Adalbert Stifter - Juliana Mohaupt
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Adalbert Stifter - Juliana Mohaupt
Thomas Ettl Die Juliana und der Stifter-Bertl Adalbert Stifter als Heilpädagoge und tigerartiger Ziehvater mit Spinnwebe auf dem Kopf „.. ich habe eine Art Leidenschaft dafür gefaßt, so daß man mich von den Papieren wegjagen muss, damit mir nicht Spinnweben auf dem Kopfe wachsen“ (Stifter) Im Jahr 2005 So, das mit den Spinnweben ist geklärt. Das andere dauert etwas länger. Beim Sichten alter Zeitungen stieß ich auf einen Artikel von Tilman Spreckelsen in der F.A.Z. über Adalbert Stifter anlässlich seines 200. Geburtstags, der meine Neugier weckte. Spreckelsen schreibt: „Was in der Literatur gelang, das harmonische Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, glückte dem Dichter, der als Hauslehrer, Schulrat und Inspektor der oberösterreichischen Volksschulen arbeitete […] nur selten.“ Einer seiner Erziehungsversuche sei in eine Katastrophe gemündet: „Als die sechsjährige Juliana Mohaupt 1847 zu Adalbert und Amalie Stifter, ihren neuen Pflegeeltern, gebracht wird, macht sie ihnen auf der Fahrt ‚bereitz schon viel Kummer’. Das Kind, Amaliens Nichte, läuft fünf Jahre später davon und wird in einem Gasthof aufgegriffen, wo sie als Dienstmädchen arbeiten wollte, um nicht mehr zur prügelnden Tante zurück zu müssen. Als Achtzehnjährige flieht sie erneut und hinterläßt einen lapidaren Brief - »ich gehe zu der Mutter in den großen Dienst» -; vier Wochen später wird ihre Leiche am Donauufer gefunden. Unheimlich ist, was ihr Pflegevater aus diesem Erlebnis macht. Sechs Jahre nach Julianas Tod entsteht die Erzählung Waldbrunnen, in der ein widerborstiges Mädchen namens Juliana durch das langwierige Bemühen eines freundlichen älteren Herrn der menschlichen Gemeinschaft zugeführt wird […] Diese Juliana wird ganz gewiß niemals ins Wasser gehen. Man muß die biographischen Hintergründe gar nicht kennen, um sich vom Waldbrunnen arg befremdet zu fühlen“1. Die Erzählung Der Waldbrunnen hat Stifter 1866 im Alter von 61 Jahren und 7 Jahre nach dem Fund der Leiche Julianas niedergeschrieben. Wie ein Ereignis so unmittelbar Einfluss auf eine literarische Produktion nehmen und diese noch nach 140 Jahren als fiktives Geschehen eine so harsche, empörte Rezeptionshaltung hervorzurufen vermag, interessierte mich. Oder sollte es sich um bad news are good news handeln? Irritiert darüber, dass Spreckelsen auf biographische Hintergründe verweist, um sie sodann gleich wieder zu negieren, vertiefte ich mich ins Œuvre und die Person Stifters, worüber sich die Dinge allmählich sortierten. Zunächst erinnerte ich mich an Freuds Arbeit Der Dichter und das Phantasieren, in welcher er die Literatur als eine Art Planspiel-Territorium beschreibt. Der Dichter, so Freud, tue dasselbe wie das spielende Kind, das sich die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefälligere Ordnung versetze. Er erschaffe eine Phantasiewelt, die er sehr ernst nehme, d.h. mit großen Affektbeträgen ausstatte, während er sie von der Wirklichkeit scharf sondere2. Um einschätzen zu können, welches die Dinge seiner Welt sind, die er in eine gefälligere Ordnung versetzen will, bedarf es als Referenz der Information über des Dichters Lebenswirklichkeit, u.a. über dessen Erleben seiner Biographie, also seiner Erlebnisgeschichte. Nun war Stifter zweifellos ein Autor, der die Dinge seiner Welt in eine ihm gefälligere Ordnung versetzen wollte. Dass sein Œuvre eng mit seiner Lebensgeschichte verquickt ist, betont die Stifter- Forschung immer wieder. Bei Stifter seien „Leben und Dichtung in ihrer tiefen Übereinstimmung wie in ihrer geheimen, dramatischen, ja tragischen Spannung unablösbar aufeinander bezogen, und das eine ist nur aus dem anderen ganz zu verstehen“3. Mehr noch: Stifters Briefe „wurden […] gleichsam das letzte große Werk, das er uns hinterlassen hat; erst sie erschließen uns sein Leben und sein Dichten ganz von innen“4. Die Forschung kann sich auf Stifter berufen, da dieser in Briefen immer wieder betont, er wolle den Menschen nicht von dem getrennt wissen, was er schuf. An seinen Verleger Heckenast schreibt er: „Ich möchte etwas in deine Hände nieder legen, von dem es mir leid thäte, wenn es nach meinem Tode zersplittert oder verschleudert oder etwa gar ungeschikt veröffentlicht würde, nehmlich meine Briefe […] Da ich nun einmal in die Öffentlichkeit gerathen bin, und da es jezt eine schöne Sitte wird, die, denen man in ihren Werken etwas gut geworden ist, auch in ihrem Leben näher kennen lernen zu wollen, so ist es wohl keine Voraussetzung von großer Unbescheidenheit, wenn ich vermuthe, daß es jemanden nach meinem Tode beikommen könnte, Briefe von mir druken zu lassen. […] Ich habe nicht im 1 Spreckelsen, T. (2005): Damals hinterm Mond. Stifter braucht seine Zeit, unsere Zeit braucht Stifter. In: F.A.Z., 22.10.2005 Freud, S. (1908e): Der Dichter und das Phantasieren. G.W., 7, S. 213–231, 213f. 3 Fricke, G. (Hg.) (1949): Adalbert Stifter Briefe. Nürnberg: Verlag Hans Carl, 16 4 ibid., 16f 2 1 Sinne, meine Fehler zu verheimlichen, sie liegen in meinen Werken, werden noch klarer in meinen Briefen und am klarsten in der Geschichte meines Lebens liegen, wenn eine solche der Mühe werth sein sollte.“5. Das ist eine Einladung zur exopoetischen Interpretation. Eine rein werkimmanente und mithin den Autor vernachlässigende Interpretation, sei’s aus Angst, sich um den ästhetischen Genuss zu bringen, sei’s aus Neid über dessen Kreativität, sei’s aus Berührungsscheu, ist bei Stifter kaum möglich. Das war 120 Jahre später keineswegs selbstverständlich. Kuhn erinnert an einen von W.G. Sebald Mitte der 80er Jahre verfassten Essays über Stifter, in dem dieser sich über das damals in der Literaturwissenschaft streng verpönte Verdikt einer biografisch fundierten oder auch nur flankierten Analyse von Literatur hinwegsetzen musste, weil es schlichte Tatsache sei, dass es literarische Werke gibt, bei denen eine ‚textpuristische’, Biografisches ausschließende Analyse in hohem Maß inadäquat wäre“6 . Ein solches Verdikt gab es auch in der psychoanalytischen Literaturinterpretation, um die Gefahr des Pathographierens zu vermeiden. Aber so wie das Erkenntnisinteresse des Wissenschaftlers sich auf lebensgeschichtliche Vorgaben stützt und die Wahl seines Gegenstandes bestimmt, so bestimmt die erlebte Biographie Inhalt und Form literarischer Interessen beim Autor wie beim Rezipienten. In welchem Anteilsverhältnissen dies geschieht, lässt sich, auch wenn das der nomothetischen Wissenschaft contre coeur geht, nicht prozentual bestimmen. Über all dies gewinnt die These an Plausibilität, auf die Erzählung Der Waldbrunnen könnte ein Trauma direkten Einfluss genommen haben. Freilich ist die Literarisierung eines Traumas nichts Ungewöhnliches, aber ist sie „unheimlich“, wie Spreckelsen meint? Literarische Umdeutung einer traumatischen Erfahrung Ich werde jetzt die Erzählung parallel zur (Er-)Lebensgeschichte Stifters lesen. Schauen wir uns zunächst die „Katastrophe“ an, die dem Waldbrunnen zugrunde liegen soll, um zu prüfen, um welche Art poetisch verarbeiteter Erlebnisse es sich handelt. Liegt ein Schock, ein Trauma vor, wurde vielleicht ein unbewusster Wunsch Realität, was traumatisch wirken kann, oder haben wir es mit einem Konflikt zu tun? Faktisch geht es um einen Todesfall, einen Suizid. Der kann für Angehörigen eine Katastrophe sein, muss aber nicht unbedingt traumatisch sein. Stifter war seit 10 Jahren mit Amalia Mohaupt verheiratet. Das Paar blieb kinderlos, was Stifter in Briefen immer wieder beklagte. 1847 nahm das Paar schließlich die sechsjährige Nichte seiner Frau, Juliana Mohaupt, als Ziehtochter zu sich. Juliana kam aus Ungarn, ihre Mutter war verstorben. Im Jahr zuvor war Stifters Mutter verstorben. Ob Juliana wie eine Magd gehalten und von ihrer Tante geschlagen wurde, ist nicht gewiss. Stadler meint, es handle sich um ein Gerücht7. Immerhin: Juliana läuft fünf Jahre später davon und wird in einem Gasthof aufgegriffen, wo sie als Dienstmädchen arbeiten wollte. Achtzehnjährig flieht sie erneut und wird vier Wochen später tot am Ufer der Donau aufgefunden. Kurz zuvor, im gleichen Jahr ist ihre Schwester Josefa an Typhus verstorben. Es gibt einen Brief Stifters an Verleger Heckenast, in dem er einen Tag nach dem Leichenfund Stellung zu dem bezieht, was sich ereignete: „Am 21. März entfernte sich Juliana Mohaupt, meine Ziehtochter, heimlich von unserm Hause um sechsdreiviertel Uhr morgens, ohne einem uns bekannten Grunde; alle Nachforschungen blieben bis gestern vergeblich. Gestern erhielten wir die amtliche Nachricht, daß ein weiblicher Leichnam bei Gusen oberhalb Mauthausen von der Donau ausgeworfen worden war. Die Beschreibung des Körpers sowie die der Kleider paßt ganz genau auf Juliana. Unsern Zustand kann ich Ihnen nicht schildern, vielleicht kann ich es später. Jetzt kann ich Ihnen nur die Tatsache anzeigen. Sie ist achtzehn Jahre alt geworden und hat allen Anzeichen nach ihren Tod selber gesucht. Für uns ist der Grund noch ein Geheimnis. Daß ich bei solchen Umständen nicht arbeiten (dichten) konnte, ist klar. Josefinens Krankheit schon störte mich ungemein; aber im Winter hätte ich ohne dieser langwierigen Augenentzündung (sie ist die sogenannte militärische oder ägyptische Augenentzündung, und Ärzte können Ihnen sagen, wie hartnäckig dieses Übel ist) doch noch alles zustande gebracht. Allein meine Krankheit und das jetzige entsetzliche Unglück machen eine Pause notwendig. Ich beklage es tief, daß ich Ihnen, der so lieb und gut gegen uns ist, nicht Wort halten kann, ich hätte es diesmal um jeden Preis eingehalten — aber es war unmöglich. […] An der Welt im Großen habe ich Ekel. Die Natur und einzelne Menschen sind noch Freude für mich. Sie, teurer Freund, waren stets so lieb und freundschaftlich gegen uns; bleiben Sie es, wir bedürfen es jetzt mehr als je, da die Welt vielleicht wird Steine auf uns werfen, wie sie es geneigt ist, wenn jemand ein fremdes Kind bei sich hat, und dasselbe so tut, wie unsere Juliana. Wenn Sie ein böses Wort über uns hören, so sagen Sie ein gutes. Sie können es, da Sie uns kennen und Sie werden es glauben, wenn ich Ihnen sage, daß weder meine gute treffliche Gattin noch ich in entferntester Hinsicht an diesem Tode schuld sind. Juliana hat nur Gutes bei uns genossen und hat, seit sie anfing die Schule zu besuchen und zu Hause Unterricht erhielt, aus Grundsatz nie eine körperliche Strafe erhalten; ihre Strafen waren Ermahnungen. Sie war jetzt blühend wie eine Rose und hätte nach ihren Anlagen zu den besten Hoffnungen berechtigt. Weshalb sie ihr 5 Brief an Heckenast 17.3.1866 Kuhn, H. (2005): Süchtig nach einem Süchtigen. Der österreichische Vielesser und grandios verzweifelte Schriftsteller Adalbert Stifter wurde vor zweihundert Jahren geboren. In: Frankfurter Rundschau, 19.10.2005. 7 Stadler, A. (2009): Mein Stifter. Portrait eines Selbstmörders in spe. 1. Aufl. München: btb. 6 2 guter Engel so weit verlassen hat, wird vielleicht die Zeit aufhellen, jetzt haben wir trotz ewigem Sinnen und Fragen nichts herausgebracht.“8 Wie hört sich das an im Hinblick auf die Frage, ob Trauma oder Konflikt? Nicht eindeutig. Die Bemerkung, „Unsern Zustand kann ich Ihnen nicht schildern“, die Sprachlosigkeit also dürfte bei einem Poeten Hinweis auf einen Schock sein. Auch die Arbeitsstörung verweist darauf. Stifter dürfte sich hilflos, wie gelähmt gefühlt haben, als habe er Julianas Tod wie ein Naturereignis empfunden, an der ihn selbst keine Schuld trifft. Alles spricht für ein Trauma. Aber Stifter hat auch einen Konflikt mit seinem Überich. Er hat Schuldgefühle, nicht Juliana, sondern seinem Verleger gegenüber, weil er arbeitsunfähig und dadurch säumig ist, was seine ohnehin prekäre finanzielle Notlage noch verschärfte. Ihm drohte eine Existenzkrise. 1857 war sein Roman $achsommer erschienen, der u.a. von Friedrich Hebbel verrissen wurde. In einem zynischen Epigramm warf er Stifter vor, den Menschen nicht zu kennen und ihn im $achsommer völlig aus dem Auge zu verlieren. Das war herb. Hebbels „unverantwortliche Angriffe“9 und die allgemeine Verstörung bei Lesern des $achsommer bedeuteten das allmähliche Verschwinden Stifters aus dem Feuilleton und das Verblassen seiner Prominenz als Modeautor. Der $achsommer wurde zu Stifters Nachsommer, da von nun an die zustimmende öffentliche Aufmerksamkeit abnahm. Sein Witiko sei bis heute für viele Kronbeleg der Langeweile, heißt es. Die Rezensenten hätten nur noch den Kopf geschüttelt, mancher Leser ihn mitleidig oder mitleidend gewiegt, so Stadler10. Das muss Stifter als herbe Erschütterung seines Selbstwertgefühls erlebt haben. Und über all dem verdüsterte Österreichs Niedergang im Krieg Stifters Gemüt. Und nun mit Julianas Tod noch die Angst um seinen Ruf als Pädagoge, zumal auch sein Buch zur Förderung humaner Bildung 1855 vom Unterrichtsministerium abgelehnt und ihm die Inspektion über die Linzer Realschule entzogen wurde. Weniger die persönliche Kränkung als vielmehr der Gedanke, dass man so schnell und leichthin in der wichtigen Sache des Unterrichtes verfährt, sei ihm tief in die Seele gedrungen und würde ihm Geist und Herz trüben, schreibt er an Heckenast11 Ungewiss ist, ob es sich bei Julianas Tod um einen Freitod handelte – denkbar wäre auch ein Unfall - und wenn ja, warum sie den Freitod wählte. Entscheidend ist, Stifter hat es geglaubt, schließlich lebt man, was man glaubt, nicht, was (kriminal-)wissenschaftlich nachgewiesen ist. Über Motive eines Suizids kann Stifter nur spekulieren. Dass seine Ziehtochter geschlagen wurde, verneint er ausdrücklich und beruft sich auf Heckenast als Zeuge diesbezüglicher Redlichkeit. Bleiben noch die im Brief erwähnten Ermahnungen. Möglicherweise war Juliana ein schwieriges Kind und störte Stifter ebenso „ungemein“ wie die Krankheit ihrer Schwester. Ermahnungen können wie körperliche Schläge sein. Wenn sie kränkend sind, können sie schlimmer sein. Sollte Juliana also ihretwegen in die Donau gegangen sein? Denkbar wäre, dass der Tod ihrer 4 Jahre älteren Schwester Juliana geschockt hat. Vielleicht waren sich beide gegenseitig Trost in ihrer Mutterlosigkeit und der Konfrontation mit den Erwartungen der Erwachsenen. Wie auch immer, es sei „eine Tatsache, dass Stifter im eigenen Haus dreimal spektakulär als Erzieher versagt hat“12. Es sieht aus, als habe Stifter den vermuteten Suizid Julianas als weitere narzisstische Katastrophe empfunden, die seine Selbstzweifel an den Rand des Erträglichen trieben. Und da war noch der Tod seiner Mutter zu betrauern, der ihn an den lange zurückliegenden Tod seines Vaters erinnert und alte ödipale Wünsche getriggert haben könnte. Stifter erzählt also in diesem Brief von seinem Überwältigtsein durch den Verlust von Mutter und beiden Ziehtöchtern. Seine ägyptische Augenentzündung könnte Zeichen unterdrückter Tränen sein. Knapp drei Monate später schreibt Stifter an die Autorin Marie von Hrussoczy, vielfache Geschäfte und eine sehr trübe Stimmung über den traurigen Tod seiner Ziehtochter hinderten ihn daran, ihr zu schreiben. Er habe auf bessere Stimmung gewartet, da er ihr Vieles und Freundliches berichten wolle, aber heute sei sie nicht besser als früher13. Und 7 Monate später an Heckenast: „Einen Schatten wird Juliens Tod wohl immer auf den Rest meines Erdenlebens werfen; jene sorglose Heiterkeit, welche kein Wölklein kennt, die seit meiner Kindheit ein Teil meines Lebens war, ist dahin; aber es hat sich ein tiefer Ernst in mein Herz gesenkt und ich gehe mit desto größerer Sammlung zu meinen Arbeiten.“14. Stifter scheint sich partiell erholt zu haben, zumindest arbeitet er wieder. Gleichwohl kündigt sich eine depressive Verarbeitung der Erlebnisse an. Gelingt es nicht, ein Trauma allmählich der Vergangenheit zuzuordnen, geht es bei seiner Bewältigung in der Regel darum, das Trauma zu verleugnen und ungeschehen zu machen. Als Strategie bleibt, aus der Not eine Tugend zu machen, das Elend zu glorifizieren oder zu idealisieren, oder aus dem Trauma einen Triumph zu machen, indem der Traumatisierte anderen zufügt, was ihm zugefügt wurde. Er tauscht die Rolle des Opfers gegen die des Täters ein. Allemal geht es darum, Ohnmacht und Hilflosigkeit zu überwinden, Herr der Situation zu sein und die Kontrolle zurückzugewinnen. 8 Brief an Heckenast, 26.4.1859 Seebaß, F. (Hg.) (1936): Adalbert Stifter Briefe. Tübingen: Rainer Wunderlich Verlag, XIII 10 Stadler, a.a.O. 11 Brief an Heckenast, 22.12.1856 12 Stadler, a.a.O., 83 13 Brief an Marie von Hrussoczy, 11.7.1859 14 29.11.1859 9 3 Was macht Stifter? Spreckelsen zufolge ist „unheimlich“, was Julianas Pflegevater sechs Jahre nach ihrem Tod in Der Waldbrunnen aus diesem Erlebnis macht. Die Erzählung schildere „ein lang andauerndes pädagogisches Experiment mit großer Kälte“, zeige „das Kalkül des Erziehers“, ließe „seine Motive aber nur ahnen“. Sie spreche zudem „von einer jämmerlichen Ungleichheit der Waffen“. Dass sich Juliana am Ende in die Erziehung fügt, „mag man als Einsicht in die Vorteile eines solchen Projektes oder aber als schmerzliche Niederlage eines ehemals freien Wesens deuten - unter der klaren Oberfläche jedenfalls lassen sich Verwerfungen ahnen, die nicht entfernt widerspruchsfrei aufgehen wollen“. Dieses „unheimlich“ verspricht also kein angenehmes Grau(s)en. Freud zufolge beruht das Empfinden des Unheimlichen auf eigenen Erlebnissen, die – um es in der Sprache der Traumatologie zu sagen – durch einen Anlass getriggert werden. Was also vermag Der Waldbrunnen Unheimliches wachzurufen? Spreckelsen legt eine Spur: es muss etwas mit dem kalkulierten Experiment mit großer Kälte zu tun haben. Das harsche Urteil klingt nach aus Verbitterung erfolgter eiskalter Abrechnung mit Juliana, nach ihrer Zurichtung mit den Mitteln der Pädagogik. War der Brief an Heckenast noch aus dem unmittelbaren Erleben heraus formuliert, so begeben wir uns mit der Erzählung Der Waldbrunnen nun auf das Gebiet des Erinnerns. Selbst wenn ein Trauma bewusst ist, heißt dies nicht, dass dem Traumatisierten gegenwärtig sein muss, welche Spuren es in seinem Alltag, im Hier und Jetzt und gegebenenfalls in seinem Oeuvre hinterlässt. Das muss erst herausgearbeitet werden. Das gilt für die Therapie, für das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse und die Poesie gleichermaßen. Worum geht es in der Erzählung? Stephan von Heilkun fährt mit seinen Enkelkindern Katharina und Franzi aufs Land und wird in einem Dorf beim Lehrer vorstellig. Dieser klagt Stephan sein Leid, dass ihn seine „Vorgesetzten so lange in diesem unwirtbaren Waldwinkel bei so rohen Menschen gelassen haben.“ Ob er die Kinder nicht „verbessern und veredeln“ könne, fragt Stephan. „»Ja, wenn die Eltern nicht wieder alles verdürben, die Kinder lernen Halsstarrigkeit und Bosheit«“, erwidert der Lehrer und erwähnt ein Mädchen, das „aus Rohheit und Bosheit, obwohl es meiner Lehre schon fast entwächst, bisher noch kein Wort in der Schule gesprochen hat.“ Rede er „liebreich zu ihm“, zeige es die Zähne, schaue ihn mit hässlichen Augen an und sage nichts. Wolle er ihr Geschriebenes oder ihre Rechnungstafel sehen, halte das Mädchen die Hand darauf und blicke noch abscheulicher. Gewalt wolle er nicht anwenden, weil sonst das Kind nicht mehr in die Schule komme und ganz zu Grunde gehe. Auf der Gasse stoße und schlage das Mädchen andere Kinder und oftmals stünde es auf einem Felsen, strecke den Arm aus den Lumpen hervor, predige oder schreie etwas, obwohl niemand dabei sei, der es hört, ja dann schreie es sogar am lautesten. Seine Mutter und deren unverheiratete Schwester, „hergelaufene Menschen“, besäßen eine Hütte, zwei Kühe und Ziegen. Ferner gebe es noch die Großmutter. Von einem Vater des Kindes habe er nie gehört. Das Mädchen wolle nicht bei seiner Mutter bleiben, sondern hocke bei der verwahrlosten Großmutter in einem hölzernen Loch hinter der Hütte, singe mit ihr oder verhöhne sie, indem es ihr Tannenreiser, Preiselbeeren oder Hahnenfedern ins Haar stecke. Auch renne sie in den Gräben herum, Gebüsch und Kräuter zerreißend. Ob dieses Kind etwas in der Schule gelernt habe, fragt Stephan. Es lese mit, wenn gelesen wird, wenigstens rühre es die Lippen; die Kinder sagen, daß es die Buchstaben recht macht und das zu Rechnende aufschreibt. Sonst gehe es aus Bosheit in die Schule, um da wild zu sein und zu trotzen. Selbst zu dem hochwürdigen geistlichen Herrn habe es noch kein Wort gesprochen. Wir sind bekannt geworden mit einer Wilden, die einen partiellen Mutismus zeigt, roh, boshaft und verwahrlost ist, andere Kinder schlägt und auf einem Fels stehend seltsame Worte ausstößt, deren Inhalt wir später erfahren: »Schöne Frau, alte Frau, schöne Frau, weißes Haar, Augenpaar, Sonnenschein, Hütte dein, Märchenfrau, Flachs so grau, Worte dein, Herz hinein, Mädchen, Mädchen, Mädchen, bleib bei ihr, schmücke sie, nähre sie, schlafe da, immer nah, alle fort, himmelhoch, Sonne noch, Jana, Jana, Jana!