Adalbert Stifter - Juliana Mohaupt

Transcrição

Adalbert Stifter - Juliana Mohaupt
Thomas Ettl
Die Juliana und der Stifter-Bertl
Adalbert Stifter als Heilpädagoge und tigerartiger Ziehvater mit Spinnwebe auf dem Kopf
„.. ich habe eine Art Leidenschaft dafür gefaßt,
so daß man mich von den Papieren wegjagen muss,
damit mir nicht Spinnweben auf dem Kopfe wachsen“ (Stifter)
Im Jahr 2005
So, das mit den Spinnweben ist geklärt. Das andere dauert etwas länger. Beim Sichten alter Zeitungen stieß ich
auf einen Artikel von Tilman Spreckelsen in der F.A.Z. über Adalbert Stifter anlässlich seines 200. Geburtstags,
der meine Neugier weckte. Spreckelsen schreibt: „Was in der Literatur gelang, das harmonische Verhältnis
zwischen Lehrer und Schüler, glückte dem Dichter, der als Hauslehrer, Schulrat und Inspektor der
oberösterreichischen Volksschulen arbeitete […] nur selten.“ Einer seiner Erziehungsversuche sei in eine
Katastrophe gemündet: „Als die sechsjährige Juliana Mohaupt 1847 zu Adalbert und Amalie Stifter, ihren neuen
Pflegeeltern, gebracht wird, macht sie ihnen auf der Fahrt ‚bereitz schon viel Kummer’. Das Kind, Amaliens
Nichte, läuft fünf Jahre später davon und wird in einem Gasthof aufgegriffen, wo sie als Dienstmädchen arbeiten
wollte, um nicht mehr zur prügelnden Tante zurück zu müssen. Als Achtzehnjährige flieht sie erneut und
hinterläßt einen lapidaren Brief - »ich gehe zu der Mutter in den großen Dienst» -; vier Wochen später wird ihre
Leiche am Donauufer gefunden. Unheimlich ist, was ihr Pflegevater aus diesem Erlebnis macht. Sechs Jahre
nach Julianas Tod entsteht die Erzählung Waldbrunnen, in der ein widerborstiges Mädchen namens Juliana
durch das langwierige Bemühen eines freundlichen älteren Herrn der menschlichen Gemeinschaft zugeführt wird
[…] Diese Juliana wird ganz gewiß niemals ins Wasser gehen. Man muß die biographischen Hintergründe gar
nicht kennen, um sich vom Waldbrunnen arg befremdet zu fühlen“1.
Die Erzählung Der Waldbrunnen hat Stifter 1866 im Alter von 61 Jahren und 7 Jahre nach dem Fund der Leiche
Julianas niedergeschrieben. Wie ein Ereignis so unmittelbar Einfluss auf eine literarische Produktion nehmen
und diese noch nach 140 Jahren als fiktives Geschehen eine so harsche, empörte Rezeptionshaltung
hervorzurufen vermag, interessierte mich. Oder sollte es sich um bad news are good news handeln?
Irritiert darüber, dass Spreckelsen auf biographische Hintergründe verweist, um sie sodann gleich wieder zu
negieren, vertiefte ich mich ins Œuvre und die Person Stifters, worüber sich die Dinge allmählich sortierten.
Zunächst erinnerte ich mich an Freuds Arbeit Der Dichter und das Phantasieren, in welcher er die Literatur als
eine Art Planspiel-Territorium beschreibt. Der Dichter, so Freud, tue dasselbe wie das spielende Kind, das sich
die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefälligere Ordnung versetze. Er erschaffe eine Phantasiewelt, die er
sehr ernst nehme, d.h. mit großen Affektbeträgen ausstatte, während er sie von der Wirklichkeit scharf sondere2.
Um einschätzen zu können, welches die Dinge seiner Welt sind, die er in eine gefälligere Ordnung versetzen
will, bedarf es als Referenz der Information über des Dichters Lebenswirklichkeit, u.a. über dessen Erleben
seiner Biographie, also seiner Erlebnisgeschichte.
Nun war Stifter zweifellos ein Autor, der die Dinge seiner Welt in eine ihm gefälligere Ordnung versetzen
wollte. Dass sein Œuvre eng mit seiner Lebensgeschichte verquickt ist, betont die Stifter- Forschung immer
wieder. Bei Stifter seien „Leben und Dichtung in ihrer tiefen Übereinstimmung wie in ihrer geheimen,
dramatischen, ja tragischen Spannung unablösbar aufeinander bezogen, und das eine ist nur aus dem anderen
ganz zu verstehen“3. Mehr noch: Stifters Briefe „wurden […] gleichsam das letzte große Werk, das er uns
hinterlassen hat; erst sie erschließen uns sein Leben und sein Dichten ganz von innen“4. Die Forschung kann sich
auf Stifter berufen, da dieser in Briefen immer wieder betont, er wolle den Menschen nicht von dem getrennt
wissen, was er schuf. An seinen Verleger Heckenast schreibt er: „Ich möchte etwas in deine Hände nieder legen,
von dem es mir leid thäte, wenn es nach meinem Tode zersplittert oder verschleudert oder etwa gar ungeschikt
veröffentlicht würde, nehmlich meine Briefe […] Da ich nun einmal in die Öffentlichkeit gerathen bin, und da es
jezt eine schöne Sitte wird, die, denen man in ihren Werken etwas gut geworden ist, auch in ihrem Leben näher
kennen lernen zu wollen, so ist es wohl keine Voraussetzung von großer Unbescheidenheit, wenn ich vermuthe,
daß es jemanden nach meinem Tode beikommen könnte, Briefe von mir druken zu lassen. […] Ich habe nicht im
1
Spreckelsen, T. (2005): Damals hinterm Mond. Stifter braucht seine Zeit, unsere Zeit braucht Stifter. In: F.A.Z., 22.10.2005
Freud, S. (1908e): Der Dichter und das Phantasieren. G.W., 7, S. 213–231, 213f.
3
Fricke, G. (Hg.) (1949): Adalbert Stifter Briefe. Nürnberg: Verlag Hans Carl, 16
4
ibid., 16f
2
1
Sinne, meine Fehler zu verheimlichen, sie liegen in meinen Werken, werden noch klarer in meinen Briefen und
am klarsten in der Geschichte meines Lebens liegen, wenn eine solche der Mühe werth sein sollte.“5.
Das ist eine Einladung zur exopoetischen Interpretation. Eine rein werkimmanente und mithin den Autor
vernachlässigende Interpretation, sei’s aus Angst, sich um den ästhetischen Genuss zu bringen, sei’s aus Neid
über dessen Kreativität, sei’s aus Berührungsscheu, ist bei Stifter kaum möglich. Das war 120 Jahre später
keineswegs selbstverständlich. Kuhn erinnert an einen von W.G. Sebald Mitte der 80er Jahre verfassten Essays
über Stifter, in dem dieser sich über das damals in der Literaturwissenschaft streng verpönte Verdikt einer
biografisch fundierten oder auch nur flankierten Analyse von Literatur hinwegsetzen musste, weil es schlichte
Tatsache sei, dass es literarische Werke gibt, bei denen eine ‚textpuristische’, Biografisches ausschließende
Analyse in hohem Maß inadäquat wäre“6 . Ein solches Verdikt gab es auch in der psychoanalytischen
Literaturinterpretation, um die Gefahr des Pathographierens zu vermeiden. Aber so wie das Erkenntnisinteresse
des Wissenschaftlers sich auf lebensgeschichtliche Vorgaben stützt und die Wahl seines Gegenstandes bestimmt,
so bestimmt die erlebte Biographie Inhalt und Form literarischer Interessen beim Autor wie beim Rezipienten. In
welchem Anteilsverhältnissen dies geschieht, lässt sich, auch wenn das der nomothetischen Wissenschaft contre
coeur geht, nicht prozentual bestimmen. Über all dies gewinnt die These an Plausibilität, auf die Erzählung Der
Waldbrunnen könnte ein Trauma direkten Einfluss genommen haben. Freilich ist die Literarisierung eines
Traumas nichts Ungewöhnliches, aber ist sie „unheimlich“, wie Spreckelsen meint?
Literarische Umdeutung einer traumatischen Erfahrung
Ich werde jetzt die Erzählung parallel zur (Er-)Lebensgeschichte Stifters lesen. Schauen wir uns zunächst die
„Katastrophe“ an, die dem Waldbrunnen zugrunde liegen soll, um zu prüfen, um welche Art poetisch
verarbeiteter Erlebnisse es sich handelt. Liegt ein Schock, ein Trauma vor, wurde vielleicht ein unbewusster
Wunsch Realität, was traumatisch wirken kann, oder haben wir es mit einem Konflikt zu tun? Faktisch geht es
um einen Todesfall, einen Suizid. Der kann für Angehörigen eine Katastrophe sein, muss aber nicht unbedingt
traumatisch sein.
Stifter war seit 10 Jahren mit Amalia Mohaupt verheiratet. Das Paar blieb kinderlos, was Stifter in Briefen
immer wieder beklagte. 1847 nahm das Paar schließlich die sechsjährige Nichte seiner Frau, Juliana Mohaupt,
als Ziehtochter zu sich. Juliana kam aus Ungarn, ihre Mutter war verstorben. Im Jahr zuvor war Stifters Mutter
verstorben. Ob Juliana wie eine Magd gehalten und von ihrer Tante geschlagen wurde, ist nicht gewiss. Stadler
meint, es handle sich um ein Gerücht7. Immerhin: Juliana läuft fünf Jahre später davon und wird in einem
Gasthof aufgegriffen, wo sie als Dienstmädchen arbeiten wollte. Achtzehnjährig flieht sie erneut und wird vier
Wochen später tot am Ufer der Donau aufgefunden. Kurz zuvor, im gleichen Jahr ist ihre Schwester Josefa an
Typhus verstorben.
Es gibt einen Brief Stifters an Verleger Heckenast, in dem er einen Tag nach dem Leichenfund Stellung zu dem
bezieht, was sich ereignete: „Am 21. März entfernte sich Juliana Mohaupt, meine Ziehtochter, heimlich von
unserm Hause um sechsdreiviertel Uhr morgens, ohne einem uns bekannten Grunde; alle Nachforschungen
blieben bis gestern vergeblich. Gestern erhielten wir die amtliche Nachricht, daß ein weiblicher Leichnam bei
Gusen oberhalb Mauthausen von der Donau ausgeworfen worden war. Die Beschreibung des Körpers sowie die
der Kleider paßt ganz genau auf Juliana. Unsern Zustand kann ich Ihnen nicht schildern, vielleicht kann ich es
später. Jetzt kann ich Ihnen nur die Tatsache anzeigen. Sie ist achtzehn Jahre alt geworden und hat allen Anzeichen nach ihren Tod selber gesucht. Für uns ist der Grund noch ein Geheimnis. Daß ich bei solchen Umständen
nicht arbeiten (dichten) konnte, ist klar. Josefinens Krankheit schon störte mich ungemein; aber im Winter hätte
ich ohne dieser langwierigen Augenentzündung (sie ist die sogenannte militärische oder ägyptische
Augenentzündung, und Ärzte können Ihnen sagen, wie hartnäckig dieses Übel ist) doch noch alles zustande
gebracht. Allein meine Krankheit und das jetzige entsetzliche Unglück machen eine Pause notwendig. Ich
beklage es tief, daß ich Ihnen, der so lieb und gut gegen uns ist, nicht Wort halten kann, ich hätte es diesmal um
jeden Preis eingehalten — aber es war unmöglich. […] An der Welt im Großen habe ich Ekel. Die Natur und
einzelne Menschen sind noch Freude für mich. Sie, teurer Freund, waren stets so lieb und freundschaftlich gegen
uns; bleiben Sie es, wir bedürfen es jetzt mehr als je, da die Welt vielleicht wird Steine auf uns werfen, wie sie es
geneigt ist, wenn jemand ein fremdes Kind bei sich hat, und dasselbe so tut, wie unsere Juliana. Wenn Sie ein
böses Wort über uns hören, so sagen Sie ein gutes. Sie können es, da Sie uns kennen und Sie werden es glauben,
wenn ich Ihnen sage, daß weder meine gute treffliche Gattin noch ich in entferntester Hinsicht an diesem Tode
schuld sind. Juliana hat nur Gutes bei uns genossen und hat, seit sie anfing die Schule zu besuchen und zu Hause
Unterricht erhielt, aus Grundsatz nie eine körperliche Strafe erhalten; ihre Strafen waren Ermahnungen. Sie war
jetzt blühend wie eine Rose und hätte nach ihren Anlagen zu den besten Hoffnungen berechtigt. Weshalb sie ihr
5
Brief an Heckenast 17.3.1866
Kuhn, H. (2005): Süchtig nach einem Süchtigen. Der österreichische Vielesser und grandios verzweifelte Schriftsteller
Adalbert Stifter wurde vor zweihundert Jahren geboren. In: Frankfurter Rundschau, 19.10.2005.
7
Stadler, A. (2009): Mein Stifter. Portrait eines Selbstmörders in spe. 1. Aufl. München: btb.
6
2
guter Engel so weit verlassen hat, wird vielleicht die Zeit aufhellen, jetzt haben wir trotz ewigem Sinnen und
Fragen nichts herausgebracht.“8
Wie hört sich das an im Hinblick auf die Frage, ob Trauma oder Konflikt? Nicht eindeutig. Die Bemerkung,
„Unsern Zustand kann ich Ihnen nicht schildern“, die Sprachlosigkeit also dürfte bei einem Poeten Hinweis auf
einen Schock sein. Auch die Arbeitsstörung verweist darauf. Stifter dürfte sich hilflos, wie gelähmt gefühlt
haben, als habe er Julianas Tod wie ein Naturereignis empfunden, an der ihn selbst keine Schuld trifft. Alles
spricht für ein Trauma. Aber Stifter hat auch einen Konflikt mit seinem Überich. Er hat Schuldgefühle, nicht
Juliana, sondern seinem Verleger gegenüber, weil er arbeitsunfähig und dadurch säumig ist, was seine ohnehin
prekäre finanzielle Notlage noch verschärfte. Ihm drohte eine Existenzkrise. 1857 war sein Roman $achsommer
erschienen, der u.a. von Friedrich Hebbel verrissen wurde. In einem zynischen Epigramm warf er Stifter vor, den
Menschen nicht zu kennen und ihn im $achsommer völlig aus dem Auge zu verlieren. Das war herb. Hebbels
„unverantwortliche Angriffe“9 und die allgemeine Verstörung bei Lesern des $achsommer bedeuteten das
allmähliche Verschwinden Stifters aus dem Feuilleton und das Verblassen seiner Prominenz als Modeautor. Der
$achsommer wurde zu Stifters Nachsommer, da von nun an die zustimmende öffentliche Aufmerksamkeit
abnahm. Sein Witiko sei bis heute für viele Kronbeleg der Langeweile, heißt es. Die Rezensenten hätten nur noch
den Kopf geschüttelt, mancher Leser ihn mitleidig oder mitleidend gewiegt, so Stadler10. Das muss Stifter als
herbe Erschütterung seines Selbstwertgefühls erlebt haben. Und über all dem verdüsterte Österreichs Niedergang
im Krieg Stifters Gemüt. Und nun mit Julianas Tod noch die Angst um seinen Ruf als Pädagoge, zumal auch
sein Buch zur Förderung humaner Bildung 1855 vom Unterrichtsministerium abgelehnt und ihm die Inspektion
über die Linzer Realschule entzogen wurde. Weniger die persönliche Kränkung als vielmehr der Gedanke, dass
man so schnell und leichthin in der wichtigen Sache des Unterrichtes verfährt, sei ihm tief in die Seele
gedrungen und würde ihm Geist und Herz trüben, schreibt er an Heckenast11
Ungewiss ist, ob es sich bei Julianas Tod um einen Freitod handelte – denkbar wäre auch ein Unfall - und wenn
ja, warum sie den Freitod wählte. Entscheidend ist, Stifter hat es geglaubt, schließlich lebt man, was man glaubt,
nicht, was (kriminal-)wissenschaftlich nachgewiesen ist. Über Motive eines Suizids kann Stifter nur spekulieren.
Dass seine Ziehtochter geschlagen wurde, verneint er ausdrücklich und beruft sich auf Heckenast als Zeuge
diesbezüglicher Redlichkeit. Bleiben noch die im Brief erwähnten Ermahnungen. Möglicherweise war Juliana
ein schwieriges Kind und störte Stifter ebenso „ungemein“ wie die Krankheit ihrer Schwester. Ermahnungen
können wie körperliche Schläge sein. Wenn sie kränkend sind, können sie schlimmer sein. Sollte Juliana also
ihretwegen in die Donau gegangen sein?
Denkbar wäre, dass der Tod ihrer 4 Jahre älteren Schwester Juliana geschockt hat. Vielleicht waren sich beide
gegenseitig Trost in ihrer Mutterlosigkeit und der Konfrontation mit den Erwartungen der Erwachsenen.
Wie auch immer, es sei „eine Tatsache, dass Stifter im eigenen Haus dreimal spektakulär als Erzieher versagt
hat“12. Es sieht aus, als habe Stifter den vermuteten Suizid Julianas als weitere narzisstische Katastrophe
empfunden, die seine Selbstzweifel an den Rand des Erträglichen trieben. Und da war noch der Tod seiner
Mutter zu betrauern, der ihn an den lange zurückliegenden Tod seines Vaters erinnert und alte ödipale Wünsche
getriggert haben könnte. Stifter erzählt also in diesem Brief von seinem Überwältigtsein durch den Verlust von
Mutter und beiden Ziehtöchtern. Seine ägyptische Augenentzündung könnte Zeichen unterdrückter Tränen sein.
Knapp drei Monate später schreibt Stifter an die Autorin Marie von Hrussoczy, vielfache Geschäfte und eine
sehr trübe Stimmung über den traurigen Tod seiner Ziehtochter hinderten ihn daran, ihr zu schreiben. Er habe auf
bessere Stimmung gewartet, da er ihr Vieles und Freundliches berichten wolle, aber heute sei sie nicht besser als
früher13. Und 7 Monate später an Heckenast: „Einen Schatten wird Juliens Tod wohl immer auf den Rest meines
Erdenlebens werfen; jene sorglose Heiterkeit, welche kein Wölklein kennt, die seit meiner Kindheit ein Teil
meines Lebens war, ist dahin; aber es hat sich ein tiefer Ernst in mein Herz gesenkt und ich gehe mit desto
größerer Sammlung zu meinen Arbeiten.“14. Stifter scheint sich partiell erholt zu haben, zumindest arbeitet er
wieder. Gleichwohl kündigt sich eine depressive Verarbeitung der Erlebnisse an.
Gelingt es nicht, ein Trauma allmählich der Vergangenheit zuzuordnen, geht es bei seiner Bewältigung in der
Regel darum, das Trauma zu verleugnen und ungeschehen zu machen. Als Strategie bleibt, aus der Not eine
Tugend zu machen, das Elend zu glorifizieren oder zu idealisieren, oder aus dem Trauma einen Triumph zu
machen, indem der Traumatisierte anderen zufügt, was ihm zugefügt wurde. Er tauscht die Rolle des Opfers
gegen die des Täters ein. Allemal geht es darum, Ohnmacht und Hilflosigkeit zu überwinden, Herr der Situation
zu sein und die Kontrolle zurückzugewinnen.
8
Brief an Heckenast, 26.4.1859
Seebaß, F. (Hg.) (1936): Adalbert Stifter Briefe. Tübingen: Rainer Wunderlich Verlag, XIII
10
Stadler, a.a.O.
11
Brief an Heckenast, 22.12.1856
12
Stadler, a.a.O., 83
13
Brief an Marie von Hrussoczy, 11.7.1859
14
29.11.1859
9
3
Was macht Stifter? Spreckelsen zufolge ist „unheimlich“, was Julianas Pflegevater sechs Jahre nach ihrem Tod
in Der Waldbrunnen aus diesem Erlebnis macht. Die Erzählung schildere „ein lang andauerndes pädagogisches
Experiment mit großer Kälte“, zeige „das Kalkül des Erziehers“, ließe „seine Motive aber nur ahnen“. Sie
spreche zudem „von einer jämmerlichen Ungleichheit der Waffen“. Dass sich Juliana am Ende in die Erziehung
fügt, „mag man als Einsicht in die Vorteile eines solchen Projektes oder aber als schmerzliche Niederlage eines
ehemals freien Wesens deuten - unter der klaren Oberfläche jedenfalls lassen sich Verwerfungen ahnen, die nicht
entfernt widerspruchsfrei aufgehen wollen“.
Dieses „unheimlich“ verspricht also kein angenehmes Grau(s)en. Freud zufolge beruht das Empfinden des
Unheimlichen auf eigenen Erlebnissen, die – um es in der Sprache der Traumatologie zu sagen – durch einen
Anlass getriggert werden. Was also vermag Der Waldbrunnen Unheimliches wachzurufen? Spreckelsen legt eine
Spur: es muss etwas mit dem kalkulierten Experiment mit großer Kälte zu tun haben. Das harsche Urteil klingt
nach aus Verbitterung erfolgter eiskalter Abrechnung mit Juliana, nach ihrer Zurichtung mit den Mitteln der
Pädagogik.
War der Brief an Heckenast noch aus dem unmittelbaren Erleben heraus formuliert, so begeben wir uns mit der
Erzählung Der Waldbrunnen nun auf das Gebiet des Erinnerns. Selbst wenn ein Trauma bewusst ist, heißt dies
nicht, dass dem Traumatisierten gegenwärtig sein muss, welche Spuren es in seinem Alltag, im Hier und Jetzt
und gegebenenfalls in seinem Oeuvre hinterlässt. Das muss erst herausgearbeitet werden. Das gilt für die
Therapie, für das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse und die Poesie gleichermaßen.
Worum geht es in der Erzählung? Stephan von Heilkun fährt mit seinen Enkelkindern Katharina und Franzi aufs
Land und wird in einem Dorf beim Lehrer vorstellig. Dieser klagt Stephan sein Leid, dass ihn seine
„Vorgesetzten so lange in diesem unwirtbaren Waldwinkel bei so rohen Menschen gelassen haben.“ Ob er die
Kinder nicht „verbessern und veredeln“ könne, fragt Stephan. „»Ja, wenn die Eltern nicht wieder alles
verdürben, die Kinder lernen Halsstarrigkeit und Bosheit«“, erwidert der Lehrer und erwähnt ein Mädchen, das
„aus Rohheit und Bosheit, obwohl es meiner Lehre schon fast entwächst, bisher noch kein Wort in der Schule
gesprochen hat.“ Rede er „liebreich zu ihm“, zeige es die Zähne, schaue ihn mit hässlichen Augen an und sage
nichts. Wolle er ihr Geschriebenes oder ihre Rechnungstafel sehen, halte das Mädchen die Hand darauf und
blicke noch abscheulicher. Gewalt wolle er nicht anwenden, weil sonst das Kind nicht mehr in die Schule
komme und ganz zu Grunde gehe. Auf der Gasse stoße und schlage das Mädchen andere Kinder und oftmals
stünde es auf einem Felsen, strecke den Arm aus den Lumpen hervor, predige oder schreie etwas, obwohl
niemand dabei sei, der es hört, ja dann schreie es sogar am lautesten. Seine Mutter und deren unverheiratete
Schwester, „hergelaufene Menschen“, besäßen eine Hütte, zwei Kühe und Ziegen. Ferner gebe es noch die
Großmutter. Von einem Vater des Kindes habe er nie gehört. Das Mädchen wolle nicht bei seiner Mutter
bleiben, sondern hocke bei der verwahrlosten Großmutter in einem hölzernen Loch hinter der Hütte, singe mit
ihr oder verhöhne sie, indem es ihr Tannenreiser, Preiselbeeren oder Hahnenfedern ins Haar stecke. Auch renne
sie in den Gräben herum, Gebüsch und Kräuter zerreißend. Ob dieses Kind etwas in der Schule gelernt habe,
fragt Stephan. Es lese mit, wenn gelesen wird, wenigstens rühre es die Lippen; die Kinder sagen, daß es die
Buchstaben recht macht und das zu Rechnende aufschreibt. Sonst gehe es aus Bosheit in die Schule, um da wild
zu sein und zu trotzen. Selbst zu dem hochwürdigen geistlichen Herrn habe es noch kein Wort gesprochen.
