frau Margit Joachim für ihre Unterstützung, indem ich bei ihr hospitieren durfte und sie mir sämtliche Unterlagen ihrer Arbeit mit Thomas zur Verfügung stellte. Der Mutter von Thomas, dass ich diese Unterlagen bekommen durfte und sie mir weitere Informationen zu ihrem Kind gab. Frau Dorothea Beigel, die mich mit der Thematik bekannt machte, für uns in Tirol ein sehr informatives Seminar hielt und deren Buch mich sehr bereicherte. Frau Anja van Velzen für ihre umsichtige und versierte Führung bei der Ausbildung. Allen Eltern, die mich unterstützten, indem sie sich Zeit für die Gespräche und die Testungen nahmen und ihre Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Meinen Töchtern, Freundinnen und Kolleginnen, die mir beim Feinschliff halfen und mir Tipps zur besseren Verständlichkeit gaben, damit diese Arbeit auch für jene nachvollziehbar ist, die sich mit der Thematik noch nicht näher auseinandergesetzt haben. Meinem Mann, der mir die Freiräume verschaffte für diese Arbeit und mich anderweitig entlastete. Bibliographie Beigel, Dorothea: Flügel und Wurzeln - Persistierende Restreaktionen frühkindlicher Reflexe und ihre Auswirkungen auf Lernen und Verhalten. Basel 2003, Verlag modernes lernen Goddard Blythe, Sally: Greifen und BeGreifen - Wie Lernen und Verhalten mit frühkindlichen Reflexen zusammenhängen. Kirchzarten 2009. Verlag VAK van Velzen, Anja: Handbuch zur Neurophysiologischen Entwicklungsförderung NDT/ INPP. Tannheim 2006 Graumann – Brunt, Sigrid Dr.: Die Entwicklung der Sprache beim Kind. Buchholz 2010. Eigendruck Graumann – Brunt, Sigrid Dr.: Hochatmung, Bauchatmung und Reste nicht ausreichend integrierter frühkindlicher Reflexreaktionen. Buchholz 2010. Eigendruck