« . Spreckelsen sieht in dieser Wilden ein Kind, das im weiteren Verlauf des Geschehens die „schmerzliche Niederlage eines ehemals freien Wesens“ erdulden muss. Ob man hinter diesen Holophrasen, dieser mythischen Poesie, dieser „wilden ekstatischen Lyrik“ (Lachinger) ein „freies“ Wesen vermuten darf, ist fraglich, doch möglicherweise verfügt es über „eine „Begabung, die vom Dorfschullehrer nicht erkannt wird. Der hält sie für nicht bildbar“ (Lachinger). Das Mädchen, bald der Schule entwachsen, wirkt mit seinen rätselhaften, im Stil des Coq-à-l’âne vorgetragenen Imperativen fremdbestimmt oder unter dem Eindruck extremer Gefühlslagen stehend, als sei es seinen Affekten ausgeliefert. Es ist, als wäre es von introjizierten, aber nicht von seinem Selbst assimilierten inneren Objekten überschwemmt, die als Unverdaute zusammen mit Selbstanteilen durch Ausstoßen von Worten, die es aufgeschnappt hat, von innen nach außen befördert werden müssen. Die Angst, die sich in Angriffen gegen andere Schüler und den Lehrer äußert, spricht für diese Annahme. So gesehen hätten wir es bei der Wilden mit einer borderline-Persönlichkeit zu tun. Dem widerspricht nicht, dass es sich bei den Auftritten auf dem Felsen auch um einen hysterischen Anfall handeln kann, also um eine pantomimisch dargestellte unbewusste Phantasie15. Das burschikose, rüpelhafte Verhalten auf dem Schulhof wären ebenso Anzeichen dafür wie der Mutismus, der sich offensichtlich gegen die Männer, den Lehrer und die Obrigkeit richtet. Indes fehlen obszöne Worte und Gebärden. Obszönes könnten Großvater und Dorflehrer allerdings 15 Vgl. Freud, S. (1909a): Allgemeines über den hysterischen Anfall. G.W., 7, S. 236–240, 236 4 überhört haben oder wurde vom Autor unterschlagen. Die Scham der Wilden jedoch spricht für diesbezügliche Phantasien, da sie vom Fels verschwindet, wenn andere Personen erscheinen. Der Mutismus könnte der Versuch sein, sich den Mund zu verbieten, um die Worte unter Kontrolle zu bringen. Dass Stifter die Wilde zum Akklamieren auf einen Fels stellt, ein religiöses Symbol, bedeutet hier wohl anderes: die noch schwankende Seele bedarf des festen Bodens, um genügend Halt zu finden. Wie auch immer: Das Auftreten klingt nach Besessenheit. Früher hätte man die Wilde als Hexe verurteilt. Mit einem „freien Wesen“ haben wir es wohl kaum zu tun. Halten wir noch fest: Das Kind hat keinen Vater. Es wächst in einem Matriarchat auf. Als der Lehrer Stephan das wilde Mädchen zeigt, schaut es den alten Mann mit „schreckhaft großen pechschwarzen Augen“ an, saß jedoch ruhig und still da. Stephan ging in der Klasse herum, sprach zu den Kindern und ging dann wieder, kam darauf aber öfter zur Schule. So gewöhnten sich die Kinder an ihn. Er hörte ihnen beim Lesen zu, ließ sich ihre Schulsachen zeigen und beschenkte sie mit kleinen Bildern. Juliana, die Wilde, im Folgenden Jana genannt, las nie, zeigte ihm nichts. Blieb Stephan bis Schulschluss, umringten ihn die Kinder und drängten sich an ihn. Nie sah er die Wilde andere Kinder stoßen oder schlagen. Als Stephan wieder einmal in die Schule kam, brachte er den Kindern Glaskorallen, Marmorkugeln, rosenrote Bändchen, Holztrompetchen, kleine Puppen und dergleichen mit. Wieder ließ er die Kinder lesen, besah ihre Arbeiten und verteilte Geschenke. Allen hatte er sich zugewendet, nur Jana nicht. Schließlich öffnete er seine goldene Uhr und zeigte den Kindern ihren inneren Goldglanz und die Mechanik. Da drängte die Wilde aus der Bank, ging zu dem alten Mann, hielt ihm ihr Buch hin und signalisierte, sie wolle lesen. Stephan „machte eine freundliche Zustimmung, und sofort begann das wilde Mädchen laut mit klarer, aber etwas tiefer Stimme ganz richtig in fremdartiger Aussprache das zu lesen, was auf den aufgeschlagenen Blättern stand.“ Als Stephan dem Mädchen bedeutete, es sei genug, brachte es sein Schreibheft. Stephan sah die Schrift an: mehrere Blätter waren mit deutlichen, wenn auch nicht schönen Buchstaben beschrieben. Was er zu lesen bekam, erstaunte ihn auf’s höchste. Nichts von dem, was von der Schultafel abzuschreiben oder in die Feder diktiert worden war, „nichts, was man sich selbst zu denken vermochte, sondern ganz andere, seltsame Worte standen da: Burgen, Nagelein, Schwarzbach, Susein, Werdehold, Staran, zwei Engel, Zinzilein, Waldfahren, und ähnliches. Dann Holophrasen: „in die Wolken springen, die Geißel um den Stamm, Wasser, Wasser, Wasser fort, schöne Frau, schöne Frau, schöne Frau, alles leicht, alles grau, und solche Dinge noch mehrere.“ Stephan sagte nichts, gab dem Kind die Schrift zurück, lobte es, strich den Scheitel seines rabenschwarzen Haares zweimal mit seiner Hand, zog aus seiner Tasche ein schönes rosenrotseidenes Band hervor und gab es dem Mädchen. Dieses brachte ihm daraufhin seine Tafel mit einer richtig gelösten Aufgabe, um darauf mit Band, Schrift und Tafel zu seinem Platz zurückzukehren. Von nun an las ihm die Wilde vor und zeigte ihm ihre Schrift und Rechenaufgaben, wann immer Stephan in die Schule kam. Man könnte Janas Ausgrenzung als „pädagogisches Experiment mit großer Kälte“ bezeichnen. Ich halte es für ein erfahrungsbasiertes, für die damalige Zeit vermutlich jedoch zu modernes Vorgehen. Stephan, Stifters pädagogisches Alter Ego, wendet sich zunächst absichtlich nicht Jana zu, weil er ihren Trotz nicht provozieren wollte. Er hätte sie damit nur noch mehr stigmatisiert, der Scham ausgesetzt und isoliert. Solches hat sie bisher erlebt. Er bietet ihr eine Alternative an: Er spiegelt ihr ihre Isolation, indem er sie ausschließt, um sie zu motivieren, ihre Isolation selbst aufzuheben. So kann sie sich besser zugehörig fühlen und sich damit identifizieren. Sagen wir, er erzeugt Leidensdruck - heute Vorraussetzung für eine Psychotherapie. Gleichzeitig integriert er Jana mit Hilfe der anderen Kinder. Indem er sich über sein Zuwenden und kleine Zuwendungen das Vertrauen der Kinder erwirbt, signalisiert er der Wilden, auch sie könne ihm vertrauen (vgl. hierzu die Erzählungen Turmalin, Katzensilber, $arrenburg). Der entscheidende integrative Schritt erfolgt jedoch über die Neugier des Mädchens und nicht zufällig über eine Uhr und deren geheimnisvolle Mechanik. Ein Zeitgefühl dürfte die Wilde auf Grund ihrer Lebensumstände nicht haben. Überdies ist die Uhr ein Weiblichkeitssymbol, verweist sie doch auf den Zyklus, vermittelt ein Rhythmusgefühl und ein Gefühl der ‚continuity of being’ (Winnicott). Das ist insofern bedeutsam, als die Schüler in der Pubertät sein dürften, denn die Wilde „entwächst schon seiner Lehre“, wie der Lehrer berichtet. Was sich also im Leib der Uhr, im „Uhrenkasten“ abspielt, dürfte von höchstem Interesse sein. Abgesehen davon steht die Uhr symbolisch für ein wesentliches Element Stifterscher Prosa: das Wiederholen. In ewiger Wiederholung kreist der Zeiger und doch handelt es sich niemals um dieselbe Zeit. Wir Analytiker gehen davon aus, dass das, was im Text formal oder Stilelement ist, ursprünglich ein psychischer Inhalt war. Wiederholen kann demnach einst ein wiederholtes Rufen gewesen sein, weil man nicht gehört wird, so wie das Kind wiederholend Mama, Mama, Mama ruft, damit sie endlich komme. Nicht zufällig arbeiten Propaganda und Werbung mit dem Prinzip Widerholung. Literarisches Wiederholen kann auch der Versuch sein, ein Thema unter Kontrolle zu bringen, indem man ihn von allen Seiten betrachtet. Die angestachelte Neugier wird zur Triebfeder für die Wilde mit den fletschenden Zähnen und den schreckhaft schauenden großen pechschwarzen Augen, sich Stephan anzuvertrauen und zu offenbaren. Zugegeben, da wird mit ungleichen Mitteln gearbeitet. Das jedoch ist Merkmal eines jeden pädagogischen Settings. Eine „jämmerliche“ Ungleichheit, wie Spreckelsen moniert, vermag ich nicht zu erkennen. Die Gleichmacherei der „68“, das Pseudoaufheben des Generationsunterschiedes 100 Jahre später, hat mehr jämmerliche Verwirrung unter ihren Zöglingen gestiftet. Und muss Stephans Vorgehen gleich ein Gefecht mit „ungleichen Waffen“ sein, wie Spreckelsen wettert? Liest man dies heraus, könnte allerdings „Kälte“ aufkommen. 5 Aber gemach, wir sind noch nicht am Ende! Halten wir nur fest: Stephan ist es gelungen, die Wilde von ihrem partiellen Mutismus zu befreien. Mehr und mehr konzentriert sich das Geschehen nun auf Hausbesuche Stephans und seiner Enkelkinder bei der Wilden und ihrer Großmutter. Stephan sprach bei diesen Besuchen wenig, brachte aber öfter etwas mit: ein seidenes Band, Glaskorallen, papierene Blumen oder Schnürchen mit Dolden, Mitbringsel, die das Trio bei späteren Besuchen an der alten Frau hängen sah, als habe diese sich die Geschenke unter den Nagel gerissen. Das muss bedeutsam sein, denn ein anderes mal hing das rosenrote Seidenband, das Stephan der Wilden geschenkt hatte, aus dem Haar der Alten und ein weiteres mal hatte sie sich mit Bändern, Glasperlen und anderen Dingen, welche er mitgebracht hatte, geschmückt. Eines Tages brachte Stephan Jana Muscheln mit, die diese „mit Freuden“ entgegennahm. Als er wieder in den Holzbau kam, trug die Großmutter die schönste Muschel um den Hals. Müßig habe sie in der Sonne gesessen, als warte sie auf Stephan wie auf einen Bräutigam. Jana trug von all den Dingen nichts. Die Alte hatte Gründe, sich mit den Sachen ihrer Enkelin zu schmücken. Beide konkurrierten um Stephan. Stifter beschreibt ein Matriarchat in einer Waldlandschaft, bestehend aus einer Großmutter und ihrer Enkelin, zu denen sich später Mutter und Tante hinzugesellen. Die Großmutter mit den Federn, Früchten u.ä. im Haar soll wohl mythische Verschmelzung des Weibes mit der Natur symbolisieren, zugleich das Animalische, gefährlich Verführerische und Regressive des Matriarchats. Die Konkurrenz beginnt mit dem Auftreten Stephans, eines Mannes also. Die Enteignung Janas bedeutet noch anderes. An einer Stelle klagt die Großmutter: „»Jana, Jana, die Hummeln sind in ihrem Baue, und du bist immer fort«.“ Und als Stephan sich nach dem Mann der Großmutter erkundigte und die Alte weiter ausholen wollte, rief Jana dazwischen: „»Frage sie nicht mehr«“. Das klingt, als müsse Jana ihre Großmutter vor schmerzhaften Erinnerungen schützen. Ferner: Auf dem Heimweg begegnete dem Trio mal die Tante und sagte: „»Ihr seid bei der Mutter gewesen und habt mit ihr gesprochen«. »Wenig«“ sagte Stephan, „»sie scheint nicht redselig zu sein. Das Kind läßt sie nicht sprechen, und läßt nicht andere mit ihr sprechen«.“ Solche über die Erzählung verteilte Hinweise legen nahe, Stifter wolle auf etwas hinweisen, was wir heute Parentifizierung nennen, die er auf den Punkt bringt, wenn er Jana sagen lässt: „»Siehst du, ich bin die Mutter der Großmutter, ich bin ihre Schwester, ich bin ihre Obrigkeit, ich bin ihre Magd, ich muß bei ihr bleiben.«“ Jana soll demnach omnipotente Mutter für die Großmutter sein. Stifter hat den pathogenen Einfluss der Parentifizierung auf Janas Entwicklung erkannt, greift damit aber möglicherweise wiederum seiner Zeit voraus, weswegen er als Pädagoge beim damaligen Unterrichtsministerium in Schwierigkeiten gekommen sein könnte. Parentifizierung heißt das Kind instrumentalisieren, heißt, das Kind als Container für Sorgen und Kummer der Eltern und zur Befriedigung deren narzisstischer Bedürfnisse zu missbrauchen. Entwicklungsbedürfnisse und Wünsche des Kindes bleiben dabei unbefriedigt, weil sie kein Gehör finden. Die für die Entwicklung notwendige Energie wird vom Auftrag zur Elternbetreuung verzehrt. „»Ich muß Sachen suchen«“, sagt Jana zur Großmutter, „»die du brauchst.«“ So können die „Hummeln nicht im Bau bleiben“, das Kind also nicht für die Entwicklung seines eigenen Selbst sorgen. Parentifizierte Kinder sind mit der falschen Rolle, hier Mutter, Schwester, Obrigkeit und Magd sein zu müssen, überfordert. Die Generationsbarriere ist niedergerissen, was das Kind orientierungslos und in seiner Identität diffus macht. Heute führt eine Parentifizierung häufig in die Essstörung, bei Jana jedoch in den Mutismus. Das Kind lässt sich selbst und seine Großmutter nicht sprechen. Mehr noch: Galt zu Freuds Zeiten der hysterische Anfall als pantomimischer Ausdruck eines Triebkonfliktes16, so signalisiert der ‚hysterische Anfall’ Janas, ihr Wortsalat auf dem Fels und auf der Schreibtafel, aus heutiger Perspektive einen Identitätskonflikt. Die ausgestoßenen Worte seien, als „predige“ die Wilde, so ihr Lehrer, oder wie Imperative, die ihr Hin- und Hergerissensein zwischen ihr und der Großmutter zeigen: Auf der einen Seite der Parentifizierungsauftrag: „Mädchen, Mädchen, Mädchen, bleib bei ihr, schmücke sie, nähre sie, schlafe da, immer nah“, auf der anderen Seite das Anrufen ihres Selbst als Versicherung ihrer Existenz: „Jana, Jana, Jana!“ Kurzum: Das enteignende und instrumentalisierende Parentifizieren zeigt uns kein „freies Wesen“, vielmehr eines, das in hohem Maße gebunden und verstrickt ist. Es ist eine Mythe, dass das Wilde das Freie sei, die sogleich die zweite nach sich zieht, Zivilisation sei das Unfreie. Stephan arbeitet an der Parentifizierung, freilich nicht deutend, sondern ichstützend. Als er mit Franz und Katherina, musterhafte Biedermeierkids, wieder einmal die Wilde besuchten, waren sie mit Geschenken beladen. Zuerst überreichte Stephan Jana seine Geschenke. Die nahm in die Hände, was sie fassen konnte, den Rest mit dem Ellenbogen festhaltend. Dann warf sie alles auf Großmutters Bett, nahm Stephans Hand und drückte sie, als müsse sie sich immer wieder der Dinge als ihr gehörend versichern. Dann gaben ihr Franz und Katharina ihre Geschenke. Stephan musste Jana jedes Mal versichern: „»Mit meinem Willen gibt es dir Franz«, »Mit meinem Willen gibt es dir Katharina«“. „»So nehme ich es«, antwortete das Mädchen. »Tu es,« sagt der Großvater, »und verwende die Sachen, wie du willst.«“ Die Großmutter saß auf einem Schemel, das hie und da zerrissene Kleid um sich ausgebreitet und schaute auf den Vorgang. Um ihre Lippen war ein Lächeln, „das man nicht verstehen konnte, wie wenn etwa ein einziger Sonnenstrahl auf einen rauen, dürren Fels trifft und auf ihm einen düsteren Lichtschein hervorbringt.“ Stephans Zuwendung zu ihrer Enkelin hat der Alten nicht gepasst. Die Szene zeigt, wie Stifter Natur einzusetzen vermag. Sie spiegelt einen psychischen Zustand wider. Und der Leser weiß jetzt, 16 Vgl. Freud, S. (1909a): Allgemeines über den hysterischen Anfall. G.W., 7, 236–240 6 wer der Fels ist, auf dem Jana steht: die Großmutter, die nur rau und dürftig (dürr) Janas Identität zu spiegeln vermag. Zur Kindertherapie gehört die Arbeit mit den Eltern. Eines Tages tritt Janas Mutter mit der Bitte an Stephan heran, er möge der Wilden sagen, sie solle zu ihr ziehen, „»dann geht die Großmutter auch mit. Sie sind immer in dem schlechten Holzhüttchen, und wenn ich dem Kinde Strafe drohe, so schaut es mich mit den großen Augen an, wie sein Vater, der zu früh gestorben ist. Und ich getraue mir nicht, das Kind zu strafen, sonst läuft es am Ende gar fort. Sagt es ihm doch, lieber Herr.«“ Die Mutter teilt ihre Angst mit dem Dorfschullehrer: Würde man der Wilden Grenzen setzen, liefe sie davon. „»Ich werde nachdenken, was man in dieser Sache Gutes stiften könnte,« antwortete Stephan, »und werde darnach handeln.«“ Er bittet um Bedenkzeit, sein Enkelin jedoch setzt ihm zu: »Großvater, du mußt dem Mädchen befehlen, daß es mit seiner Großmutter aus der Holzkammer in die schönen Zimmer des Hauses herübergeht, da haben sie es besser.«“ Franz hingegen meint, man solle das Mädchen nicht zwingen. „»Ihr meint beide, wie es euch gut dünkt,« sagte der Großvater, »ich weiß noch nicht, was ich meinen soll, und wenn das Mädchen herübergeht, soll es freiwillig gehen, und dann habt ihr beide recht.«“ Die Kinder tragen zur gegenseitigen Erziehung bei, ein häufiges Motiv bei Stifter. Die Mutter funktionalisiert ihre Tochter und deren ‚Therapeuten’. Sie sollen die Großmutter ins Haus zurückbringen. Stephan jedoch entspricht diesem Anliegen nicht. Kompensatorisches Erziehen ist nicht seins, wie folgende Szene mit dem „Anbau“ symbolisiert: Er lässt von Handwerkern einen Anbau an Janas Holzschuppen fertigen. Dieser sollte unverändert bleiben, vielmehr sollte man von ihm aus noch in eine schöne, geräumige Stube mit vier Fenstern, einem grünen Ofen und reinen Geräten gelangen können. Als alles fertig war, waren alle erfreut und dankten Stephan „für das viele Gute, das er ihnen tat, und das so zahlreich sei, daß man es kaum begreifen könne.“ Der Holzschuppen steht für das unfertige Selbst Janas. Der komfortable Anbau macht ihre Seele zum bewohnbaren Haus. Stephans Pädagogik setzt nicht am Fehlenden, an den Lücken an, wie das später das kompensatorische Erziehungsmodell versuchte, sondern am Bestehenden. Das hat Stifter als Schüler in der Benediktiner-Abtei Kremsmünster gelernt. „Als unser Kaplan erklärte, ich sei völlig talentlos, sagte Franz Friepes, der Vater meiner Mutter: »Das glaube ich in Ewigkeit nicht; der Bub ist ja findig wie ein Vogel.« Und dann führt er mich nach Kremsmünster“17. Dort wurde der Stifter-Bertl nicht nach seinen Lateinkenntnissen gefragt, die hatte er nicht, sondern nach seinen Kenntnissen über seine Lebensumwelt. Damit kannte er sich bestens aus und wurde als Schüler angenommen. An seinem Wissen, nicht an seinen Wissenslücken wurde angesetzt. Und sein Großvater? Der war sein förderndes Objekt. Wir begegnen Franz Friepes im Der Waldbrunnen in der Gestalt Stephans wieder. Die bisherige „Behandlung“ der Wilden zeigt eine Progression über den Weg der Regression. Stephan geht in die Rolle einer Mutter, die der Wilden die Brust (Geschenke) gibt. Er fungiert sozusagen als ‚Waldbrunnen’, den die Großmutter ihrer Enkelin streitig macht, weshalb Jana die Milch weiterreichen und der Alten zu Trinken geben muss, Urszene der Parentifizierung. Erst als Jana die Brust zur eigenen Entwicklung nehmen darf, gedeiht sie. Dass die Hysterie an einem oralen Defizit leidet, wird Masud M. Khan erst 1983 darlegen18. Stifter ahnte den Zusammenhang schon. Dass Stephan mit seinen Geschenken auch die weibliche Entwicklung Janas fördert, vernachlässige ich zunächst. Halten wir hier nur fest, dass die Wilde inzwischen zivilisiert ist. Der therapeutische ‚Anbau’ hat ihrer Seele „Licht“ und „Wärme“ gegeben. Eines Tages tritt Stephan ans offene Fenster, sieht Franz und Jana sich in die Arme fallen, sich umschlingen und küssen und er hört Jana seufzen: »Liebster, liebster, liebster Franz!« und Franz: »Liebste, liebste Juliana!« und dann wieder Jana: »Liebster, liebster Franz!«. Ein „seltsamer“ Anblick sei es gewesen, wie der wohlgekleidete Knabe und das Mädchen in Lumpen sich umschlungen hätten, so Stephan. Das hätte Tertullian, dem antiken Traumforscher, sicher gefallen. Der hat den Frauen unter Hinweis auf Evas Sünde nur schäbige Kleidung zugestanden. Der Topos: wohlgekleideter Mann und in Lumpen gehüllte Frau postuliert ein soziales Gefälle - fürs Unbewusste eine Inzestsituation. Stifter jedoch lässt den alten Mann Stephan zu sich sagen: „»Die menschliche Wesenheit ist endlich zur Entscheidung gekommen.«“ Wie bitte, der Inzest als „menschliche Wesenheit“? Ein Blick in die Weltliteratur gibt ihm Recht. Zur Entscheidung kam freilich etwas anderes. Als Stephan eines Tages abreisen musste, wollte er Jana mitnehmen. Er versprach ihr schöne Kleider, dass sie noch manches lerne und dann Franz ehelichen könne. Jana entschlossen: „»Ich gehe nicht mit dir […] Weil ich die Großmutter nicht verlasse«“. »Die Großmutter wird es dir gönnen, wenn du das Glück für dein Leben findest«“, erwiderte Stephan. „»Großvater, wenn man Franz und Katharina goldene Kleider gäbe, sie auf einen goldenen Stuhl setzte und zum Kaiser und zur Kaiserin machte, und sie dir wegnähme, würdest du nicht betrübt sein?« »Ich würde es sein«“, erwiderte Stephan und bietet Jana an, die Großmutter mitzunehmen. Auch das lehnte Jana ab. Sie war der Meinung, bei Großmutter bleiben zu müssen, weil diese, würde sie entwurzelt, stürbe. 17 18 Brief an Leo Tepe, 26.12.1867 Khan, M. M. R. (1983): Hidden selves. Between theory and practice in psychoanalysis. London: Karnac Books. 7 Jana hat einen Entwicklungsschritt gemacht. Sie widersetzt sich Stephans Anliegen und zeigt sich einfühlsam in die Situation ihrer Großmutter. Aber das sind Reste der Parentifizierung, die noch wirksam sind, denn Mutter und Tante hätten die Alte versorgen können. Bedeutsam ist, dass die Erzählung an dieser Stelle eine entscheidende Wende nimmt: Der Heilpädagoge macht einen Kunstfehler! Er begeht eine Abstinenzverletzung: Jana soll ihm seinen Wunsch erfüllen. „»Juliana,« erwiderte der alte Stephan, »wenn du nicht mit uns gehst, dann müssen wir uns auf immer trennen. Damit du Franzens Weib werden könntest, müßtest du noch vieles lernen, und müßtest dazu in eine andere Welt kommen, als hier ist. Wie ihr hier seid, könnt ihr nicht bleiben. Und damit meinem Enkel Franz nicht zu sehr das Herz weh tut, wenn er dich öfter sähe, kann ich im nächsten Sommer und in allen nächsten Sommern nicht mehr in den Wald kommen, damit er dich vergißt.«“ Oha! Haben wir richtig gehört: Damit dem Franz nicht zu sehr das Herz weh tut? An Jana wird nicht gedacht und überdies ist das Erpressung! Trotz allem: Selbst jetzt erteilt Jana dem Begehren Stephans eine Absage: „»Er wird mich vergessen, und es wird alles gut sein«“. Bei diesen Worten quollen Jana große Tropfen aus den schwarzen Augen, die ersten Tränen, die Stephan an dem Kind gesehen hatte. Jana hat ihre Gefühle unter Kontrolle und lässt sich nicht erpressen, obwohl es sie schmerzt. Sagen wir ruhig, sie grenzt sich ab, sie emanzipiert sich. Und der Heilpädagoge, als habe er seinen Fehler bemerkt: „»Juliana, Mädchen«“, sagte Stephan, „»tue, wie du willst.«“ Die ging zu ihm hin, küsste ihm zum ersten Male die Hand und enteilte schweigend durch die Tür. Die Biedermeierkids saßen mit Tränen übergossen auf ihren Stühlen. Stephan legte auf jedes Haupt eine seiner Hände und sagte: »Es ist recht schön von euch, daß ihr folgsam gewesen und kein Wort drein geredet habt. Lassen wir Gott seinen Willen, wie er alles fügt.«“ Setzen wir für Gott die moralische Instanz Überich ein, hat diese Stephan in seine Schranken verwiesen. Das Überich jedoch ist korrumpierbar und Stephan erreicht sein Ziel zuletzt doch noch. Stifter ließ die Großmutter sterben. Des andern Tages kam Jana zu Stephan und sprach: „»Großvater, jetzt gehe ich mit dir, und will bei dir sein, wie ich bei der Großmutter gewesen bin.«“ Scheinheilig Stephan: „Liebst du denn deine Mutter nicht, Juliana?“ Nein, das tut sie nicht. Sie ist eine Hysterika und liebt den maître, den Vater. Diese Liebe hat sie auf Stephan übertragen. Als Großmutter beerdigt wurde, „waren um des vornehmen Mannes willen viele Menschen herbei gekommen und gaben der alten Frau die letzte Ehre.“ Mutter und Tante weinten und jammerten am Grab und erzählten, wie gut die alte Frau gewesen sei. „Juliana stand still dabei und sagte gar nichts.