Wir sind bekannt geworden mit einer Wilden, die einen partiellen Mutismus zeigt, roh, boshaft und verwahrlost
ist, andere Kinder schlägt und auf einem Fels stehend seltsame Worte ausstößt, deren Inhalt wir später erfahren:
»Schöne Frau, alte Frau, schöne Frau, weißes Haar, Augenpaar, Sonnenschein, Hütte dein, Märchenfrau, Flachs
so grau, Worte dein, Herz hinein, Mädchen, Mädchen, Mädchen, bleib bei ihr, schmücke sie, nähre sie, schlafe
da, immer nah, alle fort, himmelhoch, Sonne noch, Jana, Jana, Jana!« .
Spreckelsen sieht in dieser Wilden ein Kind, das im weiteren Verlauf des Geschehens die „schmerzliche
Niederlage eines ehemals freien Wesens“ erdulden muss. Ob man hinter diesen Holophrasen, dieser mythischen
Poesie, dieser „wilden ekstatischen Lyrik“ (Lachinger) ein „freies“ Wesen vermuten darf, ist fraglich, doch
möglicherweise verfügt es über „eine „Begabung, die vom Dorfschullehrer nicht erkannt wird. Der hält sie für
nicht bildbar“ (Lachinger). Das Mädchen, bald der Schule entwachsen, wirkt mit seinen rätselhaften, im Stil des
Coq-à-l’âne vorgetragenen Imperativen fremdbestimmt oder unter dem Eindruck extremer Gefühlslagen stehend,
als sei es seinen Affekten ausgeliefert. Es ist, als wäre es von introjizierten, aber nicht von seinem Selbst
assimilierten inneren Objekten überschwemmt, die als Unverdaute zusammen mit Selbstanteilen durch
Ausstoßen von Worten, die es aufgeschnappt hat, von innen nach außen befördert werden müssen. Die Angst,
die sich in Angriffen gegen andere Schüler und den Lehrer äußert, spricht für diese Annahme. So gesehen hätten
wir es bei der Wilden mit einer borderline-Persönlichkeit zu tun. Dem widerspricht nicht, dass es sich bei den
Auftritten auf dem Felsen auch um einen hysterischen Anfall handeln kann, also um eine pantomimisch
dargestellte unbewusste Phantasie15. Das burschikose, rüpelhafte Verhalten auf dem Schulhof wären ebenso
Anzeichen dafür wie der Mutismus, der sich offensichtlich gegen die Männer, den Lehrer und die Obrigkeit
richtet. Indes fehlen obszöne Worte und Gebärden. Obszönes könnten Großvater und Dorflehrer allerdings
15
Vgl. Freud, S. (1909a): Allgemeines über den hysterischen Anfall. G.W., 7, S. 236–240, 236
4
überhört haben oder wurde vom Autor unterschlagen. Die Scham der Wilden jedoch spricht für diesbezügliche
Phantasien, da sie vom Fels verschwindet, wenn andere Personen erscheinen. Der Mutismus könnte der Versuch
sein, sich den Mund zu verbieten, um die Worte unter Kontrolle zu bringen. Dass Stifter die Wilde zum
Akklamieren auf einen Fels stellt, ein religiöses Symbol, bedeutet hier wohl anderes: die noch schwankende
Seele bedarf des festen Bodens, um genügend Halt zu finden. Wie auch immer: Das Auftreten klingt nach
Besessenheit. Früher hätte man die Wilde als Hexe verurteilt. Mit einem „freien Wesen“ haben wir es wohl
kaum zu tun. Halten wir noch fest: Das Kind hat keinen Vater. Es wächst in einem Matriarchat auf.
Als der Lehrer Stephan das wilde Mädchen zeigt, schaut es den alten Mann mit „schreckhaft großen
pechschwarzen Augen“ an, saß jedoch ruhig und still da. Stephan ging in der Klasse herum, sprach zu den
Kindern und ging dann wieder, kam darauf aber öfter zur Schule. So gewöhnten sich die Kinder an ihn. Er hörte
ihnen beim Lesen zu, ließ sich ihre Schulsachen zeigen und beschenkte sie mit kleinen Bildern. Juliana, die
Wilde, im Folgenden Jana genannt, las nie, zeigte ihm nichts. Blieb Stephan bis Schulschluss, umringten ihn die
Kinder und drängten sich an ihn. Nie sah er die Wilde andere Kinder stoßen oder schlagen.
Als Stephan wieder einmal in die Schule kam, brachte er den Kindern Glaskorallen, Marmorkugeln, rosenrote
Bändchen, Holztrompetchen, kleine Puppen und dergleichen mit. Wieder ließ er die Kinder lesen, besah ihre
Arbeiten und verteilte Geschenke. Allen hatte er sich zugewendet, nur Jana nicht. Schließlich öffnete er seine
goldene Uhr und zeigte den Kindern ihren inneren Goldglanz und die Mechanik. Da drängte die Wilde aus der
Bank, ging zu dem alten Mann, hielt ihm ihr Buch hin und signalisierte, sie wolle lesen. Stephan „machte eine
freundliche Zustimmung, und sofort begann das wilde Mädchen laut mit klarer, aber etwas tiefer Stimme ganz
richtig in fremdartiger Aussprache das zu lesen, was auf den aufgeschlagenen Blättern stand.“ Als Stephan dem
Mädchen bedeutete, es sei genug, brachte es sein Schreibheft. Stephan sah die Schrift an: mehrere Blätter waren
mit deutlichen, wenn auch nicht schönen Buchstaben beschrieben. Was er zu lesen bekam, erstaunte ihn auf’s
höchste. Nichts von dem, was von der Schultafel abzuschreiben oder in die Feder diktiert worden war, „nichts,
was man sich selbst zu denken vermochte, sondern ganz andere, seltsame Worte standen da: Burgen, Nagelein,
Schwarzbach, Susein, Werdehold, Staran, zwei Engel, Zinzilein, Waldfahren, und ähnliches. Dann Holophrasen:
„in die Wolken springen, die Geißel um den Stamm, Wasser, Wasser, Wasser fort, schöne Frau, schöne Frau,
schöne Frau, alles leicht, alles grau, und solche Dinge noch mehrere.“ Stephan sagte nichts, gab dem Kind die
Schrift zurück, lobte es, strich den Scheitel seines rabenschwarzen Haares zweimal mit seiner Hand, zog aus
seiner Tasche ein schönes rosenrotseidenes Band hervor und gab es dem Mädchen. Dieses brachte ihm daraufhin
seine Tafel mit einer richtig gelösten Aufgabe, um darauf mit Band, Schrift und Tafel zu seinem Platz
zurückzukehren. Von nun an las ihm die Wilde vor und zeigte ihm ihre Schrift und Rechenaufgaben, wann
immer Stephan in die Schule kam.
Man könnte Janas Ausgrenzung als „pädagogisches Experiment mit großer Kälte“ bezeichnen. Ich halte es für
ein erfahrungsbasiertes, für die damalige Zeit vermutlich jedoch zu modernes Vorgehen. Stephan, Stifters
pädagogisches Alter Ego, wendet sich zunächst absichtlich nicht Jana zu, weil er ihren Trotz nicht provozieren
wollte. Er hätte sie damit nur noch mehr stigmatisiert, der Scham ausgesetzt und isoliert. Solches hat sie bisher
erlebt. Er bietet ihr eine Alternative an: Er spiegelt ihr ihre Isolation, indem er sie ausschließt, um sie zu
motivieren, ihre Isolation selbst aufzuheben. So kann sie sich besser zugehörig fühlen und sich damit
identifizieren. Sagen wir, er erzeugt Leidensdruck - heute Vorraussetzung für eine Psychotherapie. Gleichzeitig
integriert er Jana mit Hilfe der anderen Kinder. Indem er sich über sein Zuwenden und kleine Zuwendungen das
Vertrauen der Kinder erwirbt, signalisiert er der Wilden, auch sie könne ihm vertrauen (vgl. hierzu die
Erzählungen Turmalin, Katzensilber, $arrenburg). Der entscheidende integrative Schritt erfolgt jedoch über die
Neugier des Mädchens und nicht zufällig über eine Uhr und deren geheimnisvolle Mechanik. Ein Zeitgefühl
dürfte die Wilde auf Grund ihrer Lebensumstände nicht haben. Überdies ist die Uhr ein Weiblichkeitssymbol,
verweist sie doch auf den Zyklus, vermittelt ein Rhythmusgefühl und ein Gefühl der ‚continuity of being’
(Winnicott). Das ist insofern bedeutsam, als die Schüler in der Pubertät sein dürften, denn die Wilde „entwächst
schon seiner Lehre“, wie der Lehrer berichtet. Was sich also im Leib der Uhr, im „Uhrenkasten“ abspielt, dürfte
von höchstem Interesse sein. Abgesehen davon steht die Uhr symbolisch für ein wesentliches Element
Stifterscher Prosa: das Wiederholen. In ewiger Wiederholung kreist der Zeiger und doch handelt es sich niemals
um dieselbe Zeit. Wir Analytiker gehen davon aus, dass das, was im Text formal oder Stilelement ist, ursprünglich ein psychischer Inhalt war. Wiederholen kann demnach einst ein wiederholtes Rufen gewesen sein, weil
man nicht gehört wird, so wie das Kind wiederholend Mama, Mama, Mama ruft, damit sie endlich komme.
Nicht zufällig arbeiten Propaganda und Werbung mit dem Prinzip Widerholung. Literarisches Wiederholen kann
auch der Versuch sein, ein Thema unter Kontrolle zu bringen, indem man ihn von allen Seiten betrachtet.
Die angestachelte Neugier wird zur Triebfeder für die Wilde mit den fletschenden Zähnen und den schreckhaft
schauenden großen pechschwarzen Augen, sich Stephan anzuvertrauen und zu offenbaren. Zugegeben, da wird
mit ungleichen Mitteln gearbeitet. Das jedoch ist Merkmal eines jeden pädagogischen Settings. Eine
„jämmerliche“ Ungleichheit, wie Spreckelsen moniert, vermag ich nicht zu erkennen. Die Gleichmacherei der
„68“, das Pseudoaufheben des Generationsunterschiedes 100 Jahre später, hat mehr jämmerliche Verwirrung
unter ihren Zöglingen gestiftet. Und muss Stephans Vorgehen gleich ein Gefecht mit „ungleichen Waffen“ sein,
wie Spreckelsen wettert? Liest man dies heraus, könnte allerdings „Kälte“ aufkommen.
5
Aber gemach, wir sind noch nicht am Ende! Halten wir nur fest: Stephan ist es gelungen, die Wilde von ihrem
partiellen Mutismus zu befreien. Mehr und mehr konzentriert sich das Geschehen nun auf Hausbesuche Stephans
und seiner Enkelkinder bei der Wilden und ihrer Großmutter. Stephan sprach bei diesen Besuchen wenig,
brachte aber öfter etwas mit: ein seidenes Band, Glaskorallen, papierene Blumen oder Schnürchen mit Dolden,
Mitbringsel, die das Trio bei späteren Besuchen an der alten Frau hängen sah, als habe diese sich die Geschenke
unter den Nagel gerissen. Das muss bedeutsam sein, denn ein anderes mal hing das rosenrote Seidenband, das
Stephan der Wilden geschenkt hatte, aus dem Haar der Alten und ein weiteres mal hatte sie sich mit Bändern,
Glasperlen und anderen Dingen, welche er mitgebracht hatte, geschmückt. Eines Tages brachte Stephan Jana
Muscheln mit, die diese „mit Freuden“ entgegennahm. Als er wieder in den Holzbau kam, trug die Großmutter
die schönste Muschel um den Hals. Müßig habe sie in der Sonne gesessen, als warte sie auf Stephan wie auf
einen Bräutigam. Jana trug von all den Dingen nichts.
Die Alte hatte Gründe, sich mit den Sachen ihrer Enkelin zu schmücken. Beide konkurrierten um Stephan. Stifter
beschreibt ein Matriarchat in einer Waldlandschaft, bestehend aus einer Großmutter und ihrer Enkelin, zu denen
sich später Mutter und Tante hinzugesellen. Die Großmutter mit den Federn, Früchten u.ä. im Haar soll wohl
mythische Verschmelzung des Weibes mit der Natur symbolisieren, zugleich das Animalische, gefährlich
Verführerische und Regressive des Matriarchats. Die Konkurrenz beginnt mit dem Auftreten Stephans, eines
Mannes also.
Die Enteignung Janas bedeutet noch anderes. An einer Stelle klagt die Großmutter: „»Jana, Jana, die Hummeln
sind in ihrem Baue, und du bist immer fort«.“ Und als Stephan sich nach dem Mann der Großmutter erkundigte
und die Alte weiter ausholen wollte, rief Jana dazwischen: „»Frage sie nicht mehr«“. Das klingt, als müsse Jana
ihre Großmutter vor schmerzhaften Erinnerungen schützen. Ferner: Auf dem Heimweg begegnete dem Trio mal
die Tante und sagte: „»Ihr seid bei der Mutter gewesen und habt mit ihr gesprochen«. »Wenig«“ sagte Stephan,
„»sie scheint nicht redselig zu sein. Das Kind läßt sie nicht sprechen, und läßt nicht andere mit ihr sprechen«.“
Solche über die Erzählung verteilte Hinweise legen nahe, Stifter wolle auf etwas hinweisen, was wir heute
Parentifizierung nennen, die er auf den Punkt bringt, wenn er Jana sagen lässt: „»Siehst du, ich bin die Mutter
der Großmutter, ich bin ihre Schwester, ich bin ihre Obrigkeit, ich bin ihre Magd, ich muß bei ihr bleiben.«“
Jana soll demnach omnipotente Mutter für die Großmutter sein. Stifter hat den pathogenen Einfluss der
Parentifizierung auf Janas Entwicklung erkannt, greift damit aber möglicherweise wiederum seiner Zeit voraus,
weswegen er als Pädagoge beim damaligen Unterrichtsministerium in Schwierigkeiten gekommen sein könnte.
Parentifizierung heißt das Kind instrumentalisieren, heißt, das Kind als Container für Sorgen und Kummer der
Eltern und zur Befriedigung deren narzisstischer Bedürfnisse zu missbrauchen. Entwicklungsbedürfnisse und
Wünsche des Kindes bleiben dabei unbefriedigt, weil sie kein Gehör finden. Die für die Entwicklung notwendige
Energie wird vom Auftrag zur Elternbetreuung verzehrt. „»Ich muß Sachen suchen«“, sagt Jana zur Großmutter,
„»die du brauchst.«“ So können die „Hummeln nicht im Bau bleiben“, das Kind also nicht für die Entwicklung
seines eigenen Selbst sorgen. Parentifizierte Kinder sind mit der falschen Rolle, hier Mutter, Schwester,
Obrigkeit und Magd sein zu müssen, überfordert. Die Generationsbarriere ist niedergerissen, was das Kind
orientierungslos und in seiner Identität diffus macht. Heute führt eine Parentifizierung häufig in die Essstörung,
bei Jana jedoch in den Mutismus. Das Kind lässt sich selbst und seine Großmutter nicht sprechen. Mehr noch:
Galt zu Freuds Zeiten der hysterische Anfall als pantomimischer Ausdruck eines Triebkonfliktes16, so
signalisiert der ‚hysterische Anfall’ Janas, ihr Wortsalat auf dem Fels und auf der Schreibtafel, aus heutiger
Perspektive einen Identitätskonflikt. Die ausgestoßenen Worte seien, als „predige“ die Wilde, so ihr Lehrer, oder
wie Imperative, die ihr Hin- und Hergerissensein zwischen ihr und der Großmutter zeigen: Auf der einen Seite
der Parentifizierungsauftrag: „Mädchen, Mädchen, Mädchen, bleib bei ihr, schmücke sie, nähre sie, schlafe da,
immer nah“, auf der anderen Seite das Anrufen ihres Selbst als Versicherung ihrer Existenz: „Jana, Jana, Jana!“
Kurzum: Das enteignende und instrumentalisierende Parentifizieren zeigt uns kein „freies Wesen“, vielmehr
eines, das in hohem Maße gebunden und verstrickt ist. Es ist eine Mythe, dass das Wilde das Freie sei, die
sogleich die zweite nach sich zieht, Zivilisation sei das Unfreie.
Stephan arbeitet an der Parentifizierung, freilich nicht deutend, sondern ichstützend. Als er mit Franz und
Katherina, musterhafte Biedermeierkids, wieder einmal die Wilde besuchten, waren sie mit Geschenken beladen.
Zuerst überreichte Stephan Jana seine Geschenke. Die nahm in die Hände, was sie fassen konnte, den Rest mit
dem Ellenbogen festhaltend. Dann warf sie alles auf Großmutters Bett, nahm Stephans Hand und drückte sie, als
müsse sie sich immer wieder der Dinge als ihr gehörend versichern. Dann gaben ihr Franz und Katharina ihre
Geschenke. Stephan musste Jana jedes Mal versichern: „»Mit meinem Willen gibt es dir Franz«, »Mit meinem
Willen gibt es dir Katharina«“. „»So nehme ich es«, antwortete das Mädchen. »Tu es,« sagt der Großvater, »und
verwende die Sachen, wie du willst.«“ Die Großmutter saß auf einem Schemel, das hie und da zerrissene Kleid
um sich ausgebreitet und schaute auf den Vorgang. Um ihre Lippen war ein Lächeln, „das man nicht verstehen
konnte, wie wenn etwa ein einziger Sonnenstrahl auf einen rauen, dürren Fels trifft und auf ihm einen düsteren
Lichtschein hervorbringt.“ Stephans Zuwendung zu ihrer Enkelin hat der Alten nicht gepasst. Die Szene zeigt,
wie Stifter Natur einzusetzen vermag. Sie spiegelt einen psychischen Zustand wider. Und der Leser weiß jetzt,
16
Vgl. Freud, S. (1909a): Allgemeines über den hysterischen Anfall. G.W., 7, 236–240
6
wer der Fels ist, auf dem Jana steht: die Großmutter, die nur rau und dürftig (dürr) Janas Identität zu spiegeln
vermag.
Zur Kindertherapie gehört die Arbeit mit den Eltern. Eines Tages tritt Janas Mutter mit der Bitte an Stephan
heran, er möge der Wilden sagen, sie solle zu ihr ziehen, „»dann geht die Großmutter auch mit. Sie sind immer
in dem schlechten Holzhüttchen, und wenn ich dem Kinde Strafe drohe, so schaut es mich mit den großen Augen
an, wie sein Vater, der zu früh gestorben ist. Und ich getraue mir nicht, das Kind zu strafen, sonst läuft es am
Ende gar fort. Sagt es ihm doch, lieber Herr.«“ Die Mutter teilt ihre Angst mit dem Dorfschullehrer: Würde man
der Wilden Grenzen setzen, liefe sie davon. „»Ich werde nachdenken, was man in dieser Sache Gutes stiften
könnte,« antwortete Stephan, »und werde darnach handeln.«“ Er bittet um Bedenkzeit, sein Enkelin jedoch setzt
ihm zu: »Großvater, du mußt dem Mädchen befehlen, daß es mit seiner Großmutter aus der Holzkammer in die
schönen Zimmer des Hauses herübergeht, da haben sie es besser.«“ Franz hingegen meint, man solle das
Mädchen nicht zwingen. „»Ihr meint beide, wie es euch gut dünkt,« sagte der Großvater, »ich weiß noch nicht,
was ich meinen soll, und wenn das Mädchen herübergeht, soll es freiwillig gehen, und dann habt ihr beide
recht.«“ Die Kinder tragen zur gegenseitigen Erziehung bei, ein häufiges Motiv bei Stifter.
Die Mutter funktionalisiert ihre Tochter und deren ‚Therapeuten’. Sie sollen die Großmutter ins Haus zurückbringen. Stephan jedoch entspricht diesem Anliegen nicht. Kompensatorisches Erziehen ist nicht seins, wie
folgende Szene mit dem „Anbau“ symbolisiert: Er lässt von Handwerkern einen Anbau an Janas Holzschuppen
fertigen. Dieser sollte unverändert bleiben, vielmehr sollte man von ihm aus noch in eine schöne, geräumige
Stube mit vier Fenstern, einem grünen Ofen und reinen Geräten gelangen können. Als alles fertig war, waren alle
erfreut und dankten Stephan „für das viele Gute, das er ihnen tat, und das so zahlreich sei, daß man es kaum
begreifen könne.“ Der Holzschuppen steht für das unfertige Selbst Janas. Der komfortable Anbau macht ihre
Seele zum bewohnbaren Haus.
Stephans Pädagogik setzt nicht am Fehlenden, an den Lücken an, wie das später das kompensatorische
Erziehungsmodell versuchte, sondern am Bestehenden. Das hat Stifter als Schüler in der Benediktiner-Abtei
Kremsmünster gelernt. „Als unser Kaplan erklärte, ich sei völlig talentlos, sagte Franz Friepes, der Vater meiner
Mutter: »Das glaube ich in Ewigkeit nicht; der Bub ist ja findig wie ein Vogel.« Und dann führt er mich nach
Kremsmünster“17. Dort wurde der Stifter-Bertl nicht nach seinen Lateinkenntnissen gefragt, die hatte er nicht,
sondern nach seinen Kenntnissen über seine Lebensumwelt. Damit kannte er sich bestens aus und wurde als
Schüler angenommen. An seinem Wissen, nicht an seinen Wissenslücken wurde angesetzt. Und sein Großvater?
Der war sein förderndes Objekt. Wir begegnen Franz Friepes im Der Waldbrunnen in der Gestalt Stephans
wieder.
Die bisherige „Behandlung“ der Wilden zeigt eine Progression über den Weg der Regression. Stephan geht in
die Rolle einer Mutter, die der Wilden die Brust (Geschenke) gibt. Er fungiert sozusagen als ‚Waldbrunnen’, den
die Großmutter ihrer Enkelin streitig macht, weshalb Jana die Milch weiterreichen und der Alten zu Trinken
geben muss, Urszene der Parentifizierung. Erst als Jana die Brust zur eigenen Entwicklung nehmen darf, gedeiht
sie. Dass die Hysterie an einem oralen Defizit leidet, wird Masud M. Khan erst 1983 darlegen18. Stifter ahnte den
Zusammenhang schon. Dass Stephan mit seinen Geschenken auch die weibliche Entwicklung Janas fördert,
vernachlässige ich zunächst.
Halten wir hier nur fest, dass die Wilde inzwischen zivilisiert ist. Der therapeutische ‚Anbau’ hat ihrer Seele
„Licht“ und „Wärme“ gegeben. Eines Tages tritt Stephan ans offene Fenster, sieht Franz und Jana sich in die
Arme fallen, sich umschlingen und küssen und er hört Jana seufzen: »Liebster, liebster, liebster Franz!« und
Franz: »Liebste, liebste Juliana!« und dann wieder Jana: »Liebster, liebster Franz!«. Ein „seltsamer“ Anblick sei
es gewesen, wie der wohlgekleidete Knabe und das Mädchen in Lumpen sich umschlungen hätten, so Stephan.
Das hätte Tertullian, dem antiken Traumforscher, sicher gefallen. Der hat den Frauen unter Hinweis auf Evas
Sünde nur schäbige Kleidung zugestanden. Der Topos: wohlgekleideter Mann und in Lumpen gehüllte Frau
postuliert ein soziales Gefälle - fürs Unbewusste eine Inzestsituation. Stifter jedoch lässt den alten Mann Stephan
zu sich sagen: „»Die menschliche Wesenheit ist endlich zur Entscheidung gekommen.«“ Wie bitte, der Inzest als
„menschliche Wesenheit“? Ein Blick in die Weltliteratur gibt ihm Recht.
Zur Entscheidung kam freilich etwas anderes. Als Stephan eines Tages abreisen musste, wollte er Jana
mitnehmen. Er versprach ihr schöne Kleider, dass sie noch manches lerne und dann Franz ehelichen könne. Jana
entschlossen: „»Ich gehe nicht mit dir […] Weil ich die Großmutter nicht verlasse«“. »Die Großmutter wird es
dir gönnen, wenn du das Glück für dein Leben findest«“, erwiderte Stephan. „»Großvater, wenn man Franz und
Katharina goldene Kleider gäbe, sie auf einen goldenen Stuhl setzte und zum Kaiser und zur Kaiserin machte,
und sie dir wegnähme, würdest du nicht betrübt sein?« »Ich würde es sein«“, erwiderte Stephan und bietet Jana
an, die Großmutter mitzunehmen. Auch das lehnte Jana ab. Sie war der Meinung, bei Großmutter bleiben zu
müssen, weil diese, würde sie entwurzelt, stürbe.
17
18
Brief an Leo Tepe, 26.12.1867
Khan, M. M. R. (1983): Hidden selves. Between theory and practice in psychoanalysis. London: Karnac Books.