“ Wir wissen, warum. Prä- und postnatal Der Waldbrunnen zeigt den utopischen Entwurf einer Heilpädagogik und gehört zum damaligen Zeitpunkt ins Genre Science-Fiktion. Im Vorgriff auf die psychoanalytische Pädagogik schildert sie die Heilung einer juvenilen Hysterie. Das Thema lag in der Luft, war aber 1866 noch Sache der Priester und Pädagogen. Obwohl fiktiv hätte eine Heilung unter diesen Umständen auch real eintreten können. Stifters Crux war, mit seinem Ansatz seiner Zeit voraus zu sein, was damals nicht gewürdigt wurde. Jahrzehnte später hätte er als psychoanalytischer Pädagoge Karriere machen können, zumal wir ihm eine erhellende Beschreibung frühkindlichen, ja vorgeburtlichen Erlebens verdanken: „Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. Die Merkmale, die festgehalten wurden, sind: es war Glanz, es war Gewühl, es war unten. Dies muß sehr früh gewesen sein, denn mir ist, als liege eine hohe, weite Finsternis des Nichts um das Ding herum. Dann war etwas anderes, das sanft und lindernd durch mein Inneres ging. Das Merkmal ist: es waren Klänge. Dann schwamm ich in etwas Fächelndem, ich schwamm hin und wieder, es wurde immer weicher und weicher in mir, dann wurde ich wie trunken, dann war nichts mehr. Diese drei Inseln liegen wie feen- und sagenhaft in dem Schleiermeere der Vergangenheit, wie Urerinnerungen eines Volkes. Die folgenden Spitzen werden immer bestimmter, Klingen von Glocken, ein breiter Schein, eine rote Dämmerung. Ganz klar war etwas, das sich immer wiederholte. Eine Stimme, die zu mir sprach, Augen, die mich anschauten und Arme, die alles milderten. Ich schrie nach diesen Dingen. Dann war Jammervolles, Unleidliches, dann Süßes, Stillendes. Ich erinnere mich an Strebungen, die nichts erreichten, und das Aufhören von Entsetzlichem und zu Grund Errichtendem. Ich erinnere mich an Glanz und Farben, die in meinen Augen, an Töne, die in meinen Ohren, und an Holdseligkeiten, die in meinem Wesen waren. Immer mehr fühlte ich die Augen, die mich anschauten, die Stimme, die zu mir sprach, und die Arme, die alles milderten. Ich erinnere mich, daß ich das »Mam« nannte. Diese Arme fühlte ich mich einmal tragen. Es waren dunkle Flecken in mir. Die Erinnerung sagte mir später, daß es Wälder gewesen sind, die außerhalb von mir waren. Dann war eine Empfindung, wie die erste meines Lebens, Glanz und Gewühl, dann war nichts mehr.“ (Mein Leben) Wenn Stadler zu diesem autobiographischen Fragment meint, Stifter sei „ein ungeheurer Abschnitt in der Literatur“19, ist ihm zuzustimmen. Dass aber Freud seine Freude daran gehabt hätte, wie er mutmaßt, ist Unsinn. Abgesehen davon, dass Freud dem Autobiographischen gegenüber skeptisch war, weil eine aufrichtige 19 Stadler, a.a.O., 188 8 Lebensbeichte soviel Indiskretion über Familie, Freunde und Gegner erfordere, dass sie sich glatt ausschließe 20, hatte er mit der frühen Mutter-Kind-Dyade und ebenso mit Klängen nichts am Hut. Bachofen hingegen wäre möglicherweise interessiert gewesen. Ein glückliches Händchen hatte Stadler wohl auch nicht, wenn er kommentiert: „Sollen sich die Analytiker die Zähne an diesem Text ausbeißen, dachte ich. Oftmals wird ja mit den Zähnen analysiert. (Das Analysieren ist naturgemäß etwas ganz Aggressives, dachte ich.)“21. Da gibt’s nichts zu beißen. Der Text geht runter wie Sahne! Wie andere erspart sich Stadler die Mühe, sich mit den Weiterentwicklungen der Psychoanalyse zu befassen. Täte er das, müsste er feststellen, was Stifter beschreibt, gehört inzwischen in der Psychoanalyse unterm Titel: somatisches Erinnern, Holding, Container- und Alphafunktion der Mutter, Glanz im Auge der Mutter, Protosymbole, Einführung in Sprache etc. längst zum unverzichtbaren metatheoretischen und behandlungspraktischen Standardwissen. Und alle, die nicht glauben, am Anfang sei das Wort, lecken sich die Finger, da sie hier hören: Am Anfang sind die Klänge, nämlich die Herzund visceralen Geräusche des Mutterleibs. Dort wird nur gefühlt und gehört und dort beginnt unser Dasein, nicht erst bei der Geburt, es sei denn, man versteht den Uterus als nicht zu dieser Welt gehörend. Was Stifter in diesem Fragment beschreibt, entzieht sich dem bewusst Erinnerbaren und der Sprache. Einzig die Körpererinnerung kann Informationen liefern. Zu Recht schreibt die Literaturwissenschaftlerin Frauke Berndt, Stifter erinnere „nicht sein Leben, sondern konstruiert ein Leben“22. Allerdings beißt sie sich die Zähne aus, weil auch ihr die psychoanalytischen Konzepte frühen Erlebens fehlen. Sie wundert sich darüber, dass in Stifters Schilderung postnatalen Erlebens keine Rede von „Mutter“ und „Kind“ sei. Das jedoch geht nicht, denn in dieser frühen Phase sind Mutter und Kind noch nicht separiert, sondern fusioniert, eben noch eins. Stifter weiß das intuitiv. Es irritiert sie auch, dass nur von „Augen“ und „Stimme“ die Rede ist. Man könne den Attributen unterstellen, „dass sie die Mutter pars pro toto vertreten; aber man muss es nicht tun, weil Stifter seinen Wörtern kein semantisches Zuhause gibt“23. Da ist sie noch auf der richtigen Spur. Früh werden die Objekte wie der eigene Körper ausschließlich als Partialobjekte wahrgenommen: Augen, Stimme, Berührung der Mutter, Mund und Anus am eigenen Körper, weil ihnen vornehmlich die mütterliche Zuwendung und Pflege gilt. Neben die Spur gerät Berndt in ihrer sonst informativen Ausführung, wenn sie sich in die Interpretation versteigt, Stifter inszeniere „die Empfindungen während einer Zeugung“24 und sich dabei auf die Sequenz aus Mein Leben beruft: „Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. Die Merkmale, die festgehalten wurden, sind: es war Glanz, es war Gewühl, es war unten.“ Diese körpertopologische Zuordnung: „es war unten“ wird zum Verhängnis für ihre Interpretation. „Die Sequenz gewänne dann an Plausibilität, wenn man ihr unterstellte, dass das Ich in seiner Erinnerung die weibliche Wahrnehmungsperspektive einnimmt: Im Vergleich […] identifiziert es sich zuerst mit den lustvollen Empfindungen während der Geschlechtsaktes und im Anschluß daran mit den bedrohlichen […]“25. Man muss sich klar machen: der Fötus verfügt über keine körpertopographische Vorstellung, er kennt weder oben, noch unten, weder hinten noch vorne, nicht außen und innen und er kennt keine Zeit. Die Interpretation, Stifter sei beim Abfassen dieses Textes mit dem penetrierten Weib identifiziert, ist an dieser Stelle tiefer Regression nicht zutreffend, würde sie doch Separation, gar ein bereits hoch differenziertes Ich voraussetzen, es sei denn, man unterstelle, dass Stifter beim Schreiben unterschiedliche Ich-Positionen einnimmt. In anderem Kontext wäre die Interpretation zutreffend, denn der erwachsene Stifter war partiell weiblich identifiziert. Hier jedoch setzt schon die Fortsetzung des Zitats die Interpretation außer Kraft: „Dann war etwas anderes, das sanft und lindernd durch mein Inneres ging. Das Merkmal ist: es waren Klänge. Dann schwamm ich in etwas Fächelndem, ich schwamm hin und wieder, es wurde immer weicher und weicher in mir, dann wurde ich wie trunken, dann war nichts mehr.“ Das ist der Fötus im Fruchtwasser und dort können die Penetration der Mutter, ihr erhöhter Puls und Blutdruck, Kontraktionen, hormonelle Veränderungen etc. sich für den Fötus taktil, haptisch und akustisch bemerkbar machen. Wir Analytiker erzählen uns gerne den Witz von den Zwillingen im Mutterleib, in dem der eine zum anderen sagt: »Draußen muss es ziemlich kalt sein, der Vater kommt dauernd rein«. Aber auch dieser Witz verbleibt zwangsläufig im Adultomorphen. Raum, Zeit und Bedeutung gibt es noch nicht, weswegen auch eine Konjunktion wie „dann“ unangemessen bleibt, wie überhaupt jede sprachliche, also zwangläufig sequentielle Darstellung früher Vorgänge, da nur ein Bild das Gleichzeitige verschiedener Erlebnisformen abbilden könnte, weswegen Bilder dem Unbewussten näher stehen als die Sprache. Stifters Darstellung kommt dem Frühen deshalb nahe, weil er Maler war. Folgerichtig interpretiert Berndt mit Einführung der Sprache, des „Mam“, sicherer, weil wir jetzt den Bereich diskursiver Symbole betreten und den der präsentativen verlassen. „Immer mehr fühlte ich die Augen, die mich anschauten, die Stimme, die zu mir sprach, und die Arme, die alles milderten. Ich erinnere mich, daß ich das »Mam« nannte. Diese Arme fühlte ich mich einmal tragen.“ 1972 wird 20 Freud, S. (1960): Briefe 1873-1939. Hg. v. Ernst Freud und Lucie Freud. Frankfurt am Main: S. Fischer, S.408 Stadler, a.a.O., 190. 22 Berndt, F. (2005): $ichts als die Wahrheit. Zur grammatologischen Metaphysik in Adalbert Stifters Mein Leben. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 79. Jahrgang (3), S. 472–504, 476 23 ibid., 488 24 ibid., 483f 25 ibid., 484 21 9 Lorenzer schreiben, die „Einigungssituation auf bestimmte Interaktionsformen wird durch die Verbindung mit einem Lautkomplex zur Einführungssituation von Sprache. […] Die körperlichen Bedürfnisse werden in den von Sprache gebildeten Sinnzusammenhang eingeschmolzen“26. Das heißt: Sagt das Kind Mama, ist immer ein InBeziehung-zu gemeint. Das macht Stifter ersichtlich, wenn er sagt: „die Augen, die mich anschauten, die Stimme, die zu mir sprach“. Das nannte er »Mam«. Diese Sequenz zeigt, wie wichtig die Dichter für die Psychoanalyse waren und sind. Ich meine aber, es geht in Mein Leben noch um etwas anderes. Dieses Spätwerk Stifters ist wie jene Träume zu verstehen, die man vom Ende her zu lesen hat. D.h., Mein Leben beginnt zwar im Mutterleib, aber es macht mehr Sinn, wenn man das Fragment liest, als ende es dort. Stifter muss um sein Ende geahnt haben, er muss mit Suizidphantasien beschäftigt gewesen sein, hatte schon einen Versuch unternommen und auch in seiner Prosa ist Suizid Thema. Gängige unbewusste Phantasie vieler Suizidanten ist, in den Mutterleib zurückzukehren und dort ihren Frieden zu finden. Juliana hat das gemacht, als sie in die Donau ging. Ihre Heimat war Ungarn und es könnte eine tröstliche Vorstellung gewesen sein, dass der Strom sie gleich einem Geburtskanal hätte von Linz bis in die Heimat und dort in den mütterlichen Uterus tragen können. Ihr Abschiedbrief, der vielen rätselhaft erscheint, weil Julianas Mutter bereits an die 15 Jahre tot war, ist nicht ganz so rätselhaft: „Ich gehe zu meiner Mutter in den großen Dienst“ heißt, „ich gehe ins mütterliche Fruchtwasser.“ Stifter, möglicherweise in Identifikation mit Juliana oder seiner früheren Geliebten, der toten Fanny, tut dasselbe wie Juliana: 1866 bringt er sich um. Als Erwachsener weiß er, wo man in den Mutterleib kriechen kann: unten. Das Ergebnis: „Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich.“ Das ist die unbewusste Selbstmordphantasie eines regressus ad uterum. Das unten ist der sichere Hinweis auf eine regressive Phantasie. Dass Stifter dieses Ziel so zu artikulieren in der Lage war, liegt an seiner Fähigkeit, die Durchlässigkeit zwischen Ich und Es kreativ zu nutzen und sich Impulsen aus den tieferen Schichten seiner Seele zu überlassen. Zurück zum Der Waldbrunnen. Beim besten Willen kein ich kann kaltes pädagogisches Experimentieren erkennen und auch keine „schmerzliche Niederlage eines ehemals freien Wesens“ (Spreckelsen). Beide Protagonisten argumentieren anstatt die Klingen zu wetzen. Und wie steht es mit dem „Unheimlichen“? Metamorphosen sind immer unheimlich: Wenn Daphne zum Lorbeerbaum, Samsa zum Käfer und Jekyll zum Hyde mutiert. In Stifters Erzählung mutiert ein glückloser Pädagoge zum Wunderheiler. „Kälte“ indes könnte verbreiten, dass Stephan Jana zur Ehe drängt, wenn man weiß, was Stifter unter Ehe verstand. Welches Kalkül verfolgt der Erzieher, welche Motive hat er? Die Antwort steht im Text: Stephan hat Fröhlichkeit und Gesundheit verloren, weil er in seinem Leben „Kummer erlebt“ hat und „Mangel an Liebe litt“. Er braucht Janas Zuneigung, um sich geliebt zu fühlen. Dieser Mangel an Liebe ist es, der Stephan einem Irrtum aufsitzen und ihn einen Kunstfehler begehen lässt. Das ging so: Für Jana, die zu gesunden beginnt, gewinnt Stephan mehr und mehr an Bedeutung, was sich in zärtlichen Gesten ihm gegenüber äußert. Nachgesprungen sei sie ihm, heißt es, habe ihn an der Hand gefasst, ihn mit ihren großen Augen angesehen, seine Hand gestreichelt, die Arme um seinen Nacken geschlungen und seinen weißen Stutzbart geküsst. Stifter erhöht das Tempo noch: Bald reicht ein ‚Nachspringen’ nicht mehr aus, nein, die Wilde „flog“ herbei und schlang beide Arme um den alten Mann und rannte davon. Die stürmische Zuwendung rührte diesen dermaßen, dass er sich mit dem Ärmel das Angesicht wischte, „man wußte nicht weshalb, er stieg ein, und der Wagen fuhr davon“. Doch, man wusste es: Er war tief gerührt und trocknete sich mit dem Tuche die Tränen von den Augen“. Der Irrtum des Großvaters - in ihm macht sich Stifters Wunsch bemerkbar - besteht darin, die stürmischen Gesten der Wilden als ihm geltend misszuverstehen: Er trat „vor ein Kreuz, das in dem Zimmer hing, seinen Augen entstürzten Tränen, und er sagte: »Du heiliger und du gerechter Gott! So ist es denn zum ersten Male in meinem Leben, daß ich von jemandem um meiner selbst willen geliebt werde, von einem Menschen, dem ich nichts gegeben und getan habe […] Und dieser Mensch ist ein armes, verwaistes und vernachlässigtes Kind, das keine Gründe seiner Handlungen und Empfindungen kennt. Ich danke dir für dieses süße, bisher ungekannte, mir zum Schlusse meines Lebens gegebene Gefühl, du mein gerechter, mein guter Gott!«“ Spätestens jetzt ist klar: Stephan (Stifter) handelt nicht aus einem von Jana in ihm induzierten Gefühl heraus, nein, er bedient sich Janas Liebessehnsucht. Wir wissen, es war nicht Gott, sondern Stephans Zuwendung, die Janas Liebe geweckt hat. Stifter hat den Großvater wunschgemäß auf das hereinfallen lassen, auf das 20 Jahre später Josef Breuer bei einer Patientin hereinfällt und vor dem er flüchten wird: die Übertragungsliebe. Nicht er war gemeint, sondern Janas Vater. Ihm, den sie zu früh verloren hat, galt ihre Liebe und ihre Sehnsucht. Wegen seines Todes hat sie die Liebe zu ihm durch eine Identifizierung ersetzt, wie uns die Mutter berichtet: „… so schaut es (Jana, T.E.) mich mit den großen Augen an, wie sein Vater…“. Im therapeutischen Setting wurde Janas Liebe zum Vater reaktiviert und auf den Großvater übertragen. „Nachspringen“ und „Fliegen“ zeigen das Dringliche ihrer Vatersehnsucht. Heute 26 Lorenzer, A. (1972): Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 66f 10 würden wir die Heilung des Mutismus als eine „Übertragungsheilung“ verstehen, d.h., Stifter schildert eine unvollendete Behandlung. Um wirklich frei zu sein, wäre die Übertragungsliebe zu bearbeiten, damit Jana ihren Vater in sich hätte sterben lassen und sich dann ein Liebesobjekt hätte wählen können. Die Verstrickung, in die Stifter den Großvater mit seiner eigenen Übertragung hat geraten lassen, ist sumpfiges Gelände, das erst später die Psychoanalyse trockenlegt. Im Reich der Fiktion freilich darf sein, was in einer Therapie zu reflektieren und zu bearbeiten wäre, um an die für die Hysterie typische Enttäuschung an den Männern zu kommen: hier dem Dorfschullehrer, der Obrigkeit, letztlich am Vater, der Jana verlassen hat. Bei diesen Männern war sie mutistisch, Zeichen ihres trotzigen Enttäuschtseins. Stifter reagierte auf den frühen Tod seines eigenen Vaters auch trotzig: mit Essverweigerung. Beiden Bewohner des Mundes, der Nahrung und den Worten bleibt ihr Zuhause verschlossen. Beide sind heimatlos, verwaist. Klinisch relevant wird dies alles erst 20 Jahre später, wenn die ersten Patienten bei Breuer und Freud auftauchen. Wir jedoch halten fest: Über Stephans Übertragung wiederholt sich die Instrumentalisierung der Wilden. Da das Aufzählen Stifters Stilelement ist, dürfen wir nun seine Aufzählung dahingehend ergänzen, die Wilde solle nicht nur Mutter, Schwester, Obrigkeit und Magd sein, sondern auch Liebende – oder gar Geliebte für Stephan, oder gar für Stifter? Da spürt man schon einen kalten Hauch, der aus der Erzählung herüberweht. Ein Kunstfehler und eine Fehlleistung Im Unterschied zu Breuer hat sich der Großvater im Waldbrunnen auf die Liebe des Mädchens eingelassen, hat nicht die Flucht ergriffen, im Gegenteil, er konnte seine „Patientin“ nicht mehr loslassen. Die seinen Augen „entstürzenden Tränen“ zeigen die erlösende Befriedigung, die er empfunden haben muss: eine starke Übertragungsreaktion. Unter diesem Aspekt kann man den weiteren Verlauf der Erzählung, das Verkuppeln mit Enkel Franz verstehen, die Stifter als gottgewollt begründet. Ein gottgefälliges Happy End also? Nicht ganz. Die Menschen nähmen Einfluss auf ihre Götter, sagt Freud, denn der Mensch verzichte nicht ernstlich auf die Allmacht, sondern behalte sich vor, die Götter durch mannigfache Beeinflussungen nach seinen Wünschen zu lenken27. So auch Stephan. Er kann Jana über die Ehe mit dem Enkel in seiner Nähe halten. Und Stifter? Er will mit seiner Erzählung seine Welt unerfüllter Liebe in eine gefälligere Ordnung bringen und macht aus ihr eine „Wunschautobiographie“28. Spätestens jetzt kommt die Interpretation der Erzählung ohne Rekurs auf den biographischen Hintergrund nicht mehr aus. Stephans Kunstfehler erzwingt den Einstieg in die Biographie, obwohl der Kunstfehler uns nicht länger beschäftigen muss. Die Erzählung ist kein Behandlungsbericht. Aus heutiger Sicht hätten wir es ohnehin mit einer allzu linearen Konzeption von Psychotherapie zu tun. Entscheidender ist, dass dem Autor des Waldbrunnen eine Fehlleistung unterlaufen ist: Über Janas früh verstorbenen Vater erfährt der Leser nichts! Diese Fehlleistung entspringt dem Wunsch des Autors nach Liebe, der Janas Vater als lästiger Konkurrent im Wege stünde. Deshalb muss er in der Versenkung verschwinden und im Text Leerstelle bleiben. Der Leser jedoch ist durch die winzige Bemerkung von Janas Mutter über seinen Tod auf seine Fährte gesetzt. In der Übertragungsliebe des Mädchens erlebt der Vater - vom Autor vermutlich unbeabsichtigt - seine Wiederauferstehung. Die Fehlleistung hat einen biographischen Hintergrund. Stifter hat seinen Vater früh verloren. Im November 1817, Stifter war 12, verunglückte er tödlich auf einer Geschäftsreise, erschlagen von seinem Flachswagen. Der Tod habe einen tragischen Ton in das Idyll der dörflichen Kindheit gebracht. Der Entschluss, „keine Speise mehr anzurühren und dem ihm so unbegreiflich Entrissenen nachzusterben, lässt die Kraft der Leidenschaft ahnen, die lebenslang in Stifter mächtig war“29. Stadler meint, Vaters Tod sei als Lebenswunde Stifters zurückgeblieben und habe sich in ihn hineingefressen30. Mehr noch: Als Stifter nach dem zweiten Schuljahr aus Kremsmünster in die Ferien nach Hause zurückkehrte, gab es für ihn eine „böse Überraschung“: Seine Mutter hatte sich wieder verheiratet. Ein 7 Jahre jüngerer Bäcker war zum Nebenbuhler geworden, so Stadler. Nach Vaters Tod und dem Erscheinen dieses fremden Menschen sei die paradiesische Zeit der Kindheit, die Stifter später in seiner Prosa, z.B. im $achsommer oftmals vergegenwärtigen wird, endgültig vorbei31. Tatsächlich kann man den $achsommer wie einen ‚Familienroman’ im psychoanalytischen Sinn lesen. In dem Phantasiekonstrukt ‚Familienroman’ modifiziert das Subjekt imaginär die Bande mit seinen Eltern, indem es sich z.B. von höherer Abkunft phantasiert. Im $achsommer lässt Stifter seine Alter Egos in einer Tagtraumwunschwelt spazieren gehen, als würde der Vater noch leben. Der erste Satz des Romans lautet: „Mein Vater war ein Kaufmann“. Der fiktive Vater „hatte gegen dieses Reisen nichts, auch war er mit der Art, wie ich mit meinem Einkommen gebarte, sehr zufrieden. Es blieb nämlich in jedem Jahre ein Erkleckliches über […] So ging alles gut, Vater und 27 Freud, S. (1912-13a): Totem und Tabu. G.W., 108 Stadler, a.a.O., 78 29 Fricke, a.a.O., 5 30 Stadler, a.a.O., 22 31 Stadler, a.a.O., 30 28 11 Mutter freuten sich über meine Ordnung.“ Stadler zufolge herrsche im $achsommer „eine geradezu klösterliche Zucht und Ordnung“32, eine Welt, die Stifter bei seinen Ersatzvätern in Kremsmünster erlebt haben dürfte. Soweit Stifters Sehnsucht nach dem Vater. Die Konkurrenz mit ihm handelte er am Stiefvater ab. Das ermöglichte ihm, den Vater zu idealisieren. In der Vorrede zu Bunte Steine steht es: „… so daß ich meine Schriften nie für Dichtungen gehalten habe, noch mich je vermessen werde, sie für Dichtungen zu halten. Dichter gibt es sehr wenige auf der Welt, sie sind die hohen Priester (der Vater und Stifters Lehrer in Kremsmünster, T.E.), sie sind die Wohltäter des menschlichen Geschlechtes; falsche Propheten (Nebenbuhler, wie der Stiefvater, T.E.) aber gibt es sehr viele.“ Die Enttäuschung über seinen leiblichen Vater zeigt die Lebensrealität Stifters. Die progressive Regression Stifters beginnt, wie es scheint, mit dem Tod seines Vaters. Mit 60 schreibt er, sein Geist sei „ein halbes Kind geworden“33. Als Stifter kurz vor seinem Tod einen Selbstmordversuch macht, bezeichnet er ihn als „Unfall“, Hinweis auf eine Identifikation mit dem verunfallten Vater. Schon im Studium und bis in sein 43. Lebensjahr wirkte Stifter unentschlossen, zögerlich, orientierungslos. Er machte Schulden, zeigte Züge der Verwahrlosung, ging nicht zu Prüfungen und schloss seine Studien nicht ab, weshalb es zu keiner Ehe mit seiner geliebten Fanny Greipl kam. Es habe ihm lebenslänglich ein Wegweiser gefehlt, es sei ja auch kein Pater Placidus wie in Kremsmünster (sein Ersatzvater, T.E.) anwesend gewesen, so Stadler34. Stifters progressive Regression endet schließlich im Mutterleib, wie Mein Leben ankündigt. Eine Erzählung enthüllt, was ein Brief verschweigt Wir haben nun zwei szenische Selbstdarstellungen vorliegen: eine vom Erleben der realen Umständen des Todes der Ziehtochter Juliana in Briefform, und eine fiktive, die die Heilungsgeschichte einer Juliana (Jana) erzählt. Verbindungsachse beider ist der Name der Protagonistin. Stifter tritt in der Person des Großvaters und beider Enkelkindern als Teilaspekte seines Selbst auf. Stellt man beide Szenen nebeneinander, lässt die fiktive Geschichte mit Jana ahnen, wie es mit Ziehtochter Juliana gewesen sein könnte. Die Erzählung enthüllt, was der Brief verhüllt: Ziehtochter Juliana sollte das große Liebesbedürfnis Stifters befriedigen. Stifter war Kuhn zufolge ein Augenmensch35. Er malte. Herrmann Bahr meinte, alles was Stifter bis zum Ende geschrieben habe, behielte „den Ton der Augensprache“36. Augen sind ein orales Sinnesorgan. Wir verschlingen mit den Augen, heißt es. Wir dürfen bei Stifter von einer Lust am Schauen (Skopophilie) ausgehen. Die Augen dürften bei ihm hoch besetzt gewesen sein, was sie für psycho-somatische Irritationen besonders anfällig macht, wie Stifters Augenerkrankung nahelegt. Zum Zeitpunkt der Geschehnisse litt Stifter überdies an Völlerei, Zeichen unbefriedigbarer oraler Gier, die wiederum die Basis für das Skopophile bildet. Vermuten wir also, Stifter habe, möglicherweise hebephil37, die heranwachsende Nichte seiner Frau mit den Augen verschlungen. „Das Mädchen hatte sich in dem letzten Jahre sehr rasch entwickelt, war sehr üppig geworden, und viele nannten sie schön“, schreibt er an Louise v. Eichendorff38. Juliana war also ein Augenschmaus. An ihrem körperlichen Erblühen könnten sich seine Phantasien, seine Imagination und seine Augen entzündet haben, vielleicht so: “Wie sie so vor mir stand, begriff ich wieder, wie ich bei ihrem ersten Anblicke auf den Gedanken gekommen war, dass der Mensch doch der höchste Gegenstand für die Zeichenkunst sei, so süß gehen ihre reinen Augen, und so lieb und so hold gehen ihre Züge in die Seele des Betrachters“ ($achsommer). Voyeuristisches taucht im Der Waldbrunnen auf: Stephan sah Franz und Jana sich umschlingen und küssen, Hinweis auf mögliche Urszenes, in der der Stifter-Bertl Mutter und Vater, oder schlimmer: Mutter und Stiefvater sich umschlingen sah. Im Brief vom April 185939 lesen wir, Juliana sei “blühend wie eine Rose und hätte nach ihren Anlagen zu den besten Hoffnungen berechtigt“. Stifter liebe den Vergleich mit der aufbrechenden Blume oder der hinblühenden Rose, unterrichtet uns Vorbach40. „Die besten Hoffnungen“ legen den Schluss nahe, Stifter habe seine Ziehtochter nicht nur mit Liebes- sondern auch mit intellektuellen Ansprüchen überfrachtet. Konnte oder wollte Juliana sie nicht erfüllen, hätte sie Stifters Unzufriedenheit darüber in eine narzisstische Krise stürzen können. Immerhin läuft sie bereits als Elfjährige weg - ein Suizidäquivalent. 18-jähig begeht sie Selbstmord, dieses „Entsetzliche, Zugrunderichtende“ (Mein Leben). In diesem Fall wäre Juliana am hohen Ichideal ihres Ziehvaters gescheitert. Angeblich schrieb Stifter im Januar 1859, zwei Monate vor Julianas Verschwinden, an Heckenast, es 32 Stadler, a.a.O., 71 Brief an Heckenast, 26.8.1864 34 Stadler, a.a.O., 51 35 Kuhn, H. (2005): Süchtig nach einem Süchtigen. Der österreichische Vielesser und grandios verzweifelte Schriftsteller Adalbert Stifter wurde vor zweihundert Jahren geboren. In: Frankfurter Rundschau, 19.10.2005 36 zit. n. Roedl, U. (2005): Adalbert Stifter. Mit Selbstzeugnissen und Bildokumenten. 17. überarbeitete u. ergänzte Auflage. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH (rowohlts monographien), 152 37 in das Jugendliche verliebt 38 Brief v. 6.5.1859 39 Brief an Heckenast, 26.4.1859 40 Vorbach, B. (1936): Adalbert Stifter und die Frau. Reichenberg: Sudetendeutscher Verlag Franz Kraus, 147, http://www.literature.at/viewer.alo?objid=10934&viewmode=fullscreen&rotate=&scale=3.33&page=1, zuletzt geprüft am 16.02.2013 33 12 sei nicht „auszustehen“, wie sehr man Juliana anmerke, nichts davon zu verstehen, wenn sie ihm Politisches aus der Zeitung vorlesen sollte. Das Wort ‚kreiert’ würde sie einsilbig (nicht kre-iert) aussprechen. Da dürfte der Pädagoge unwirsch geworden sein. Das kann in den verbal abuse führen. Offenbar hat Juliana ihre Flucht aus dem Hause Stifter damit begründet: „Ich gehe zu meiner Mutter, dann habt ihr eure Ruhe und auch ich habe meine Ruh“41. Heute hätte man schnell die ‚Diagnose’ burn-out zur Hand, immerhin eine Vorform der Depression. Salopp gesagt: Der Alte nervte. Ein Kind trotzt entweder dem elterlichen Wunsch und emanzipiert sich, oder scheitert an ihm. Anspruchsvolle elterliche Erwartungen sind oft begleitet von überzogener Fürsorge und Kontrolle, was negative Folgen zeitigen kann. Wir sprechen von „Wenn Fürsorge zuschlägt“. Als Juliana, elfjährig, aufgegriffen wurde, gab sie an, von Amalia geschlagen worden zu sein, eine Anschuldigung, die Stifter in seinem Brief vom April 1859 entschieden zurückweist. Weder seine „gute treffliche Gattin“ noch er seien „in entferntester Hinsicht an diesem Tode schuld“. Es könnte sich um eine massive Verleugnung handeln. Palm ist sicher, dass Amalia ihre Ziehtochter häufig schlug und dass Stifter dies wusste. „Und trotzdem hatte er dagegen nichts unternommen.“42. Die „Schläge“ könnten eben auch moralische gewesen sein. Allemal ist auffällig, dass man über Julianas Seelenleben, die immerhin 12 Jahre im Hause Stifter gelebt hat, wenig erfährt. Stifter schildere mit „ausschweifender Genauigkeit“ Landschaften, Dinge Tätigkeiten, verschleiere und verschweige aber, was in den Menschen vorgehe. Selbst eine Mordabsicht sei nur angedeutet, so Roedl43. Ich vermutete bereits, Stifter habe Julianas Suizid wie eine Naturkatastrophe erlebt, an der er keine Schuld trägt. Vom ES zum Ichideal / Stifter und die Frauen Um 1854, Juliana war 13, in der Pubertät als Rose erblühend, manifeste sich erstmals Stifters Nervenleiden. In seiner Prosa agierten zu dieser Zeit Frauen, in deren Entwicklung die Erfahrung des Schmerzes eine große Rolle spielt, eine Erfahrung, die Stifter zufolge die Erkenntnis von Schuld und Liebe ermöglicht. Die Frau „ist innig, ohne Selbstsucht, freut sich, mit dem anderen zusammenzusein, sucht seine Tage zu schmücken und zu verlängern, ist zart und hat gleichsam keinen irdischen Ursprung an sich“44. Im $achsommer komme das Problem der Leidenschaft für die Frauen charaktermäßig überhaupt nicht in Frage, so Vorbach. Liebe bedeute kein subjektives, spontan entspringendes Gefühlserlebnis mehr, wurzele vielmehr im Bewusstsein ihrer hohen menschlichen Aufgabe und „strebt damit auf die Zukunftsmission an der Menschheit an“45. Liebe scheint weitgehend funktionalisiert zu sein, alles sei Liebe, resümiert Matz; doch gerade diese Liebe, gereinigt von jeder Leidenschaft, von jedem erotischen Affekt, von jedem körperlichen Verlangen, von ihrem eigentlichen Charakter einer bevorzugten Beziehung auf einen ausgewählten Menschen, wird „zu einem Abstraktum“46. Stifter erlebe an diesen Frauen nicht deren individuellen Einzelheiten, sondern die Präsenz eines Ideals von Weiblichkeit47. Er habe in seiner Dichtung die drei bedeutenden Frauengestalten seines Lebens, seine Mutter, Fanny und Amalia übernommen, zum für ihn charakteristischen Frauentyp verklärt und durch ihre Erhebung auf ein sehr hohes, sittliches und ästhetisches Niveau in die ideale Sphäre emporgetragen. Er könne nur diesen einen Grundtypus darstellen48. Diese Frauen werfen keinen Schatten und sondern keinen Schweiß ab. Sie geraten Stifter zu Ikonen. „Liebe als Abstraktum“ bedeutet Entwertung und Dissoziation von Körper und Leidenschaft. Im $achsommer schreibt Stifter, wenn wir alle Dinge ausschließen, die nur den Körper oder das Tierische des Menschen befriedigen, und würden deren andauerndes Begehren mit Hinwegsetzung alles anderen den Namen Leidenschaft geben, gäbe es nichts Falscheres, als von edlen Leidenschaften zu sprechen. Würden wir als Gegenstände höchsten Strebens nur das Edelste des Menschen nennen, dürfte alles Drängen nach solchen Gegenständen nicht zu Unrecht nur mit dem Namen Liebe zu nennen sein. Kurzum: wer liebt, kann nicht geil sein, wer geil ist, kann nicht lieben. Körper und Leidenschaft sind ‚Abjekte’ (Kristeva). Mehr noch: Leidenschaft des einen bedeute Leid des anderen, da sich Leidenschaft nur auf Kosten der übrigen bereichere49. Die Stifterschen Frauen sollen auf den Mann triebkontrollierend Einfluss nehmen, wie Jana auf Stephan und nicht dauernd Sex wollen wie seine ihm angetraute ‚Mali’. Gleichwohl ist Stifter mit seinem prosaischen Arrangement insofern modern, als er das Paradies nicht im Jenseits, sondern hier auf Erden sucht. Und es soll ewig andauern, wie heutzutage, wo man sich allerdings nicht geistig-sittlich, sondern körperlich zum ever young Einheitstyp stilisieren lässt. 41 (vgl. http://www.leselupe.de/lw/printthread.php?threadid-88708, 7.7.08, Zugriff: 16.3.2013 Palm, K. (2009): Donauwasserleiche. In: derStandard.at, 20.03.2009 43 Roedl, a.a.O., 82 44 Vorbach, a.a.O., 116f 45 ibid., 99 46 Matz, W. (2005): Gewalt des Gewordenen. Zum Werk Adalbert Stifters. Graz-Wien: Droschl, Pos. 5 47 vgl. Vorbach, a.a.O., 32 48 ibid., 39f 49 ibid., 119 42 13 Das Elend jedoch entsteht, weil die Figuren in Stifters Typologie weder Körper noch Leidenschaft haben dürfen. So sind sie von den Wurzeln ihres Ichs abgetrennt und verdorren zu sittlich-durchgeistigten Wesen. Stifters Programm: Wo ES war, soll körperlose, triebgereinigte Idealität werden, könnte man in der Tat als „langes Experiment mit großer Kälte“ (Spreckelsen) bezeichnen, dessen Motiv aber keineswegs offenbleibt, sondern durchsichtig ist. Wenn nämlich seine fiktiven Frauen schließlich alleine bleiben, ohne Mann, wie Brigitta oder Cöleste, möchte sich Stifter seinen antiödipalen Traum von einer vaterlosen Idylle mit idealer Mutter und idealem Kind erfüllen. Wenn Vorbach darauf hinweist, Stifter bezeichne die Räume seiner Frauen gerne als „Kapelle“50, ist das insofern von Gewicht, als Stifter von seiner Mutter den Auftrag bekommen hat, ein „geistlicher Herr“51 zu werden. Wir wissen heute, solche Aufträge wirken als Signifikanten, die den Adressaten auf eine Spur setzen, von der er sich möglicherweise nie befreien kann. So bei Stifter. Seine idealisierten Frauentypen stehen wie Madonnenfiguren vorm Altar, seine Amalia hingegen fungiert als Haushälterin, die ihm kocht, die Wohnung sauber hält und Tierisches fordert –das Arrangement eines Pfaffenhaushaltes. Hier könnte die Ursache der Sterilität dieser Ehe zu finden sein. Angeblich konnte Amalia einer Fehlgeburt wegen keine Kinder bekommen. Dann hätte die Moral bzw. das Unbewusste nicht nur funktional, sondern sogar morphologisch schädigend gewirkt. Stifter muss seine realen wie seine fiktiven Frauen als ideal stilisieren, weil ihn beim Tagträumen ständig sein untergründig ambivalentes Frauenbild stört, wie das Heiligsprechen der Frauen ahnen lässt. So war es bei seiner großen Liebe Fanny Greipl, damals 19, er 22. Dass es nichts mit beiden wurde, lag Stifter zufolge an Fannys Eltern, die sich einer Verbindung sperrten. Stifter hatte seine Studien vernachlässigt, nicht ernsthaft nach Arbeit gesucht und, wie Stadler vermutet, nicht über die finanziellen Ressourcen wie die Greipls verfügt. In erster Linie jedoch dürfte es an Stifters Angst gelegen haben, „sich festzulegen“, an seinem „krankhaften Zögern und SichGehen-Lassen“, an „einer Orientierungslosigkeit in allem.“52 Die Liebe war durchweg von Missverständnissen und gegenseitigem Misstrauen geprägt gewesen. Stifters Zögern, seine Unentschlossensein, seine Vorwürfe wegen mangelnder Liebe kränkten Fanny. Es ärgerte ihn, wenn sie zum Fasching ging. 1837 heiratete Fanny einen anderen und starb zwei Jahre später bei der Geburt ihres Kindes. Niemals verwundenes Leid habe seitdem in Stifters Innerstem gelebt, so Seebaß53, und Peter Suhrkamp meint, in seinem ganzen Leben sei er mit der ersten Leidenschaft nicht fertig geworden54, im Reiche der Poesie und des Ideals sei Fanny ihm immer gegenwärtig geblieben und kehre in seinen schönsten Mädchengestalten in immer neuer Verklärung wieder55 : in seinen Briefen und fiktiven, zigeunermäßigen, exotischen, geheimnisvollen Frauengestalten. Er konnte Fanny in sich nicht sterben lassen, hat sie vielmehr bereits zu Lebzeiten als „mein heiliger Engel“, als „immer die Heilige, zu der mein besseres Innere betete“56 idealisiert. Andere Frauen erlebt er – jetzt wird die Ambivalenz sichtbar wie ein „Regenbogen“, ein „Flitterwisch“, oder ein „vorlautes Schnäbelein“57 . So wenig Fanny eine Heilige war, so wenig war es seine Mutter, obwohl Stifter sie gerne als solche gesehen hätte. „Meine herrliche Mutter, ein unergründlicher See von Liebe, hat den Sonnenschein ihres Herzens über manchen Teil meiner Schriften geworfen“58. Seine frühen Arbeiten schrieb Stifter für die Mutter, die er liebte und ehrte - nicht bloß wie eine Mutter, „sondern auch wie einen seltenen Menschen“. Wonach er strebte, was ihm Gutes geschah, er bezog es auf sie. Sie verstünde seine Schriften „vollkommen, wozu viel weisere Leute den Schlüssel vergeblich suchen, oder sie gar mit einem Dietrich aufsperren wollen“59. Wir wissen, es sind die Vaterfiguren, die mit ihrem ‚Dietrich’ gewaltsam in die Idylle mit der Mutter bzw. deren Leib eindringen. Stifters Mutter war allem Anschein nach keine Verächterin leiblicher Liebe, hatte vorehelichen Sex mit dem Vater und wurde mit Bertl schwanger, im Dorf Oberplan mit der Kirche im Mittelpunkt sicher nicht unproblematisch. Kurz vor seiner Geburt heirateten die Eltern. Stadler zufolge wollte Stifter seine Geburt auf 1806 umdatieren, um die elterliche Schande zu verbergen. Stadler hat recht, denn Stifter behauptet, 11 Jahre alt gewesen zu sein, als sein Vater starb60. Tatsächlich war er bereits 12. Seine Mutter wollte nach dem Tod ihres Gatten das Sexualleben nicht einschlafen lassen, darin vielleicht Amalia ähnlich, die Sex bis zum Schluss wollte 61 . Sie ergab sich nicht gottesfürchtig in das Schicksal einer Witwe, sondern heiratete wieder. Sie musste auch an die Versorgung ihrer Kinder denken. Das dürfte den Sohn erzürnt, verärgert und gekränkt haben. Seine Mutter war keine Heilige und sie hatte ihm überdies einen Nebenbuhler beschert. Sein Idol ließ sich nicht länger idealisieren. Es sei zu „drastischen Szenen“62 gekommen, vielleicht wie in der Erzählung Zuversicht, in der ein 50 ibid., 148 Roedl, a.a.O., 19 52 Stadler, a.a.O., 31 53 Seebaß, F. (Hg.) (1936): Adalbert Stifter Briefe. Tübingen: Rainer Wunderlich Verlag, XXI 54 Suhrkamp, P.: Adalbert Stifter. In: Deutscher Geist, Bd. 1, Frankfurt, Suhrkamp, S. 967–968, 967 55 Fricke, a.a.O., 8 56 Brief an Franziska Greipl, 20.8.1835 57 Brief an Amalia Stifter, 7.7. 1863 58 Brief an Louise Stifter, 21.4.1855 59 Brief an Heckenast, 12.5.1858 60 Brief an Louise Stifter, 21.4.1855 61 Stadler, a.a.O., 52 62 Roedl, a.a.O., 20 51 14 Sohn seinen Vater tötet und dann Suizid begeht63. In seiner Prosa versetzte Stifter seine Welt diesbezüglich dann wieder in eine bessere Ordnung. 1833 verlangen Fannys Eltern, sie solle die Beziehung zu Stifter beenden. In dieser Zeit lernte er Amalia Mohaupt, Putzmacherin und Tochter eines invaliden Unterleutnants, kennen. 1835 verloben sie sich. Fanny aber bleibt seine Traumfrau. Im August 1835 schreibt er ihr einen Liebesbrief, in dem er versichert, Amalia nicht zu lieben und 1838, längst mit Amalia verheiratet, er wolle nur sie allein zur Braut seiner Ideen machen und sie lieben bis an seinen Tod64. Im Klartext: Stifters Prosa-Frauen sind allesamt seine Töchter mit Fanny. Kein Wunder, denn Stifter empfand die kleinliche Häuslichkeit Amalias bedrückend 65 und er vermisste Kinder. 1866, einundsechzigjährig, die Ehe war längst reif für eine Paartherapie, schreibt Stifter, an seine Frau: „Ist es nicht töricht, ich alter Mann schreibe an eine Gattin, die mir vor neunundzwanzig Jahren angetraut worden war, Liebesbriefe, wie sie kaum ein Jüngling an seine holde Braut schreibt“66. Liebesbriefe? Es waren allenfalls „lügenhafte, verlogene Liebesbriefe“67 oder „Bettelbriefe um Liebe“68. Er hat eben „schöngeschrieben“, meint Stadler69. Die Beziehung zu Amalia hatte eine völlig andere Qualität als die zur holden Fanny: Stifter hatte Angst, Amalia zu verlieren, nicht als Geliebte, nein, die Haushälterin. Er hatte Verlassenheitsangst. In Briefen an sie geht’s darum, wer zuerst stirbt. Idealisieren konnte er Amalia nur in Abwesenheit, in der ihre Realität nicht störte. In Fanny-Briefen hingegen zeigt er eine eher machohafte narzisstische Selbsterhöhung als Geliebter. Vom Elend mit Amalia erzählt Stifter, vom Wünschen verzerrt, im Der Waldbrunnen. Stephan: „»Ich habe eure Großmutter kennen gelernt, welche die Mutter eures Vaters gewesen ist, sie ist meine Ehefrau geworden, und hat mich sehr geliebt.«“ (Amalia hatte ihm keine Kinder geboren). „»Ich hatte ihr alles gegeben, was ich gehabt habe, ich habe ihr aufgeopfert, was mir lieb war. Sie war mir sehr dankbar, ich wurde ihr Teuerstes auf der Welt; aber sie konnte nie tun, was gegen ihren Sinn und ihr Gemüt war, sie wußte es nicht, und kränkte mich.«“ Kränkend war, dass Amalia keines seiner Werke je las. So habe sie “nicht gelesen, was für eine zauberhafte Gestalt (Mathilde im $achsommer, T.E.) ihr Gatte da aus ihr gemacht hat“70. Ja fiktiv, d.h. in Abwesenheit. Welche Frau will nur als Abwesende zauberhaft sein? Stephan weiter: „»Endlich starb sie und nahm noch mit brechenden Augen von mir Abschied.«“ Dass Amalia vor ihm sterben könnte, war zwar Angstinhalt vieler Briefe an sie, in der Erzählung jedoch wird hinter der Angst der unbewusste Wunsch, die gefälligere Ordnung, sichtbar: Jana konnte jetzt mit ihm losziehen. In Stifters Spaltungslogik waren Frauen einerseits Heilige, andererseits „Regenbögen“, „Flitterwische“, „vorlaute Schnäbelein“, wie er, wie schon erwähnt, seiner Frau schrieb. Den Flitterwisch fürchtete er in seiner Fanny zu finden, wenn diese zum Fasching ging und er eifersüchtig war. „Hat wohl - - das geht mir immer im Kopfe – hat wohl der heurige Karneval wieder ein Unglück unter deinem Busentuche angerichtet???“ 71. Genau dort - unter dem Busentuch seiner Geliebten – fürchtet er den Flitterwisch, die verführerische, flatterhafte Seite der Frau verborgen. Und überhaupt - eigentlich sollen Frauen das Maul halten, keine „vorlauten Schnäbelein“ sein, sondern nur schön und sittlich: „Natalie ist eine schwierige Person für mich, sie spricht nichts, eine, deren Besonderheit ist, dass sie keine Besonderheit hat: außer dass sie sehr schön ist “, sagt Stadler72. Das ist Programm: Weil die Frau ihr Wesen immer nur in wenigen Worten offenbare, die eigentliche Schilderung verschwinde, müssten die wenigen Worte markant und bezeichnend sein, so Vorbach73. Das Schweigen der Frauen ist ein von Stifter verordneter Mutismus. Darum konnte er ihn bei Jana auch so schnell „heilen“. Ohne Mühe lässt sich eine Linie ausmachen von Stifters Mutter über Fanny über Natalie im $achsommer bis hin zu Jana und deren Großmutter, die auch die gealterte Fanny sein könnte, die (immer noch) auf ihren Bräutigam, also Stifter, wartet. Gerade Der Waldbrunnen zeigt Stifters Idealisierung der Frauen. Sie sind so schön, dass sie eigenschafts- und merkmallos bleiben74. Das mache diese Figuren steril oder aseptisch oder, tödlich für die Liebe, unsinnlich. Seine Frauen, die realen und die fiktiven, zeigten die Kühle von Marmorfiguren, so Stadler75 . Im Waldbrunnen schlägt der Froschhäuser, ein Wandergesell des Ich-Erzählers, vor, diese Frau „sollte man nach München schaffen, sie dort in Ton bilden und dann in Erz gegossen und in Marmor gehauen werden, daß die Welt erführe, was Schönheit sei.“ Soweit ich die Wilde kenne, um die es hier geht, hätte die zähnefletschend gesagt, der Frosch solle gefälligst in seinem Haus bleiben. Stifter bedient sich mit seiner Typologie der Frau und seiner Vorstellung von Liebe des Kanons und der Standards der ‚romantischen Liebe’ seiner Zeit, die ihre Wurzeln im Neoplatonismus der Renaissance und der 63 ibid., 85 Brief an Franziska Greipl, 20.8.1835 65 Vorbach, a.a.O., 85 66 Brief an Amalia Stifter, 14.6.1866 67 Stadler, a.a.O., 144 68 ibid., 192 69 ibid., 144 70 ibid., 104 71 Brief an Franziska Greipl, 15.5.1829 72 Stadler, a.a.O., 110 73 Vorbach, a.a.O., 142 74 vgl. Menninghaus, W. (2003): Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 75 Stadler, a.a.O., 101 64 15 Verurteilung der Leidenschaft der Gegenreformation hatte. Die Frau, in der Phantasie des Mannes nymphomanisch, hysterisch, hinter der Marmorkühle animalisch und alles verschlingend, musste gebändigt werden. Zugleich sollte sie Schutzengel des Mannes, zur Nächstenliebe geboren und Vertreterin des Idealen sein. Ihr oblag die geistliche Führung, wobei sie im Sinne Rousseaus dafür zu sorgen hatte, dass im Mann die Sehnsucht nach dem Idealen nicht erlöscht. Wie Stifter die Folgen der ihm fehlenden Liebe tatsächlich „unheimlich“ (Spreckelsen) verarbeitet, zeigt seine Figur Brigitta aus der gleichnamigen Erzählung. Da Brigitta alle Werte der Außenwelt: Schönheit, Eltern- und Geschwisterliebe entbehren muss, von Anfang an nur für sich selbst da ist, wenden sich alle ihre nach außen tendierenden Kräfte in sich selbst zurück und streben tiefster Verinnerlichung zu. Weil aber Verinnerlichung gleichbedeutend ist mit Vorstoß zum Wesen der Dinge und Befreiung von aller Äußerlichkeit und Zufälligem, gibt es für sie nur diese eine wesenhafte Welt, in die sie sich immer stärker einlebt und aus der heraus sie alles Äußerliche, alles Unechte ablehnt.“ Brigitta meidet Gesellschaft, Kleiderpracht, mag keine Puppen, aber liebt Steinchen mit der „ungekannten Schönheit ihres wilden Herzens“. Sie sei ein keusches Symbol der Welt des Wahren, des Echten, des Einsamen76. Heute, wo man um die katastrophalen Folgen fehlender früher Zuwendung für das Selbstwertgefühl weiß, würde man sich die Haare raufen. Bei einem Kind, das von seiner Mutter abgelehnt wird, dem der „Glanz im Auge der Mutter“ (Kohut) fehlt, muss man die Entwicklung einer schweren narzisstischen Persönlichkeitsstörung befürchten. Wie sagte Stifter in Mein Leben: „Eine Stimme, die zu mir sprach, Augen, die mich anschauten und Arme, die alles milderten.