7
Jana hat einen Entwicklungsschritt gemacht. Sie widersetzt sich Stephans Anliegen und zeigt sich einfühlsam in
die Situation ihrer Großmutter. Aber das sind Reste der Parentifizierung, die noch wirksam sind, denn Mutter
und Tante hätten die Alte versorgen können.
Bedeutsam ist, dass die Erzählung an dieser Stelle eine entscheidende Wende nimmt: Der Heilpädagoge macht
einen Kunstfehler! Er begeht eine Abstinenzverletzung: Jana soll ihm seinen Wunsch erfüllen. „»Juliana,« erwiderte der alte Stephan, »wenn du nicht mit uns gehst, dann müssen wir uns auf immer trennen. Damit du
Franzens Weib werden könntest, müßtest du noch vieles lernen, und müßtest dazu in eine andere Welt kommen,
als hier ist. Wie ihr hier seid, könnt ihr nicht bleiben. Und damit meinem Enkel Franz nicht zu sehr das Herz weh
tut, wenn er dich öfter sähe, kann ich im nächsten Sommer und in allen nächsten Sommern nicht mehr in den
Wald kommen, damit er dich vergißt.«“
Oha! Haben wir richtig gehört: Damit dem Franz nicht zu sehr das Herz weh tut? An Jana wird nicht gedacht
und überdies ist das Erpressung! Trotz allem: Selbst jetzt erteilt Jana dem Begehren Stephans eine Absage: „»Er
wird mich vergessen, und es wird alles gut sein«“. Bei diesen Worten quollen Jana große Tropfen aus den
schwarzen Augen, die ersten Tränen, die Stephan an dem Kind gesehen hatte. Jana hat ihre Gefühle unter
Kontrolle und lässt sich nicht erpressen, obwohl es sie schmerzt. Sagen wir ruhig, sie grenzt sich ab, sie
emanzipiert sich. Und der Heilpädagoge, als habe er seinen Fehler bemerkt: „»Juliana, Mädchen«“, sagte
Stephan, „»tue, wie du willst.«“ Die ging zu ihm hin, küsste ihm zum ersten Male die Hand und enteilte
schweigend durch die Tür. Die Biedermeierkids saßen mit Tränen übergossen auf ihren Stühlen. Stephan legte
auf jedes Haupt eine seiner Hände und sagte: »Es ist recht schön von euch, daß ihr folgsam gewesen und kein
Wort drein geredet habt. Lassen wir Gott seinen Willen, wie er alles fügt.«“ Setzen wir für Gott die moralische
Instanz Überich ein, hat diese Stephan in seine Schranken verwiesen.
Das Überich jedoch ist korrumpierbar und Stephan erreicht sein Ziel zuletzt doch noch. Stifter ließ die
Großmutter sterben. Des andern Tages kam Jana zu Stephan und sprach: „»Großvater, jetzt gehe ich mit dir, und
will bei dir sein, wie ich bei der Großmutter gewesen bin.«“ Scheinheilig Stephan: „Liebst du denn deine Mutter
nicht, Juliana?“ Nein, das tut sie nicht. Sie ist eine Hysterika und liebt den maître, den Vater. Diese Liebe hat sie
auf Stephan übertragen. Als Großmutter beerdigt wurde, „waren um des vornehmen Mannes willen viele
Menschen herbei gekommen und gaben der alten Frau die letzte Ehre.“ Mutter und Tante weinten und jammerten am Grab und erzählten, wie gut die alte Frau gewesen sei. „Juliana stand still dabei und sagte gar nichts.“
Wir wissen, warum.
Prä- und postnatal
Der Waldbrunnen zeigt den utopischen Entwurf einer Heilpädagogik und gehört zum damaligen Zeitpunkt ins
Genre Science-Fiktion. Im Vorgriff auf die psychoanalytische Pädagogik schildert sie die Heilung einer
juvenilen Hysterie. Das Thema lag in der Luft, war aber 1866 noch Sache der Priester und Pädagogen. Obwohl
fiktiv hätte eine Heilung unter diesen Umständen auch real eintreten können. Stifters Crux war, mit seinem
Ansatz seiner Zeit voraus zu sein, was damals nicht gewürdigt wurde. Jahrzehnte später hätte er als
psychoanalytischer Pädagoge Karriere machen können, zumal wir ihm eine erhellende Beschreibung
frühkindlichen, ja vorgeburtlichen Erlebens verdanken:
„Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend
in mein Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. Die Merkmale, die festgehalten
wurden, sind: es war Glanz, es war Gewühl, es war unten. Dies muß sehr früh gewesen sein, denn mir ist, als
liege eine hohe, weite Finsternis des Nichts um das Ding herum. Dann war etwas anderes, das sanft und lindernd
durch mein Inneres ging. Das Merkmal ist: es waren Klänge. Dann schwamm ich in etwas Fächelndem, ich
schwamm hin und wieder, es wurde immer weicher und weicher in mir, dann wurde ich wie trunken, dann war
nichts mehr. Diese drei Inseln liegen wie feen- und sagenhaft in dem Schleiermeere der Vergangenheit, wie
Urerinnerungen eines Volkes. Die folgenden Spitzen werden immer bestimmter, Klingen von Glocken, ein
breiter Schein, eine rote Dämmerung. Ganz klar war etwas, das sich immer wiederholte. Eine Stimme, die zu mir
sprach, Augen, die mich anschauten und Arme, die alles milderten. Ich schrie nach diesen Dingen.
Dann war Jammervolles, Unleidliches, dann Süßes, Stillendes. Ich erinnere mich an Strebungen, die nichts
erreichten, und das Aufhören von Entsetzlichem und zu Grund Errichtendem. Ich erinnere mich an Glanz und
Farben, die in meinen Augen, an Töne, die in meinen Ohren, und an Holdseligkeiten, die in meinem Wesen
waren. Immer mehr fühlte ich die Augen, die mich anschauten, die Stimme, die zu mir sprach, und die Arme, die
alles milderten. Ich erinnere mich, daß ich das »Mam« nannte. Diese Arme fühlte ich mich einmal tragen. Es
waren dunkle Flecken in mir. Die Erinnerung sagte mir später, daß es Wälder gewesen sind, die außerhalb von
mir waren. Dann war eine Empfindung, wie die erste meines Lebens, Glanz und Gewühl, dann war nichts mehr.“
(Mein Leben)
Wenn Stadler zu diesem autobiographischen Fragment meint, Stifter sei „ein ungeheurer Abschnitt in der
Literatur“19, ist ihm zuzustimmen. Dass aber Freud seine Freude daran gehabt hätte, wie er mutmaßt, ist Unsinn.
Abgesehen davon, dass Freud dem Autobiographischen gegenüber skeptisch war, weil eine aufrichtige
19
Stadler, a.a.O., 188
8
Lebensbeichte soviel Indiskretion über Familie, Freunde und Gegner erfordere, dass sie sich glatt ausschließe 20,
hatte er mit der frühen Mutter-Kind-Dyade und ebenso mit Klängen nichts am Hut. Bachofen hingegen wäre
möglicherweise interessiert gewesen. Ein glückliches Händchen hatte Stadler wohl auch nicht, wenn er
kommentiert: „Sollen sich die Analytiker die Zähne an diesem Text ausbeißen, dachte ich. Oftmals wird ja mit
den Zähnen analysiert. (Das Analysieren ist naturgemäß etwas ganz Aggressives, dachte ich.)“21. Da gibt’s
nichts zu beißen. Der Text geht runter wie Sahne! Wie andere erspart sich Stadler die Mühe, sich mit den
Weiterentwicklungen der Psychoanalyse zu befassen. Täte er das, müsste er feststellen, was Stifter beschreibt,
gehört inzwischen in der Psychoanalyse unterm Titel: somatisches Erinnern, Holding, Container- und
Alphafunktion der Mutter, Glanz im Auge der Mutter, Protosymbole, Einführung in Sprache etc. längst zum
unverzichtbaren metatheoretischen und behandlungspraktischen Standardwissen. Und alle, die nicht glauben, am
Anfang sei das Wort, lecken sich die Finger, da sie hier hören: Am Anfang sind die Klänge, nämlich die Herzund visceralen Geräusche des Mutterleibs. Dort wird nur gefühlt und gehört und dort beginnt unser Dasein, nicht
erst bei der Geburt, es sei denn, man versteht den Uterus als nicht zu dieser Welt gehörend. Was Stifter in diesem
Fragment beschreibt, entzieht sich dem bewusst Erinnerbaren und der Sprache. Einzig die Körpererinnerung
kann Informationen liefern. Zu Recht schreibt die Literaturwissenschaftlerin Frauke Berndt, Stifter erinnere
„nicht sein Leben, sondern konstruiert ein Leben“22. Allerdings beißt sie sich die Zähne aus, weil auch ihr die
psychoanalytischen Konzepte frühen Erlebens fehlen. Sie wundert sich darüber, dass in Stifters Schilderung
postnatalen Erlebens keine Rede von „Mutter“ und „Kind“ sei. Das jedoch geht nicht, denn in dieser frühen
Phase sind Mutter und Kind noch nicht separiert, sondern fusioniert, eben noch eins. Stifter weiß das intuitiv. Es
irritiert sie auch, dass nur von „Augen“ und „Stimme“ die Rede ist. Man könne den Attributen unterstellen, „dass
sie die Mutter pars pro toto vertreten; aber man muss es nicht tun, weil Stifter seinen Wörtern kein semantisches
Zuhause gibt“23. Da ist sie noch auf der richtigen Spur. Früh werden die Objekte wie der eigene Körper
ausschließlich als Partialobjekte wahrgenommen: Augen, Stimme, Berührung der Mutter, Mund und Anus am
eigenen Körper, weil ihnen vornehmlich die mütterliche Zuwendung und Pflege gilt. Neben die Spur gerät
Berndt in ihrer sonst informativen Ausführung, wenn sie sich in die Interpretation versteigt, Stifter inszeniere
„die Empfindungen während einer Zeugung“24 und sich dabei auf die Sequenz aus Mein Leben beruft: „Weit
zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein
Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. Die Merkmale, die festgehalten wurden,
sind: es war Glanz, es war Gewühl, es war unten.“ Diese körpertopologische Zuordnung: „es war unten“ wird
zum Verhängnis für ihre Interpretation. „Die Sequenz gewänne dann an Plausibilität, wenn man ihr unterstellte,
dass das Ich in seiner Erinnerung die weibliche Wahrnehmungsperspektive einnimmt: Im Vergleich […]
identifiziert es sich zuerst mit den lustvollen Empfindungen während der Geschlechtsaktes und im Anschluß
daran mit den bedrohlichen […]“25. Man muss sich klar machen: der Fötus verfügt über keine
körpertopographische Vorstellung, er kennt weder oben, noch unten, weder hinten noch vorne, nicht außen und
innen und er kennt keine Zeit. Die Interpretation, Stifter sei beim Abfassen dieses Textes mit dem penetrierten
Weib identifiziert, ist an dieser Stelle tiefer Regression nicht zutreffend, würde sie doch Separation, gar ein
bereits hoch differenziertes Ich voraussetzen, es sei denn, man unterstelle, dass Stifter beim Schreiben
unterschiedliche Ich-Positionen einnimmt. In anderem Kontext wäre die Interpretation zutreffend, denn der
erwachsene Stifter war partiell weiblich identifiziert. Hier jedoch setzt schon die Fortsetzung des Zitats die
Interpretation außer Kraft: „Dann war etwas anderes, das sanft und lindernd durch mein Inneres ging. Das
Merkmal ist: es waren Klänge. Dann schwamm ich in etwas Fächelndem, ich schwamm hin und wieder, es
wurde immer weicher und weicher in mir, dann wurde ich wie trunken, dann war nichts mehr.“ Das ist der Fötus
im Fruchtwasser und dort können die Penetration der Mutter, ihr erhöhter Puls und Blutdruck, Kontraktionen,
hormonelle Veränderungen etc. sich für den Fötus taktil, haptisch und akustisch bemerkbar machen. Wir
Analytiker erzählen uns gerne den Witz von den Zwillingen im Mutterleib, in dem der eine zum anderen sagt:
»Draußen muss es ziemlich kalt sein, der Vater kommt dauernd rein«. Aber auch dieser Witz verbleibt
zwangsläufig im Adultomorphen. Raum, Zeit und Bedeutung gibt es noch nicht, weswegen auch eine
Konjunktion wie „dann“ unangemessen bleibt, wie überhaupt jede sprachliche, also zwangläufig sequentielle
Darstellung früher Vorgänge, da nur ein Bild das Gleichzeitige verschiedener Erlebnisformen abbilden könnte,
weswegen Bilder dem Unbewussten näher stehen als die Sprache. Stifters Darstellung kommt dem Frühen
deshalb nahe, weil er Maler war. Folgerichtig interpretiert Berndt mit Einführung der Sprache, des „Mam“,
sicherer, weil wir jetzt den Bereich diskursiver Symbole betreten und den der präsentativen verlassen. „Immer
mehr fühlte ich die Augen, die mich anschauten, die Stimme, die zu mir sprach, und die Arme, die alles
milderten. Ich erinnere mich, daß ich das »Mam« nannte. Diese Arme fühlte ich mich einmal tragen.“ 1972 wird
20
Freud, S. (1960): Briefe 1873-1939. Hg. v. Ernst Freud und Lucie Freud. Frankfurt am Main: S. Fischer, S.408
Stadler, a.a.O., 190.
22
Berndt, F. (2005): $ichts als die Wahrheit. Zur grammatologischen Metaphysik in Adalbert Stifters Mein Leben. In:
Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 79. Jahrgang (3), S. 472–504, 476
23
ibid., 488
24
ibid., 483f
25
ibid., 484
21
9
Lorenzer schreiben, die „Einigungssituation auf bestimmte Interaktionsformen wird durch die Verbindung mit
einem Lautkomplex zur Einführungssituation von Sprache. […] Die körperlichen Bedürfnisse werden in den von
Sprache gebildeten Sinnzusammenhang eingeschmolzen“26. Das heißt: Sagt das Kind Mama, ist immer ein InBeziehung-zu gemeint. Das macht Stifter ersichtlich, wenn er sagt: „die Augen, die mich anschauten, die Stimme, die zu mir sprach“. Das nannte er »Mam«.
Diese Sequenz zeigt, wie wichtig die Dichter für die Psychoanalyse waren und sind. Ich meine aber, es geht in
Mein Leben noch um etwas anderes. Dieses Spätwerk Stifters ist wie jene Träume zu verstehen, die man vom
Ende her zu lesen hat. D.h., Mein Leben beginnt zwar im Mutterleib, aber es macht mehr Sinn, wenn man das
Fragment liest, als ende es dort. Stifter muss um sein Ende geahnt haben, er muss mit Suizidphantasien
beschäftigt gewesen sein, hatte schon einen Versuch unternommen und auch in seiner Prosa ist Suizid Thema.
Gängige unbewusste Phantasie vieler Suizidanten ist, in den Mutterleib zurückzukehren und dort ihren Frieden
zu finden. Juliana hat das gemacht, als sie in die Donau ging. Ihre Heimat war Ungarn und es könnte eine
tröstliche Vorstellung gewesen sein, dass der Strom sie gleich einem Geburtskanal hätte von Linz bis in die
Heimat und dort in den mütterlichen Uterus tragen können. Ihr Abschiedbrief, der vielen rätselhaft erscheint,
weil Julianas Mutter bereits an die 15 Jahre tot war, ist nicht ganz so rätselhaft: „Ich gehe zu meiner Mutter in
den großen Dienst“ heißt, „ich gehe ins mütterliche Fruchtwasser.“ Stifter, möglicherweise in Identifikation mit
Juliana oder seiner früheren Geliebten, der toten Fanny, tut dasselbe wie Juliana: 1866 bringt er sich um. Als
Erwachsener weiß er, wo man in den Mutterleib kriechen kann: unten. Das Ergebnis: „Weit zurück in dem leeren
Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang und
dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich.“ Das ist die unbewusste Selbstmordphantasie eines regressus
ad uterum. Das unten ist der sichere Hinweis auf eine regressive Phantasie. Dass Stifter dieses Ziel so zu
artikulieren in der Lage war, liegt an seiner Fähigkeit, die Durchlässigkeit zwischen Ich und Es kreativ zu nutzen
und sich Impulsen aus den tieferen Schichten seiner Seele zu überlassen.
Zurück zum Der Waldbrunnen. Beim besten Willen kein ich kann kaltes pädagogisches Experimentieren
erkennen und auch keine „schmerzliche Niederlage eines ehemals freien Wesens“ (Spreckelsen). Beide Protagonisten argumentieren anstatt die Klingen zu wetzen. Und wie steht es mit dem „Unheimlichen“?
Metamorphosen sind immer unheimlich: Wenn Daphne zum Lorbeerbaum, Samsa zum Käfer und Jekyll zum
Hyde mutiert. In Stifters Erzählung mutiert ein glückloser Pädagoge zum Wunderheiler. „Kälte“ indes könnte
verbreiten, dass Stephan Jana zur Ehe drängt, wenn man weiß, was Stifter unter Ehe verstand.
Welches Kalkül verfolgt der Erzieher, welche Motive hat er? Die Antwort steht im Text: Stephan hat
Fröhlichkeit und Gesundheit verloren, weil er in seinem Leben „Kummer erlebt“ hat und „Mangel an Liebe litt“.
Er braucht Janas Zuneigung, um sich geliebt zu fühlen. Dieser Mangel an Liebe ist es, der Stephan einem Irrtum
aufsitzen und ihn einen Kunstfehler begehen lässt.
Das ging so: Für Jana, die zu gesunden beginnt, gewinnt Stephan mehr und mehr an Bedeutung, was sich in
zärtlichen Gesten ihm gegenüber äußert. Nachgesprungen sei sie ihm, heißt es, habe ihn an der Hand gefasst, ihn
mit ihren großen Augen angesehen, seine Hand gestreichelt, die Arme um seinen Nacken geschlungen und
seinen weißen Stutzbart geküsst. Stifter erhöht das Tempo noch: Bald reicht ein ‚Nachspringen’ nicht mehr aus,
nein, die Wilde „flog“ herbei und schlang beide Arme um den alten Mann und rannte davon. Die stürmische
Zuwendung rührte diesen dermaßen, dass er sich mit dem Ärmel das Angesicht wischte, „man wußte nicht
weshalb, er stieg ein, und der Wagen fuhr davon“. Doch, man wusste es: Er war tief gerührt und trocknete sich
mit dem Tuche die Tränen von den Augen“.
Der Irrtum des Großvaters - in ihm macht sich Stifters Wunsch bemerkbar - besteht darin, die stürmischen
Gesten der Wilden als ihm geltend misszuverstehen: Er trat „vor ein Kreuz, das in dem Zimmer hing, seinen
Augen entstürzten Tränen, und er sagte: »Du heiliger und du gerechter Gott! So ist es denn zum ersten Male in
meinem Leben, daß ich von jemandem um meiner selbst willen geliebt werde, von einem Menschen, dem ich
nichts gegeben und getan habe […] Und dieser Mensch ist ein armes, verwaistes und vernachlässigtes Kind, das
keine Gründe seiner Handlungen und Empfindungen kennt. Ich danke dir für dieses süße, bisher ungekannte, mir
zum Schlusse meines Lebens gegebene Gefühl, du mein gerechter, mein guter Gott!«“ Spätestens jetzt ist klar:
Stephan (Stifter) handelt nicht aus einem von Jana in ihm induzierten Gefühl heraus, nein, er bedient sich Janas
Liebessehnsucht.
Wir wissen, es war nicht Gott, sondern Stephans Zuwendung, die Janas Liebe geweckt hat. Stifter hat den
Großvater wunschgemäß auf das hereinfallen lassen, auf das 20 Jahre später Josef Breuer bei einer Patientin
hereinfällt und vor dem er flüchten wird: die Übertragungsliebe. Nicht er war gemeint, sondern Janas Vater. Ihm,
den sie zu früh verloren hat, galt ihre Liebe und ihre Sehnsucht. Wegen seines Todes hat sie die Liebe zu ihm
durch eine Identifizierung ersetzt, wie uns die Mutter berichtet: „… so schaut es (Jana, T.E.) mich mit den
großen Augen an, wie sein Vater…“. Im therapeutischen Setting wurde Janas Liebe zum Vater reaktiviert und
auf den Großvater übertragen. „Nachspringen“ und „Fliegen“ zeigen das Dringliche ihrer Vatersehnsucht. Heute
26
Lorenzer, A. (1972): Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie. 1. Aufl. Frankfurt am Main:
Suhrkamp, 66f
10
würden wir die Heilung des Mutismus als eine „Übertragungsheilung“ verstehen, d.h., Stifter schildert eine
unvollendete Behandlung. Um wirklich frei zu sein, wäre die Übertragungsliebe zu bearbeiten, damit Jana ihren
Vater in sich hätte sterben lassen und sich dann ein Liebesobjekt hätte wählen können. Die Verstrickung, in die
Stifter den Großvater mit seiner eigenen Übertragung hat geraten lassen, ist sumpfiges Gelände, das erst später
die Psychoanalyse trockenlegt.
Im Reich der Fiktion freilich darf sein, was in einer Therapie zu reflektieren und zu bearbeiten wäre, um an die
für die Hysterie typische Enttäuschung an den Männern zu kommen: hier dem Dorfschullehrer, der Obrigkeit,
letztlich am Vater, der Jana verlassen hat. Bei diesen Männern war sie mutistisch, Zeichen ihres trotzigen
Enttäuschtseins. Stifter reagierte auf den frühen Tod seines eigenen Vaters auch trotzig: mit Essverweigerung.
Beiden Bewohner des Mundes, der Nahrung und den Worten bleibt ihr Zuhause verschlossen. Beide sind
heimatlos, verwaist. Klinisch relevant wird dies alles erst 20 Jahre später, wenn die ersten Patienten bei Breuer
und Freud auftauchen. Wir jedoch halten fest: Über Stephans Übertragung wiederholt sich die
Instrumentalisierung der Wilden. Da das Aufzählen Stifters Stilelement ist, dürfen wir nun seine Aufzählung
dahingehend ergänzen, die Wilde solle nicht nur Mutter, Schwester, Obrigkeit und Magd sein, sondern auch
Liebende – oder gar Geliebte für Stephan, oder gar für Stifter? Da spürt man schon einen kalten Hauch, der aus
der Erzählung herüberweht.
Ein Kunstfehler und eine Fehlleistung
Im Unterschied zu Breuer hat sich der Großvater im Waldbrunnen auf die Liebe des Mädchens eingelassen, hat
nicht die Flucht ergriffen, im Gegenteil, er konnte seine „Patientin“ nicht mehr loslassen. Die seinen Augen
„entstürzenden Tränen“ zeigen die erlösende Befriedigung, die er empfunden haben muss: eine starke
Übertragungsreaktion. Unter diesem Aspekt kann man den weiteren Verlauf der Erzählung, das Verkuppeln mit
Enkel Franz verstehen, die Stifter als gottgewollt begründet. Ein gottgefälliges Happy End also? Nicht ganz. Die
Menschen nähmen Einfluss auf ihre Götter, sagt Freud, denn der Mensch verzichte nicht ernstlich auf die
Allmacht, sondern behalte sich vor, die Götter durch mannigfache Beeinflussungen nach seinen Wünschen zu
lenken27. So auch Stephan. Er kann Jana über die Ehe mit dem Enkel in seiner Nähe halten. Und Stifter? Er will
mit seiner Erzählung seine Welt unerfüllter Liebe in eine gefälligere Ordnung bringen und macht aus ihr eine
„Wunschautobiographie“28. Spätestens jetzt kommt die Interpretation der Erzählung ohne Rekurs auf den
biographischen Hintergrund nicht mehr aus. Stephans Kunstfehler erzwingt den Einstieg in die Biographie,
obwohl der Kunstfehler uns nicht länger beschäftigen muss. Die Erzählung ist kein Behandlungsbericht. Aus
heutiger Sicht hätten wir es ohnehin mit einer allzu linearen Konzeption von Psychotherapie zu tun.
Entscheidender ist, dass dem Autor des Waldbrunnen eine Fehlleistung unterlaufen ist: Über Janas früh
verstorbenen Vater erfährt der Leser nichts! Diese Fehlleistung entspringt dem Wunsch des Autors nach Liebe,
der Janas Vater als lästiger Konkurrent im Wege stünde. Deshalb muss er in der Versenkung verschwinden und
im Text Leerstelle bleiben. Der Leser jedoch ist durch die winzige Bemerkung von Janas Mutter über seinen Tod
auf seine Fährte gesetzt. In der Übertragungsliebe des Mädchens erlebt der Vater - vom Autor vermutlich
unbeabsichtigt - seine Wiederauferstehung.
Die Fehlleistung hat einen biographischen Hintergrund. Stifter hat seinen Vater früh verloren. Im November
1817, Stifter war 12, verunglückte er tödlich auf einer Geschäftsreise, erschlagen von seinem Flachswagen. Der
Tod habe einen tragischen Ton in das Idyll der dörflichen Kindheit gebracht. Der Entschluss, „keine Speise mehr
anzurühren und dem ihm so unbegreiflich Entrissenen nachzusterben, lässt die Kraft der Leidenschaft ahnen, die
lebenslang in Stifter mächtig war“29. Stadler meint, Vaters Tod sei als Lebenswunde Stifters zurückgeblieben
und habe sich in ihn hineingefressen30. Mehr noch: Als Stifter nach dem zweiten Schuljahr aus Kremsmünster in
die Ferien nach Hause zurückkehrte, gab es für ihn eine „böse Überraschung“: Seine Mutter hatte sich wieder
verheiratet. Ein 7 Jahre jüngerer Bäcker war zum Nebenbuhler geworden, so Stadler. Nach Vaters Tod und dem
Erscheinen dieses fremden Menschen sei die paradiesische Zeit der Kindheit, die Stifter später in seiner Prosa,
z.B. im $achsommer oftmals vergegenwärtigen wird, endgültig vorbei31. Tatsächlich kann man den
$achsommer wie einen ‚Familienroman’ im psychoanalytischen Sinn lesen. In dem Phantasiekonstrukt
‚Familienroman’ modifiziert das Subjekt imaginär die Bande mit seinen Eltern, indem es sich z.B. von höherer
Abkunft phantasiert. Im $achsommer lässt Stifter seine Alter Egos in einer Tagtraumwunschwelt spazieren
gehen, als würde der Vater noch leben. Der erste Satz des Romans lautet: „Mein Vater war ein Kaufmann“. Der
fiktive Vater „hatte gegen dieses Reisen nichts, auch war er mit der Art, wie ich mit meinem Einkommen
gebarte, sehr zufrieden. Es blieb nämlich in jedem Jahre ein Erkleckliches über […] So ging alles gut, Vater und
27
Freud, S. (1912-13a): Totem und Tabu. G.W., 108
Stadler, a.a.O., 78
29
Fricke, a.a.O., 5
30
Stadler, a.a.O., 22
31
Stadler, a.a.O., 30
28
11
Mutter freuten sich über meine Ordnung.“ Stadler zufolge herrsche im $achsommer „eine geradezu klösterliche
Zucht und Ordnung“32, eine Welt, die Stifter bei seinen Ersatzvätern in Kremsmünster erlebt haben dürfte.
Soweit Stifters Sehnsucht nach dem Vater. Die Konkurrenz mit ihm handelte er am Stiefvater ab. Das
ermöglichte ihm, den Vater zu idealisieren. In der Vorrede zu Bunte Steine steht es: „… so daß ich meine
Schriften nie für Dichtungen gehalten habe, noch mich je vermessen werde, sie für Dichtungen zu halten.
Dichter gibt es sehr wenige auf der Welt, sie sind die hohen Priester (der Vater und Stifters Lehrer in
Kremsmünster, T.E.), sie sind die Wohltäter des menschlichen Geschlechtes; falsche Propheten (Nebenbuhler,
wie der Stiefvater, T.E.) aber gibt es sehr viele.“ Die Enttäuschung über seinen leiblichen Vater zeigt die
Lebensrealität Stifters. Die progressive Regression Stifters beginnt, wie es scheint, mit dem Tod seines Vaters.
Mit 60 schreibt er, sein Geist sei „ein halbes Kind geworden“33. Als Stifter kurz vor seinem Tod einen
Selbstmordversuch macht, bezeichnet er ihn als „Unfall“, Hinweis auf eine Identifikation mit dem verunfallten
Vater. Schon im Studium und bis in sein 43. Lebensjahr wirkte Stifter unentschlossen, zögerlich,
orientierungslos. Er machte Schulden, zeigte Züge der Verwahrlosung, ging nicht zu Prüfungen und schloss
seine Studien nicht ab, weshalb es zu keiner Ehe mit seiner geliebten Fanny Greipl kam. Es habe ihm
lebenslänglich ein Wegweiser gefehlt, es sei ja auch kein Pater Placidus wie in Kremsmünster (sein Ersatzvater,
T.E.) anwesend gewesen, so Stadler34. Stifters progressive Regression endet schließlich im Mutterleib, wie Mein
Leben ankündigt.
Eine Erzählung enthüllt, was ein Brief verschweigt
Wir haben nun zwei szenische Selbstdarstellungen vorliegen: eine vom Erleben der realen Umständen des Todes
der Ziehtochter Juliana in Briefform, und eine fiktive, die die Heilungsgeschichte einer Juliana (Jana) erzählt.
Verbindungsachse beider ist der Name der Protagonistin. Stifter tritt in der Person des Großvaters und beider
Enkelkindern als Teilaspekte seines Selbst auf. Stellt man beide Szenen nebeneinander, lässt die fiktive
Geschichte mit Jana ahnen, wie es mit Ziehtochter Juliana gewesen sein könnte. Die Erzählung enthüllt, was der
Brief verhüllt: Ziehtochter Juliana sollte das große Liebesbedürfnis Stifters befriedigen.
Stifter war Kuhn zufolge ein Augenmensch35. Er malte. Herrmann Bahr meinte, alles was Stifter bis zum Ende
geschrieben habe, behielte „den Ton der Augensprache“36. Augen sind ein orales Sinnesorgan. Wir verschlingen
mit den Augen, heißt es. Wir dürfen bei Stifter von einer Lust am Schauen (Skopophilie) ausgehen. Die Augen
dürften bei ihm hoch besetzt gewesen sein, was sie für psycho-somatische Irritationen besonders anfällig macht,
wie Stifters Augenerkrankung nahelegt. Zum Zeitpunkt der Geschehnisse litt Stifter überdies an Völlerei,
Zeichen unbefriedigbarer oraler Gier, die wiederum die Basis für das Skopophile bildet. Vermuten wir also,
Stifter habe, möglicherweise hebephil37, die heranwachsende Nichte seiner Frau mit den Augen verschlungen.
„Das Mädchen hatte sich in dem letzten Jahre sehr rasch entwickelt, war sehr üppig geworden, und viele nannten
sie schön“, schreibt er an Louise v. Eichendorff38. Juliana war also ein Augenschmaus. An ihrem körperlichen
Erblühen könnten sich seine Phantasien, seine Imagination und seine Augen entzündet haben, vielleicht so: “Wie
sie so vor mir stand, begriff ich wieder, wie ich bei ihrem ersten Anblicke auf den Gedanken gekommen war,
dass der Mensch doch der höchste Gegenstand für die Zeichenkunst sei, so süß gehen ihre reinen Augen, und so
lieb und so hold gehen ihre Züge in die Seele des Betrachters“ ($achsommer). Voyeuristisches taucht im Der
Waldbrunnen auf: Stephan sah Franz und Jana sich umschlingen und küssen, Hinweis auf mögliche Urszenes, in
der der Stifter-Bertl Mutter und Vater, oder schlimmer: Mutter und Stiefvater sich umschlingen sah.
Im Brief vom April 185939 lesen wir, Juliana sei “blühend wie eine Rose und hätte nach ihren Anlagen zu den
besten Hoffnungen berechtigt“. Stifter liebe den Vergleich mit der aufbrechenden Blume oder der hinblühenden
Rose, unterrichtet uns Vorbach40. „Die besten Hoffnungen“ legen den Schluss nahe, Stifter habe seine
Ziehtochter nicht nur mit Liebes- sondern auch mit intellektuellen Ansprüchen überfrachtet. Konnte oder wollte
Juliana sie nicht erfüllen, hätte sie Stifters Unzufriedenheit darüber in eine narzisstische Krise stürzen können.
Immerhin läuft sie bereits als Elfjährige weg - ein Suizidäquivalent. 18-jähig begeht sie Selbstmord, dieses
„Entsetzliche, Zugrunderichtende“ (Mein Leben). In diesem Fall wäre Juliana am hohen Ichideal ihres Ziehvaters
gescheitert. Angeblich schrieb Stifter im Januar 1859, zwei Monate vor Julianas Verschwinden, an Heckenast, es
32
Stadler, a.a.O., 71
Brief an Heckenast, 26.8.1864
34
Stadler, a.a.O., 51
35
Kuhn, H. (2005): Süchtig nach einem Süchtigen. Der österreichische Vielesser und grandios verzweifelte Schriftsteller
Adalbert Stifter wurde vor zweihundert Jahren geboren. In: Frankfurter Rundschau, 19.10.2005
36
zit. n. Roedl, U. (2005): Adalbert Stifter. Mit Selbstzeugnissen und Bildokumenten. 17. überarbeitete u. ergänzte Auflage.
Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH (rowohlts monographien), 152
37
in das Jugendliche verliebt
38
Brief v. 6.5.1859
39
Brief an Heckenast, 26.4.1859
40
Vorbach, B. (1936): Adalbert Stifter und die Frau. Reichenberg: Sudetendeutscher Verlag Franz Kraus, 147,
http://www.literature.at/viewer.alo?objid=10934&viewmode=fullscreen&rotate=&scale=3.33&page=1, zuletzt geprüft am
16.02.2013
33
12
sei nicht „auszustehen“, wie sehr man Juliana anmerke, nichts davon zu verstehen, wenn sie ihm Politisches aus
der Zeitung vorlesen sollte. Das Wort ‚kreiert’ würde sie einsilbig (nicht kre-iert) aussprechen. Da dürfte der
Pädagoge unwirsch geworden sein. Das kann in den verbal abuse führen. Offenbar hat Juliana ihre Flucht aus
dem Hause Stifter damit begründet: „Ich gehe zu meiner Mutter, dann habt ihr eure Ruhe und auch ich habe
meine Ruh“41. Heute hätte man schnell die ‚Diagnose’ burn-out zur Hand, immerhin eine Vorform der Depression. Salopp gesagt: Der Alte nervte.
Ein Kind trotzt entweder dem elterlichen Wunsch und emanzipiert sich, oder scheitert an ihm. Anspruchsvolle
elterliche Erwartungen sind oft begleitet von überzogener Fürsorge und Kontrolle, was negative Folgen zeitigen
kann. Wir sprechen von „Wenn Fürsorge zuschlägt“. Als Juliana, elfjährig, aufgegriffen wurde, gab sie an, von
Amalia geschlagen worden zu sein, eine Anschuldigung, die Stifter in seinem Brief vom April 1859 entschieden
zurückweist. Weder seine „gute treffliche Gattin“ noch er seien „in entferntester Hinsicht an diesem Tode
schuld“. Es könnte sich um eine massive Verleugnung handeln. Palm ist sicher, dass Amalia ihre Ziehtochter
häufig schlug und dass Stifter dies wusste. „Und trotzdem hatte er dagegen nichts unternommen.“42. Die
„Schläge“ könnten eben auch moralische gewesen sein. Allemal ist auffällig, dass man über Julianas
Seelenleben, die immerhin 12 Jahre im Hause Stifter gelebt hat, wenig erfährt. Stifter schildere mit
„ausschweifender Genauigkeit“ Landschaften, Dinge Tätigkeiten, verschleiere und verschweige aber, was in den
Menschen vorgehe. Selbst eine Mordabsicht sei nur angedeutet, so Roedl43. Ich vermutete bereits, Stifter habe
Julianas Suizid wie eine Naturkatastrophe erlebt, an der er keine Schuld trägt.
Vom ES zum Ichideal / Stifter und die Frauen
Um 1854, Juliana war 13, in der Pubertät als Rose erblühend, manifeste sich erstmals Stifters Nervenleiden. In
seiner Prosa agierten zu dieser Zeit Frauen, in deren Entwicklung die Erfahrung des Schmerzes eine große Rolle
spielt, eine Erfahrung, die Stifter zufolge die Erkenntnis von Schuld und Liebe ermöglicht. Die Frau „ist innig,
ohne Selbstsucht, freut sich, mit dem anderen zusammenzusein, sucht seine Tage zu schmücken und zu
verlängern, ist zart und hat gleichsam keinen irdischen Ursprung an sich“44. Im $achsommer komme das
Problem der Leidenschaft für die Frauen charaktermäßig überhaupt nicht in Frage, so Vorbach. Liebe bedeute
kein subjektives, spontan entspringendes Gefühlserlebnis mehr, wurzele vielmehr im Bewusstsein ihrer hohen
menschlichen Aufgabe und „strebt damit auf die Zukunftsmission an der Menschheit an“45. Liebe scheint
weitgehend funktionalisiert zu sein, alles sei Liebe, resümiert Matz; doch gerade diese Liebe, gereinigt von jeder
Leidenschaft, von jedem erotischen Affekt, von jedem körperlichen Verlangen, von ihrem eigentlichen
Charakter einer bevorzugten Beziehung auf einen ausgewählten Menschen, wird „zu einem Abstraktum“46.
Stifter erlebe an diesen Frauen nicht deren individuellen Einzelheiten, sondern die Präsenz eines Ideals von
Weiblichkeit47. Er habe in seiner Dichtung die drei bedeutenden Frauengestalten seines Lebens, seine Mutter,
Fanny und Amalia übernommen, zum für ihn charakteristischen Frauentyp verklärt und durch ihre Erhebung auf
ein sehr hohes, sittliches und ästhetisches Niveau in die ideale Sphäre emporgetragen. Er könne nur diesen einen
Grundtypus darstellen48. Diese Frauen werfen keinen Schatten und sondern keinen Schweiß ab. Sie geraten
Stifter zu Ikonen.
„Liebe als Abstraktum“ bedeutet Entwertung und Dissoziation von Körper und Leidenschaft. Im $achsommer
schreibt Stifter, wenn wir alle Dinge ausschließen, die nur den Körper oder das Tierische des Menschen
befriedigen, und würden deren andauerndes Begehren mit Hinwegsetzung alles anderen den Namen
Leidenschaft geben, gäbe es nichts Falscheres, als von edlen Leidenschaften zu sprechen. Würden wir als
Gegenstände höchsten Strebens nur das Edelste des Menschen nennen, dürfte alles Drängen nach solchen
Gegenständen nicht zu Unrecht nur mit dem Namen Liebe zu nennen sein. Kurzum: wer liebt, kann nicht geil
sein, wer geil ist, kann nicht lieben. Körper und Leidenschaft sind ‚Abjekte’ (Kristeva). Mehr noch: Leidenschaft
des einen bedeute Leid des anderen, da sich Leidenschaft nur auf Kosten der übrigen bereichere49. Die
Stifterschen Frauen sollen auf den Mann triebkontrollierend Einfluss nehmen, wie Jana auf Stephan und nicht
dauernd Sex wollen wie seine ihm angetraute ‚Mali’. Gleichwohl ist Stifter mit seinem prosaischen Arrangement
insofern modern, als er das Paradies nicht im Jenseits, sondern hier auf Erden sucht. Und es soll ewig andauern,
wie heutzutage, wo man sich allerdings nicht geistig-sittlich, sondern körperlich zum ever young Einheitstyp
stilisieren lässt.
41
(vgl. http://www.leselupe.de/lw/printthread.php?threadid-88708, 7.7.08, Zugriff: 16.3.2013
Palm, K. (2009): Donauwasserleiche. In: derStandard.at, 20.03.2009
43
Roedl, a.a.O., 82
44
Vorbach, a.a.O., 116f
45
ibid., 99
46
Matz, W. (2005): Gewalt des Gewordenen. Zum Werk Adalbert Stifters. Graz-Wien: Droschl, Pos. 5
47
vgl. Vorbach, a.a.O., 32
48
ibid., 39f
49
ibid., 119
42
13
Das Elend jedoch entsteht, weil die Figuren in Stifters Typologie weder Körper noch Leidenschaft haben dürfen.
So sind sie von den Wurzeln ihres Ichs abgetrennt und verdorren zu sittlich-durchgeistigten Wesen. Stifters
Programm: Wo ES war, soll körperlose, triebgereinigte Idealität werden, könnte man in der Tat als „langes
Experiment mit großer Kälte“ (Spreckelsen) bezeichnen, dessen Motiv aber keineswegs offenbleibt, sondern
durchsichtig ist. Wenn nämlich seine fiktiven Frauen schließlich alleine bleiben, ohne Mann, wie Brigitta oder
Cöleste, möchte sich Stifter seinen antiödipalen Traum von einer vaterlosen Idylle mit idealer Mutter und
idealem Kind erfüllen. Wenn Vorbach darauf hinweist, Stifter bezeichne die Räume seiner Frauen gerne als
„Kapelle“50, ist das insofern von Gewicht, als Stifter von seiner Mutter den Auftrag bekommen hat, ein
„geistlicher Herr“51 zu werden. Wir wissen heute, solche Aufträge wirken als Signifikanten, die den Adressaten
auf eine Spur setzen, von der er sich möglicherweise nie befreien kann. So bei Stifter. Seine idealisierten
Frauentypen stehen wie Madonnenfiguren vorm Altar, seine Amalia hingegen fungiert als Haushälterin, die ihm
kocht, die Wohnung sauber hält und Tierisches fordert –das Arrangement eines Pfaffenhaushaltes. Hier könnte
die Ursache der Sterilität dieser Ehe zu finden sein. Angeblich konnte Amalia einer Fehlgeburt wegen keine
Kinder bekommen. Dann hätte die Moral bzw. das Unbewusste nicht nur funktional, sondern sogar
morphologisch schädigend gewirkt.
Stifter muss seine realen wie seine fiktiven Frauen als ideal stilisieren, weil ihn beim Tagträumen ständig sein
untergründig ambivalentes Frauenbild stört, wie das Heiligsprechen der Frauen ahnen lässt. So war es bei seiner
großen Liebe Fanny Greipl, damals 19, er 22. Dass es nichts mit beiden wurde, lag Stifter zufolge an Fannys
Eltern, die sich einer Verbindung sperrten. Stifter hatte seine Studien vernachlässigt, nicht ernsthaft nach Arbeit
gesucht und, wie Stadler vermutet, nicht über die finanziellen Ressourcen wie die Greipls verfügt. In erster Linie
jedoch dürfte es an Stifters Angst gelegen haben, „sich festzulegen“, an seinem „krankhaften Zögern und SichGehen-Lassen“, an „einer Orientierungslosigkeit in allem.“52 Die Liebe war durchweg von Missverständnissen
und gegenseitigem Misstrauen geprägt gewesen. Stifters Zögern, seine Unentschlossensein, seine Vorwürfe
wegen mangelnder Liebe kränkten Fanny. Es ärgerte ihn, wenn sie zum Fasching ging. 1837 heiratete Fanny
einen anderen und starb zwei Jahre später bei der Geburt ihres Kindes. Niemals verwundenes Leid habe seitdem
in Stifters Innerstem gelebt, so Seebaß53, und Peter Suhrkamp meint, in seinem ganzen Leben sei er mit der
ersten Leidenschaft nicht fertig geworden54, im Reiche der Poesie und des Ideals sei Fanny ihm immer
gegenwärtig geblieben und kehre in seinen schönsten Mädchengestalten in immer neuer Verklärung wieder55 : in
seinen Briefen und fiktiven, zigeunermäßigen, exotischen, geheimnisvollen Frauengestalten. Er konnte Fanny in
sich nicht sterben lassen, hat sie vielmehr bereits zu Lebzeiten als „mein heiliger Engel“, als „immer die Heilige,
zu der mein besseres Innere betete“56 idealisiert. Andere Frauen erlebt er – jetzt wird die Ambivalenz sichtbar wie ein „Regenbogen“, ein „Flitterwisch“, oder ein „vorlautes Schnäbelein“57 .
So wenig Fanny eine Heilige war, so wenig war es seine Mutter, obwohl Stifter sie gerne als solche gesehen
hätte. „Meine herrliche Mutter, ein unergründlicher See von Liebe, hat den Sonnenschein ihres Herzens über
manchen Teil meiner Schriften geworfen“58. Seine frühen Arbeiten schrieb Stifter für die Mutter, die er liebte
und ehrte - nicht bloß wie eine Mutter, „sondern auch wie einen seltenen Menschen“. Wonach er strebte, was
ihm Gutes geschah, er bezog es auf sie. Sie verstünde seine Schriften „vollkommen, wozu viel weisere Leute den
Schlüssel vergeblich suchen, oder sie gar mit einem Dietrich aufsperren wollen“59. Wir wissen, es sind die
Vaterfiguren, die mit ihrem ‚Dietrich’ gewaltsam in die Idylle mit der Mutter bzw. deren Leib eindringen.
Stifters Mutter war allem Anschein nach keine Verächterin leiblicher Liebe, hatte vorehelichen Sex mit dem
Vater und wurde mit Bertl schwanger, im Dorf Oberplan mit der Kirche im Mittelpunkt sicher nicht
unproblematisch. Kurz vor seiner Geburt heirateten die Eltern. Stadler zufolge wollte Stifter seine Geburt auf
1806 umdatieren, um die elterliche Schande zu verbergen. Stadler hat recht, denn Stifter behauptet, 11 Jahre alt
gewesen zu sein, als sein Vater starb60. Tatsächlich war er bereits 12. Seine Mutter wollte nach dem Tod ihres
Gatten das Sexualleben nicht einschlafen lassen, darin vielleicht Amalia ähnlich, die Sex bis zum Schluss wollte
61
. Sie ergab sich nicht gottesfürchtig in das Schicksal einer Witwe, sondern heiratete wieder. Sie musste auch an
die Versorgung ihrer Kinder denken. Das dürfte den Sohn erzürnt, verärgert und gekränkt haben. Seine Mutter
war keine Heilige und sie hatte ihm überdies einen Nebenbuhler beschert. Sein Idol ließ sich nicht länger
idealisieren. Es sei zu „drastischen Szenen“62 gekommen, vielleicht wie in der Erzählung Zuversicht, in der ein
50
ibid., 148
Roedl, a.a.O., 19
52
Stadler, a.a.O., 31
53
Seebaß, F. (Hg.) (1936): Adalbert Stifter Briefe. Tübingen: Rainer Wunderlich Verlag, XXI
54
Suhrkamp, P.: Adalbert Stifter. In: Deutscher Geist, Bd. 1, Frankfurt, Suhrkamp, S. 967–968, 967
55
Fricke, a.a.O., 8
56
Brief an Franziska Greipl, 20.8.1835
57
Brief an Amalia Stifter, 7.7. 1863
58
Brief an Louise Stifter, 21.4.1855
59
Brief an Heckenast, 12.5.1858
60
Brief an Louise Stifter, 21.4.1855
61
Stadler, a.a.O., 52
62
Roedl, a.a.O., 20
51
14
Sohn seinen Vater tötet und dann Suizid begeht63. In seiner Prosa versetzte Stifter seine Welt diesbezüglich dann
wieder in eine bessere Ordnung.
1833 verlangen Fannys Eltern, sie solle die Beziehung zu Stifter beenden. In dieser Zeit lernte er Amalia
Mohaupt, Putzmacherin und Tochter eines invaliden Unterleutnants, kennen. 1835 verloben sie sich. Fanny aber
bleibt seine Traumfrau. Im August 1835 schreibt er ihr einen Liebesbrief, in dem er versichert, Amalia nicht zu
lieben und 1838, längst mit Amalia verheiratet, er wolle nur sie allein zur Braut seiner Ideen machen und sie
lieben bis an seinen Tod64. Im Klartext: Stifters Prosa-Frauen sind allesamt seine Töchter mit Fanny. Kein
Wunder, denn Stifter empfand die kleinliche Häuslichkeit Amalias bedrückend 65 und er vermisste Kinder. 1866,
einundsechzigjährig, die Ehe war längst reif für eine Paartherapie, schreibt Stifter, an seine Frau: „Ist es nicht
töricht, ich alter Mann schreibe an eine Gattin, die mir vor neunundzwanzig Jahren angetraut worden war,
Liebesbriefe, wie sie kaum ein Jüngling an seine holde Braut schreibt“66. Liebesbriefe? Es waren allenfalls
„lügenhafte, verlogene Liebesbriefe“67 oder „Bettelbriefe um Liebe“68. Er hat eben „schöngeschrieben“, meint
Stadler69. Die Beziehung zu Amalia hatte eine völlig andere Qualität als die zur holden Fanny: Stifter hatte
Angst, Amalia zu verlieren, nicht als Geliebte, nein, die Haushälterin. Er hatte Verlassenheitsangst. In Briefen an
sie geht’s darum, wer zuerst stirbt. Idealisieren konnte er Amalia nur in Abwesenheit, in der ihre Realität nicht
störte. In Fanny-Briefen hingegen zeigt er eine eher machohafte narzisstische Selbsterhöhung als Geliebter.