“ Dies alles fehlt seiner Brigitta. Stifters fiktive Frauen müssen seine Idealvorstellung, wie man Liebesmangel kompensiert, erfüllen. Es ist das Ideal völligen Unabhängigseins von der Außenwelt, den Leidenschaften, den Trieben und der narzisstischen Zufuhr. Stifter stilisiert den pathologischen Narzissmus zum Ideal. Das kommt uns heute bekannt vor und macht Stifter zum modernen Zeitgenossen. Stifter selbst lebte keineswegs so. „Andererseits sage ich es aber auch recht gerne und recht aufrichtig, dass es mich immer sehr freut, ja beinahe kindisch freut, wenn mir Anerkennung und Teilnahme für meine Schriften entgegenkommt, namentlich von fühlenden Frauen, weil gerade das Herz von dem Herzen verstanden wird, nicht vom Kopfe“77. Er zeigt seine „kindische“ Abhängigkeit von exogener Gratifikation, von narzisstischer Zufuhr und seine Sehnsucht nach „fühlenden“ Frauen. Der dissoziierte Körper als Stifters $aturkatastrophe Als junger Mann war Stifter von leidenschaftlicher Natur. Später, zum verbitterten Biedermeierdichter geworden, entfernte er sich weit von dieser Seite. Seine Wilde im Waldbrunnen ist Repräsentantin eines letzten Restes dieser Seite in ihm. In Janas Schulbuch waren dieselben Worte verzeichnet, die Stifter in seiner Autobiographie als die seinen erwähnte: Nagelein, Schwarzbach etc. Stifter mag sich mit seinem Anschreiben gegen Leidenschaft und Gefühl als Antipode der Romantik verstehen, aber Körper, Trieb und Gefühl holen ihn schließlich ein. Sie lassen sich nicht von literarischen Epochen domestizieren, ohne in die Pathologie auszuweichen. Je mehr Stifter die sinnlich-erotische Seite an der Liebe ausblendete und seine Figuren jenseits jede Erotik platzierte, mithin den Körper dissoziierte, desto mehr wird er zum Opfer seines Experiments ‚Vom ES zum Ichideal’. Der Autor selbst scheitert nämlich exakt an diesem programmatischen Experiment: Je mehr er in seiner Prosa in die körperlose, durchseelte Liebe aufging, je mehr seine Figuren vergeistigen, je mehr er den Körper und die Triebe seiner Verzichtideologie opfert, entwertet und auf die „großartig geschilderten Naturkatastrophen“ verschiebt, je mehr er also was das Irdisch-Leibliche anbetrifft, phobisch, fast paranoid wird, desto mehr wird er auf seinen Körper zurückgeworfen, von Triebwünschen und der maßlosen Leidenschaft Völlerei heimgesucht und beherrscht. Es ist, als kehre der Körper zurück und nähme für seine Verbannung Rache. Da Stifter zufolge alles Leid innerlich verursacht ist, verfällt er ungeschützt und unvorbereitet ans Äußere, zu dem er den Körper durch seine Exkommunikation gemacht hat. Schließlich wendet sich seine Leibfeindlichkeit gegen ihn selbst und wird zum Anlass, sich selbst den Tod zu geben. Der Körper wird zu Stifters tödlicher Naturkatastrophe. Die fiktive Therapie mit der Wilden war wohl ein letzter Versuch, Körper und Triebe in sein Seelenleben zu reintegrieren. Das ging so: Zunächst erkrankte Stifter neben seinem Nervenleiden an Leberzirrhose, die mit seinen Essgewohnheiten, seiner Freß- und Trinksucht ursächlich zusammenhingen. Angeblich trank er 600 Liter Alkohol im Jahr78, von maßlosen Weinbestellungen und einer Vorliebe für Wiener Würstchen (im damaligen Wien Fastfood) wird berichtet. Auch sechs und mehr Forellen konnte er als Vorspeise zu sich nehmen79. Aufgeschwemmt, stiernackig, dickbäuchig, rotgesichtig80 geworden, stopfte er rastlos Nahrung in sich hinein und sei immer korpulenter und ängstlicher geworden. In einem Brief von l861 heißt es: „Dann folgt wieder 76 Vorbach, a.a.O., 132f Brief an J. Mörner, 26.9.1851 78 (http://gedichte.xbib.de/biographie_Stifter.htm), 79 Stadler, a.a.O., 20 80 ibid., 17 77 16 Arbeit am Witiko bis 9 Uhr, dann harrt meiner eine ganze Ente. Mich hungert aber jetzt schon so, dass ich glaube, ich esse zwei."81. Mit „Berserkerwut“ sei er über seinem Witiko, schreibt Stifter82. Ebenso wütend dürfte er über die Nahrung hergefallen sein. Wut über Kränkungen, Enttäuschungen, Entwertungen und Trauer über den Verlust ihm wichtiger Personen dürften Hintergrund und Anlass seiner Gefräßigkeit gewesen sein. Bereits als sein Vater gestorben war, reagierte er oral: mit Essverweigerung. Man kann im Verhungern ebenso dem toten Objekt (hier dem Vater) nahe sein, wie bei einer Toten(m)mahlzeit. Stifter muss wegen Fanny, Juliana und seinem Vater, die allesamt eines unnatürlichen Todes gestorben waren, für den er sich möglicherweise unbewusst die Schuld gibt, zutiefst Angst gehabt haben, Beziehungen könnten nicht haltbar sein. Amalia gegenüber spricht er unablässig von seiner Verlustangst, fürchtet immer eine Katastrophe, als habe er kein Vertrauen in Beziehungen. Janas Mutter (Waldbrunnen) hatte diese Angst und auch der Dorfschullehrer: „Und ich getraue mir nicht, das Kind zu strafen, sonst läuft es am Ende gar fort.“ Es ist die Angst des Autors, denn weggelaufen ist seine Ziehtochter! Der Satz könnte also eine Beichte sein, denn Amalia hat vermutlich Juliana geschlagen. Im Brief jedoch spricht er sie und sich frei. Und auch seine Mutter war weg als er aus Kremsmünster zurückkehrte. Sie war ihm mit einem Bäcker untreu geworden. Grund für Stifters Essstörung könnte demnach ein Problem mit der Objektkonstanz gewesen sein. Einzig sicheres Objekt schien ihm die Kunst zu sein: „Sie wird mir teuer bleiben, bis ich sterbe: denn sie allein hat ausgehalten, wenn auch Liebe, Freundschaft, Ehrgeiz, Tatenlust, alles log und floh“83. Keine gute Lebensbilanz. So muss der stets gefühlte Verlust konkret aufgefüllt werden. Stifter habe sich ums Leben gegessen, weil er Leben nur spürte, wenn genießbare Stoffe der Welt seinen mächtigen Körper von innen her stützten und befestigten. Dabei schienen ihm nachher die Bissen der Mahlzeit wie ‚ins Bodenlose zu fallen. Der geweitete Magen sei „der somatische Platzhalter eines Lebensgefühls, das sich in Stifters Literatur immer wieder in Bildern von Abgrund und Leere geltend macht“, so Kuhn84. Als Stifter am $achsommer arbeitete (erschienen 1857), hatte er seine schlimmsten Fressphasen. Immer nur wünschen und nie satt werden, immer nach dem Glück suchen, es aber nie finden (wie bei Fanny), ist kaum auszuhalten und muss hungrig machen wie man nach Luft giert, wenn sie knapp wird. Im $achsommer muss der Leser 500 Seiten im Vorspiel verharren, bis es zur entscheidenden Begegnung mit Natalie (alias Fanny, T.E.) kommt85 – oder in Stifters Diktion: stundenlang darben, bis die erste Forelle den gierigen Mund erreicht. Die These vom Auffüllen innerer Leere, prima vista plausibel, ist nach heutigen klinischen Erkenntnissen für Essstörungen mit langer Ätiologie, und um eine solche handelt es sich bei Stifter, als Erklärung nicht ausreichend. Vielmehr soll zuviel Gefühl, das können schlechte, belastende, aber auch gute Gefühle sein, die psychisch nicht verdaubar erscheinen, mit übermäßiger Zufuhr von Nahrung beseitigt werden. Nicht Leere muss gefüllt, sondern Überfülle geleert werden, oder wie Stadler zu Recht sagt, Stifter habe panische Zustände, immer anwesende Angst mit Fressen und Saufen niederschlagen wollen. Dieses Niederschlagen von psychisch Unverdaulichem soll die Regression ins Soma bewerkstelligen. Völlerei dient als „Reizschutz nach innen“. Dann erst entsteht das Gefühl quälender innerer Leere, weil keine Gefühle mehr zu spüren sind. Der Bauch ist voll, die Seele leer. So dürfte Stifter beispielsweise versucht haben, die kränkende Kritik Hebbels an seinem $achsommer wegzufressen, um mit diesem oral-aggressiven Angriff Hebbel aus seinem Innern zu entfernen, vielleicht um besser schlafen zu können. Ein solcher Angriff ruft aber das Überich auf den Plan, weil er damit Hebbel und dessen Kritik als inneres Objekt zerstört hat. Unerträgliche Schuldgefühle machen dann weitere Völlerei notwendig. Völlerei ist der untaugliche Versuch, Affekte zu regulieren, wenn die Psyche versagt. Diese versagt, wenn die von Stifter in seiner Autobiographie erwähnten „mildernden Arme der Mutter“, also das Containing und die Alpha-Funktion der Mutter in den ersten Jahren gefehlt haben. Immer wieder muss Stifter auch Ungeduld und Hitzköpfigkeit bekämpfen, um Reinigung von allen Leidenschaften zu erwirken, wie er es Brigitta (Brigitta) tun lässt, Motive, die auch eine Bulimikerin beschäftigen, wenn sie erbricht. Stifter handelt die Thematik stellvertretend an Naturbeschreibungen ab. Nahrung und Worte, Essen und Schreiben erfüllen für Stifter dieselbe psychodynamische Funktion. Man kann sagen, er schreibt wie er isst. Wenn er als Stilelemente Aufzählen, Beschreiben, Vergleichen benutzt, reiht er Gegenstand für Gegenstand wie eine Speise auf dem Teller aneinander. Und sein Stilelement Wiederholen ist das Kauen oder Wiederkäuen, das Ruminieren. Die penible Anwendung dieser Elemente zeigt zwanghafte Züge und dient wie die Völlerei der Affektkontrolle. „Das Spätwerk prägt einen gleichsam rituellen Stil, bei dem feststehende Daten wie Geburtstage sowie Zeremonien eine große Rolle spielen. Der Umgang der Menschen wird ebenfalls ein formeller“86. Die Psychodynamik der späteren Essstörung lässt sich schon in der Fanny-Episode beobachten. Den „ersten tiefen Stoß“ habe Stifter im Sommer 28 erlitten, als Stifter Fanny seine Liebe gesteht und sie sogleich durch eine „unerklärliche Anwandlung von Misstrauen zerstört“, so Vorbach. Dieser unmittelbare Wechsel von Liebes81 zit. n. Kuhn, a.a.O. Zit. n. Seebaß, XX 83 Mein Leben, zit. n. Roedl, 23 84 Kuhn, a.a.O. 85 vgl. Stadler, a.a.O., 101 86 Wild, M. (2001): Wiederholung und Variation im Werk Adalbert Stifters. Würzburg: Königshausen & Neumann, 18 82 17 beteuerung und spöttischen Misstrauen, der von Brief zu Brief an Intensität zunehme, sei für alle Briefe Stifters an Fanny charakteristisch. Eine unüberbrückbare Kluft zwischen beiden Seelenstimmungen sei entstanden, was Fanni nur anzunehmen übrig ließ, Stifters Liebe sei nicht so ernst, dass sie die Schwierigkeiten überwinden könnte. Die überschwängliche Liebe hatte einen paranoiden Zug und wurde deshalb zum unverdaulichen Gemisch. Und weiter: „Stifters psychologischer Fehlschluß, durch seinen Pessimismus eine leidenschaftliche Liebeserklärung Fannis zu veranlassen, half diese tragische Lösung herbeizuführen“87. Ersetzen wir Fanny durch Mahlzeit, enthüllt sich das Geheimnis von Stifters Essstörung: Misstrauen, schlechte Gefühle sollen durch Zufuhr von Essen zerstreut werden. Vom Essen wird dasselbe erhofft wie von Fannys Liebeserklärung: Beruhigung und narzisstische Zufuhr, die von außen kommen soll/muss. So denken jene Mütter, die spannungsbedingtes Schreien ihrer Säuglinge mit Hunger verwechseln und ihnen die Brust in den Mund stopfen, Urszene einer späteren Essstörung. Eine Essstörung dient meist der Vermeidung von Beziehungen. Essgestörte haben in Beziehungen schlechte Erfahrungen gemacht. Im Kontakt mit anderen kam es häufig zu kränkenden Erlebnissen, die ihnen heftige Gefühle (Wut, Hass) bereiteten, die Rachephantasien nach sich zogen, die sie wiederum sozial phobisch werden ließen. Mit dem Rückzug auf die Ersatzbeziehung mit Nahrungsobjekten hoffen Essgestörte eine weitere Verwundung ihrer Seele vermeiden zu können. Das Ersetzen einer Person durch Nahrung bedeutet eine Regression auf die frühe Mutterbeziehung, denn der Säugling an der Brust isst seine Mutter. Im Französischen bedeutet ‚Maman’ sowohl Mutter als auch ‚manger’ (essen). Wir Deutschen sprechen von ‚mampfen’. Gleichwohl zeigen Essbeziehung und Personenbeziehung eine Strukturhomologie, d.h. in der Ersatzbeziehung treten über kurz oder lang dieselben Probleme mit Gefühlen und Phantasien auf, die es im Personenkontakt zu vermeiden galt, nur dass sich deren Unverträglichkeit jetzt auch noch gastroenterologisch und in anderer körperlicher Dysregulation bemerkbar macht. Dass Stifter zur Ersatzsuche tendierte, ist aus der Fanny-Beziehung bekannt. „Als sie sagten: du werdest Huber heiraten, fuhr der Geist der Eifersucht in mich, und da wurde der Plan gedacht, Dich und alle Vergangenheit zu vergessen, und weil der Schmerz doch zu nagen nicht aufhörte, so suchte ich, wie es in derlei Fällen immer zu gehen pflegt, in neuer Verbindung das Glück, das die alte erste versagte, und spiegelte dem verwaisten Gefühle vor: nun bist du ja geliebt und glücklich … ach und ich war es doch nicht“88. Die neue Verbindung war Amalia. Stifter hat ein Objekt durch ein anderes ersetzt, um den Liebesschmerz nicht zu spüren. Mit Ersatz wollte er auch den Schmerz der Kinderlosigkeit beseitigen. Ziehtöchter sollten fehlende eigene Kinder ersetzen. Das ist der Mechanismus des Essens. Zwar gibt Stifter später gekränkte Eitelkeit als Motiv für seinen Ersatzhandel an89, der eigentliche Grund für Misstrauen und den Rückzug von Fanny dürfte jedoch Stifters Angst gewesen sein, seine Leidenschaft könnte so intensiv werden, dass es zur Fusion mit ihr kommt. Vielleicht so: „daß ich ein Narr bin, der sich nur ein einzig Mal recht überschwänglich mit universumsgroßem Herzen werfen möchte an ein ebensolches unermessliches Weiberherz, das fähig wäre einen geistigen Abgrund aufzutun, in den man sich mit Lust und Grausen stürze und eine Trillion Engel singen hörte“90. Ersetzt man „geistig“ durch seelisch, spürt man die psycho-sexuelle Verschmelzung, die höchst lustvoll, aber zugleich Angst zur Bedrohung für die Identität, eben lustvoll-grausig werden kann. Wir ahnen, warum uns Stifter in Mein Leben so treffend, soweit das mit Worten möglich ist, die primäre Fusion beschrieben hat. Vorbach (1936) weist darauf hin, Stifter habe sich die Liebe zu Fanny selbst vermasselt. Er hätte nur seine Prüfungen ablegen müssen und Fannys Eltern wären mit einer Ehe einverstanden gewesen. Das tat er nicht. Ein Grund könnte in der erwähnten Angst vor Verschmelzung liegen, die paranoiden Charakter annehmen kann. Ein weiterer Grund dürfte seine nicht gelösten Beziehung zu seiner Mutter gewesen sein. Die Schriftstellerei schien ihm geeigneter, sich in fiktiven Personen seine Muttersehnsucht zu erfüllen, bis Hebbel dieser Illusion ein Ende setzte. Mit ihm brach die Realität in die früh phantasierte Idylle mit der Mutter ein. Stifters Wunsch, dem Leser eine gefälligere Welt vorzuspielen, fand keine soziale Anerkennung mehr. Als vereinzelten Kritiker hätte Stifter Hebbel noch als Esel verlachen können, aber die gesamte Leserschaft ist wie ein Gott, und die wendete sich ab. Das ist schwer wegzustecken. Zwei im Waldbrunnen geschilderte Szenen illustrieren, dass Stifter Essen zur Affektbewältigung benötigte: „Neben der Tür des Gasthauses aber, zu der ich mir mühsam einen Weg bahnte, um mir […] ein Mittagmahl zu bestellen, stand ruhig […] ein Mädchen der Zigeuner, und ich, der ich doch bereits in die reifenden Jahre trat, prallte fast zurück, als ich das Mädchen sah. Das war die schönste Menschengestalt, die sich je in meinen Augen gemalt hatte“. Das „Zurückprallen“ bringt die Überwältigung angesichts soviel und überdies unerwarteter Schönheit zum Ausdruck und erinnert an die florentinische Krankheit, das sog. „Stendhal-Syndrom“. Stendhal reagierte bei einem Florenz-Besuch auf die Fülle kultureller Reize mit starkem Herzklopfen, Erschöpfungszuständen und Angst, in Ohnmacht zu fallen. Das Syndrom umfasst Panikattacken, Wahrnehmungsstörungen und wahnhafte Bewusstseinsveränderungen angesichts kultureller Reizüberflutung. In 87 Vorbach, a.a.O., 15 Brief an Franziska Greipl, 20.8.35 89 vgl. Vorbach, a.a.O., 21 90 zit. n. Fricke, a.a.O., 7 88 18 dem Satz aus dem Waldbrunnen wird das „Zurückprallen“ so platziert, dass die Überwältigung unmittelbar vor dem Essen erfolgt. In einer zweiten Szene erklärt Stephan seinen Enkelkindern, er habe ihrer Großmutter alles gegeben, habe sich ihr aufgeopfert, sie jedoch hätte nie tun können, was gegen ihren Sinn und ihr Gemüt war und habe ihn gekränkt. Ferner seien ihre Eltern viel zu jung gestorben und in seinem Amt hätten die Vorsteher so oft gemeckert, dass er gegangen sei. „Und dann begannet ihr heran zu wachsen und waret heiter und fröhlich um mich.« »Und das hat dich doch nicht gekränkt, lieber Großvater?« fragt Katharina. »Lasse das jetzt, mein Mädchen […] und gehen wir nun zu dem Mittagessen.«“ Das Mittagessen soll alle kränkenden und schmerzhaften Erinnerungen zudecken. Stephan greift zur alimentären Unterdrückung seiner Gefühle. Stifter empfand auch starken Ekel. Schon Wien hatte er satt. Vor allem aber galt sein Abscheu den geistigen und sozialen Umwälzungen seiner Zeit. Im März 1848 tritt er für die Revolution ein, wird Wahlmann für die Frankfurter Nationalversammlung, wendet sich aber schließlich angewidert von der Gewalt ab und schreibt im April 1859 an Heckenast: „An der Welt im Großen habe ich Ekel.“ Stifters Bemühungen, Oberflächen gewaltfrei zu halten, hätten da ihren Ursprung“, meint Vogel91. In seiner Prosa habe er eine große, einfache, sittliche Kraft der elenden Verkommenheit gegenüberstellen wollen, hoffend, mit Gutem das Schlechte aus der Welt zu schaffen. Solche Versuche gehen meist schief, im Leben und auch in der Psychotherapie übrigens. Zeitlebens hat Stifter das Maß gepredigt, Zeichen seines strengen Überichs, welches opulentes Fressen straft, da in Stifters kirchenkonformer Logik maßloses Leben eine Undankbarkeit gegenüber dem Schöpfer und damit eine Todsünde war. Vermutlich kommt aus diesem strengen Überich die Kälte, die Stifter in sich trug und die er immer wieder in die Natur projizierte. Kuhn spricht von „durchkälteten Bildern“92. Es könnte diese Kälte gewesen sein, die ihn unbewusst dazu brachte, die Augen davor zu verschließen, dass Amalia Juliana schlug. Die Verleugnung könnte ihm indes auch ermöglicht haben, sadistische Impulse zu befriedigen, Impulse, die seine Zwanghaftigkeit und die Geschehnisse in der Kindheit vermuten lassen. Das Schlagen musste Stifter schließlich aber auch verleugnen, weil sein Überich ihn wegen unterlassener Hilfeleitung angeklagt hätte. Er hätte sich zum Mittäter gemacht. Verbietet das Gewissen die Völlerei, so fordert im gleichen Zug das Ichideal die Völlerei, denn Hebbel, der am Ideal kratzt, muss hinausbefördert werden, um die Illusion der Idealität nicht weiter zu gefährden. Überdies benötigte Stifter die Regelmäßigkeit der Völlerei zur Strukturierung seines Alltags. Ritualisierte Völlerei sichert gegen die Orientierungslosigkeit – wie bei Kleinkindern. Stadler vermag in Stifters Völlerei noch einen Lustaspekt auszumachen: „Die Essenszeiten werden streng eingehalten, und mancher schöne Abschnitt des Buches läuft geradewegs auf das Essen zu wie auf einen erotischen Höhepunkt“93. Heute wissen wir, dass eine unbehandelte Essstörung geradewegs in eine Zwangserkrankung führen kann. Wegen seines hohen Ichideals überrascht auch Stifters Perfektionismus nicht: „Und doch schwebt mir beständig vor, wie es viel besser sein sollte. Eigentlich sollte man sagen: Der Teufel hole das Dichterleben, man hat nur Kreuz und Qual dabei und kann es nicht lassen wie geliebte Sünden“94, und an Piepenhagen: „ich bin nie mit meinen Arbeiten zufrieden und oft recht ärgerlich darüber“ 95. Nur wer perfekt ist, wird geliebt, so die Logik des Perfektionisten. Mit dem Fressen fing Stifter offenbar erst an, als er nicht mehr hoffen konnte, das Glück zu finden. Um 1855 musste er zum ersten Mal nach Karlsbad in Erholung, dann öfters, monatelang. Diesen und weitere Aufenthalte in Karlsbad und an anderen Orten hat Stifter nur mit zusammengebetteltem Geld bestreiten können. Er schreibt Briefe an Amalie, vor der er immer wieder flieht, aber klagt, wie sehr er sie vermisse. Deshalb war einer seiner großen Wünsche, das Meer zu sehen. Es war wohl die dauernde Suche nach dem homophonen Partner, der mère gewesen. Im Juni 1857 erfüllte sich sein Wunsch, was seinen Krankheitszustand aber nicht mehr besserte. In den folgenden Jahren verschlimmert sich Stifters Zustand. Er schreibt und isst. Unruhe und Getriebenseins machen weitere Kuraufenthalte notwendig. Sein Befinden bessert sich auch jetzt nicht. In dieser Zeit entsteht sein ritualistisches Spätwerk Witiko. 1867 macht er einen Suizidversuch. Weil sein Stern als Poet sank, das Dichten nicht mehr sättigte, weder ihn, noch seine Kritiker, noch seine Leser, versiegte die Quelle narzisstischer Zufuhr. Da ihm Schreiben und Essen Synonyme waren, blieb nur der Rückgriff auf die Völlerei, um sich über Forellen, Enten und Wiener Würstchen die fehlende narzisstische Zufuhr zu besorgen. Bei Stifter dürfte die Regression auf den oralen Modus das Ersetzen einer Person durch Essen (wir sprechen von Objektregression) befördert haben. Er könnte auf diesem Weg auch von Jean Paul beeinflusst gewesen sein, der ihn in seinen frühen Jahren beeindruckt hatte. Jean Paul tendierte nicht zur Idealisierung der Frau; er hatte ein anderes Frauenbild, das er anhand seines Vult in Flegeljahren vorstellt, indem er ihn sagen läßt, für jeden sei eine Frau etwas Anderes, „für den einen Hausmannskost, für den Dichter Nachtigallenfutter, für den Mahler ein Schauessen, für Walten Himmelsbrot und Liebes- und Abendmahl, für Weltmenschen ein indisches Vogelnest 91 zit. .n. Kremsberger, S. (2005): Ein moderner Jubilar: Der UnruheStifter, 09.03.2005. Online verfügbar unter http://www.dieuniversitaet-online.at/beitraege/news/ein-moderner-jubilar, zuletzt geprüft am 16.03.2013 92 Kuhn, a.a.O. 93 Stadler, a.a.O., 78 94 Brief an Heckenast, 18.11.1864 95 15.1.1865 19 und eine pommersche Gänsebrust – kalte Küche für mich“96. Für Stifter dürfte die Frau zum Wiener Würstchen geworden sein. Welch ein Absturz der Frau aus der lichten Höhe der Idealität in die Reduktion auf eine schnöde irdische Brust – ein FastFood-Brust! Das lässt Zweifel aufkommen, dass dieser Mann an der Brust seiner Mutter satt geworden ist, zumal Hunger nicht nur eine Angelegenheit des Magens ist, sondern auch eine des Narzissmus 97 . In diesem Zusammenhang ist die Art von „Liebe“ von Interesse, die Stephan von Jana zu bekommen hoffte: „So ist es denn zum ersten Male in meinem Leben, daß ich von jemandem um meiner selbst willen geliebt werde, von einem Menschen, dem ich nichts gegeben und getan habe“ (Waldbrunnen). Stifter verbalisiert damit beeindruckend den Wunsch nach einer Liebe um seiner Selbst ohne Gegenleistung, von der Psychoanalyse später als ‚primary love’ bezeichnet, eine Liebe, die es nur von der frühen Mutter gibt. Treffender als Stifter es hier in kühnem Vorgriff auf die Psychoanalyse tut, hätte man sie nicht artikulieren können. Stifters Essprobleme dürften indes noch einen anderen Grund haben, der direkt aus dem Unbewussten kommt. Im Der Waldbrunnen lässt er den Großvater viel mit Geschenken, die im Unbewussten die Brust bedeuten, also als Mutter mit einer ‚guten Brust’ agieren. Es gibt aber Anzeichen für Phantasien bei Stifter, in der ‚guten Brust’ sei eine ‚schlechte Brust’ verborgen. Ich erinnere: Er vermutete das flatterhafte, das untreue Weib hinter dem Busentuch von Fanny: „Hat wohl - - das geht mir immer im Kopfe – hat wohl der heurige Karneval wieder ein Unglück unter deinem Busentuche angerichtet??? Schreibe mir bald, bald, bald, gleich nach Empfang dieses …“ 98 . Der Satz bleibt unvollständig wie überhaupt Stifter in diesem Brief arg ins Stottern gerät (zumindest in der publizierten Version). Die ihn bedrängende Unruhe wegen des Unglücks unter dem Busentuch hat ihn später auch beim Essen gepackt. Man kann daraus schließen, die Brust hatte für den oral fixierten Stifter auch eine böse, schlechte Seite, was für seine Fressanfälle bedeutsam sein dürfte. Die Phantasie muss dadurch genährt worden sein, dass ihm seine Mutter zu seiner Verärgerung einen Stiefvater auf den Teller gelegt hat, ausgerechnet einen Bäcker, der von Berufs wegen das Orale bedient. Er dürfte die ‚schlechte Brust’ der Mutter sein, weil ihre Liebe nicht nur ihm galt, sie ihm keine ungeteilte primary love bot. Die ‚schlechte Brust’ wird Stifter zum Verhängnis, weil er den schlechten Teil gleichzeitig mit dem guten einverleibt und ihn dann mit immer weiterem Essen wieder aus seinem Körper herausbefördern (exkorporieren) muss. Die ‚schlechte Brust’ wirkt pathogen und es kommt zum Entgleisen des Essens. Es reicht dann nicht eine Ente, sondern es muss eine zweite folgen usw., bis sich schließlich die ‚schlechte Brust’ in der Nervenerkrankung und der tödlichen Völlerei und Trunksucht manifestiert. In einem Brief an Heckenast klagt er: „Dazu kamen in letzter Zeit noch recht unerquickliche Verhältnisse meines Amtes […], was mir oft wie Blei in der Seele lag. Ich beklage tief meine Verhältnisse. […] Ich muss mein Geschick tragen und mit ihm oft auch meinen Schmerz. Nun werde ich auch noch krank. Mit dieser Krankheit war eine tiefe, körperliche Schwermut verbunden, dass […] sie doch oft so hervorbrach, dass ich in ein Schluchzen geriet dessen ich nicht Herr werden konnte.