Vom Elend mit Amalia erzählt Stifter, vom Wünschen verzerrt, im Der Waldbrunnen. Stephan: „»Ich habe eure
Großmutter kennen gelernt, welche die Mutter eures Vaters gewesen ist, sie ist meine Ehefrau geworden, und hat
mich sehr geliebt.«“ (Amalia hatte ihm keine Kinder geboren). „»Ich hatte ihr alles gegeben, was ich gehabt
habe, ich habe ihr aufgeopfert, was mir lieb war. Sie war mir sehr dankbar, ich wurde ihr Teuerstes auf der Welt;
aber sie konnte nie tun, was gegen ihren Sinn und ihr Gemüt war, sie wußte es nicht, und kränkte mich.«“
Kränkend war, dass Amalia keines seiner Werke je las. So habe sie “nicht gelesen, was für eine zauberhafte
Gestalt (Mathilde im $achsommer, T.E.) ihr Gatte da aus ihr gemacht hat“70. Ja fiktiv, d.h. in Abwesenheit.
Welche Frau will nur als Abwesende zauberhaft sein? Stephan weiter: „»Endlich starb sie und nahm noch mit
brechenden Augen von mir Abschied.«“ Dass Amalia vor ihm sterben könnte, war zwar Angstinhalt vieler
Briefe an sie, in der Erzählung jedoch wird hinter der Angst der unbewusste Wunsch, die gefälligere Ordnung,
sichtbar: Jana konnte jetzt mit ihm losziehen.
In Stifters Spaltungslogik waren Frauen einerseits Heilige, andererseits „Regenbögen“, „Flitterwische“,
„vorlaute Schnäbelein“, wie er, wie schon erwähnt, seiner Frau schrieb. Den Flitterwisch fürchtete er in seiner
Fanny zu finden, wenn diese zum Fasching ging und er eifersüchtig war. „Hat wohl - - das geht mir immer im
Kopfe – hat wohl der heurige Karneval wieder ein Unglück unter deinem Busentuche angerichtet???“ 71. Genau
dort - unter dem Busentuch seiner Geliebten – fürchtet er den Flitterwisch, die verführerische, flatterhafte Seite
der Frau verborgen. Und überhaupt - eigentlich sollen Frauen das Maul halten, keine „vorlauten Schnäbelein“
sein, sondern nur schön und sittlich: „Natalie ist eine schwierige Person für mich, sie spricht nichts, eine, deren
Besonderheit ist, dass sie keine Besonderheit hat: außer dass sie sehr schön ist “, sagt Stadler72. Das ist
Programm: Weil die Frau ihr Wesen immer nur in wenigen Worten offenbare, die eigentliche Schilderung
verschwinde, müssten die wenigen Worte markant und bezeichnend sein, so Vorbach73. Das Schweigen der
Frauen ist ein von Stifter verordneter Mutismus. Darum konnte er ihn bei Jana auch so schnell „heilen“.
Ohne Mühe lässt sich eine Linie ausmachen von Stifters Mutter über Fanny über Natalie im $achsommer bis hin
zu Jana und deren Großmutter, die auch die gealterte Fanny sein könnte, die (immer noch) auf ihren Bräutigam,
also Stifter, wartet. Gerade Der Waldbrunnen zeigt Stifters Idealisierung der Frauen. Sie sind so schön, dass sie
eigenschafts- und merkmallos bleiben74. Das mache diese Figuren steril oder aseptisch oder, tödlich für die
Liebe, unsinnlich. Seine Frauen, die realen und die fiktiven, zeigten die Kühle von Marmorfiguren, so Stadler75 .
Im Waldbrunnen schlägt der Froschhäuser, ein Wandergesell des Ich-Erzählers, vor, diese Frau „sollte man nach
München schaffen, sie dort in Ton bilden und dann in Erz gegossen und in Marmor gehauen werden, daß die
Welt erführe, was Schönheit sei.“ Soweit ich die Wilde kenne, um die es hier geht, hätte die zähnefletschend
gesagt, der Frosch solle gefälligst in seinem Haus bleiben.
Stifter bedient sich mit seiner Typologie der Frau und seiner Vorstellung von Liebe des Kanons und der
Standards der ‚romantischen Liebe’ seiner Zeit, die ihre Wurzeln im Neoplatonismus der Renaissance und der
63
ibid., 85
Brief an Franziska Greipl, 20.8.1835
65
Vorbach, a.a.O., 85
66
Brief an Amalia Stifter, 14.6.1866
67
Stadler, a.a.O., 144
68
ibid., 192
69
ibid., 144
70
ibid., 104
71
Brief an Franziska Greipl, 15.5.1829
72
Stadler, a.a.O., 110
73
Vorbach, a.a.O., 142
74
vgl. Menninghaus, W. (2003): Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp
75
Stadler, a.a.O., 101
64
15
Verurteilung der Leidenschaft der Gegenreformation hatte. Die Frau, in der Phantasie des Mannes
nymphomanisch, hysterisch, hinter der Marmorkühle animalisch und alles verschlingend, musste gebändigt
werden. Zugleich sollte sie Schutzengel des Mannes, zur Nächstenliebe geboren und Vertreterin des Idealen sein.
Ihr oblag die geistliche Führung, wobei sie im Sinne Rousseaus dafür zu sorgen hatte, dass im Mann die
Sehnsucht nach dem Idealen nicht erlöscht.
Wie Stifter die Folgen der ihm fehlenden Liebe tatsächlich „unheimlich“ (Spreckelsen) verarbeitet, zeigt seine
Figur Brigitta aus der gleichnamigen Erzählung. Da Brigitta alle Werte der Außenwelt: Schönheit, Eltern- und
Geschwisterliebe entbehren muss, von Anfang an nur für sich selbst da ist, wenden sich alle ihre nach außen
tendierenden Kräfte in sich selbst zurück und streben tiefster Verinnerlichung zu. Weil aber Verinnerlichung
gleichbedeutend ist mit Vorstoß zum Wesen der Dinge und Befreiung von aller Äußerlichkeit und Zufälligem,
gibt es für sie nur diese eine wesenhafte Welt, in die sie sich immer stärker einlebt und aus der heraus sie alles
Äußerliche, alles Unechte ablehnt.“ Brigitta meidet Gesellschaft, Kleiderpracht, mag keine Puppen, aber liebt
Steinchen mit der „ungekannten Schönheit ihres wilden Herzens“. Sie sei ein keusches Symbol der Welt des
Wahren, des Echten, des Einsamen76. Heute, wo man um die katastrophalen Folgen fehlender früher Zuwendung
für das Selbstwertgefühl weiß, würde man sich die Haare raufen. Bei einem Kind, das von seiner Mutter
abgelehnt wird, dem der „Glanz im Auge der Mutter“ (Kohut) fehlt, muss man die Entwicklung einer schweren
narzisstischen Persönlichkeitsstörung befürchten. Wie sagte Stifter in Mein Leben: „Eine Stimme, die zu mir
sprach, Augen, die mich anschauten und Arme, die alles milderten.“ Dies alles fehlt seiner Brigitta. Stifters
fiktive Frauen müssen seine Idealvorstellung, wie man Liebesmangel kompensiert, erfüllen. Es ist das Ideal
völligen Unabhängigseins von der Außenwelt, den Leidenschaften, den Trieben und der narzisstischen Zufuhr.
Stifter stilisiert den pathologischen Narzissmus zum Ideal. Das kommt uns heute bekannt vor und macht Stifter
zum modernen Zeitgenossen.
Stifter selbst lebte keineswegs so. „Andererseits sage ich es aber auch recht gerne und recht aufrichtig, dass es
mich immer sehr freut, ja beinahe kindisch freut, wenn mir Anerkennung und Teilnahme für meine Schriften
entgegenkommt, namentlich von fühlenden Frauen, weil gerade das Herz von dem Herzen verstanden wird, nicht
vom Kopfe“77. Er zeigt seine „kindische“ Abhängigkeit von exogener Gratifikation, von narzisstischer Zufuhr
und seine Sehnsucht nach „fühlenden“ Frauen.
Der dissoziierte Körper als Stifters $aturkatastrophe
Als junger Mann war Stifter von leidenschaftlicher Natur. Später, zum verbitterten Biedermeierdichter
geworden, entfernte er sich weit von dieser Seite. Seine Wilde im Waldbrunnen ist Repräsentantin eines letzten
Restes dieser Seite in ihm. In Janas Schulbuch waren dieselben Worte verzeichnet, die Stifter in seiner
Autobiographie als die seinen erwähnte: Nagelein, Schwarzbach etc. Stifter mag sich mit seinem Anschreiben
gegen Leidenschaft und Gefühl als Antipode der Romantik verstehen, aber Körper, Trieb und Gefühl holen ihn
schließlich ein. Sie lassen sich nicht von literarischen Epochen domestizieren, ohne in die Pathologie
auszuweichen. Je mehr Stifter die sinnlich-erotische Seite an der Liebe ausblendete und seine Figuren jenseits
jede Erotik platzierte, mithin den Körper dissoziierte, desto mehr wird er zum Opfer seines Experiments ‚Vom
ES zum Ichideal’. Der Autor selbst scheitert nämlich exakt an diesem programmatischen Experiment: Je mehr er
in seiner Prosa in die körperlose, durchseelte Liebe aufging, je mehr seine Figuren vergeistigen, je mehr er den
Körper und die Triebe seiner Verzichtideologie opfert, entwertet und auf die „großartig geschilderten
Naturkatastrophen“ verschiebt, je mehr er also was das Irdisch-Leibliche anbetrifft, phobisch, fast paranoid wird,
desto mehr wird er auf seinen Körper zurückgeworfen, von Triebwünschen und der maßlosen Leidenschaft
Völlerei heimgesucht und beherrscht. Es ist, als kehre der Körper zurück und nähme für seine Verbannung
Rache. Da Stifter zufolge alles Leid innerlich verursacht ist, verfällt er ungeschützt und unvorbereitet ans
Äußere, zu dem er den Körper durch seine Exkommunikation gemacht hat. Schließlich wendet sich seine
Leibfeindlichkeit gegen ihn selbst und wird zum Anlass, sich selbst den Tod zu geben. Der Körper wird zu
Stifters tödlicher Naturkatastrophe. Die fiktive Therapie mit der Wilden war wohl ein letzter Versuch, Körper
und Triebe in sein Seelenleben zu reintegrieren.
Das ging so: Zunächst erkrankte Stifter neben seinem Nervenleiden an Leberzirrhose, die mit seinen Essgewohnheiten, seiner Freß- und Trinksucht ursächlich zusammenhingen. Angeblich trank er 600 Liter Alkohol im
Jahr78, von maßlosen Weinbestellungen und einer Vorliebe für Wiener Würstchen (im damaligen Wien
Fastfood) wird berichtet. Auch sechs und mehr Forellen konnte er als Vorspeise zu sich nehmen79.
Aufgeschwemmt, stiernackig, dickbäuchig, rotgesichtig80 geworden, stopfte er rastlos Nahrung in sich hinein
und sei immer korpulenter und ängstlicher geworden. In einem Brief von l861 heißt es: „Dann folgt wieder
76
Vorbach, a.a.O., 132f
Brief an J. Mörner, 26.9.1851
78
(http://gedichte.xbib.de/biographie_Stifter.htm),
79
Stadler, a.a.O., 20
80
ibid., 17
77
16
Arbeit am Witiko bis 9 Uhr, dann harrt meiner eine ganze Ente. Mich hungert aber jetzt schon so, dass ich
glaube, ich esse zwei."81. Mit „Berserkerwut“ sei er über seinem Witiko, schreibt Stifter82. Ebenso wütend dürfte
er über die Nahrung hergefallen sein. Wut über Kränkungen, Enttäuschungen, Entwertungen und Trauer über
den Verlust ihm wichtiger Personen dürften Hintergrund und Anlass seiner Gefräßigkeit gewesen sein. Bereits
als sein Vater gestorben war, reagierte er oral: mit Essverweigerung. Man kann im Verhungern ebenso dem toten
Objekt (hier dem Vater) nahe sein, wie bei einer Toten(m)mahlzeit. Stifter muss wegen Fanny, Juliana und
seinem Vater, die allesamt eines unnatürlichen Todes gestorben waren, für den er sich möglicherweise
unbewusst die Schuld gibt, zutiefst Angst gehabt haben, Beziehungen könnten nicht haltbar sein. Amalia
gegenüber spricht er unablässig von seiner Verlustangst, fürchtet immer eine Katastrophe, als habe er kein
Vertrauen in Beziehungen. Janas Mutter (Waldbrunnen) hatte diese Angst und auch der Dorfschullehrer: „Und
ich getraue mir nicht, das Kind zu strafen, sonst läuft es am Ende gar fort.“ Es ist die Angst des Autors, denn
weggelaufen ist seine Ziehtochter! Der Satz könnte also eine Beichte sein, denn Amalia hat vermutlich Juliana
geschlagen. Im Brief jedoch spricht er sie und sich frei. Und auch seine Mutter war weg als er aus Kremsmünster
zurückkehrte. Sie war ihm mit einem Bäcker untreu geworden.
Grund für Stifters Essstörung könnte demnach ein Problem mit der Objektkonstanz gewesen sein. Einzig
sicheres Objekt schien ihm die Kunst zu sein: „Sie wird mir teuer bleiben, bis ich sterbe: denn sie allein hat
ausgehalten, wenn auch Liebe, Freundschaft, Ehrgeiz, Tatenlust, alles log und floh“83. Keine gute Lebensbilanz.
So muss der stets gefühlte Verlust konkret aufgefüllt werden. Stifter habe sich ums Leben gegessen, weil er Leben nur spürte, wenn genießbare Stoffe der Welt seinen mächtigen Körper von innen her stützten und
befestigten. Dabei schienen ihm nachher die Bissen der Mahlzeit wie ‚ins Bodenlose zu fallen. Der geweitete
Magen sei „der somatische Platzhalter eines Lebensgefühls, das sich in Stifters Literatur immer wieder in Bildern von Abgrund und Leere geltend macht“, so Kuhn84. Als Stifter am $achsommer arbeitete (erschienen
1857), hatte er seine schlimmsten Fressphasen. Immer nur wünschen und nie satt werden, immer nach dem
Glück suchen, es aber nie finden (wie bei Fanny), ist kaum auszuhalten und muss hungrig machen wie man nach
Luft giert, wenn sie knapp wird. Im $achsommer muss der Leser 500 Seiten im Vorspiel verharren, bis es zur
entscheidenden Begegnung mit Natalie (alias Fanny, T.E.) kommt85 – oder in Stifters Diktion: stundenlang
darben, bis die erste Forelle den gierigen Mund erreicht.
Die These vom Auffüllen innerer Leere, prima vista plausibel, ist nach heutigen klinischen Erkenntnissen für
Essstörungen mit langer Ätiologie, und um eine solche handelt es sich bei Stifter, als Erklärung nicht
ausreichend. Vielmehr soll zuviel Gefühl, das können schlechte, belastende, aber auch gute Gefühle sein, die
psychisch nicht verdaubar erscheinen, mit übermäßiger Zufuhr von Nahrung beseitigt werden. Nicht Leere muss
gefüllt, sondern Überfülle geleert werden, oder wie Stadler zu Recht sagt, Stifter habe panische Zustände, immer
anwesende Angst mit Fressen und Saufen niederschlagen wollen. Dieses Niederschlagen von psychisch
Unverdaulichem soll die Regression ins Soma bewerkstelligen. Völlerei dient als „Reizschutz nach innen“. Dann
erst entsteht das Gefühl quälender innerer Leere, weil keine Gefühle mehr zu spüren sind. Der Bauch ist voll, die
Seele leer. So dürfte Stifter beispielsweise versucht haben, die kränkende Kritik Hebbels an seinem $achsommer
wegzufressen, um mit diesem oral-aggressiven Angriff Hebbel aus seinem Innern zu entfernen, vielleicht um
besser schlafen zu können. Ein solcher Angriff ruft aber das Überich auf den Plan, weil er damit Hebbel und
dessen Kritik als inneres Objekt zerstört hat. Unerträgliche Schuldgefühle machen dann weitere Völlerei
notwendig.
Völlerei ist der untaugliche Versuch, Affekte zu regulieren, wenn die Psyche versagt. Diese versagt, wenn die
von Stifter in seiner Autobiographie erwähnten „mildernden Arme der Mutter“, also das Containing und die
Alpha-Funktion der Mutter in den ersten Jahren gefehlt haben. Immer wieder muss Stifter auch Ungeduld und
Hitzköpfigkeit bekämpfen, um Reinigung von allen Leidenschaften zu erwirken, wie er es Brigitta (Brigitta) tun
lässt, Motive, die auch eine Bulimikerin beschäftigen, wenn sie erbricht. Stifter handelt die Thematik
stellvertretend an Naturbeschreibungen ab. Nahrung und Worte, Essen und Schreiben erfüllen für Stifter dieselbe
psychodynamische Funktion. Man kann sagen, er schreibt wie er isst. Wenn er als Stilelemente Aufzählen,
Beschreiben, Vergleichen benutzt, reiht er Gegenstand für Gegenstand wie eine Speise auf dem Teller
aneinander. Und sein Stilelement Wiederholen ist das Kauen oder Wiederkäuen, das Ruminieren. Die penible
Anwendung dieser Elemente zeigt zwanghafte Züge und dient wie die Völlerei der Affektkontrolle. „Das
Spätwerk prägt einen gleichsam rituellen Stil, bei dem feststehende Daten wie Geburtstage sowie Zeremonien
eine große Rolle spielen. Der Umgang der Menschen wird ebenfalls ein formeller“86.
Die Psychodynamik der späteren Essstörung lässt sich schon in der Fanny-Episode beobachten. Den „ersten
tiefen Stoß“ habe Stifter im Sommer 28 erlitten, als Stifter Fanny seine Liebe gesteht und sie sogleich durch eine
„unerklärliche Anwandlung von Misstrauen zerstört“, so Vorbach. Dieser unmittelbare Wechsel von Liebes81
zit. n. Kuhn, a.a.O.
Zit. n. Seebaß, XX
83
Mein Leben, zit. n. Roedl, 23
84
Kuhn, a.a.O.
85
vgl. Stadler, a.a.O., 101
86
Wild, M. (2001): Wiederholung und Variation im Werk Adalbert Stifters. Würzburg: Königshausen & Neumann, 18
82
17
beteuerung und spöttischen Misstrauen, der von Brief zu Brief an Intensität zunehme, sei für alle Briefe Stifters
an Fanny charakteristisch. Eine unüberbrückbare Kluft zwischen beiden Seelenstimmungen sei entstanden, was
Fanni nur anzunehmen übrig ließ, Stifters Liebe sei nicht so ernst, dass sie die Schwierigkeiten überwinden
könnte. Die überschwängliche Liebe hatte einen paranoiden Zug und wurde deshalb zum unverdaulichen
Gemisch. Und weiter: „Stifters psychologischer Fehlschluß, durch seinen Pessimismus eine leidenschaftliche
Liebeserklärung Fannis zu veranlassen, half diese tragische Lösung herbeizuführen“87. Ersetzen wir Fanny durch
Mahlzeit, enthüllt sich das Geheimnis von Stifters Essstörung: Misstrauen, schlechte Gefühle sollen durch
Zufuhr von Essen zerstreut werden. Vom Essen wird dasselbe erhofft wie von Fannys Liebeserklärung:
Beruhigung und narzisstische Zufuhr, die von außen kommen soll/muss. So denken jene Mütter, die
spannungsbedingtes Schreien ihrer Säuglinge mit Hunger verwechseln und ihnen die Brust in den Mund stopfen,
Urszene einer späteren Essstörung.
Eine Essstörung dient meist der Vermeidung von Beziehungen. Essgestörte haben in Beziehungen schlechte
Erfahrungen gemacht. Im Kontakt mit anderen kam es häufig zu kränkenden Erlebnissen, die ihnen heftige
Gefühle (Wut, Hass) bereiteten, die Rachephantasien nach sich zogen, die sie wiederum sozial phobisch werden
ließen. Mit dem Rückzug auf die Ersatzbeziehung mit Nahrungsobjekten hoffen Essgestörte eine weitere
Verwundung ihrer Seele vermeiden zu können. Das Ersetzen einer Person durch Nahrung bedeutet eine
Regression auf die frühe Mutterbeziehung, denn der Säugling an der Brust isst seine Mutter. Im Französischen
bedeutet ‚Maman’ sowohl Mutter als auch ‚manger’ (essen). Wir Deutschen sprechen von ‚mampfen’.
Gleichwohl zeigen Essbeziehung und Personenbeziehung eine Strukturhomologie, d.h. in der Ersatzbeziehung
treten über kurz oder lang dieselben Probleme mit Gefühlen und Phantasien auf, die es im Personenkontakt zu
vermeiden galt, nur dass sich deren Unverträglichkeit jetzt auch noch gastroenterologisch und in anderer
körperlicher Dysregulation bemerkbar macht.
Dass Stifter zur Ersatzsuche tendierte, ist aus der Fanny-Beziehung bekannt. „Als sie sagten: du werdest Huber
heiraten, fuhr der Geist der Eifersucht in mich, und da wurde der Plan gedacht, Dich und alle Vergangenheit zu
vergessen, und weil der Schmerz doch zu nagen nicht aufhörte, so suchte ich, wie es in derlei Fällen immer zu
gehen pflegt, in neuer Verbindung das Glück, das die alte erste versagte, und spiegelte dem verwaisten Gefühle
vor: nun bist du ja geliebt und glücklich … ach und ich war es doch nicht“88. Die neue Verbindung war Amalia.
Stifter hat ein Objekt durch ein anderes ersetzt, um den Liebesschmerz nicht zu spüren. Mit Ersatz wollte er auch
den Schmerz der Kinderlosigkeit beseitigen. Ziehtöchter sollten fehlende eigene Kinder ersetzen. Das ist der
Mechanismus des Essens. Zwar gibt Stifter später gekränkte Eitelkeit als Motiv für seinen Ersatzhandel an89, der
eigentliche Grund für Misstrauen und den Rückzug von Fanny dürfte jedoch Stifters Angst gewesen sein, seine
Leidenschaft könnte so intensiv werden, dass es zur Fusion mit ihr kommt. Vielleicht so: „daß ich ein Narr bin,
der sich nur ein einzig Mal recht überschwänglich mit universumsgroßem Herzen werfen möchte an ein
ebensolches unermessliches Weiberherz, das fähig wäre einen geistigen Abgrund aufzutun, in den man sich mit
Lust und Grausen stürze und eine Trillion Engel singen hörte“90. Ersetzt man „geistig“ durch seelisch, spürt man
die psycho-sexuelle Verschmelzung, die höchst lustvoll, aber zugleich Angst zur Bedrohung für die Identität,
eben lustvoll-grausig werden kann. Wir ahnen, warum uns Stifter in Mein Leben so treffend, soweit das mit
Worten möglich ist, die primäre Fusion beschrieben hat.
Vorbach (1936) weist darauf hin, Stifter habe sich die Liebe zu Fanny selbst vermasselt. Er hätte nur seine
Prüfungen ablegen müssen und Fannys Eltern wären mit einer Ehe einverstanden gewesen. Das tat er nicht. Ein
Grund könnte in der erwähnten Angst vor Verschmelzung liegen, die paranoiden Charakter annehmen kann. Ein
weiterer Grund dürfte seine nicht gelösten Beziehung zu seiner Mutter gewesen sein. Die Schriftstellerei schien
ihm geeigneter, sich in fiktiven Personen seine Muttersehnsucht zu erfüllen, bis Hebbel dieser Illusion ein Ende
setzte. Mit ihm brach die Realität in die früh phantasierte Idylle mit der Mutter ein. Stifters Wunsch, dem Leser
eine gefälligere Welt vorzuspielen, fand keine soziale Anerkennung mehr. Als vereinzelten Kritiker hätte Stifter
Hebbel noch als Esel verlachen können, aber die gesamte Leserschaft ist wie ein Gott, und die wendete sich ab.
Das ist schwer wegzustecken.
Zwei im Waldbrunnen geschilderte Szenen illustrieren, dass Stifter Essen zur Affektbewältigung benötigte:
„Neben der Tür des Gasthauses aber, zu der ich mir mühsam einen Weg bahnte, um mir […] ein Mittagmahl zu
bestellen, stand ruhig […] ein Mädchen der Zigeuner, und ich, der ich doch bereits in die reifenden Jahre trat,
prallte fast zurück, als ich das Mädchen sah. Das war die schönste Menschengestalt, die sich je in meinen Augen
gemalt hatte“. Das „Zurückprallen“ bringt die Überwältigung angesichts soviel und überdies unerwarteter
Schönheit zum Ausdruck und erinnert an die florentinische Krankheit, das sog. „Stendhal-Syndrom“. Stendhal
reagierte bei einem Florenz-Besuch auf die Fülle kultureller Reize mit starkem Herzklopfen,
Erschöpfungszuständen und Angst, in Ohnmacht zu fallen. Das Syndrom umfasst Panikattacken,
Wahrnehmungsstörungen und wahnhafte Bewusstseinsveränderungen angesichts kultureller Reizüberflutung. In
87
Vorbach, a.a.O., 15
Brief an Franziska Greipl, 20.8.35
89
vgl. Vorbach, a.a.O., 21
90
zit. n. Fricke, a.a.O., 7
88
18
dem Satz aus dem Waldbrunnen wird das „Zurückprallen“ so platziert, dass die Überwältigung unmittelbar vor
dem Essen erfolgt.
In einer zweiten Szene erklärt Stephan seinen Enkelkindern, er habe ihrer Großmutter alles gegeben, habe sich
ihr aufgeopfert, sie jedoch hätte nie tun können, was gegen ihren Sinn und ihr Gemüt war und habe ihn gekränkt.
Ferner seien ihre Eltern viel zu jung gestorben und in seinem Amt hätten die Vorsteher so oft gemeckert, dass er
gegangen sei. „Und dann begannet ihr heran zu wachsen und waret heiter und fröhlich um mich.« »Und das hat
dich doch nicht gekränkt, lieber Großvater?« fragt Katharina. »Lasse das jetzt, mein Mädchen […] und gehen
wir nun zu dem Mittagessen.«“ Das Mittagessen soll alle kränkenden und schmerzhaften Erinnerungen
zudecken. Stephan greift zur alimentären Unterdrückung seiner Gefühle.
Stifter empfand auch starken Ekel. Schon Wien hatte er satt. Vor allem aber galt sein Abscheu den geistigen und
sozialen Umwälzungen seiner Zeit. Im März 1848 tritt er für die Revolution ein, wird Wahlmann für die
Frankfurter Nationalversammlung, wendet sich aber schließlich angewidert von der Gewalt ab und schreibt im
April 1859 an Heckenast: „An der Welt im Großen habe ich Ekel.“ Stifters Bemühungen, Oberflächen gewaltfrei
zu halten, hätten da ihren Ursprung“, meint Vogel91. In seiner Prosa habe er eine große, einfache, sittliche Kraft
der elenden Verkommenheit gegenüberstellen wollen, hoffend, mit Gutem das Schlechte aus der Welt zu
schaffen. Solche Versuche gehen meist schief, im Leben und auch in der Psychotherapie übrigens.
Zeitlebens hat Stifter das Maß gepredigt, Zeichen seines strengen Überichs, welches opulentes Fressen straft, da
in Stifters kirchenkonformer Logik maßloses Leben eine Undankbarkeit gegenüber dem Schöpfer und damit eine
Todsünde war. Vermutlich kommt aus diesem strengen Überich die Kälte, die Stifter in sich trug und die er
immer wieder in die Natur projizierte. Kuhn spricht von „durchkälteten Bildern“92. Es könnte diese Kälte
gewesen sein, die ihn unbewusst dazu brachte, die Augen davor zu verschließen, dass Amalia Juliana schlug. Die
Verleugnung könnte ihm indes auch ermöglicht haben, sadistische Impulse zu befriedigen, Impulse, die seine
Zwanghaftigkeit und die Geschehnisse in der Kindheit vermuten lassen. Das Schlagen musste Stifter schließlich
aber auch verleugnen, weil sein Überich ihn wegen unterlassener Hilfeleitung angeklagt hätte. Er hätte sich zum
Mittäter gemacht.
Verbietet das Gewissen die Völlerei, so fordert im gleichen Zug das Ichideal die Völlerei, denn Hebbel, der am
Ideal kratzt, muss hinausbefördert werden, um die Illusion der Idealität nicht weiter zu gefährden. Überdies
benötigte Stifter die Regelmäßigkeit der Völlerei zur Strukturierung seines Alltags. Ritualisierte Völlerei sichert
gegen die Orientierungslosigkeit – wie bei Kleinkindern. Stadler vermag in Stifters Völlerei noch einen
Lustaspekt auszumachen: „Die Essenszeiten werden streng eingehalten, und mancher schöne Abschnitt des
Buches läuft geradewegs auf das Essen zu wie auf einen erotischen Höhepunkt“93. Heute wissen wir, dass eine
unbehandelte Essstörung geradewegs in eine Zwangserkrankung führen kann.
Wegen seines hohen Ichideals überrascht auch Stifters Perfektionismus nicht: „Und doch schwebt mir beständig
vor, wie es viel besser sein sollte. Eigentlich sollte man sagen: Der Teufel hole das Dichterleben, man hat nur
Kreuz und Qual dabei und kann es nicht lassen wie geliebte Sünden“94, und an Piepenhagen: „ich bin nie mit
meinen Arbeiten zufrieden und oft recht ärgerlich darüber“ 95. Nur wer perfekt ist, wird geliebt, so die Logik des
Perfektionisten.
Mit dem Fressen fing Stifter offenbar erst an, als er nicht mehr hoffen konnte, das Glück zu finden. Um 1855
musste er zum ersten Mal nach Karlsbad in Erholung, dann öfters, monatelang. Diesen und weitere Aufenthalte
in Karlsbad und an anderen Orten hat Stifter nur mit zusammengebetteltem Geld bestreiten können. Er schreibt
Briefe an Amalie, vor der er immer wieder flieht, aber klagt, wie sehr er sie vermisse. Deshalb war einer seiner
großen Wünsche, das Meer zu sehen. Es war wohl die dauernde Suche nach dem homophonen Partner, der mère
gewesen. Im Juni 1857 erfüllte sich sein Wunsch, was seinen Krankheitszustand aber nicht mehr besserte.
In den folgenden Jahren verschlimmert sich Stifters Zustand. Er schreibt und isst. Unruhe und Getriebenseins
machen weitere Kuraufenthalte notwendig. Sein Befinden bessert sich auch jetzt nicht. In dieser Zeit entsteht
sein ritualistisches Spätwerk Witiko. 1867 macht er einen Suizidversuch. Weil sein Stern als Poet sank, das
Dichten nicht mehr sättigte, weder ihn, noch seine Kritiker, noch seine Leser, versiegte die Quelle narzisstischer
Zufuhr. Da ihm Schreiben und Essen Synonyme waren, blieb nur der Rückgriff auf die Völlerei, um sich über
Forellen, Enten und Wiener Würstchen die fehlende narzisstische Zufuhr zu besorgen.
Bei Stifter dürfte die Regression auf den oralen Modus das Ersetzen einer Person durch Essen (wir sprechen von
Objektregression) befördert haben. Er könnte auf diesem Weg auch von Jean Paul beeinflusst gewesen sein, der
ihn in seinen frühen Jahren beeindruckt hatte. Jean Paul tendierte nicht zur Idealisierung der Frau; er hatte ein
anderes Frauenbild, das er anhand seines Vult in Flegeljahren vorstellt, indem er ihn sagen läßt, für jeden sei
eine Frau etwas Anderes, „für den einen Hausmannskost, für den Dichter Nachtigallenfutter, für den Mahler ein
Schauessen, für Walten Himmelsbrot und Liebes- und Abendmahl, für Weltmenschen ein indisches Vogelnest
91
zit. .n. Kremsberger, S. (2005): Ein moderner Jubilar: Der UnruheStifter, 09.03.2005. Online verfügbar unter
http://www.dieuniversitaet-online.at/beitraege/news/ein-moderner-jubilar, zuletzt geprüft am 16.03.2013
92
Kuhn, a.a.O.
93
Stadler, a.a.O., 78
94
Brief an Heckenast, 18.11.1864
95
15.1.1865
19
und eine pommersche Gänsebrust – kalte Küche für mich“96. Für Stifter dürfte die Frau zum Wiener Würstchen
geworden sein. Welch ein Absturz der Frau aus der lichten Höhe der Idealität in die Reduktion auf eine schnöde
irdische Brust – ein FastFood-Brust! Das lässt Zweifel aufkommen, dass dieser Mann an der Brust seiner Mutter
satt geworden ist, zumal Hunger nicht nur eine Angelegenheit des Magens ist, sondern auch eine des Narzissmus
97
.
In diesem Zusammenhang ist die Art von „Liebe“ von Interesse, die Stephan von Jana zu bekommen hoffte: „So
ist es denn zum ersten Male in meinem Leben, daß ich von jemandem um meiner selbst willen geliebt werde,
von einem Menschen, dem ich nichts gegeben und getan habe“ (Waldbrunnen). Stifter verbalisiert damit
beeindruckend den Wunsch nach einer Liebe um seiner Selbst ohne Gegenleistung, von der Psychoanalyse
später als ‚primary love’ bezeichnet, eine Liebe, die es nur von der frühen Mutter gibt. Treffender als Stifter es
hier in kühnem Vorgriff auf die Psychoanalyse tut, hätte man sie nicht artikulieren können.
Stifters Essprobleme dürften indes noch einen anderen Grund haben, der direkt aus dem Unbewussten kommt.
Im Der Waldbrunnen lässt er den Großvater viel mit Geschenken, die im Unbewussten die Brust bedeuten, also
als Mutter mit einer ‚guten Brust’ agieren. Es gibt aber Anzeichen für Phantasien bei Stifter, in der ‚guten Brust’
sei eine ‚schlechte Brust’ verborgen. Ich erinnere: Er vermutete das flatterhafte, das untreue Weib hinter dem
Busentuch von Fanny: „Hat wohl - - das geht mir immer im Kopfe – hat wohl der heurige Karneval wieder ein
Unglück unter deinem Busentuche angerichtet??? Schreibe mir bald, bald, bald, gleich nach Empfang dieses …“
98
. Der Satz bleibt unvollständig wie überhaupt Stifter in diesem Brief arg ins Stottern gerät (zumindest in der
publizierten Version). Die ihn bedrängende Unruhe wegen des Unglücks unter dem Busentuch hat ihn später
auch beim Essen gepackt. Man kann daraus schließen, die Brust hatte für den oral fixierten Stifter auch eine
böse, schlechte Seite, was für seine Fressanfälle bedeutsam sein dürfte. Die Phantasie muss dadurch genährt
worden sein, dass ihm seine Mutter zu seiner Verärgerung einen Stiefvater auf den Teller gelegt hat,
ausgerechnet einen Bäcker, der von Berufs wegen das Orale bedient. Er dürfte die ‚schlechte Brust’ der Mutter
sein, weil ihre Liebe nicht nur ihm galt, sie ihm keine ungeteilte primary love bot. Die ‚schlechte Brust’ wird
Stifter zum Verhängnis, weil er den schlechten Teil gleichzeitig mit dem guten einverleibt und ihn dann mit
immer weiterem Essen wieder aus seinem Körper herausbefördern (exkorporieren) muss. Die ‚schlechte Brust’
wirkt pathogen und es kommt zum Entgleisen des Essens. Es reicht dann nicht eine Ente, sondern es muss eine
zweite folgen usw., bis sich schließlich die ‚schlechte Brust’ in der Nervenerkrankung und der tödlichen Völlerei
und Trunksucht manifestiert. In einem Brief an Heckenast klagt er: „Dazu kamen in letzter Zeit noch recht
unerquickliche Verhältnisse meines Amtes […], was mir oft wie Blei in der Seele lag. Ich beklage tief meine
Verhältnisse. […] Ich muss mein Geschick tragen und mit ihm oft auch meinen Schmerz. Nun werde ich auch
noch krank. Mit dieser Krankheit war eine tiefe, körperliche Schwermut verbunden, dass […] sie doch oft so
hervorbrach, dass ich in ein Schluchzen geriet dessen ich nicht Herr werden konnte.“ Unwillkürlich habe er
heiße Tränen vor seiner Gattin geweint, weil ihm „bei Zittern der Nerven die Buchstaben auf dem Papiere
zitterten und so verschwammen, dass ich wieder auf Stunden aussetzen musste“99.
Das Rasiermesser am Hals
Und da auch Stifter nicht gleichzeitig mit dem Kopf im Himmel (der Poesie) und dem Körper in der Hölle leben
kann, scheitert der Kopf und Stifter setzt das Messer da an, wo Kopf und Bauch sich trennen, am Hals. Nach
fortschreitender Krankheit, Geldsorgen, zunehmender Vereinsamung, Verstummen der Leser vor seinen Werken
und schließlich dem Bruderkrieg (Preußen-Österreich) von 1866, „der eigentliche Todesstoß“100, griff Stifter
entgegen seiner ethischen Einstellung in der Nacht zum 26. Januar 1868 zum Rasiermesser und fügte sich eine
stark blutende Schnittwunde am Hals zu. Mit den Sterbesakramenten versehen starb er in der Frühe des 28.
Januar. Es ist nicht erwiesen, dass es Suizid war, nicht erwiesen, dass Stifter an der Schnittwunde verstorben ist
101
. Heute würde man eher von selbstverletzenden Verhalten (Automutilitation) mit Todesfolge sprechen. Es
würde zu Stifters angeschlagenem Selbstwertgefühl passen. Selbstverletzendes Verhalten ist parasuizidal und
kann mehrere Ursachen haben und verschiedene Funktionen im Seelenleben erfüllen. Es tritt zumeist im
Zusammenhang mit anderen Erkrankungen auf, dort besonders in Krisensituationen, in denen die Identität in
Frage gestellt ist. Die Automutilation Stifters ist also „von beklemmender Folgerichtigkeit“102.
Stifter emigrierte lebenslänglich in die gefälligere Welt, was an den heutigen ‚Verzweiflungstourismus’ (Virilio)
erinnert, wenn Menschen aus armen Verhältnissen in Länder auswandern, die sie nur aus dem TV kennen, dort
jedoch nie richtig ankommen, weil das Virtuelle nicht mit der Realität übereinstimmt. Stifter kam wohl nie an,
96
zit. n. Vorbach, a.a.O., 176
vgl. Battegay, R. (1982): Die Hungerkrankheiten. Unersättlichkeit als krankhaftes Phänomen. Frankfurt/M: Fischer
Taschenbuch, 1987
98
Brief an Franziska Greipl, 3.2.1829
99
28.8.1864
100
Seebaß, a.a.O., XV
101
vgl. Roedl, a.a.O.
102
Kuhn, a.a.O.
97
20
auch nicht nach dem $achsommer, was er vielleicht nach Hebbels Verriss erst richtig realisierte, der für ihn wie
ein naturgewaltiger Einbruch der Realität in die Imagination gewesen sein dürfte. Suizidales äußerte er allerdings
schon früh in einem Brief an Fanny: „eher verlasse ich das Leben als ich dich verlasse.“103. Heißt: wie die
meisten Suizidanten phantasiert er ein Leben nach dem Tod (im Mutterleib), da dieser Satz ein Paradoxon ist: Ist
er tot, gibt’s keine Liebe mehr. Wie auch immer: Kann das Dichten diesen Schmerz nicht mehr heilen, und das
Essen auch nicht, bleibt nur noch der Tod.
Amalia, die ihrem Mann keine Kinder geschenkt und nie seine Werke gelesen hatte, ließ nur seine Titel und
Orden auf den Grabstein schreiben, nicht den Dichter. Als Tochter eines Unteroffiziers war sie wohl titel- und
dienstgradfixiert. Der Dichter hingegen wurde posthum von seiner ‚O Mali’ kastriert.
„Der Luigenbertl“
Nachdem nun die psycho-sozialen Umstände Stifters während des Aufenthaltes seiner Ziehtochter Juliana bis hin
zur Abfassung des Waldbrunnen skizziert sind, bleibt erneut die Frage, was Spreckelsen bewogen hat, so harsch
über den Waldbrunnen zu urteilen.
Stifter befand sich in der Zeit mit Juliana aus beruflichen und privaten Gründen in einer narzisstischen Krise. Er
war einsam, gekränkt, krank, liebesbedürftig, er trank, machte sich klein und verglich sich gleichzeitig mit
Goethe. Man kennt das Schlingern zwischen Größenphantasien und Kleinheitsängsten in Zeiten narzisstischer
Labilität. Gleichwohl macht er sich nicht zum Käfer; das kam erst später in der Literaturgeschichte. Was aber um
Himmels Willen hat Stifter dazu bewogen, in seiner Erzählung der Wilden ausgerechnet den Namen Juliana zu
geben! Er hätte ihr jeden anderen geben können. Kaum hätte man eine direkte Verbindung zu seiner Ziehtochter
hergestellt. Eigentlich müsste sich das Peinliche, insbesondere bei Stifters strengem Überich dem Aus- und
Zurschaustellen entziehen. Das Peinliche öffentlich machen wird erst Merkmal der Postmoderne und seiner
Medienkultur. Die Wahl des Namens muss ein Geständniszwang Stifters gewesen sein, Zeichen eines
Schuldgefühls, eine Art Rückkehr des Täters an den Tatort. Psychodynamisch dürfte der Geständniszwang
dieselbe Bedeutung wie sein Suizid wegen der ‚sündigen’ Völlerei haben. Es ist, als halte Stifters Vergangenheit
die Erzählung im Griff. Normalerweise würden Eltern bei einem Suizid ihres Kindes alle ihre ‚Sünden’ einfallen.
Stifter jedoch nimmt im Brief die Haltung ein „Ich war’s nicht.“ Sollte er im Brief gelogen haben wie er es als
Kind tat, als er sich einmal hässlich gegen eine Mitschülerin benommen hatte. Damals zog ihn der von ihm
verehrte Lehrer Josef Jenne zur Rechenschaft. Er leugnete seine Missetat, worauf der Lehrer ihm erwiderte:
»Das hätte ich nie von dir gedacht, dass du lügst!«104. Stifters Brief an Heckenast vom 26.4.59 klingt, als habe
Juliana ihm etwas angetan, als sei er das Opfer. Laut Roedl versuchte Stifter sich mit der Erklärung zu
beruhigen, Ursache für Julianas Suizid könnte ein körperlicher Antrieb infolge plötzlichen und heftig gestörten
Geschlechtslebens gewesen sein105. Wieso plötzlich und heftig? Fricke wiederum hat schnell die Diagnose
„Geistesgestörtheit“ bei Juliana zur Hand106. So sicher war sich Stifter diesbezüglich freilich nicht. An Louise v.
Eichendorff schreibt er, es könne sein, daß sie im Irrsinn verunglückte. Plausibler erschien ihm nach seinen
Nachforschungen „eine Übersetzung der Menstruation ins Gehirn“ als Ursache, damals eine gängige Diagnose.
Ein Hormon-SuperGau also? Von Julianas „verworrenen Handlungen in den letzten Stunden, bevor sie fort ging,
erfuhren wir erst, da sie schon fort war; kleine Anzeichen, die in unserer Gegenwart vorfielen, verstanden wir
nicht. Das Mädchen hatte sich in dem letzten Jahre sehr rasch entwickelt, war sehr üppig geworden, und viele
nannten sie schön. Sie war bis etwa 18 Stunden vor ihrem Fortgehen sehr fröhlich, ja lustig, tanzte, sang und
deklamierte im ganzen Hause, ja oft im Vorhause und auf der Stiege.“ Das erinnert an die Wilde auf dem Fels.
„Umso weniger konnten wir so etwas ahnen, und doch machen wir uns jetzt die bittersten Vorwürfe, daß wir das
Unglück nicht zu verhüten gewußt haben. […] Sie hätte einem glücklichen Lose entgegen gehen können. Wir
behandelten sie gut, sie bekam nie eine Strafe als nur Ermahnungen bei ihren Fehlern, und sie selber freute sich
oft kindisch über manches, was sie bekam oder was ihr in Aussicht stand. Sie war sehr gesund, nur eine tiefe,
lebhafte Röte überkam oft ihr Angesicht, was wir auf Rechnung ihrer Jahre und Entwicklung schrieben.“107 Die
Röte erschien Stifter als ungesund. Es könnte also Schamesröte gewesen sein. Das sollten wir im Auge behalten,
zumal auffällt, dass Stifter in seiner Beschreibung Julianas gern zum Superlativ „sehr“ greift.
Sollte die Verschlechterung von Stifters Gesundheitszustand, namentlich seine Völlerei und Trunksucht,
Ausdruck eines Schuldgefühls seiner Ziehtochter gegenüber sein, eines jener „giftigen Gefühle“ (eine Patientin),
die externalisiert werden müssen? Heute würde man an eine Posttraumatische Belastungsstörung denken.
Jedenfalls traten 1863 erneut Zustände von Angst und Niedergeschlagenheit mit Schluchzen und Weinen auf, die
103
1.10.1829
vgl. Roedl, a.a.O., 16
105
120
106
vgl. Fricke, a.a.O., 12
107
Brief an Louise v. Eichendorff, 6.5.1859
104
21
Stifter selbst als „Nervenübel“ diagnostizierte108. Bald darauf machte er seinen Vertrauten J.M. Kaiser zum
externen Überich, dem er zu Verschweigendes anvertraute109. Was das war, ist nicht bekannt.
„Begibst du dich in dein Inneres, dann sei bewaffnet bis an die Zähne“ (Paul Valéry)
Stellen wir uns vor, mit dem Idealbild einer durchsittlichten, nur noch durchseelten Frau im Kopf begegnet
Stifter seiner heranwachsenden Ziehtochter Juliana, deren fiktiven Zwilling er im Waldbrunnen als die
„schönsten Menschengestalt“ bezeichnet. Könnte Ziehtochter Juliana, als sie älter und „sehr üppig“ wurde,
Stifters alte Liebe zu Fanny getriggert haben und bei ihm mit der Rückkehr des Körpers aus seiner Verbannung
die sinnlich-erotische Leidenschaft, die Erregungen seiner fernen Jugend nochmals aktiviert haben? Und war
ihm dabei Amalia im Wege? Ich höre die Verehrer aufjaulen, sich die Haare raufend von Dämonisierung,
Demontage, von skandalträchtigem Blick auf Stifter zischeln110. Demontiert werden kann nur, was zuvor
montiert wurde, Stifter z.B. zum Aushängeschild einer geordneten, idyllisierenden, biedermeierlichen
Lebenswelt und damit zum gestanzten Literaturmaschinenprodukt.. Die Sorge ist durchschaubar: Die Berührung
mit Realseelischem stört den ästhetischen Genuss am Werk. Dennoch: “die schmerzliche Niederlage mit den
dämonischen Mächten in sich und außer sich gibt der zweiten Lebenshälfte den dunklen Mollklang“, so
Seebaß111. Für Spreckelsen ist der Mollklang kalt. Er spricht vom Experiment mit großer Kälte, von jämmerlich
ungleichen Waffen, vom Kalkül des Erziehers und davon, dass unter der klaren Oberfläche sich Verwerfungen
ahnen ließen, „die nicht entfernt widerspruchsfrei aufgehen wollen.“ Bisher erschien Spreckelsens Kritik eher
fern der Erzählung.
Abstrahiert man Spreckelsens Kritik jedoch vom Erzähltext, behält nur im Sinn, Stephan wollte von Jana geliebt
werden, liest sich die Kritik wie der Vorwurf einer Kindesmisshandlung oder eines Missbrauchs, jedenfalls
„unheimlich“. Kälte und jämmerliche Persönlichkeitsstruktur des Täters wären ebenso angesprochen, wie die
ungleiche Situation zwischen dem Erwachsenen und dem Kind und dessen jämmerliche Lage und schmerzliche
Niederlage! Damit kann nicht der manifeste Text der Erzählung gemeint sein! Und warum meint Spreckelsen
ausgerechnet hier, man müsse „die biographischen Hintergründe gar nicht kennen“? Haben sich im Brief
verschleierte Ereignisse in der Erzählung Gehör verschafft, so dass das Verdikt gar nicht der Fiktion, sondern
Stifters Umgang mit seiner realen Ziehtochter gilt? Sollte sich Spreckelsens Urteil auf tatsächliche Vorfälle, also
Biographisches beziehen, und welcher Natur könnten sie gewesen sein? Geht es um verbal, emotional oder
sexual abuse? Zu Jana sagte Stephan mehrfach: „»Tue, wie du willst«“. Hatte die wirkliche Juliana diese Freiheit
auch? Die Aktivität des Großvaters im Hinblick auf Jana steht in merkwürdigem Gegensatz zu der von Stifter in
seinem Brief behaupteten Passivität Juliana gegenüber. Sollte es sich im realen Geschehen um die impulshafte
Wiederkehr verdrängter Leidenschaft gehandelt haben, um jene von Stifter so benannte „fürchterliche Wendung
der Dinge“ (Granit)? In Stifters Werk herrsche ein starker Ordnungswille, der aber scheitern müsse.