“ Unwillkürlich habe er heiße Tränen vor seiner Gattin geweint, weil ihm „bei Zittern der Nerven die Buchstaben auf dem Papiere zitterten und so verschwammen, dass ich wieder auf Stunden aussetzen musste“99. Das Rasiermesser am Hals Und da auch Stifter nicht gleichzeitig mit dem Kopf im Himmel (der Poesie) und dem Körper in der Hölle leben kann, scheitert der Kopf und Stifter setzt das Messer da an, wo Kopf und Bauch sich trennen, am Hals. Nach fortschreitender Krankheit, Geldsorgen, zunehmender Vereinsamung, Verstummen der Leser vor seinen Werken und schließlich dem Bruderkrieg (Preußen-Österreich) von 1866, „der eigentliche Todesstoß“100, griff Stifter entgegen seiner ethischen Einstellung in der Nacht zum 26. Januar 1868 zum Rasiermesser und fügte sich eine stark blutende Schnittwunde am Hals zu. Mit den Sterbesakramenten versehen starb er in der Frühe des 28. Januar. Es ist nicht erwiesen, dass es Suizid war, nicht erwiesen, dass Stifter an der Schnittwunde verstorben ist 101 . Heute würde man eher von selbstverletzenden Verhalten (Automutilitation) mit Todesfolge sprechen. Es würde zu Stifters angeschlagenem Selbstwertgefühl passen. Selbstverletzendes Verhalten ist parasuizidal und kann mehrere Ursachen haben und verschiedene Funktionen im Seelenleben erfüllen. Es tritt zumeist im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen auf, dort besonders in Krisensituationen, in denen die Identität in Frage gestellt ist. Die Automutilation Stifters ist also „von beklemmender Folgerichtigkeit“102. Stifter emigrierte lebenslänglich in die gefälligere Welt, was an den heutigen ‚Verzweiflungstourismus’ (Virilio) erinnert, wenn Menschen aus armen Verhältnissen in Länder auswandern, die sie nur aus dem TV kennen, dort jedoch nie richtig ankommen, weil das Virtuelle nicht mit der Realität übereinstimmt. Stifter kam wohl nie an, 96 zit. n. Vorbach, a.a.O., 176 vgl. Battegay, R. (1982): Die Hungerkrankheiten. Unersättlichkeit als krankhaftes Phänomen. Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch, 1987 98 Brief an Franziska Greipl, 3.2.1829 99 28.8.1864 100 Seebaß, a.a.O., XV 101 vgl. Roedl, a.a.O. 102 Kuhn, a.a.O. 97 20 auch nicht nach dem $achsommer, was er vielleicht nach Hebbels Verriss erst richtig realisierte, der für ihn wie ein naturgewaltiger Einbruch der Realität in die Imagination gewesen sein dürfte. Suizidales äußerte er allerdings schon früh in einem Brief an Fanny: „eher verlasse ich das Leben als ich dich verlasse.“103. Heißt: wie die meisten Suizidanten phantasiert er ein Leben nach dem Tod (im Mutterleib), da dieser Satz ein Paradoxon ist: Ist er tot, gibt’s keine Liebe mehr. Wie auch immer: Kann das Dichten diesen Schmerz nicht mehr heilen, und das Essen auch nicht, bleibt nur noch der Tod. Amalia, die ihrem Mann keine Kinder geschenkt und nie seine Werke gelesen hatte, ließ nur seine Titel und Orden auf den Grabstein schreiben, nicht den Dichter. Als Tochter eines Unteroffiziers war sie wohl titel- und dienstgradfixiert. Der Dichter hingegen wurde posthum von seiner ‚O Mali’ kastriert. „Der Luigenbertl“ Nachdem nun die psycho-sozialen Umstände Stifters während des Aufenthaltes seiner Ziehtochter Juliana bis hin zur Abfassung des Waldbrunnen skizziert sind, bleibt erneut die Frage, was Spreckelsen bewogen hat, so harsch über den Waldbrunnen zu urteilen. Stifter befand sich in der Zeit mit Juliana aus beruflichen und privaten Gründen in einer narzisstischen Krise. Er war einsam, gekränkt, krank, liebesbedürftig, er trank, machte sich klein und verglich sich gleichzeitig mit Goethe. Man kennt das Schlingern zwischen Größenphantasien und Kleinheitsängsten in Zeiten narzisstischer Labilität. Gleichwohl macht er sich nicht zum Käfer; das kam erst später in der Literaturgeschichte. Was aber um Himmels Willen hat Stifter dazu bewogen, in seiner Erzählung der Wilden ausgerechnet den Namen Juliana zu geben! Er hätte ihr jeden anderen geben können. Kaum hätte man eine direkte Verbindung zu seiner Ziehtochter hergestellt. Eigentlich müsste sich das Peinliche, insbesondere bei Stifters strengem Überich dem Aus- und Zurschaustellen entziehen. Das Peinliche öffentlich machen wird erst Merkmal der Postmoderne und seiner Medienkultur. Die Wahl des Namens muss ein Geständniszwang Stifters gewesen sein, Zeichen eines Schuldgefühls, eine Art Rückkehr des Täters an den Tatort. Psychodynamisch dürfte der Geständniszwang dieselbe Bedeutung wie sein Suizid wegen der ‚sündigen’ Völlerei haben. Es ist, als halte Stifters Vergangenheit die Erzählung im Griff. Normalerweise würden Eltern bei einem Suizid ihres Kindes alle ihre ‚Sünden’ einfallen. Stifter jedoch nimmt im Brief die Haltung ein „Ich war’s nicht.“ Sollte er im Brief gelogen haben wie er es als Kind tat, als er sich einmal hässlich gegen eine Mitschülerin benommen hatte. Damals zog ihn der von ihm verehrte Lehrer Josef Jenne zur Rechenschaft. Er leugnete seine Missetat, worauf der Lehrer ihm erwiderte: »Das hätte ich nie von dir gedacht, dass du lügst!«104. Stifters Brief an Heckenast vom 26.4.59 klingt, als habe Juliana ihm etwas angetan, als sei er das Opfer. Laut Roedl versuchte Stifter sich mit der Erklärung zu beruhigen, Ursache für Julianas Suizid könnte ein körperlicher Antrieb infolge plötzlichen und heftig gestörten Geschlechtslebens gewesen sein105. Wieso plötzlich und heftig? Fricke wiederum hat schnell die Diagnose „Geistesgestörtheit“ bei Juliana zur Hand106. So sicher war sich Stifter diesbezüglich freilich nicht. An Louise v. Eichendorff schreibt er, es könne sein, daß sie im Irrsinn verunglückte. Plausibler erschien ihm nach seinen Nachforschungen „eine Übersetzung der Menstruation ins Gehirn“ als Ursache, damals eine gängige Diagnose. Ein Hormon-SuperGau also? Von Julianas „verworrenen Handlungen in den letzten Stunden, bevor sie fort ging, erfuhren wir erst, da sie schon fort war; kleine Anzeichen, die in unserer Gegenwart vorfielen, verstanden wir nicht. Das Mädchen hatte sich in dem letzten Jahre sehr rasch entwickelt, war sehr üppig geworden, und viele nannten sie schön. Sie war bis etwa 18 Stunden vor ihrem Fortgehen sehr fröhlich, ja lustig, tanzte, sang und deklamierte im ganzen Hause, ja oft im Vorhause und auf der Stiege.“ Das erinnert an die Wilde auf dem Fels. „Umso weniger konnten wir so etwas ahnen, und doch machen wir uns jetzt die bittersten Vorwürfe, daß wir das Unglück nicht zu verhüten gewußt haben. […] Sie hätte einem glücklichen Lose entgegen gehen können. Wir behandelten sie gut, sie bekam nie eine Strafe als nur Ermahnungen bei ihren Fehlern, und sie selber freute sich oft kindisch über manches, was sie bekam oder was ihr in Aussicht stand. Sie war sehr gesund, nur eine tiefe, lebhafte Röte überkam oft ihr Angesicht, was wir auf Rechnung ihrer Jahre und Entwicklung schrieben.“107 Die Röte erschien Stifter als ungesund. Es könnte also Schamesröte gewesen sein. Das sollten wir im Auge behalten, zumal auffällt, dass Stifter in seiner Beschreibung Julianas gern zum Superlativ „sehr“ greift. Sollte die Verschlechterung von Stifters Gesundheitszustand, namentlich seine Völlerei und Trunksucht, Ausdruck eines Schuldgefühls seiner Ziehtochter gegenüber sein, eines jener „giftigen Gefühle“ (eine Patientin), die externalisiert werden müssen? Heute würde man an eine Posttraumatische Belastungsstörung denken. Jedenfalls traten 1863 erneut Zustände von Angst und Niedergeschlagenheit mit Schluchzen und Weinen auf, die 103 1.10.1829 vgl. Roedl, a.a.O., 16 105 120 106 vgl. Fricke, a.a.O., 12 107 Brief an Louise v. Eichendorff, 6.5.1859 104 21 Stifter selbst als „Nervenübel“ diagnostizierte108. Bald darauf machte er seinen Vertrauten J.M. Kaiser zum externen Überich, dem er zu Verschweigendes anvertraute109. Was das war, ist nicht bekannt. „Begibst du dich in dein Inneres, dann sei bewaffnet bis an die Zähne“ (Paul Valéry) Stellen wir uns vor, mit dem Idealbild einer durchsittlichten, nur noch durchseelten Frau im Kopf begegnet Stifter seiner heranwachsenden Ziehtochter Juliana, deren fiktiven Zwilling er im Waldbrunnen als die „schönsten Menschengestalt“ bezeichnet. Könnte Ziehtochter Juliana, als sie älter und „sehr üppig“ wurde, Stifters alte Liebe zu Fanny getriggert haben und bei ihm mit der Rückkehr des Körpers aus seiner Verbannung die sinnlich-erotische Leidenschaft, die Erregungen seiner fernen Jugend nochmals aktiviert haben? Und war ihm dabei Amalia im Wege? Ich höre die Verehrer aufjaulen, sich die Haare raufend von Dämonisierung, Demontage, von skandalträchtigem Blick auf Stifter zischeln110. Demontiert werden kann nur, was zuvor montiert wurde, Stifter z.B. zum Aushängeschild einer geordneten, idyllisierenden, biedermeierlichen Lebenswelt und damit zum gestanzten Literaturmaschinenprodukt.. Die Sorge ist durchschaubar: Die Berührung mit Realseelischem stört den ästhetischen Genuss am Werk. Dennoch: “die schmerzliche Niederlage mit den dämonischen Mächten in sich und außer sich gibt der zweiten Lebenshälfte den dunklen Mollklang“, so Seebaß111. Für Spreckelsen ist der Mollklang kalt. Er spricht vom Experiment mit großer Kälte, von jämmerlich ungleichen Waffen, vom Kalkül des Erziehers und davon, dass unter der klaren Oberfläche sich Verwerfungen ahnen ließen, „die nicht entfernt widerspruchsfrei aufgehen wollen.“ Bisher erschien Spreckelsens Kritik eher fern der Erzählung. Abstrahiert man Spreckelsens Kritik jedoch vom Erzähltext, behält nur im Sinn, Stephan wollte von Jana geliebt werden, liest sich die Kritik wie der Vorwurf einer Kindesmisshandlung oder eines Missbrauchs, jedenfalls „unheimlich“. Kälte und jämmerliche Persönlichkeitsstruktur des Täters wären ebenso angesprochen, wie die ungleiche Situation zwischen dem Erwachsenen und dem Kind und dessen jämmerliche Lage und schmerzliche Niederlage! Damit kann nicht der manifeste Text der Erzählung gemeint sein! Und warum meint Spreckelsen ausgerechnet hier, man müsse „die biographischen Hintergründe gar nicht kennen“? Haben sich im Brief verschleierte Ereignisse in der Erzählung Gehör verschafft, so dass das Verdikt gar nicht der Fiktion, sondern Stifters Umgang mit seiner realen Ziehtochter gilt? Sollte sich Spreckelsens Urteil auf tatsächliche Vorfälle, also Biographisches beziehen, und welcher Natur könnten sie gewesen sein? Geht es um verbal, emotional oder sexual abuse? Zu Jana sagte Stephan mehrfach: „»Tue, wie du willst«“. Hatte die wirkliche Juliana diese Freiheit auch? Die Aktivität des Großvaters im Hinblick auf Jana steht in merkwürdigem Gegensatz zu der von Stifter in seinem Brief behaupteten Passivität Juliana gegenüber. Sollte es sich im realen Geschehen um die impulshafte Wiederkehr verdrängter Leidenschaft gehandelt haben, um jene von Stifter so benannte „fürchterliche Wendung der Dinge“ (Granit)? In Stifters Werk herrsche ein starker Ordnungswille, der aber scheitern müsse. Katastrophen würden nie bewältigt, sondern nur verschoben und kehrten immer wieder an die Oberfläche zurück, schreibt Juliane Vogel112. Auf diesen bedeutsamen Verschiebungsmechanismus weist uns ausgerechnet Sorry – eine ‚Juliane’ hin! Im Jahr 2013 verfügen wir über eine in mancherlei Hinsicht fragwürdige, aber für Naivitäten fraglos desillusionierende Kultur des Hinsehens. Wir machen uns bezüglich möglichen Missbrauchs keine Illusionen mehr. Dass bekannte Persönlichkeiten bisweilen glauben, keinem Gesetz verpflicht zu sein, als gäbe es für sie kein „Nom-du-Père“ (Lacan), also kein Non-du-Père, zeigen jüngste Enthüllungen. Wir haben keinerlei Veranlassung, uns Denkverbote aufzuerlegen, auch nicht, was die Gottesfürchtigen anbetrifft. Diese haben vielmehr allen Grund, ihren Gott zu fürchten. Auch das Argument Roedls, das dichterische Genie erlebe die Welt anders und gebe das Erlebte anders wieder113, will heute nicht mehr ziehen. Im Klartext: Begeht ein junges Mädchen im Alter von 18 Jahren Suizid, hat sie entweder Liebeskummer oder ein schweres Problem mit ihrem Selbstwertgefühl, das mit Missbrauch zu tun haben könnte. Nicht umsonst sprechen wir in einem solchen Fall von ‚Soulmurder’. Ein im klinisch-psychotherapeutisch-sozialen Bereich Tätiger würde heute fahrlässig handeln, würde er bei einem Suizid(versuch) möglichen Missbrauch nicht in Erwägung ziehen. Hinzu tritt, dass es nach heutigen Erkenntnissen eine Konstellation gibt, die Übergriffe begünstigt: Abwesende Mutter und ein mit seinem Leben unzufriedenes und alkoholisiertes männliches Familienmitglied. Beides trifft auf Stifter zu. Betrachten wir die Fakten nüchtern: 6oo Liter Alkohol im Jahr sind kein zu vernachlässigendes Symptom. Alkohol wirkt toxisch, betäubt das Überich und enthemmt damit. Überdies tendieren moralische Masochisten – Stifter zeigt Züge davon - zu Impulshandlungen. Und sollte Juliana als Kind vor ihrem Übersiedeln nach Linz bereits Übergriffserfahrungen gemacht haben – sie „hauste“ Roedl zufolge in armseligen 108 vgl. Roedl, a.a.O., 127 ibid. 141 110 vgl. Wiesmüller, W., in : Klein, M. (2009): Adalbert Stifter. Der 200. Geburtstag im Spiegel der Literaturkritik. Wien: Lit. 111 Seebaß, a.a.O., XI 112 zit. n. Kremsberger, a.a.O. 113 Roedl, a.a.O., 43 109 22 Verhältnissen an der ungarisch-serbischen Grenze114 -, wäre sie diesbezüglich besonders gefährdet gewesen. Sie wären ein Prädiktor für Missbrauch. Jedenfalls scheint sie als Kind Probleme gehabt zu haben, da sie bei der Übersiedelung zu den Pflegeeltern ‚bereitz schon viel Kummer’ machte. Ob es im Hause Stifter zu gewalttätigen Übergriffen wie Schlagen kam, ist offen, aber denkbar. Stifter war bereits durch die Krankheit seiner anderen Ziehtochter genervt. Offen bleiben muss auch, ob es zum sexuellen Übergriff kam, ob Stifter zum von der sinnverwirrenden Schönheit Cölestes berauschten Almot (Das alte Siegel) wurde. Die Hagiographen eiern da herum. Von „dunklen Stellen, von „Ungeheueres im Herzen tragen“, von „gäremd Leidenschaftlichem“, von Abgründen“ ist die Rede115. Solche verschleiernde Bemerkungen stacheln die Neugierde an, rücken offenbar zu Verschleierndes ins Blickfeld und provozieren beim Leser die Suche nach der Wiederkehr des Verdrängten: auch eine Art Geständniszwang, diesmal der Lobredner. Dazu passt, dass eine untergründige Angst vor Enthüllung durch Seelendoktoren durch die Texte über Stifter wabert. Sie sind jetzt die Dämonen, wie sie einst im Kursbuch-Dossier aufs Papier gemalt wurden. Seelendoktoren aber wetzen nicht die Zeigefinger, sondern hören zu. Allerdings sind Interpreten bei ihrer Arbeit, anders als der Leser, nicht am ästhetischen Genuss orientiert. Stifter trägt selbst zur Verschleierung bei: „Wir alle haben eine tigerartige Anlage, so wie wir eine himmlische haben, und wenn die tigerartige nicht geweckt wird, so meinen wir, sie sei gar nicht da … wir alle können nicht wissen, welche unbekannten Tiere durch die schreckliche Gewalt der Tatsachen in uns hervorgerufen werden können, so wenig wir wissen, was wir im Falle eines Nervenfiebers reden oder tun würden“116. Das ist richtig, nur ist der pluralis maiestatis in diesem Zusammenhang immer ein Trick, um sich zu entschuldigen: Na ja, wenn’s alle tun … Durch die Bank versucht man mit Stifters Prosa sein Ungutes niederzuhalten, womit man sein Werk in den Dienst uniformen Überblendens stellt, als hätte es reine Abwehrfunktion. Die Stille, das Klare, das Paradiesische der Stifterschen Dichtung ruhe auf immer neu bedrohendem und bewältigtem vulkanischem Grunde. Sein poetischer Stil schließe wie eine unsichtbare Mauer das Niedrige und Böse, das Entsetzliche und das Sinnlose aus, dessen Dasein der Mensch Stifter nur zu wohl kannte und erfahren hatte, dessen Darstellung aber der Dichter zu vermeiden habe, der auf das Hohe, Reine und Gültige gerichtet ist, so Fricke117. Damit ist Stifter nicht gerettet und im Verdrängungseifer zu allem Überfluss seine Dichtung auch noch zur reinen Konfliktbewältigung degradiert. Damit wäre Stifter nicht einverstanden, wie eine Bemerkung an Bruder Anton zeigt: „Es ist ein Mann (Stifter, T.E.), der aus Liebe zur Dichtkunst die Liebe seiner Braut opferte und in dem glücklich war, was ihm Gott verliehen“118, in der die Anspielung auf Goethes Tasso, aber auch auf Flaubert nicht zu überhören ist. Freud sagt: „Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit“119. Stifter verstand seine Prosa als Herzensbildung. Seiner Juliana z.B. widmet er die Bunten Steine zu ihrem 12. Geburtstag: „behalte es als Andenken; wenn Du einst von dem Guten weichen wolltest, so lasse Dich durch diese Blätter bitten, es nicht zu tun“120. Mit dieser pädagogischen Anweisung schwenkt er allerdings wieder auf die Linie seiner Lobredner ein. Entscheidend sei, daß Stifter mit seinen unguten Seiten nicht einverstanden war, nicht wollte, daß er war wie er war, so Stadler. Er kannte sich, das Dunkle und das Ungeheuere. Er wies sich selbst immer wieder in die Schranken, auch schriftlich.“121. Das ist alles schön und gut, aber die Poesie ist keine Gewähr, dass die Treibkontrolle gelingt. Da wird Kuhn deutlicher: „Die heilsgeschichtliche Sinnkonstruktion und der rigide Moralismus, an denen Stifter lebenslang festhielt, unterhöhlten seine kreatürliche Existenz gerade deshalb, weil er in außerordentlichem Maß dazu befähigt und damit geschlagen war, die Zerbrechlichkeit und Unbehaustheit der Kreatur sinnlich wahrzunehmen.“122. Es will und will nicht gelingen, das Ungute, die stacheligen Probleme niederzuhalten, weil dieser Weg keinen Erfolg verspricht. Erst wenn das Ungute gedacht und klar benannt ist, lässt sich das Gute wertschätzen. Stadler spricht von einem „schöngeschriebenen Leben, unter dem es brodelt“123. Das Präfix „schön“ macht aber nur Sinn, wenn etwas Hässliches vorlag. Stadler ist neugierig geworden und füllt die dunklen Stellen mit Inhalt. Stifter habe die Anlage zur Gewalt: Einen Bruder habe er als Versuchskaninchen benutzt, ihn mit einem Messer aufgeritzt, weil er sehen wollte, wie das Blut fließt124. Oder wollte er Blut fließen sehen? Der Bruderkrieg von 1866, „der eigentliche Todesstoß“125, der sein Nervenleiden verschlimmerte, könnte für Stifter zum Trigger kindlicher Sadismen geworden sein. Die Katze, so Stadler weiter, habe er in den Backofen gesteckt, Glasfenster zerstört und schließlich die Hand an sich gelegt. „Das sind frühe 114 ibid., 61 Seebaß, a.a.O., XIII ff 116 um 1846, zit. n. Seebaß, a.a. O., XII 117 Fricke, a.a.O., 16 118 Brief v. 22.9.1844 119 Freud, S. (1908e): Der Dichter und das Phantasieren. G.W., 7, S. 213–231, 216 120 16.2.1853 121 Stadler, a.a.O., 38 122 Kuhn, a.a.O. 123 Stadler, a.a.O., 73 124 ibid. 84 125 Seebaß, a.a.O., XV 115 23 dunkle Stellen, von denen andere aus Stifters Leben berichten. […] Das ist ja alles nur Spekulation. Aber jenem Leser, der ich bin, hat sich das aufgedrängt.“126. Bleibt die Frage, ob es auch später dunkle Stellen gab, z.B. mit Juliana. Immerhin: Wenn Stifters Bruder „Versuchskaninchen“ war, erinnert das an Spreckelsens Verdikt vom Experiment. Die „kindliche Roheit“, die „derben Unsitten“ dürften den bäuerlich-derben Sozialisationserfahrungen geschuldet sein127, aber man kann die Aktionen des Stifter-Bertl ebenso auch als Ausdruck oralen Wut gegen die nachkommenden Geschwister verstehen. ‚Die Katze im Backofen’ heißt dann ‚zurück mit den Geschwistern in den Mutterleib’. Stifter sei ein „Triebtier“ gewesen, was die sogenannten leiblichen Genüsse anbetrifft; solide sei Stifter nicht im entferntesten gewesen128. Aber Tiere zeigen keine Völlerei. Wenn wir alle eine tigerartige Anlage haben, ein Bild, dem man als Analytiker zustimmen kann, wenn auch jeder die Art des „Tieres“ in sich selbst herausfinden muss, könnte es sein, dass durch die „Tatsache Juliana“ in Stifter der „Tiger“ geweckt wurde. Sollten die Vorfälle aus der Kindheit in Oberplan hier „zu einer zweiten Gegenwart geworden sein, so daß selbst noch der Leser den Schmerz nachempfindet, den Stifter beim Aufschreiben dieses Frevels noch einmal befallen haben mochte“?129 Hat Spreckelsen diesen Schmerz empfunden und mit seinem Verdikt über den Waldbrunnen tigerhaft zurückgebrüllt? Ernst Kris zufolge, der sich mit kreativen Prozessen beschäftigt hat, zeigt die «Inspirationsphase» eine momentane Durchlässigkeit der IchGrenzen, die es dem Es erlaube, ins Ich einzudringen. Die Abwehr sei außer Kraft gesetzt und die Inhalte des Unbewußten vorübergehend zugelassen. Infantiles magisches Denken wie Bildzauber, Beschwörungen, Geisterglaube könnten ihre Wirksamkeit entfalten. Es könnten moralisch verpönte Regungen wie Gier und Hass, aber auch sozial gefährliche Regungen wie Zerstörungswut oder Mordlust zum Bewußtsein Zutritt finden. In der «Ausarbeitungsphase» würde die Abwehr wieder eingeschaltet und z.B. in Textgestaltung und Notwendigkeit zur verstehbarem Darstellen als Prozesse des Sekundärvorgangs wirksam130. War also die Zeit mit der üppigen Juliana eine ‚Inspirationsphase’ mit vielen gefährlichen Regungen, und die Zeit des Niederschreibens des Waldbrunnen die ‚Ausarbeitungsphase’? Wir müssen ferner davon ausgehen, dass das Überich Lücken hat. Stifters Vater fiel als Überich aus. „Mein Vater“ ist das erste Wort im $achsommer, „und sogleich beginnt die Beschreibung einer geordneten Welt, in der Stifter selbst nie lebte“131. Stifter flüchtete stattdessen in den Zwang, der von einer Triebtat abhalten soll. Er ersetzt damit den fehlenden Vater. Als er als Kind Glasfenster zerbrochen hatte, eine Deflorationsphantasie, und seine Mutter ihm die verletzte Hand verband, wetterte seine Großmutter: „Mit einem Knaben, der die Fenster zerschlagen hat, redet man nicht.“132. Die Großmutter trat strafend, als Überich auf und fungiert als Aufpasserin, damit die inzestuöse Situation zwischen Mama und Sohn nicht eskaliert. Später sind es der Bäcker und dann Hebbel, die wie die Großmutter als Donnerschlag in die Idylle mit der Mutter einbrechen. “Meine ersten Schriftstellerversuche liegen in meiner Kindheit, wo ich stets Donnerwetter beschrieb“133. Er dürfte nicht nur die meteorologischen, sondern auch die Donnerwetter des Überichs gemeint haben. Seine Großmutter hat wohl wie jene im Waldbrunnen einen „düsteren Lichtschein“ auf sein Leben geworfen. ‚Die Wörter verlassen den Kopf und ziehen in die Wälder’ (meine Mutter kurz vor ihrem Tod) Stifters Verhältnis zur Natur kann man durchaus aus inzestuöser Perspektive sehen. Warum beeindruckt ihn die Natur so, warum muss er sie immer wieder ins Feld führen? Warum kreiert er „großmächtige Winterbilder“ (Matz), warum erlebt er vereiste Landschaften als „eisesstarres Grauen“ (Matz), warum wie eine strafende Katastrophe, die übers Land fällt? Man könnte bei Stifter an Katastrophilie denken. Ein anderer bliebe vielleicht indifferent oder würde eine vereiste Landschaft als berückendes Bühnenbild oder wie das Werk einer Zuckerbäckerei empfinden. Nein, nein, das geht bei Stifter nicht, der backende Stiefvater war ja eine Katastrophe! Stifter nimmt die Natur als Metapher zur Beschreibung innerer Vorgänge. Für ihn sind Naturereignisse mal harmonisch, mal katastrophal, weil plötzlich und unerwartet, wie emotionale Ereignisse eben, wie Angst, Gewalt oder Leidenschaft. Natur indes kennt keine Gewalt, keine Leidenschaft. Aber die Seele kennt sie. Es ist Stifters Erleben von der Natur. Indem er Gewalt und Leidenschaft dissoziiert und auf die Natur projiziert, beseelt er Natur, auch wenn Matz meint, Stifters Dichten sei fern von jeder Naturbeseelung durch 126 Stadler, a.a.O., 84 Roedl, a.a.O., 16 128 Stadler, a.a.O., 18 129 ibid., 84 130 Kris, E. (1977): Die ästhetische Illusion: Phänomene der Kunst in der Sicht der Psychoanalyse. Frankfurt/M: Suhrkamp, 188 131 Stadler, a.a.O., 181 132 zit. n. Roedl, a.a.O., 12 133 Brief an Leo Tepe, 26.12.1867 127 24 menschliche Regungen134. Wenn Stifter an der Natur metaphorisch Innerseelisches darstellt, suggeriert er eine beseelte Natur. Wir würden heute von Animismus oder projektiver Identifizierung sprechen. Natur dient Stifter auch als Körpermetapher. Seine Illustration des Plöckensteinsees im Der Hochwald ist diesbezüglich eindeutig. Karl Lugmayer zeigt in seiner Interpretation, wie Stifter den See vermenschlicht, zum „Lebewesen“ macht. Wie man allerdings im Jahre 1953 im Wien Freuds noch von „Unterbewußtsein“ und „Oberbewußtsein“ sprechen kann, wie es Lugmayer tut, und sich folgerichtig kategorial verirren muss, finde ich mutig.135. Was er meint ist, dass fürs Unbewusste die Natur Urbild des Weiblichen ist, was wir, des Dichtens nicht mächtig, nicht oder nur unzulänglich in Sprache zu fassen vermögen. Mit anderen Worten: Die Natur steht für den Körper der Frauen/ der Mutter. Die Werbeindustrie weiß das. Die Natur ist Stifters Mutter und darum ist seine Naturbeschreibung nicht von ungefähr vom Motiv des Eindringens gekennzeichnet. Ihre Befruchtung kann man kaum naturhafter beschreiben, als Stifter im Der Waldbrunnen: Der (Mutter)Boden „hat Risse, Spalten, Gänge und Öffnungen, in welche die Wurzeln der Bäume (der Penis) eindringen, auf dem die Gräser und Blumen und Beeren (die Kinder) wachsen. Das Wasser (das Sperma), welches von den Wolken des Himmels niederregnet, sinkt hinein und sinkt immer tiefer und überall rieselt es emsig (die Spermien) und still, und das Rieselnde findet sich zusammen, und es rauscht dann in der Tiefe“ … des Uterus, ergänze ich freiweg. Bewusst ist diese Schilderung als Erklärung der Naturvorgänge für seine beiden Enkel gedacht. Unbewusst ist sie Aufklärung über die Sexualität und dem Leser Hinweis auf Stifters unbewusste Phantasie über einen Verkehr mit seiner Mutter. Immerhin haben wir aus dem Waldbrunnen gelernt, dass der Inzest „menschliche Wesenheit“ ist. Die Sexualität bleibt bei Stifter verschleiert und wird auf Naturschilderungen verschoben und dort untergebracht. Das beginnt bei ihm in der Pubertät: „Dabei wirkte Schönheit, besonders der menschlichen Gestalt, zauberhaft auf mich. Sehr bald trat sie mir auch in der Kunst und in der äußeren Natur entgegen, wie ich den kaum im zehnten Lebensjahre durch die Schöpfung von Haydn in ein ahnungsreiches, wonnevolles Wunderland versetzt wurde, und oft schon damals die schönen Linien und die Färbung unserer Wälder betrachtete“136. Nicht zufällig assoziiert Stifter zur Natur die Musik. In Mein Leben hat er die Klänge eindeutig dem Mutterleib zugeordnet und im obigen Zitat hat er menschliche Gestalt, Musik und Natur zusammenkomponiert. Im zehnten Lebensjahr beginnt sich bei Stifter der pubertäre Triebdrang Wege zu suchen. A propos beseelte Natur: Über die Landschaft an der Enns schreibt er, wer sie einmal gekannt und geliebt habe, der „denke mit süßer Trauer an sie zurück wie an ein bescheidenes, liebes Weib, das ihm gestorben ist, das nie gefordert, nie geheischt und ihm alles gegeben hat.“ (Der Waldgänger). Vorbach hat beobachtet, dass entscheidende Begegnungen zwischen Frau und Mann bei Stifter meist in der Natur stattfänden137. Und so begegnet Stifter seiner Mutter in der Natur(beschreibung), denn die Frau, die alles gibt, ist die (ideale) Mutter. Seine Beschäftigung mit der Natur steht für das erotische Eindringen in die Mutter, den petit mort, letztendlich für den Tod als Rückkehr in den Mutterleib. Zuvor will er noch die primary love genießen mit einer Mutter, die „nie fordert“. Stifter erlebt und beschreibt die Natur intensiv und extensiv, weil er lebenslang ein inniges Verhältnis zu seiner Mutter hatte. Sie dürfte ihn von früh an besonders beeindruckt, aber auch erschreckt haben, weil sie nicht kontrollierbar war. Die Geburten der Geschwister konfrontierten ihn mit seinen ödipalen Wünschen und während er in Kremsmünster war hat sie wieder geheiratet. Die ödipale Idylle wurde nach Vaters Tod von einem (Zucker)Bäcker gestört, eine Naturkatastrophe, wie ein Eisregen, bei dem die männliche Potenz schrumpft! Das kalte, strafende Überich macht kein Ausleben des ödipalen Begehrens mehr möglich. Wann immer Stifter Natur beschreibt, versucht er die Mutter indirekt mit Worten zu lenken und zu steuern. Er tut es auch direkt, wenn er den Worten magische Funktion zuweist: „»Ich suche die Frau auf, lasse meine Worte fliegen, und wende sie von ihrem Manne zu mir.«“, sagt Kreidenberger im Waldbrunnen. In der Sprache des Ödipus: Die Worte sollen die Mutter bewegen, den Vater zugunsten des Sohnes zu verlassen. Kreidenberger ist Stifter. Er zeigt hier ein Motiv seines Schreibens: eine schöne Frau für sich gewinnen. An Fanny schreibt er, „die Worte vertretten die Stelle des abwesenden Lieblings“138. Man denke an das Ringen Flauberts um Worte. Seine Louise Colet hatte da keine Chance. Bei Stifter sind die Worte jetzt das Liebesobjekt. D.h., gebraucht er die Worte, gebraucht er das Liebesobjekt. Zugleich ist der Liebling immer präsent. Worte sind für Stifter wie die Nahrung Ersatz für die verlorene Person. Bei Amalia haben Stifters Worte in dieser Funktion allerdings gründlich versagt. Wir aber können über Stifters Naturbeschreibungen eine Menge sowohl über das erquickliche als auch das katastrophierende Erleben der frühen Mutter lernen. In diesem Zusammenhang gewinnt Bedeutung, dass Stifters Naturbeschreibungen - Natur als äußeres Korrelat eines inneren Dramas - etwas Zwanghaftes („pedantisch ausgestrichelte Idylle“139) an sich haben – wie seine Frauenbeziehungen -, als hätte er Sorge, Steuerungs- und Kontrollfunktion der Worte würden nicht ausreichen. 134 Matz, a.a.O., Pos. 164 vgl. Lugmayer, F. (1992): Karl Lugmayer über Adalbert Stifter. Vom Schwarzenberg zum Plöckensteiner See. In: Oberösterreichische Heimatblätter 46, 1992 (Heft 1), 90–98 136 Brief an Gottlob Christian Friedrich Richter, 21.6.1866 137 Vorbach, a.a.O., 148 138 15.11.1829 139 Fricke, a.a.O., 15 135 25 Dieser Zwang dürfte als Vaterersatz fungieren, mit Hilfe dessen er seine Phantasien über die Mutter zu kontrollieren versucht, damit sie ihm nicht zu verführerisch gerät, er nicht dem Inzest verfällt. Ein Zwang hat indes nicht nur die Funktion, Triebhaftes unter Kontrolle zu halten, sondern er soll auch vor dem Verfall an eine Psychose schützen. Psychose heißt u.a.: maligne, Angst machende Verschmelzung mit der Mutter. Stifter hatte zeitlebens – nicht unbegründet - Angst vor dem Wahnsinn140. Das hängt mit seiner den Vater ausschließenden Liebe zur Mutter zusammen. Wenn er seine frühen Schriften der Mutter widmet, andere Leser aber als Deppen und Schreibende als tierische Tierfänger hinstellt, wählt er den perversen Modus, weil der Dritte, der Vater entwertet ist. Darüber droht die Fusion mit der Mutter und der Größenwahn: “Leider streben heutige Schreiber nach allen, selbst den hässlichsten Reizen … aber es ist auch leichter Tier als Gott zu sein, und wer allerlei Begierden und weiß Gott was in sich hat, fällt auch jenen Schreibern zu“141. Versteht sich Stifter bereits als Gott und mit seiner Asexualität allen überlegen? Sind der ödipale Rivale, der Vater, der Bäcker die „Tiere“ während er sich als der vom Tierischen Gereinigte, als „geistlicher Herr“ der Mutter anbieten kann? Die Ambivalenz der Vaterfigur gegenüber formuliert Roedl: “Wenn der Sohn seiner gedachte (dem Vater, T.E.), tat er es mit betont kindlicher Ehrerbietung; dass dies nicht sehr oft geschah, dürfte weniger auf den frühen Verlust als auf die lebenslange Bindung an die Mutter zurückzuführen sein.“142. In Stifters Welt ist der Zwang wie Gott, der über allem ruht. Das zwanghaft Wiederkehrende des Naturmotivs mit den darin enthaltenen Aufzählungen und Wiederholungen erinnert an das beschwörend murmelnde Beten des Rosenkranzes. Tatsächlich zeigt Stifters Lebensgeschichte den Bogen vom Regressiv-Unstrukturierten hin zum Zwang. In seiner Wiener Zeit soll er das Leben eines Bohemiens in chaotischen Zimmern geführt haben, stellte angeblich einen Rekord im Wohnungswechsel auf (17 mal zwischen 1826 und 1849), was man sich bei dem späteren Dichter des geordneten Lebens gar nicht vorstellen könne, so Stadler143, und kompensierte offenbar seine Unsicherheit und Verlegenheit mit Kaspern144. Aus der Boheme sei ein Ordnungswahn geworden145 , aus dem Kaspern könnte Ironie geworden sein146. Auch Stifters Essgewohnheiten zeigen Zwanghaftes, womit er sich den Alltag strukturiert. Sah ein (alter) Knab ein Röslein stehn Wie auch immer: All dies heißt nicht zwingend, dass es zwischen Stifter und Juliana zu gewalttätigem oder sexuellem Übergriff gekommen sein muss, wenn auch gieriges Küssen und enges Umschlingen vorstellbar wären. Es muss real dergleichen nichts vorgefallen sein. Der Anblick seiner Ziehtochter könnte ‚nur’ Stifters Phantasie angestachelt haben. Allerdings spricht die Psychoanalyse der Phantasie als innerer Realität dieselbe Wirkung zu wie der äußeren Realität, weil die Phantasie für den Phantasierenden ebenso wirklich und damit erschreckend und pathogen sein kann wie die äußere Realität. Die wegen einer Maus zitternd auf dem Schrank sitzen, beweisen es. Der einzige Unterschied: Die reale Tat ist schrecklich für das Opfer, die in der Phantasie begangene Tat, die kein reales Opfer hat, ist nur schrecklich für den Phantasierenden. Während der Täter meist seiner Tat und dem Opfer gegenüber indifferent bleibt, weil seine Persönlichkeitsstruktur undifferenziert ist, quält sich der Phantasierende, meist strukturierter, mit dem, was ihn gerade von der Tat abhält: das Gewissen /Überich, vor dem er glaubt, sich wegen seiner Phantasie, die er für eine wirkliche Tat hält, verteidigen oder rechtfertigen zu müssen. Kommt der Phantasie zufällig von der Außenwelt etwas entgegen, stirbt der, dem man den Tod gewünscht hat z.B. durch einen Unfall, kann die Phantasie schwerer Schuldgefühle wegen zum Trauma werden und dann gilt, was Stifter an Frau v. Eichendorff schrieb: „Die ersten Nächte brachten keinen Schlummer, und der Tag keine Ruhe. Goethes Worte aus Iphigenia kamen bei uns in Erfüllung: ‚unaufhörliche Betrachtung des Geschehenen’“147. Während Stifter also vielleicht mit glühendem Auge Juliana verschlingt und sich dabei über brennende Lider seine Augenentzündung geholt hat, die ihn beim Schreiben lähmt, dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, was es heißt, ein junges Mädchen als „blühende Rose“ zu bezeichnen. Wir wissen es seit Goethes ‚Sah ein Knab ein Röslein stehn’. Es ist eine Vergewaltigungsphantasie, wie jüngst Reich-Ranicki bescheinigte148. Einen Vergleich der wilden Jana mit Goethes erotisch anziehender Mignon weisen StifterVerehrer entrüstet zurück. Was Nabokov kunstvoll aber unumwunden ausspricht: „Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden“, darüber erfahren wir bei Stifter nichts. Sexualität gehört bei ihm zum Unaussprechlichen. Der ganze $achsommer steure über tausend Seiten auf die in einem Satz abgehandelte Hochzeit zu. Die 140 vgl. Brief an Heckenast v. Juni 1865, z. n. Fricke, 12f Brief an Fanny Fritsch, 18.5.1861 142 Roedl, a.a.O., 14 143 Stadler, a.a.O., 31 144 vgl. Roedl, a.a.O., 40 145 Stadler, a.a.O., 50 146 Berendes, J. (2009): Ironie - Komik - Skepsis. Studien zum Werk Adalbert Stifters. Tübingen: Niemeyer 147 6.5.59 148 FAS., 29.11.09 141 26 Hochzeitsnacht komme aber gar nicht vor, so Stadler149offenbar enttäuscht über die schier endlose Vorlust. Im Waldbrunnen kommt die Sexualität natürlich vor, ich habe die Befruchtungsphantasie gezeigt, nur ist dort das Feuer der Lenden nach oben und nicht zufällig auf Stephans Augen verschoben, denen in der stillen Kammer unterm Kreuz die Tränen „entstürzten“. Das klingt nach einem Orgasmus des Auges, jedenfalls triebhaft, als sei Juliana/Jana Inhalt einer Onaniephantasie gewesen. Horribile dictu! Stifter hatte in seinem Arbeitszimmer das Bild einer Nackten von Peter Johann Nepomuk Geiger (1805-1880) hängen, versteckt hinter einem grünen Seidenschirm150. Die Tücke steckt im Detail. Das weiß die Psychoanalyse und auch Stifter wusste das. Vielleicht hatte er es ‚faustdick hinterm Vorhang’, vielleicht teilte er auch die Auffassung, die Nacktheit der Frau sei weiser als die Lehre der Philosophen. Max Ernst jedenfalls sah das so. Geiger feiert in seinen erotischen Bildern opulente Fleischeslust mit drallen Nymphchen, die an Deutlichkeit nichts zu Wünschen übrig lässt. Das damalige Wien verdankt ihm die „Wiener Auster“, eine Stellung, die in Bordellen und vermutlich auch in anderen Federbetten zur Gefragtesten gehörte. Gott sei Dank, kann man nur sagen, Stifters Auge schweifte gelegentlich noch allzumenschlich über Irdisches. Die Psychohygiene fordert ihren Tribut. Bei soviel Sittlichkeit muss eben hin und wieder ein dralles Ärschlein her. Sah der alte Knabe also ein Röslein stehn und hat es in seiner Phantasie gebrochen? Hatte Stifter seiner Juliana gegenüber eine solche Vergewaltigungsphantasie? Und seufzte diese, wegen ihrer toten Mutter an Liebesdefizit leidend wie ihre fiktive Zwillingsschwester im Waldbrunnen wegen ihres toten Vaters: »Liebster, liebster, liebster Bertl!« und Bertl, ebenfalls am Liebesdefizit leidend: »Liebste, liebste Juliana!« und dann wieder Juliane: »Liebster, liebster Bertl!«. Und kam es darob vielleicht zu jener ‚Sprachverwirrung’ zwischen dem Alten und der Jungen und dann zur „fürchterlichen Wendung der Dinge" (Stifter) mit den Folgen, die Ferenczi151 (1932) und viele nach ihm beschrieben haben? Im Waldbrunnen ist von all dem die Rede, nur habe ich es dort Parentifizierung genannt - auch ein Missbrauch des Kindes. Stadler unterrichtet uns, in den $achsommer sei die Liebe eines Hauslehrers zu seiner Schülerin als unerhörte Begebenheit hineinkomponiert (100). War das Bedürfnis des einsamen, korpulenten alten Mannes nach primary love für die junge Juliana viel zu viel, viel zu bedrückend, für ihre Seele viel zu bedrängend, gar zerstörend? Kreischte sie wie Cöleste „O meine Ahnung“, um sich mit lautem ausschweifendem Schluchzen in die Kissen des Sofas zu werfen, „als müsse ihr das Herz zerstoßen werden“152, und stürzte sie sich darauf vor Scham mit tiefer Röte im Angesicht in die Donau? Suchte sie also, wie ihr Ziehvater später auch, im mütterlichen Fruchtwasser Schutz vor dem Andrängenden, wie sie es mit 11 Jahren versucht hat, als sie davonlief? Mit den Röslein und den Rosen ist das nicht so einfach. Rosenrotes taucht im Waldbrunnen immer wieder auf und Rötliches findet sich in Mein Leben: „ein röthliches Osterlämmlein“. Wenn Stadler von Stifters Vorliebe für die Rose und das Rosenrote salopp eine Verbindung zu dessen Bruder zieht: „Rot ist auch die Farbe des Blutes von einst, als er seinen Bruder aufritzte“, dann setzt er uns noch auf eine andere Spur. Für Stifter scheinen auch Jungs Rosen zu sein: „Gustav (eine Figur aus dem $achsommer) selbst ist eine Rose“ schreibt Stadler153 und – ein Pflegesohn. Stifter könnte in Juliana auch einen Jüngling gesehen haben, um dessen Liebe er bettelte, wie im Der Hagestolz ein kinderloser Greis um die Liebe seines Neffen. Bei Stifter, der 4 Brüder hatte, weiß man nie, wer Objekt seiner erotischen Phantasie war. Er wirkt unentschlossen zwischen den Geschlechtern, eher jedoch fixiert an die Brüder. Zumindest turtelt er in seinem Œuvre gerne im androgynen Bereich. An Heckenast schreibt er: “Wenn ich auch ein Anbeter des schönen Geschlechts bin, so ziehe ich heimlich doch das unsere ein bisschen vor“154. Gern vergleicht Stifter Eigenschaften von Männern mit denen von Frauen. Bei von ihm geschilderten jungen Männern sind die Haare ebenso wallend, die Augen ebenso groß und schwarz wie bei den jungen Frauen. Vor allem schildert er beide ohne Geschlechtsmerkmale. Die Frauen könnten auch Männer, die Männer auch Frauen sein. So z.B. im $achsommer: „Er war ein sehr kraftvoller Knabe […] in seinen Augen, die noch glänzender geworden sind, erscheint mir etwas, das beinahe wie das Schmachten bei einem Mädchen ist. […] Gerade bei sehr kraftvollen Jünglingen, deren Herz von keinem bösen Hauche angeweht worden ist, tritt in gewissen Jahren ein Schmachten ein, das noch holder wirkt als bei heranblühenden Mädchen.“ Und schließlich: „Hugo blieb in der Stadt rein und stark wie eine Jungfrau; denn in dessen Busen ein Gott ist, der wird von den Niedrigkeiten, die die Welt hat, nicht berührt“ (Das alte Siegel). Das könnte ein Pfarrer von der Kanzel predigen. Dass Stifter weibliche Züge hatte, „übermächtige“ sogar155, und zum weiblichen Empfinden tendierte156, ist bekannt. Und er hatte guten Zugang zu seinen weiblichen Anteilen, die auf einer tiefen Identifikation mit seiner 149 Stadler, a.a.O., 93f Oberleitner, H. (1952): Drei ungedruckte Briefe um Adalbert Stifter. In: Oberösterreichische Heimatblätter Jahrgang 6, Heft 2, April-Juni 1952, 264. Online verfügbar unter http://www.ooegeschichte.at/uploads/tx_iafbibliografiedb/hbl1952_2_261-264.pdf, zuletzt geprüft am 16.3.13 151 Ferenczi, S.(1932): Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft. In: Bausteine zur Psychoanalyse, III: Arbeiten aus den Jahren 1908-1933, 511–525 152 Das alte Siegel, zit. n. Vorbach, a.a.O., 143 153 Stadler, a.a.O., 93 154 31.10.1861 155 Roedl, a.a.O., 14 156 Vorbach, a.a.O., 31 150 27 Mutter beruhten, weshalb Berndt157 bei ihrer Interpretation von Mein Leben auf die Idee gekommen sein könnte, Stifter fühle sich penetriert. Der weiblichen Identifizierung wegen lassen sich in seinen weiblichen Figuren Teile von ihm selbst finden. Brigitta (Brigitta) reagiert auf Enttäuschungen genau wie er auf die Enttäuschung mit Fanny reagiert hatte: mit Rückzug. Der Narzissmus macht keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Die den Frauen fehlende Sinnlichkeit lebe in der Beschreibung von Männern auf, hat Stadler beobachtet158. So im $achsommer: „Überhaupt gewann Gustav eine immer größere Neigung zu mir“. Stadler kommentiert: „Umgekehrt wohl auch.“159. Stifter im $achsommer: „Ich weiß nicht, welcher innre Zug von Neigung mich zu dem Jünglinge hinwendete, der in seinem Geiste zuletzt doch nur ein Knabe war [...] es müßte nur das Bild der vollkommensten Güte und Reinheit gewesen sein, das ich täglich mehr an ihm sehen, lieben und verehren lernte.“ Stadler hierzu: „Ich schon. Vielleicht war es auch bloß irdische Liebe. Stifter hat sich, scheint mir, mit Gustav sehr weit vorgewagt. Jetzt kommen die Mädchen, aber mit weniger Empathie, als Sammelposten sozusagen.