Katastrophen würden nie bewältigt, sondern nur verschoben und kehrten immer wieder an die Oberfläche
zurück, schreibt Juliane Vogel112. Auf diesen bedeutsamen Verschiebungsmechanismus weist uns ausgerechnet Sorry – eine ‚Juliane’ hin!
Im Jahr 2013 verfügen wir über eine in mancherlei Hinsicht fragwürdige, aber für Naivitäten fraglos desillusionierende Kultur des Hinsehens. Wir machen uns bezüglich möglichen Missbrauchs keine Illusionen mehr.
Dass bekannte Persönlichkeiten bisweilen glauben, keinem Gesetz verpflicht zu sein, als gäbe es für sie kein
„Nom-du-Père“ (Lacan), also kein Non-du-Père, zeigen jüngste Enthüllungen. Wir haben keinerlei
Veranlassung, uns Denkverbote aufzuerlegen, auch nicht, was die Gottesfürchtigen anbetrifft. Diese haben
vielmehr allen Grund, ihren Gott zu fürchten. Auch das Argument Roedls, das dichterische Genie erlebe die
Welt anders und gebe das Erlebte anders wieder113, will heute nicht mehr ziehen.
Im Klartext: Begeht ein junges Mädchen im Alter von 18 Jahren Suizid, hat sie entweder Liebeskummer oder ein
schweres Problem mit ihrem Selbstwertgefühl, das mit Missbrauch zu tun haben könnte. Nicht umsonst sprechen
wir in einem solchen Fall von ‚Soulmurder’. Ein im klinisch-psychotherapeutisch-sozialen Bereich Tätiger
würde heute fahrlässig handeln, würde er bei einem Suizid(versuch) möglichen Missbrauch nicht in Erwägung
ziehen.
Hinzu tritt, dass es nach heutigen Erkenntnissen eine Konstellation gibt, die Übergriffe begünstigt: Abwesende
Mutter und ein mit seinem Leben unzufriedenes und alkoholisiertes männliches Familienmitglied. Beides trifft
auf Stifter zu. Betrachten wir die Fakten nüchtern: 6oo Liter Alkohol im Jahr sind kein zu vernachlässigendes
Symptom. Alkohol wirkt toxisch, betäubt das Überich und enthemmt damit. Überdies tendieren moralische
Masochisten – Stifter zeigt Züge davon - zu Impulshandlungen. Und sollte Juliana als Kind vor ihrem
Übersiedeln nach Linz bereits Übergriffserfahrungen gemacht haben – sie „hauste“ Roedl zufolge in armseligen
108
vgl. Roedl, a.a.O., 127
ibid. 141
110
vgl. Wiesmüller, W., in : Klein, M. (2009): Adalbert Stifter. Der 200. Geburtstag im Spiegel der Literaturkritik. Wien: Lit.
111
Seebaß, a.a.O., XI
112
zit. n. Kremsberger, a.a.O.
113
Roedl, a.a.O., 43
109
22
Verhältnissen an der ungarisch-serbischen Grenze114 -, wäre sie diesbezüglich besonders gefährdet gewesen. Sie
wären ein Prädiktor für Missbrauch. Jedenfalls scheint sie als Kind Probleme gehabt zu haben, da sie bei der
Übersiedelung zu den Pflegeeltern ‚bereitz schon viel Kummer’ machte.
Ob es im Hause Stifter zu gewalttätigen Übergriffen wie Schlagen kam, ist offen, aber denkbar. Stifter war
bereits durch die Krankheit seiner anderen Ziehtochter genervt. Offen bleiben muss auch, ob es zum sexuellen
Übergriff kam, ob Stifter zum von der sinnverwirrenden Schönheit Cölestes berauschten Almot (Das alte Siegel)
wurde. Die Hagiographen eiern da herum. Von „dunklen Stellen, von „Ungeheueres im Herzen tragen“, von
„gäremd Leidenschaftlichem“, von Abgründen“ ist die Rede115. Solche verschleiernde Bemerkungen stacheln die
Neugierde an, rücken offenbar zu Verschleierndes ins Blickfeld und provozieren beim Leser die Suche nach der
Wiederkehr des Verdrängten: auch eine Art Geständniszwang, diesmal der Lobredner. Dazu passt, dass eine
untergründige Angst vor Enthüllung durch Seelendoktoren durch die Texte über Stifter wabert. Sie sind jetzt die
Dämonen, wie sie einst im Kursbuch-Dossier aufs Papier gemalt wurden. Seelendoktoren aber wetzen nicht die
Zeigefinger, sondern hören zu. Allerdings sind Interpreten bei ihrer Arbeit, anders als der Leser, nicht am
ästhetischen Genuss orientiert.
Stifter trägt selbst zur Verschleierung bei: „Wir alle haben eine tigerartige Anlage, so wie wir eine himmlische
haben, und wenn die tigerartige nicht geweckt wird, so meinen wir, sie sei gar nicht da … wir alle können nicht
wissen, welche unbekannten Tiere durch die schreckliche Gewalt der Tatsachen in uns hervorgerufen werden
können, so wenig wir wissen, was wir im Falle eines Nervenfiebers reden oder tun würden“116. Das ist richtig,
nur ist der pluralis maiestatis in diesem Zusammenhang immer ein Trick, um sich zu entschuldigen: Na ja,
wenn’s alle tun … Durch die Bank versucht man mit Stifters Prosa sein Ungutes niederzuhalten, womit man sein
Werk in den Dienst uniformen Überblendens stellt, als hätte es reine Abwehrfunktion. Die Stille, das Klare, das
Paradiesische der Stifterschen Dichtung ruhe auf immer neu bedrohendem und bewältigtem vulkanischem
Grunde. Sein poetischer Stil schließe wie eine unsichtbare Mauer das Niedrige und Böse, das Entsetzliche und
das Sinnlose aus, dessen Dasein der Mensch Stifter nur zu wohl kannte und erfahren hatte, dessen Darstellung
aber der Dichter zu vermeiden habe, der auf das Hohe, Reine und Gültige gerichtet ist, so Fricke117.
Damit ist Stifter nicht gerettet und im Verdrängungseifer zu allem Überfluss seine Dichtung auch noch zur
reinen Konfliktbewältigung degradiert. Damit wäre Stifter nicht einverstanden, wie eine Bemerkung an Bruder
Anton zeigt: „Es ist ein Mann (Stifter, T.E.), der aus Liebe zur Dichtkunst die Liebe seiner Braut opferte und in
dem glücklich war, was ihm Gott verliehen“118, in der die Anspielung auf Goethes Tasso, aber auch auf Flaubert
nicht zu überhören ist. Freud sagt: „Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte.
Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine
Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit“119. Stifter verstand seine Prosa als
Herzensbildung. Seiner Juliana z.B. widmet er die Bunten Steine zu ihrem 12. Geburtstag: „behalte es als
Andenken; wenn Du einst von dem Guten weichen wolltest, so lasse Dich durch diese Blätter bitten, es nicht zu
tun“120. Mit dieser pädagogischen Anweisung schwenkt er allerdings wieder auf die Linie seiner Lobredner ein.
Entscheidend sei, daß Stifter mit seinen unguten Seiten nicht einverstanden war, nicht wollte, daß er war wie er
war, so Stadler. Er kannte sich, das Dunkle und das Ungeheuere. Er wies sich selbst immer wieder in die
Schranken, auch schriftlich.“121. Das ist alles schön und gut, aber die Poesie ist keine Gewähr, dass die
Treibkontrolle gelingt. Da wird Kuhn deutlicher: „Die heilsgeschichtliche Sinnkonstruktion und der rigide
Moralismus, an denen Stifter lebenslang festhielt, unterhöhlten seine kreatürliche Existenz gerade deshalb, weil
er in außerordentlichem Maß dazu befähigt und damit geschlagen war, die Zerbrechlichkeit und Unbehaustheit
der Kreatur sinnlich wahrzunehmen.“122. Es will und will nicht gelingen, das Ungute, die stacheligen Probleme
niederzuhalten, weil dieser Weg keinen Erfolg verspricht. Erst wenn das Ungute gedacht und klar benannt ist,
lässt sich das Gute wertschätzen. Stadler spricht von einem „schöngeschriebenen Leben, unter dem es
brodelt“123. Das Präfix „schön“ macht aber nur Sinn, wenn etwas Hässliches vorlag. Stadler ist neugierig
geworden und füllt die dunklen Stellen mit Inhalt. Stifter habe die Anlage zur Gewalt: Einen Bruder habe er als
Versuchskaninchen benutzt, ihn mit einem Messer aufgeritzt, weil er sehen wollte, wie das Blut fließt124. Oder
wollte er Blut fließen sehen? Der Bruderkrieg von 1866, „der eigentliche Todesstoß“125, der sein Nervenleiden
verschlimmerte, könnte für Stifter zum Trigger kindlicher Sadismen geworden sein. Die Katze, so Stadler weiter,
habe er in den Backofen gesteckt, Glasfenster zerstört und schließlich die Hand an sich gelegt. „Das sind frühe
114
ibid., 61
Seebaß, a.a.O., XIII ff
116
um 1846, zit. n. Seebaß, a.a. O., XII
117
Fricke, a.a.O., 16
118
Brief v. 22.9.1844
119
Freud, S. (1908e): Der Dichter und das Phantasieren. G.W., 7, S. 213–231, 216
120
16.2.1853
121
Stadler, a.a.O., 38
122
Kuhn, a.a.O.
123
Stadler, a.a.O., 73
124
ibid. 84
125
Seebaß, a.a.O., XV
115
23
dunkle Stellen, von denen andere aus Stifters Leben berichten. […] Das ist ja alles nur Spekulation. Aber jenem
Leser, der ich bin, hat sich das aufgedrängt.“126. Bleibt die Frage, ob es auch später dunkle Stellen gab, z.B. mit
Juliana. Immerhin: Wenn Stifters Bruder „Versuchskaninchen“ war, erinnert das an Spreckelsens Verdikt vom
Experiment. Die „kindliche Roheit“, die „derben Unsitten“ dürften den bäuerlich-derben
Sozialisationserfahrungen geschuldet sein127, aber man kann die Aktionen des Stifter-Bertl ebenso auch als
Ausdruck oralen Wut gegen die nachkommenden Geschwister verstehen. ‚Die Katze im Backofen’ heißt dann
‚zurück mit den Geschwistern in den Mutterleib’. Stifter sei ein „Triebtier“ gewesen, was die sogenannten
leiblichen Genüsse anbetrifft; solide sei Stifter nicht im entferntesten gewesen128. Aber Tiere zeigen keine
Völlerei.
Wenn wir alle eine tigerartige Anlage haben, ein Bild, dem man als Analytiker zustimmen kann, wenn auch
jeder die Art des „Tieres“ in sich selbst herausfinden muss, könnte es sein, dass durch die „Tatsache Juliana“ in
Stifter der „Tiger“ geweckt wurde. Sollten die Vorfälle aus der Kindheit in Oberplan hier „zu einer zweiten
Gegenwart geworden sein, so daß selbst noch der Leser den Schmerz nachempfindet, den Stifter beim
Aufschreiben dieses Frevels noch einmal befallen haben mochte“?129 Hat Spreckelsen diesen Schmerz
empfunden und mit seinem Verdikt über den Waldbrunnen tigerhaft zurückgebrüllt? Ernst Kris zufolge, der sich
mit kreativen Prozessen beschäftigt hat, zeigt die «Inspirationsphase» eine momentane Durchlässigkeit der IchGrenzen, die es dem Es erlaube, ins Ich einzudringen. Die Abwehr sei außer Kraft gesetzt und die Inhalte des
Unbewußten vorübergehend zugelassen. Infantiles magisches Denken wie Bildzauber, Beschwörungen,
Geisterglaube könnten ihre Wirksamkeit entfalten. Es könnten moralisch verpönte Regungen wie Gier und Hass,
aber auch sozial gefährliche Regungen wie Zerstörungswut oder Mordlust zum Bewußtsein Zutritt finden. In der
«Ausarbeitungsphase» würde die Abwehr wieder eingeschaltet und z.B. in Textgestaltung und Notwendigkeit
zur verstehbarem Darstellen als Prozesse des Sekundärvorgangs wirksam130. War also die Zeit mit der üppigen
Juliana eine ‚Inspirationsphase’ mit vielen gefährlichen Regungen, und die Zeit des Niederschreibens des
Waldbrunnen die ‚Ausarbeitungsphase’?
Wir müssen ferner davon ausgehen, dass das Überich Lücken hat. Stifters Vater fiel als Überich aus. „Mein
Vater“ ist das erste Wort im $achsommer, „und sogleich beginnt die Beschreibung einer geordneten Welt, in der
Stifter selbst nie lebte“131. Stifter flüchtete stattdessen in den Zwang, der von einer Triebtat abhalten soll. Er
ersetzt damit den fehlenden Vater. Als er als Kind Glasfenster zerbrochen hatte, eine Deflorationsphantasie, und
seine Mutter ihm die verletzte Hand verband, wetterte seine Großmutter: „Mit einem Knaben, der die Fenster
zerschlagen hat, redet man nicht.“132. Die Großmutter trat strafend, als Überich auf und fungiert als Aufpasserin,
damit die inzestuöse Situation zwischen Mama und Sohn nicht eskaliert. Später sind es der Bäcker und dann
Hebbel, die wie die Großmutter als Donnerschlag in die Idylle mit der Mutter einbrechen. “Meine ersten
Schriftstellerversuche liegen in meiner Kindheit, wo ich stets Donnerwetter beschrieb“133. Er dürfte nicht nur die
meteorologischen, sondern auch die Donnerwetter des Überichs gemeint haben. Seine Großmutter hat wohl wie
jene im Waldbrunnen einen „düsteren Lichtschein“ auf sein Leben geworfen.
‚Die Wörter verlassen den Kopf und ziehen in die Wälder’
(meine Mutter kurz vor ihrem Tod)
Stifters Verhältnis zur Natur kann man durchaus aus inzestuöser Perspektive sehen. Warum beeindruckt ihn die
Natur so, warum muss er sie immer wieder ins Feld führen? Warum kreiert er „großmächtige Winterbilder“
(Matz), warum erlebt er vereiste Landschaften als „eisesstarres Grauen“ (Matz), warum wie eine strafende
Katastrophe, die übers Land fällt? Man könnte bei Stifter an Katastrophilie denken. Ein anderer bliebe vielleicht
indifferent oder würde eine vereiste Landschaft als berückendes Bühnenbild oder wie das Werk einer
Zuckerbäckerei empfinden. Nein, nein, das geht bei Stifter nicht, der backende Stiefvater war ja eine
Katastrophe! Stifter nimmt die Natur als Metapher zur Beschreibung innerer Vorgänge. Für ihn sind
Naturereignisse mal harmonisch, mal katastrophal, weil plötzlich und unerwartet, wie emotionale Ereignisse
eben, wie Angst, Gewalt oder Leidenschaft. Natur indes kennt keine Gewalt, keine Leidenschaft. Aber die Seele
kennt sie. Es ist Stifters Erleben von der Natur. Indem er Gewalt und Leidenschaft dissoziiert und auf die Natur
projiziert, beseelt er Natur, auch wenn Matz meint, Stifters Dichten sei fern von jeder Naturbeseelung durch
126
Stadler, a.a.O., 84
Roedl, a.a.O., 16
128
Stadler, a.a.O., 18
129
ibid., 84
130
Kris, E. (1977): Die ästhetische Illusion: Phänomene der Kunst in der Sicht der Psychoanalyse. Frankfurt/M: Suhrkamp,
188
131
Stadler, a.a.O., 181
132
zit. n. Roedl, a.a.O., 12
133
Brief an Leo Tepe, 26.12.1867
127
24
menschliche Regungen134. Wenn Stifter an der Natur metaphorisch Innerseelisches darstellt, suggeriert er eine
beseelte Natur. Wir würden heute von Animismus oder projektiver Identifizierung sprechen.
Natur dient Stifter auch als Körpermetapher. Seine Illustration des Plöckensteinsees im Der Hochwald ist
diesbezüglich eindeutig. Karl Lugmayer zeigt in seiner Interpretation, wie Stifter den See vermenschlicht, zum
„Lebewesen“ macht. Wie man allerdings im Jahre 1953 im Wien Freuds noch von „Unterbewußtsein“ und
„Oberbewußtsein“ sprechen kann, wie es Lugmayer tut, und sich folgerichtig kategorial verirren muss, finde ich
mutig.135. Was er meint ist, dass fürs Unbewusste die Natur Urbild des Weiblichen ist, was wir, des Dichtens
nicht mächtig, nicht oder nur unzulänglich in Sprache zu fassen vermögen. Mit anderen Worten: Die Natur steht
für den Körper der Frauen/ der Mutter. Die Werbeindustrie weiß das. Die Natur ist Stifters Mutter und darum ist
seine Naturbeschreibung nicht von ungefähr vom Motiv des Eindringens gekennzeichnet. Ihre Befruchtung kann
man kaum naturhafter beschreiben, als Stifter im Der Waldbrunnen: Der (Mutter)Boden „hat Risse, Spalten,
Gänge und Öffnungen, in welche die Wurzeln der Bäume (der Penis) eindringen, auf dem die Gräser und
Blumen und Beeren (die Kinder) wachsen. Das Wasser (das Sperma), welches von den Wolken des Himmels
niederregnet, sinkt hinein und sinkt immer tiefer und überall rieselt es emsig (die Spermien) und still, und das
Rieselnde findet sich zusammen, und es rauscht dann in der Tiefe“ … des Uterus, ergänze ich freiweg. Bewusst
ist diese Schilderung als Erklärung der Naturvorgänge für seine beiden Enkel gedacht. Unbewusst ist sie
Aufklärung über die Sexualität und dem Leser Hinweis auf Stifters unbewusste Phantasie über einen Verkehr mit
seiner Mutter. Immerhin haben wir aus dem Waldbrunnen gelernt, dass der Inzest „menschliche Wesenheit“ ist.
Die Sexualität bleibt bei Stifter verschleiert und wird auf Naturschilderungen verschoben und dort untergebracht.
Das beginnt bei ihm in der Pubertät: „Dabei wirkte Schönheit, besonders der menschlichen Gestalt, zauberhaft
auf mich. Sehr bald trat sie mir auch in der Kunst und in der äußeren Natur entgegen, wie ich den kaum im
zehnten Lebensjahre durch die Schöpfung von Haydn in ein ahnungsreiches, wonnevolles Wunderland versetzt
wurde, und oft schon damals die schönen Linien und die Färbung unserer Wälder betrachtete“136. Nicht zufällig
assoziiert Stifter zur Natur die Musik. In Mein Leben hat er die Klänge eindeutig dem Mutterleib zugeordnet und
im obigen Zitat hat er menschliche Gestalt, Musik und Natur zusammenkomponiert. Im zehnten Lebensjahr
beginnt sich bei Stifter der pubertäre Triebdrang Wege zu suchen. A propos beseelte Natur: Über die Landschaft
an der Enns schreibt er, wer sie einmal gekannt und geliebt habe, der „denke mit süßer Trauer an sie zurück wie
an ein bescheidenes, liebes Weib, das ihm gestorben ist, das nie gefordert, nie geheischt und ihm alles gegeben
hat.“ (Der Waldgänger). Vorbach hat beobachtet, dass entscheidende Begegnungen zwischen Frau und Mann bei
Stifter meist in der Natur stattfänden137. Und so begegnet Stifter seiner Mutter in der Natur(beschreibung), denn
die Frau, die alles gibt, ist die (ideale) Mutter. Seine Beschäftigung mit der Natur steht für das erotische
Eindringen in die Mutter, den petit mort, letztendlich für den Tod als Rückkehr in den Mutterleib. Zuvor will er
noch die primary love genießen mit einer Mutter, die „nie fordert“.
Stifter erlebt und beschreibt die Natur intensiv und extensiv, weil er lebenslang ein inniges Verhältnis zu seiner
Mutter hatte. Sie dürfte ihn von früh an besonders beeindruckt, aber auch erschreckt haben, weil sie nicht
kontrollierbar war. Die Geburten der Geschwister konfrontierten ihn mit seinen ödipalen Wünschen und
während er in Kremsmünster war hat sie wieder geheiratet. Die ödipale Idylle wurde nach Vaters Tod von einem
(Zucker)Bäcker gestört, eine Naturkatastrophe, wie ein Eisregen, bei dem die männliche Potenz schrumpft! Das
kalte, strafende Überich macht kein Ausleben des ödipalen Begehrens mehr möglich.
Wann immer Stifter Natur beschreibt, versucht er die Mutter indirekt mit Worten zu lenken und zu steuern. Er
tut es auch direkt, wenn er den Worten magische Funktion zuweist: „»Ich suche die Frau auf, lasse meine Worte
fliegen, und wende sie von ihrem Manne zu mir.«“, sagt Kreidenberger im Waldbrunnen. In der Sprache des
Ödipus: Die Worte sollen die Mutter bewegen, den Vater zugunsten des Sohnes zu verlassen. Kreidenberger ist
Stifter. Er zeigt hier ein Motiv seines Schreibens: eine schöne Frau für sich gewinnen. An Fanny schreibt er, „die
Worte vertretten die Stelle des abwesenden Lieblings“138. Man denke an das Ringen Flauberts um Worte. Seine
Louise Colet hatte da keine Chance. Bei Stifter sind die Worte jetzt das Liebesobjekt. D.h., gebraucht er die
Worte, gebraucht er das Liebesobjekt. Zugleich ist der Liebling immer präsent. Worte sind für Stifter wie die
Nahrung Ersatz für die verlorene Person.
Bei Amalia haben Stifters Worte in dieser Funktion allerdings gründlich versagt. Wir aber können über Stifters
Naturbeschreibungen eine Menge sowohl über das erquickliche als auch das katastrophierende Erleben der
frühen Mutter lernen.
In diesem Zusammenhang gewinnt Bedeutung, dass Stifters Naturbeschreibungen - Natur als äußeres Korrelat
eines inneren Dramas - etwas Zwanghaftes („pedantisch ausgestrichelte Idylle“139) an sich haben – wie seine
Frauenbeziehungen -, als hätte er Sorge, Steuerungs- und Kontrollfunktion der Worte würden nicht ausreichen.
134
Matz, a.a.O., Pos. 164
vgl. Lugmayer, F. (1992): Karl Lugmayer über Adalbert Stifter. Vom Schwarzenberg zum Plöckensteiner See. In:
Oberösterreichische Heimatblätter 46, 1992 (Heft 1), 90–98
136
Brief an Gottlob Christian Friedrich Richter, 21.6.1866
137
Vorbach, a.a.O., 148
138
15.11.1829
139
Fricke, a.a.O., 15
135
25
Dieser Zwang dürfte als Vaterersatz fungieren, mit Hilfe dessen er seine Phantasien über die Mutter zu
kontrollieren versucht, damit sie ihm nicht zu verführerisch gerät, er nicht dem Inzest verfällt.
Ein Zwang hat indes nicht nur die Funktion, Triebhaftes unter Kontrolle zu halten, sondern er soll auch vor dem
Verfall an eine Psychose schützen. Psychose heißt u.a.: maligne, Angst machende Verschmelzung mit der
Mutter. Stifter hatte zeitlebens – nicht unbegründet - Angst vor dem Wahnsinn140. Das hängt mit seiner den
Vater ausschließenden Liebe zur Mutter zusammen. Wenn er seine frühen Schriften der Mutter widmet, andere
Leser aber als Deppen und Schreibende als tierische Tierfänger hinstellt, wählt er den perversen Modus, weil der
Dritte, der Vater entwertet ist. Darüber droht die Fusion mit der Mutter und der Größenwahn: “Leider streben
heutige Schreiber nach allen, selbst den hässlichsten Reizen … aber es ist auch leichter Tier als Gott zu sein, und
wer allerlei Begierden und weiß Gott was in sich hat, fällt auch jenen Schreibern zu“141. Versteht sich Stifter
bereits als Gott und mit seiner Asexualität allen überlegen? Sind der ödipale Rivale, der Vater, der Bäcker die
„Tiere“ während er sich als der vom Tierischen Gereinigte, als „geistlicher Herr“ der Mutter anbieten kann? Die
Ambivalenz der Vaterfigur gegenüber formuliert Roedl: “Wenn der Sohn seiner gedachte (dem Vater, T.E.), tat
er es mit betont kindlicher Ehrerbietung; dass dies nicht sehr oft geschah, dürfte weniger auf den frühen Verlust
als auf die lebenslange Bindung an die Mutter zurückzuführen sein.“142.