“ Es gebe im $achsommer mindestens drei Liebesgeschichten, u.a. „diese hier von Stifter am allerzartesten gezeichnete, fast wie seine Wolkenstudien angedeutete: vom Ich-Erzähler und Gustav […] Es ist sozusagen eine Liebe wie in Arabien oder in den südlichen Ländern, vor der Hochzeitsnacht. Die Geschichte mit Gustav ist auch eine Liebesgeschichte, so zart und einfach wie die andere auch.“. Das Homoerotische schützt möglicherweise vor der Angst vor der Frau. Anstatt jedoch die Sexualität zu thematisieren, spreche Stifter von „als Tüchtigkeit kaschierter Körperlichkeit“ oder „verlogener Flucht in die Gesundheit“. Stadler interpretiert, Gustav aus dem $achsommer fungiere „als Puffer zwischen dem Ich-Erzähler und seine fernen, nahem Geliebten“160. Vorbach berichtet, Stifter sei als Künstler und Mensch „ungemein“ bei den Frauen beliebt gewesen und sei von ihnen verehrt worden, habe sich ihnen jedoch nur durch geistige, künstlerische, gesellschaftliche Beziehungen verbunden gefühlt. Sein „wunderbares Verstehen und die Hochschätzung der Frau“ habe sich eindeutig außerhalb jeder Erotik bewegt161. Stifter floh vor den Frauen in die Prosa und holte sich dort die benötigte narzisstische Zufuhr. Bruder Anton schreibt er: „Ich mache mir das Vergnügen, Dir die ersten zwei Bände meiner Studien zu freundschaftlichem, brüderlichem Angedenken zu schenken. Wenn ich vor Dir sterbe, so lese noch manchmal in diesen Zeilen und denke, daß es mein ganzes Herz ist und alle meine Gesinnungen, was in dem Buche niedergelegt ist. Du wirst im Heidedorf schöne elterliche und kindliche Gefühle finden. […] Es ist ein Mann, der aus Liebe zur Dichtkunst die Liebe seiner Braut opferte und in dem glücklich war, was ihm Gott verliehen, und in dem, daß er bei den Eltern ist“162. Der Mann im Heidedorf ist Stifter. Er hat Fanny gegen die Dichtung wie später gegen Enten und Forellen eingetauscht. Stifter ging in die Prosa und konstruierte dort Frauen, um sich von den realen Frauen, z.B. Fanny unabhängig fühlen zu können. Man hat ihm Flucht in die Idylle vorgeworfen. Ich denke, es war mehr. Wenn er seine Welt in eine bessere, ihm gefälligere Ordnung versetzen wollte, dann war diese Ordnung von regressivutopischer Natur: Er flüchtet in die Liebe zu den Eltern, genauer: zur Mutter oder zu deren Repräsentantin, der Natur. Selbst wortreich, hat er seine fiktiven Frauen zum Mutismus verdonnert: „Von den wunderschönen Gedichtchen, welche Juliana soll machen können, stand auch jetzt keines bei ihrem Namen im Einschreibbuche“ (Der Waldbrunnen). In der Welt der Frauen soll - wie im Mutterleib auch - über allen Gipfeln Ruh sein. Nur Stifter plaudert und die Frauen hören zu. So konstruiert man sich einen „sozialen Uterus“ (Battegay). Fragliche ‚Indizienlage’ Gehen wir angesichts der „Indizienlage“ davon aus, Stifter habe seine Juliana einzig mit Blicken verzehrt und nicht als „Wiener Auster“ vernascht. Bleibt die Frage, wie sich Amalia angesichts des Schmachtens ihres Gatten gefühlt haben mag. Aus der Figur der Großmutter im Waldbrunnen lässt sich erschließen, Amalia könnte auf ihre üppige Rosen-Nichte eifersüchtig gewesen sein. Vielleicht kam es zu heftigem, gegenseitig entwertendem Gefrozzel, immerhin entstammten beide einem Milieu, in dem es derb zugegangen sein dürfte. Dies wäre ein Prädiktor für einen verbal abuse. In Auseinandersetzungen, Vorhaltungen und Anklagen gegen Juliana könnte sich Amalias Stimmung verdüstert haben. Vielleicht so: „Die Großmutter saß auf einem Schemel und hatte das hie und da zerrissene Kleid um sich ausgebreitet, sie schaute auf den Vorgang, und um ihre Lippen war ein Lächeln, das man nicht verstehen konnte, wie wenn etwa ein einziger Sonnenstrahl auf einen rauhen, dürren Fels trifft und auf ihm einen düsteren Lichtschein hervorbringt“ (Der Waldbrunnen). So wie Stephans Hinwendung zu Jana der Alten die Stimmung verhagelt hat, könnte es um Amaliens Stimmung bestellt gewesen sein. Das zerrissene Kleid wäre Symbol ihres Verletzt- und Gekränktseins. Die libidinösen und narzisstischen Hoffnungen, die Stifter in Juliana gesetzt hatte, mussten ihm Schuldgefühle seiner Frau gegenüber machen. Im Brief thematisiert er ausschließlich Schuldgefühle seinem Verleger gegenüber, im Waldbrunnen jedoch artikuliert der Ich-Erzähler zu Beginn sein schlechtes Gewissen seiner Frau 157 Berndt, a.a.O. Stadler, a.a.O.,101 159 ibid., 99 160 ibid., 98ff 161 Vorbach, a.a.O., 30 162 Brief an Anton Stifter, 22.9.1844 158 28 gegenüber. Bereits in die Jahre gekommen, schwärmt er ihr dort von weiblichen Wesen vor, von denen er glaubte, sie seien das Schönste, was es auf Erden gibt. So von einem Zigeunermädchen mit gelbbrauner Hautfarbe wie ältliches Erz, gehüllt in rötlichbraunes, ausgebleichtes dünnes Zeug, dass man alle Gestaltungen des Körpers verfolgen konnte. Die Arme hingen von den Achseln an nackt herab. Seine Nase war gerade, die Lippen kräftig, die Augen sehr groß und schwarz wie die Haare. Geredet habe sie kein Wort. Wir sehen Ziehtochter Juliana vor uns, mehr aber noch die mutistische Wilde, die auch, streckte sie sich, dunkle, wie aus Erz gegossene Arme und einen Leib, schlank wie eine „Waldschlange“ mit dunklen Wangen, zeigte. Die zweite „schönste“ (?) Menschengestalt, von der der Erzähler schwärmt, war eine Frau in schwarzem Gewand mit großen schwarzen Augen, reichem schwarzen Haar, weißen Zähnen und einer Gestalt, für die „nichts da [war], womit man sie hätte vergleichen können.“ Die Farbe ihres Angesichtes sei ungewöhnlich dunkel, dunkler, als sich mit Schönheit vertrage; „aber gerade, weil in das Rosenrot ihrer Wangen ein wenig Bräunlichschwarz gemischt war, glich die feine Wölbung dieser Wange so sehr der zarten Führung des schönsten uralten Standbildes“ (Der Waldbrunnen). Wir hören den Maler. Nach Vorbach finden wir hier überdies eine Stileigentümlichkeit, die Stifter vorwiegend für die Frau in Anspruch nehme: „Den malerisch-plastischen Gebärdestil“. Auf Auge und Geste der Hand lege er den größten Wert, die auf die plastische Ruhe und Statik ihres Charakters, auf die schlichte Gebärde als ihre Sprache, auf die selbstgesetzliche Welt der Frau verweisen, die zu tief und zu reich sei, um sich in Worte fassen zu lassen. Die Frau ist „schöne attische Muse“, „antike Priesterin“, „antikes Modell“163, Ikone eben. Diese zweite „Schönste“ ist unsere Wilde, jetzt im Alter von 24, verheiratet mit Enkel Franz. Die Verwirrung im Superlativ ist nur scheinbar, denn wir haben es mit ein und derselben Person zu tun. Dennoch dürfte sie auch Stifters Idealisierung der Frau geschuldet sein, denn es gibt noch eine dritte „Schönste“: Muhme Louise Stifter (seine Nichte, T.E.): „ […] eine Photographie, die sie im zwanzigsten Jahre ihres Alters darstellt, zeigt ein so edles, schönes und herrliches Mädchen, wie ich nie (kursiv Original) gesehen habe.“164. Stifter dürfte von der Schönheit der Frauen so verwirrt gewesen sein, dass er in die Asexualität „zurückprallte“ und den Frauen den Sexappeal absprechen musste. Wer Stifters Lebensgeschichte kennt, weiß, es gab nur eine Schönste: Franziska Geipl (Fanny). „Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß die Erstlinge solcher guter und reiner Gefühle, […], nie aus dem Herzen ganz verschwinden“, schreibt der Sechzigjährige in einem Brief. Juliana/Jana dürften das Erbe von Fanny angetreten haben. „Stifter lässt in jeder Dichtung die äußere Hauptwirkung seiner Frauen von ihren dunklen Augen ausgehen, welche noch in der letzten Fassung der Mappe symbolisch aufleuchten165. Fanny hatte dunkle Augen! Wird Deborahs Körperschönes in Abdias wegen das Fehlens innerer Schönheit noch als Unzulänglichkeit empfunden, dass sie nicht nur der Frau, sondern auch dem Mann, der solche Schönheit als Motiv seiner Ehe wählt, „zu schwerer Schuld gereicht“166, so fällt auf, dass Stifter in der späten Erzählung Der Waldbrunnen nur noch die marmorne Schönheit der Frauen, also ihren Körper in den Vordergrund stellt, als wäre seine Wahrnehmung nun wieder ganz auf den Körpermodus eingestellt. Da überzeugt nicht, wenn der Ich-Erzähler seine Gattin als ‚die Schönste an Seele’ dagegenstellt, am wenigsten diese selbst. Nachdem er ihr von den vielen jungen Schönsten erzählt hatte, merkte seine Gattin an, er hätte wirklich Unglück, seine Götterbilder nur unter den Frauen zu finden, deren Farbe an die des Glockenmetalles erinnere, „wenn es nicht mehr ganz neu sei.“ Damit hat die Gattin die Konkurrentinnen zum alten Eisen gemacht. Der Erzähler beeilt sich: „»Und doch habe ich das rosigste Mädchen mit der feinsten Farbe geehlicht, […[ das Mädchen, welches ich damals für das schönste in Wien erklärte.« »Aber so schön doch nicht wie die Zigeunerin und wie die andere, welche vielleicht von Zigeunern abstammt?«“ konterte unwirsch seine Gattin, des Schleimens überdrüssig. „»Höre mich, mein holdes Kind«“, antwortete ich, „»In dem Baue der Glieder, denke ich, bist du nicht so schön wie das Zigeunermädchen und die schwarze Frau; aber sonst bist du weit schöner, und mir bist du die schönste und reizendste auf der Welt.«“ Soviel Schleim zwingt die Gattin nun hartnäckig das Gespräch auf den Punkt zu bringen: „»Und wie alt waren denn deine Schönheitsgrößen, als du sie erblicktest?« »Daran habe ich wirklich nicht gedacht«“, empörte sich der Gatte, um sich gleich zu decouvrieren: So weit er sich erinnere, war die schwarze Frau zweiundzwanzig oder vierundzwanzig, das Zigeunermädchen ungefähr siebenzehn. Gesprochen habe er mit dem Mädchen nicht, nur die Gestalt angeschaut, sich um ihr Wesen nicht gekümmert, „»denn an Seele gibt es nichts Schöneres als dich, und da suche ich nicht weiter herum.« »Nun, so sei dir, wenn es so ist, verziehen,« erwiderte seine Gattin, »daß du unter Zigeunern und Malaien schönere Gestalten findest, als deine Frau ist.« Und ein recht freundlicher Kuß, um den ich bat, bekräftigte die Verzeihung.“ Da trieft einer vor schlechtem Gewissen. Gleichwohl: die Absolution will nicht gelingen. Ein „recht freundlicher“ Kuss ist eben nur ein halbherziger Kuss. Kein Wunder, denn das Ganze ist ein Affront gegen Amalia. Stifter erzählt ihr von den schönsten Frauen und zu allem Überfluss liest er ihr auch noch „alle Briefe von Damen“ vor. Amalia sei „die geheimste Vertraute meiner Liebeskorrespondenzen“, schreibt er an Antonie 163 Vorbach, a.a.O., 144ff Brief an Heckenast, 22.12.1856 165 Vorbach, a.a.O., 78 166 ibid., 124 164 29 Arneth167. Ob Frau Arneth über Amaliens Mitlesen ihrer Briefe erfreut war, sei dahingestellt. Kurzum: Stifter sucht bei seiner Frau Entlastung von Schuld, als habe sie ihn beim ‚Geiger schauen’, dem Porno der Wiener, erwischt. Zu Schuldgefühlen hatte Stifter allen Grund, denn Amalia war von Anfang an nur Ersatz für Fanny. Amalia fungiert vielmehr ebenso als externes Überich wie sein Verleger, bei dem er um Vergebung wegen seiner Augenerkrankung sucht. Wie Ödipus an seiner Mutter war Stifter an Juliana ‚erblindet’, d.h. er ‚konnte nicht mehr’ (arbeiten). Die Kastration ist hier „augen“-fällig. Das Peinliche und der Versuch der Wiedergutmachung Julianas Suizid war eine narzisstische Katastrophe für den gottesfürchtigen Pädagogen. Man kann getrost von einem narzißtischen Trauma sprechen. Stifter empfand Juliana gegenüber keine Schuldgefühle. Das wäre in objektgerichtetes Gefühl gewesen. Nein, er reagiert selbstbezogen mit Angst um seinen Ruf. Sein Ichideal war in Gefahr, gestürzt zu werden. War Juliana ein Selbstobjekt, für das er sich schämen musste? Aufgrund des bisher Erörterten wäre das möglich. Stifter war weiblich identifiziert, die Wilde vertrat den triebhaften, leidenschaftlichen Anteil seiner Persönlichkeit und sie war sein pädagogisches Objekt. Ihr Scheitern ist sein Scheitern. Insofern würde er sich für einen Anteil seiner Person schämen. Mit seiner Erzählung Der Waldbrunnen versucht er, die empfundene Peinlichkeit und die Angst vor Rufgefährdung wettzumachen. Zur Ehrenrettung schreibt er sich in die Position des potenten Pädagogen. Wenn Stifter den Protagonisten des Waldbrunnen ‚Stephan von Heilkun’ nennt, so könnte man auch ‚Stephan der Heilkun(dige)’ lesen. Fühlt er sich im Brief noch geschockt der Peinlichkeit ausgeliefert, so betreibt er mit seiner Erzählung eine „Ästhetisierung des Peinlichen“ (Pontzen). Das Peinliche, die narzisstische Dramatik also, die in der Erzählung virulent ist, ist samt ihrer ehrenrettenden Funktion ohne biographischen Hintergrund nicht zu verstehen. Ohne ihn wäre die Erzählung nichtssagend, nur für Pädagogen vielleicht von Interesse. Vor dem biographischen Hintergrund hingegen erkennt man Stifters Motiv. Hier soll ein Trauma zum Triumph umgearbeitet, die realen Verhältnisse korrigiert und in eine gefälligere Ordnung gebracht werden. Der Held muss unverletzbar bleiben, ein Merkmal, an dem man „ohne Mühe – Seine Majestät das Ich, den Helden aller Tagträume wie aller Romane“ erkenne, so Freud168. Bereits die Figur des Großvaters ist gefälliger als die Wirklichkeit, da Stifter mangels eigener Kinder nie Großvater werden konnte (von unehelichen Kindern ist nichts bekannt). Vor allem ist die Figur der Entwurf seines idealisierten Spiegelbildes, seines pädagogischen Ichideals. Ein Zeitzeuge berichtet, Stifter sei mit seinem Ideal verschmolzen, sei „identisch“ mit seinen Büchern, er lebe und spreche, „als wäre er nichts als eine Novelle, die er selber geschrieben“169. Strukturtheoretisch gesehen ist sein Ich mit seinem Ideal eins geworden, klinisch gesehen führt das in die Manie. Was sich Stifter in seiner Ehe gewünscht haben wird, können wir ahnen: Im Waldgänger bleibt die Ehe von Corona und Georg kinderlos, was die Ehe zunehmend trübt. Corona veranlasst ihren Mann zur Trennung, damit dieser sich anderweitig seinen Wunsch nach Kindern erfüllen kann. Amalia jedoch war nicht Corona. Aber Stifters unbewusster Wunsch, Amalia möge sterbe, füllt sich mit Sinn. Die Kluft zu schließen zwischen dem, was ist und dem, was sein sollte, erhoffte sich Stifter mit seinem poetischen Werk. Nur der Unbefriedigte phantasiere, sagt Freud170. Oder - eine holländische Version - auch schön: Poesie sei der „Gesang einer Entbehrung“ (van der Meer de Walcheren), griffig auch Musil, der meinte, um zur Kunst zu finden müsse man sich erst mehrfach die Seele gebrochen haben. Goethe habe ich erwähnt. Despektierlicher Stadler, der Stifter durchgehend als „Schönschreiber“ versteht. Aber - muss man sich immer wieder seine Traumata vorspielen und sich darüber ständig retraumatisieren? Darf man keine Auswege suchen? Warum haben die unglücklichen Hellenen schöne Skulpturen gemacht? Der Mythologie zufolge dient das Schöne der Entschädigung für eine unglückliche Herkunft171. Stifter kam für damalige Verhältnisse mit einem Makel auf die Welt: er war unehelich gezeugt. Dieser Makel wird zum Signifikanten, der sein ganzes Leben bestimmt. So wie er der Ehe seiner Eltern voraus war, war er später der Pädagogik seiner Zeit voraus. Dann verliert er seinen Vater, bekommt Fanny nicht, hat keine Kinder, kommt zu keinem Wohlstand, seine Pädagogik geht mit Juliana in der Donau ‚baden’. All dies macht die Flucht ins Ideal verständlich. Als er schließlich mit dem $achsommer seine narzisstische Wunde imaginär nicht heilen konnte, weil ihn Hebbel aus dem Dichterolymp stößt, eine Wunde, die zu heftig blutete, und sein Witiko auch nicht den erhofften Erfolg brachte, stürzte er aus dem Himmel der Idealität in die schnöde Realität, erkannte wohl die Unmöglichkeit, die ‚Kastration’ ungeschehen zu machen und brachte sich um. Dem Signifikanten des unehelich Gezeugtseins füge ich jetzt den von der Mutter artikulierten Signifikanten: „geistlicher Herr“ zu werden hinzu. Letztendlich dürfte es die solchen Signifikanten eigene Wirkmächtigkeit gewesen sein, die Stifter unbewusst veranlasst hat, sowohl die Liebschaft mit Fanny zu zerstören als auch an Juliana den Auftrag ergehen zu lassen, sich zu töten. Des „Zölibats“ wegen durfte Stifter weder eine Geliebte 167 am 22.1.1853 Freud, S. 1908e, 220 169 Heinrich Landesmann, zit. n. Roedl, a.a.O., 78 170 Freud, S. 1908e, 216 171 vgl. Menninghaus, a.a.O. 168 30 noch ein Kind haben, also auch keine (Zieh-)Tochter, zumal eine solche zwangsläufig unehelich ist. Amalia, zwar sexuell aktiv, war nur ‚Haushälterin’. 140 Jahre später Wahrscheinlich wollte Stifter die Dinge seiner Welt nicht nur in eine gefälligere Ordnung, sondern schlicht in Ordnung bringen. Es ist, als müsse er alle Objekte einschließlich seines eigenen Selbst vor dem „tigerartigen“ in ihm retten: Den Bruder, die Katze, den Vater, Fanny. Alle sollen „Glück haben“ und in der Idylle leben. So auch Juliana. Was er mit ihr in der Erzählung macht, ist ein Wiedergutmachen an dem nur 18 Jahre alt gewordenen Mädchen. Er will ihr eine Zukunft geben, indem er das Leben skizziert, das er ihr gewünscht hätte, wäre sie erwachsen geworden. Gleichwohl wollte Stifter mit dem Text nicht nur das Kind retten, sondern auch seinen eigenen Narzismus. Sagen wir, er hat sich mit seiner Erzählung Der Waldbrunnen die pädagogische Hose wieder hoch gezogen, um nicht beschämt dazustehen. Da passiert etwas Merkwürdiges. 140 Jahre später, an seinem 200. Geburtstag holt, sozusagen als Geburtstagspräsent, das Feuilleton das Peinliche wieder hervor und verweigert dem Autor den Versuch der Ehrenrettung: „Was in der Literatur gelang, das harmonische Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, glückte dem Dichter, der als Hauslehrer, Schulrat und Inspektor der oberösterreichischen Volksschulen arbeitete […], nur selten. Und das Scheitern eines dieser Erziehungsversuche mündet in eine Katastrophe“172. Es war die Katastrophe mit Juliana. „Denn Stifters literarische Umdeutung von traumatischen Erfahrungen ist notorisch, die Vergeblichkeit dieser Bemühungen aber teilt sich auf jeder Buchseite mit: All diesen Refugien, die sich der Autor im Lauf der Jahre ersinnt, auf deren Beschreibung er große Sorgfalt verwendet und deren sinnreiche Einrichtung ihm viele Seiten oder gar Kapitel wert ist - all diesen eingezäunten Idyllen fernab der Städte, allen pädagogischen Projekten wohnt etwas so offensichtlich Zwanghaftes inne, daß sie schon deshalb unterschwellig durch die Außenwelt bedroht wirken.“173. Zu dieser bedrohenden Außenwelt gehört der Artikel in der F.A.Z. Bezog sich Spreckelsens Verdikt zuvor noch auf das Vorgehen in der Erzählung, so stehen jetzt der Affekt, das Peinliche, die Scham, der Zwang und das Vergebliche im Vordergrund. Was hier passiert, erinnert an den hysterischen Anfall. Diesen mache undurchsichtig, dass die Hysterikerin „die Tätigkeiten beider in der Phantasie auftretenden Personen auszuführen unternimmt“, so Freud. So könne die Kranke mit der einen Hand (als Mann) das Kleid herunterreißen, während sie es mit der anderen (als Weib) an den Leib presst174. Was die Hysterie als Monoperformance agiert, findet hier als Szene im Duo zwischen Autor und Rezipient statt. Der eine zieht sich mit seiner Erzählung die Hose hoch, um dem Peinlichen zu entkommen, der andere zieht sie ihm mit seinem Verdikt runter. Der eine will seine Ehre als Pädagoge retten, der andere entehrt ihn mit dem Vorwurf des Zwanghaften und Vergeblichen: eine hysterische Pantomime, verlagert in den Bereich des Narzissmus. Drama und Trauma von 1859 wiederholen sich transepochal 140 Jahre später, als habe die Zeit keine Beruhigung gebracht. Exakt dies ist Merkmal traumatischen Wiedererlebens. Das Trauma kennt kein Gefühl für Raum und Zeit, weswegen es kein Verfallsdatum für sein Erleben gibt. Könnte Stifter den Artikel lesen, es wäre ein flashback für ihn und er würde vermutlich vor Scham im Erdboden versinken. Dass eine Erzählung von 1866, hier Der Waldbrunnen 140 Jahre später ein solch heftige Rezipientenhaltung hervorzurufen vermag, dass sich in ihr ein Trauma, erlebt mit einem jungen Mädchen, das den Tod in der Donau fand, 140 Jahre später noch so wirkungsvoll durchzusetzen vermag, macht ihren Reiz aus. Sie zeigt beeindruckend, wie Poesie von Biographie imprägniert ist, wie und dass ein Trauma zur Wiederholung tendiert und wie die Literatur von einer traumatischen Vorgeschichte heimgesucht werden kann. Sie zeigt auch: Freuds Votum, der Dichter versetze seine Welt in eine bessere Ordnung, kann man dahingehend ergänzen, dass das Verbesserte Rückschlüsse auf den ihm zugrundeliegenden Mangel erlaubt. „Wie einer denkt, daran kann man sehen, was ihm fehlt“ (Goethe). Die Erzählung imponiert als Vorgriff auf die psychoanalytische Heilpädagogik, ist sonst eher lahm. Sie ist zur Traumabewältigung für den Autor wichtig, reißt jedoch mit ihrem gottgefälligen Happy End nicht vom Hocker. Vielleicht hätte Darwin seine Freude daran gehabt. Er wollte nicht eine Person über hunderte Seiten liebgewonnen haben, um sie am Ende sterben zu sehen und schlug deshalb vor, „ein Gesetz gegen unglücklich endende Romane zu erlassen“175. Aber keine Frage: Der Waldbrunnen zeigt beeindruckend, dass Fiktion und Biographie nicht zu trennen sind, denn der Inhalt der Erzählung kann nicht Anlass für die harsche Rezeption gewesen sein, sondern was sich über den Text an Unbewusstem dem Leser mitteilt und ihn zur Rollenübernahme zwingt. Berücksichtigt man die Biographie, empört sich der Leser darüber, wie schamlos Stifter hier „schönschreibt“ (Stadler), eine Empörung, die u.a. Spreckelsen artikuliert. Wenn Stifter anlässlich des Todes seiner Ziehtochter fürchtete, man könnte „Steine auf uns werfen“, denke ich, er hat aus einem unbewussten Geständniszwang heraus im Waldbrunnen wirkmächtig inszeniert, dass seine Leser genau dieses tun - noch 140 172 Spreckelsen, a.a.O. ibid. 174 Freud, S.1909a, 236 175 F.A.Z., 11.2.04 173 31 Jahre später. Davor kann ihn Verleger Heckenast nicht mehr schützen. Diese Rollenübernahme ist Spreckelsen keineswegs anzulasten. Die Leserlenkung erzwingt sie - wenn man sich darauf einlässt. Im Gegenteil: In seiner Widmung Stifters ansonsten kritisch-wohlwollend erschließt Spreckelsen uns erst über diese Rollenübernahme die ganze Brisanz der Erzählung und der Ereignisse um sie herum. Während die beiden nun mit ‚Hose rauf, Hose runter’ beschäftigt sind, verabschiede ich mich …. E$DE © Thomas Ettl Juni 2014 32