In Stifters Welt ist der Zwang wie Gott, der über allem ruht. Das zwanghaft Wiederkehrende des Naturmotivs
mit den darin enthaltenen Aufzählungen und Wiederholungen erinnert an das beschwörend murmelnde Beten
des Rosenkranzes. Tatsächlich zeigt Stifters Lebensgeschichte den Bogen vom Regressiv-Unstrukturierten hin
zum Zwang. In seiner Wiener Zeit soll er das Leben eines Bohemiens in chaotischen Zimmern geführt haben,
stellte angeblich einen Rekord im Wohnungswechsel auf (17 mal zwischen 1826 und 1849), was man sich bei
dem späteren Dichter des geordneten Lebens gar nicht vorstellen könne, so Stadler143, und kompensierte offenbar
seine Unsicherheit und Verlegenheit mit Kaspern144. Aus der Boheme sei ein Ordnungswahn geworden145 , aus
dem Kaspern könnte Ironie geworden sein146. Auch Stifters Essgewohnheiten zeigen Zwanghaftes, womit er sich
den Alltag strukturiert.
Sah ein (alter) Knab ein Röslein stehn
Wie auch immer: All dies heißt nicht zwingend, dass es zwischen Stifter und Juliana zu gewalttätigem oder
sexuellem Übergriff gekommen sein muss, wenn auch gieriges Küssen und enges Umschlingen vorstellbar
wären. Es muss real dergleichen nichts vorgefallen sein. Der Anblick seiner Ziehtochter könnte ‚nur’ Stifters
Phantasie angestachelt haben. Allerdings spricht die Psychoanalyse der Phantasie als innerer Realität dieselbe
Wirkung zu wie der äußeren Realität, weil die Phantasie für den Phantasierenden ebenso wirklich und damit
erschreckend und pathogen sein kann wie die äußere Realität. Die wegen einer Maus zitternd auf dem Schrank
sitzen, beweisen es. Der einzige Unterschied: Die reale Tat ist schrecklich für das Opfer, die in der Phantasie
begangene Tat, die kein reales Opfer hat, ist nur schrecklich für den Phantasierenden. Während der Täter meist
seiner Tat und dem Opfer gegenüber indifferent bleibt, weil seine Persönlichkeitsstruktur undifferenziert ist,
quält sich der Phantasierende, meist strukturierter, mit dem, was ihn gerade von der Tat abhält: das Gewissen
/Überich, vor dem er glaubt, sich wegen seiner Phantasie, die er für eine wirkliche Tat hält, verteidigen oder
rechtfertigen zu müssen. Kommt der Phantasie zufällig von der Außenwelt etwas entgegen, stirbt der, dem man
den Tod gewünscht hat z.B. durch einen Unfall, kann die Phantasie schwerer Schuldgefühle wegen zum Trauma
werden und dann gilt, was Stifter an Frau v. Eichendorff schrieb: „Die ersten Nächte brachten keinen
Schlummer, und der Tag keine Ruhe. Goethes Worte aus Iphigenia kamen bei uns in Erfüllung: ‚unaufhörliche
Betrachtung des Geschehenen’“147.
Während Stifter also vielleicht mit glühendem Auge Juliana verschlingt und sich dabei über brennende Lider
seine Augenentzündung geholt hat, die ihn beim Schreiben lähmt, dürfen wir nicht die Augen davor
verschließen, was es heißt, ein junges Mädchen als „blühende Rose“ zu bezeichnen. Wir wissen es seit Goethes
‚Sah ein Knab ein Röslein stehn’. Es ist eine Vergewaltigungsphantasie, wie jüngst Reich-Ranicki
bescheinigte148. Einen Vergleich der wilden Jana mit Goethes erotisch anziehender Mignon weisen StifterVerehrer entrüstet zurück. Was Nabokov kunstvoll aber unumwunden ausspricht: „Licht meines Lebens, Feuer
meiner Lenden“, darüber erfahren wir bei Stifter nichts. Sexualität gehört bei ihm zum Unaussprechlichen. Der
ganze $achsommer steure über tausend Seiten auf die in einem Satz abgehandelte Hochzeit zu. Die
140
vgl. Brief an Heckenast v. Juni 1865, z. n. Fricke, 12f
Brief an Fanny Fritsch, 18.5.1861
142
Roedl, a.a.O., 14
143
Stadler, a.a.O., 31
144
vgl. Roedl, a.a.O., 40
145
Stadler, a.a.O., 50
146
Berendes, J. (2009): Ironie - Komik - Skepsis. Studien zum Werk Adalbert Stifters. Tübingen: Niemeyer
147
6.5.59
148
FAS., 29.11.09
141
26
Hochzeitsnacht komme aber gar nicht vor, so Stadler149offenbar enttäuscht über die schier endlose Vorlust. Im
Waldbrunnen kommt die Sexualität natürlich vor, ich habe die Befruchtungsphantasie gezeigt, nur ist dort das
Feuer der Lenden nach oben und nicht zufällig auf Stephans Augen verschoben, denen in der stillen Kammer
unterm Kreuz die Tränen „entstürzten“. Das klingt nach einem Orgasmus des Auges, jedenfalls triebhaft, als sei
Juliana/Jana Inhalt einer Onaniephantasie gewesen. Horribile dictu! Stifter hatte in seinem Arbeitszimmer das
Bild einer Nackten von Peter Johann Nepomuk Geiger (1805-1880) hängen, versteckt hinter einem grünen
Seidenschirm150. Die Tücke steckt im Detail. Das weiß die Psychoanalyse und auch Stifter wusste das. Vielleicht
hatte er es ‚faustdick hinterm Vorhang’, vielleicht teilte er auch die Auffassung, die Nacktheit der Frau sei
weiser als die Lehre der Philosophen. Max Ernst jedenfalls sah das so. Geiger feiert in seinen erotischen Bildern
opulente Fleischeslust mit drallen Nymphchen, die an Deutlichkeit nichts zu Wünschen übrig lässt. Das
damalige Wien verdankt ihm die „Wiener Auster“, eine Stellung, die in Bordellen und vermutlich auch in
anderen Federbetten zur Gefragtesten gehörte. Gott sei Dank, kann man nur sagen, Stifters Auge schweifte
gelegentlich noch allzumenschlich über Irdisches. Die Psychohygiene fordert ihren Tribut. Bei soviel Sittlichkeit
muss eben hin und wieder ein dralles Ärschlein her.
Sah der alte Knabe also ein Röslein stehn und hat es in seiner Phantasie gebrochen? Hatte Stifter seiner Juliana
gegenüber eine solche Vergewaltigungsphantasie? Und seufzte diese, wegen ihrer toten Mutter an Liebesdefizit
leidend wie ihre fiktive Zwillingsschwester im Waldbrunnen wegen ihres toten Vaters: »Liebster, liebster,
liebster Bertl!« und Bertl, ebenfalls am Liebesdefizit leidend: »Liebste, liebste Juliana!« und dann wieder
Juliane: »Liebster, liebster Bertl!«. Und kam es darob vielleicht zu jener ‚Sprachverwirrung’ zwischen dem
Alten und der Jungen und dann zur „fürchterlichen Wendung der Dinge" (Stifter) mit den Folgen, die Ferenczi151
(1932) und viele nach ihm beschrieben haben? Im Waldbrunnen ist von all dem die Rede, nur habe ich es dort
Parentifizierung genannt - auch ein Missbrauch des Kindes. Stadler unterrichtet uns, in den $achsommer sei die
Liebe eines Hauslehrers zu seiner Schülerin als unerhörte Begebenheit hineinkomponiert (100). War das
Bedürfnis des einsamen, korpulenten alten Mannes nach primary love für die junge Juliana viel zu viel, viel zu
bedrückend, für ihre Seele viel zu bedrängend, gar zerstörend? Kreischte sie wie Cöleste „O meine Ahnung“, um
sich mit lautem ausschweifendem Schluchzen in die Kissen des Sofas zu werfen, „als müsse ihr das Herz
zerstoßen werden“152, und stürzte sie sich darauf vor Scham mit tiefer Röte im Angesicht in die Donau? Suchte
sie also, wie ihr Ziehvater später auch, im mütterlichen Fruchtwasser Schutz vor dem Andrängenden, wie sie es
mit 11 Jahren versucht hat, als sie davonlief?
Mit den Röslein und den Rosen ist das nicht so einfach. Rosenrotes taucht im Waldbrunnen immer wieder auf
und Rötliches findet sich in Mein Leben: „ein röthliches Osterlämmlein“. Wenn Stadler von Stifters Vorliebe für
die Rose und das Rosenrote salopp eine Verbindung zu dessen Bruder zieht: „Rot ist auch die Farbe des Blutes
von einst, als er seinen Bruder aufritzte“, dann setzt er uns noch auf eine andere Spur. Für Stifter scheinen auch
Jungs Rosen zu sein: „Gustav (eine Figur aus dem $achsommer) selbst ist eine Rose“ schreibt Stadler153 und –
ein Pflegesohn. Stifter könnte in Juliana auch einen Jüngling gesehen haben, um dessen Liebe er bettelte, wie im
Der Hagestolz ein kinderloser Greis um die Liebe seines Neffen.
Bei Stifter, der 4 Brüder hatte, weiß man nie, wer Objekt seiner erotischen Phantasie war. Er wirkt
unentschlossen zwischen den Geschlechtern, eher jedoch fixiert an die Brüder. Zumindest turtelt er in seinem
Œuvre gerne im androgynen Bereich. An Heckenast schreibt er: “Wenn ich auch ein Anbeter des schönen
Geschlechts bin, so ziehe ich heimlich doch das unsere ein bisschen vor“154. Gern vergleicht Stifter
Eigenschaften von Männern mit denen von Frauen. Bei von ihm geschilderten jungen Männern sind die Haare
ebenso wallend, die Augen ebenso groß und schwarz wie bei den jungen Frauen. Vor allem schildert er beide
ohne Geschlechtsmerkmale. Die Frauen könnten auch Männer, die Männer auch Frauen sein. So z.B. im
$achsommer: „Er war ein sehr kraftvoller Knabe […] in seinen Augen, die noch glänzender geworden sind,
erscheint mir etwas, das beinahe wie das Schmachten bei einem Mädchen ist. […] Gerade bei sehr kraftvollen
Jünglingen, deren Herz von keinem bösen Hauche angeweht worden ist, tritt in gewissen Jahren ein Schmachten
ein, das noch holder wirkt als bei heranblühenden Mädchen.“ Und schließlich: „Hugo blieb in der Stadt rein und
stark wie eine Jungfrau; denn in dessen Busen ein Gott ist, der wird von den Niedrigkeiten, die die Welt hat,
nicht berührt“ (Das alte Siegel). Das könnte ein Pfarrer von der Kanzel predigen.
Dass Stifter weibliche Züge hatte, „übermächtige“ sogar155, und zum weiblichen Empfinden tendierte156, ist
bekannt. Und er hatte guten Zugang zu seinen weiblichen Anteilen, die auf einer tiefen Identifikation mit seiner
149
Stadler, a.a.O., 93f
Oberleitner, H. (1952): Drei ungedruckte Briefe um Adalbert Stifter. In: Oberösterreichische Heimatblätter Jahrgang 6,
Heft 2, April-Juni 1952, 264. Online verfügbar unter
http://www.ooegeschichte.at/uploads/tx_iafbibliografiedb/hbl1952_2_261-264.pdf, zuletzt geprüft am 16.3.13
151
Ferenczi, S.(1932): Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der
Leidenschaft. In: Bausteine zur Psychoanalyse, III: Arbeiten aus den Jahren 1908-1933, 511–525
152
Das alte Siegel, zit. n. Vorbach, a.a.O., 143
153
Stadler, a.a.O., 93
154
31.10.1861
155
Roedl, a.a.O., 14
156
Vorbach, a.a.O., 31
150
27
Mutter beruhten, weshalb Berndt157 bei ihrer Interpretation von Mein Leben auf die Idee gekommen sein könnte,
Stifter fühle sich penetriert. Der weiblichen Identifizierung wegen lassen sich in seinen weiblichen Figuren Teile
von ihm selbst finden. Brigitta (Brigitta) reagiert auf Enttäuschungen genau wie er auf die Enttäuschung mit
Fanny reagiert hatte: mit Rückzug. Der Narzissmus macht keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Die
den Frauen fehlende Sinnlichkeit lebe in der Beschreibung von Männern auf, hat Stadler beobachtet158. So im
$achsommer: „Überhaupt gewann Gustav eine immer größere Neigung zu mir“. Stadler kommentiert:
„Umgekehrt wohl auch.“159. Stifter im $achsommer: „Ich weiß nicht, welcher innre Zug von Neigung mich zu
dem Jünglinge hinwendete, der in seinem Geiste zuletzt doch nur ein Knabe war [...] es müßte nur das Bild der
vollkommensten Güte und Reinheit gewesen sein, das ich täglich mehr an ihm sehen, lieben und verehren
lernte.“ Stadler hierzu: „Ich schon. Vielleicht war es auch bloß irdische Liebe. Stifter hat sich, scheint mir, mit
Gustav sehr weit vorgewagt. Jetzt kommen die Mädchen, aber mit weniger Empathie, als Sammelposten sozusagen.“ Es gebe im $achsommer mindestens drei Liebesgeschichten, u.a. „diese hier von Stifter am allerzartesten
gezeichnete, fast wie seine Wolkenstudien angedeutete: vom Ich-Erzähler und Gustav […] Es ist sozusagen eine
Liebe wie in Arabien oder in den südlichen Ländern, vor der Hochzeitsnacht. Die Geschichte mit Gustav ist auch
eine Liebesgeschichte, so zart und einfach wie die andere auch.“. Das Homoerotische schützt möglicherweise
vor der Angst vor der Frau. Anstatt jedoch die Sexualität zu thematisieren, spreche Stifter von „als Tüchtigkeit
kaschierter Körperlichkeit“ oder „verlogener Flucht in die Gesundheit“. Stadler interpretiert, Gustav aus dem
$achsommer fungiere „als Puffer zwischen dem Ich-Erzähler und seine fernen, nahem Geliebten“160. Vorbach
berichtet, Stifter sei als Künstler und Mensch „ungemein“ bei den Frauen beliebt gewesen und sei von ihnen
verehrt worden, habe sich ihnen jedoch nur durch geistige, künstlerische, gesellschaftliche Beziehungen
verbunden gefühlt. Sein „wunderbares Verstehen und die Hochschätzung der Frau“ habe sich eindeutig
außerhalb jeder Erotik bewegt161.
Stifter floh vor den Frauen in die Prosa und holte sich dort die benötigte narzisstische Zufuhr. Bruder Anton
schreibt er: „Ich mache mir das Vergnügen, Dir die ersten zwei Bände meiner Studien zu freundschaftlichem,
brüderlichem Angedenken zu schenken. Wenn ich vor Dir sterbe, so lese noch manchmal in diesen Zeilen und
denke, daß es mein ganzes Herz ist und alle meine Gesinnungen, was in dem Buche niedergelegt ist. Du wirst im
Heidedorf schöne elterliche und kindliche Gefühle finden. […] Es ist ein Mann, der aus Liebe zur Dichtkunst die
Liebe seiner Braut opferte und in dem glücklich war, was ihm Gott verliehen, und in dem, daß er bei den Eltern
ist“162. Der Mann im Heidedorf ist Stifter. Er hat Fanny gegen die Dichtung wie später gegen Enten und Forellen
eingetauscht. Stifter ging in die Prosa und konstruierte dort Frauen, um sich von den realen Frauen, z.B. Fanny
unabhängig fühlen zu können. Man hat ihm Flucht in die Idylle vorgeworfen. Ich denke, es war mehr. Wenn er
seine Welt in eine bessere, ihm gefälligere Ordnung versetzen wollte, dann war diese Ordnung von regressivutopischer Natur: Er flüchtet in die Liebe zu den Eltern, genauer: zur Mutter oder zu deren Repräsentantin, der
Natur. Selbst wortreich, hat er seine fiktiven Frauen zum Mutismus verdonnert: „Von den wunderschönen
Gedichtchen, welche Juliana soll machen können, stand auch jetzt keines bei ihrem Namen im Einschreibbuche“
(Der Waldbrunnen). In der Welt der Frauen soll - wie im Mutterleib auch - über allen Gipfeln Ruh sein. Nur
Stifter plaudert und die Frauen hören zu. So konstruiert man sich einen „sozialen Uterus“ (Battegay).
Fragliche ‚Indizienlage’
Gehen wir angesichts der „Indizienlage“ davon aus, Stifter habe seine Juliana einzig mit Blicken verzehrt und
nicht als „Wiener Auster“ vernascht. Bleibt die Frage, wie sich Amalia angesichts des Schmachtens ihres Gatten
gefühlt haben mag. Aus der Figur der Großmutter im Waldbrunnen lässt sich erschließen, Amalia könnte auf
ihre üppige Rosen-Nichte eifersüchtig gewesen sein. Vielleicht kam es zu heftigem, gegenseitig entwertendem
Gefrozzel, immerhin entstammten beide einem Milieu, in dem es derb zugegangen sein dürfte. Dies wäre ein
Prädiktor für einen verbal abuse. In Auseinandersetzungen, Vorhaltungen und Anklagen gegen Juliana könnte
sich Amalias Stimmung verdüstert haben. Vielleicht so: „Die Großmutter saß auf einem Schemel und hatte das
hie und da zerrissene Kleid um sich ausgebreitet, sie schaute auf den Vorgang, und um ihre Lippen war ein
Lächeln, das man nicht verstehen konnte, wie wenn etwa ein einziger Sonnenstrahl auf einen rauhen, dürren Fels
trifft und auf ihm einen düsteren Lichtschein hervorbringt“ (Der Waldbrunnen). So wie Stephans Hinwendung
zu Jana der Alten die Stimmung verhagelt hat, könnte es um Amaliens Stimmung bestellt gewesen sein. Das
zerrissene Kleid wäre Symbol ihres Verletzt- und Gekränktseins.
Die libidinösen und narzisstischen Hoffnungen, die Stifter in Juliana gesetzt hatte, mussten ihm Schuldgefühle
seiner Frau gegenüber machen. Im Brief thematisiert er ausschließlich Schuldgefühle seinem Verleger
gegenüber, im Waldbrunnen jedoch artikuliert der Ich-Erzähler zu Beginn sein schlechtes Gewissen seiner Frau
157
Berndt, a.a.O.
Stadler, a.a.O.,101
159
ibid., 99
160
ibid., 98ff
161
Vorbach, a.a.O., 30
162
Brief an Anton Stifter, 22.9.1844
158
28
gegenüber. Bereits in die Jahre gekommen, schwärmt er ihr dort von weiblichen Wesen vor, von denen er
glaubte, sie seien das Schönste, was es auf Erden gibt. So von einem Zigeunermädchen mit gelbbrauner
Hautfarbe wie ältliches Erz, gehüllt in rötlichbraunes, ausgebleichtes dünnes Zeug, dass man alle Gestaltungen
des Körpers verfolgen konnte. Die Arme hingen von den Achseln an nackt herab. Seine Nase war gerade, die
Lippen kräftig, die Augen sehr groß und schwarz wie die Haare. Geredet habe sie kein Wort.
Wir sehen Ziehtochter Juliana vor uns, mehr aber noch die mutistische Wilde, die auch, streckte sie sich, dunkle,
wie aus Erz gegossene Arme und einen Leib, schlank wie eine „Waldschlange“ mit dunklen Wangen, zeigte.
Die zweite „schönste“ (?) Menschengestalt, von der der Erzähler schwärmt, war eine Frau in schwarzem
Gewand mit großen schwarzen Augen, reichem schwarzen Haar, weißen Zähnen und einer Gestalt, für die
„nichts da [war], womit man sie hätte vergleichen können.“ Die Farbe ihres Angesichtes sei ungewöhnlich
dunkel, dunkler, als sich mit Schönheit vertrage; „aber gerade, weil in das Rosenrot ihrer Wangen ein wenig
Bräunlichschwarz gemischt war, glich die feine Wölbung dieser Wange so sehr der zarten Führung des
schönsten uralten Standbildes“ (Der Waldbrunnen).
Wir hören den Maler. Nach Vorbach finden wir hier überdies eine Stileigentümlichkeit, die Stifter vorwiegend
für die Frau in Anspruch nehme: „Den malerisch-plastischen Gebärdestil“. Auf Auge und Geste der Hand lege er
den größten Wert, die auf die plastische Ruhe und Statik ihres Charakters, auf die schlichte Gebärde als ihre
Sprache, auf die selbstgesetzliche Welt der Frau verweisen, die zu tief und zu reich sei, um sich in Worte fassen
zu lassen. Die Frau ist „schöne attische Muse“, „antike Priesterin“, „antikes Modell“163, Ikone eben.
Diese zweite „Schönste“ ist unsere Wilde, jetzt im Alter von 24, verheiratet mit Enkel Franz. Die Verwirrung im
Superlativ ist nur scheinbar, denn wir haben es mit ein und derselben Person zu tun. Dennoch dürfte sie auch
Stifters Idealisierung der Frau geschuldet sein, denn es gibt noch eine dritte „Schönste“: Muhme Louise Stifter
(seine Nichte, T.E.): „ […] eine Photographie, die sie im zwanzigsten Jahre ihres Alters darstellt, zeigt ein so
edles, schönes und herrliches Mädchen, wie ich nie (kursiv Original) gesehen habe.“164. Stifter dürfte von der
Schönheit der Frauen so verwirrt gewesen sein, dass er in die Asexualität „zurückprallte“ und den Frauen den
Sexappeal absprechen musste.
Wer Stifters Lebensgeschichte kennt, weiß, es gab nur eine Schönste: Franziska Geipl (Fanny). „Aus eigener
Erfahrung weiß ich, daß die Erstlinge solcher guter und reiner Gefühle, […], nie aus dem Herzen ganz
verschwinden“, schreibt der Sechzigjährige in einem Brief. Juliana/Jana dürften das Erbe von Fanny angetreten
haben. „Stifter lässt in jeder Dichtung die äußere Hauptwirkung seiner Frauen von ihren dunklen Augen
ausgehen, welche noch in der letzten Fassung der Mappe symbolisch aufleuchten165. Fanny hatte dunkle Augen!
Wird Deborahs Körperschönes in Abdias wegen das Fehlens innerer Schönheit noch als Unzulänglichkeit
empfunden, dass sie nicht nur der Frau, sondern auch dem Mann, der solche Schönheit als Motiv seiner Ehe
wählt, „zu schwerer Schuld gereicht“166, so fällt auf, dass Stifter in der späten Erzählung Der Waldbrunnen nur
noch die marmorne Schönheit der Frauen, also ihren Körper in den Vordergrund stellt, als wäre seine
Wahrnehmung nun wieder ganz auf den Körpermodus eingestellt. Da überzeugt nicht, wenn der Ich-Erzähler
seine Gattin als ‚die Schönste an Seele’ dagegenstellt, am wenigsten diese selbst. Nachdem er ihr von den vielen
jungen Schönsten erzählt hatte, merkte seine Gattin an, er hätte wirklich Unglück, seine Götterbilder nur unter
den Frauen zu finden, deren Farbe an die des Glockenmetalles erinnere, „wenn es nicht mehr ganz neu sei.“
Damit hat die Gattin die Konkurrentinnen zum alten Eisen gemacht. Der Erzähler beeilt sich: „»Und doch habe
ich das rosigste Mädchen mit der feinsten Farbe geehlicht, […[ das Mädchen, welches ich damals für das
schönste in Wien erklärte.« »Aber so schön doch nicht wie die Zigeunerin und wie die andere, welche vielleicht
von Zigeunern abstammt?«“ konterte unwirsch seine Gattin, des Schleimens überdrüssig. „»Höre mich, mein
holdes Kind«“, antwortete ich, „»In dem Baue der Glieder, denke ich, bist du nicht so schön wie das
Zigeunermädchen und die schwarze Frau; aber sonst bist du weit schöner, und mir bist du die schönste und
reizendste auf der Welt.«“ Soviel Schleim zwingt die Gattin nun hartnäckig das Gespräch auf den Punkt zu
bringen: „»Und wie alt waren denn deine Schönheitsgrößen, als du sie erblicktest?« »Daran habe ich wirklich
nicht gedacht«“, empörte sich der Gatte, um sich gleich zu decouvrieren: So weit er sich erinnere, war die
schwarze Frau zweiundzwanzig oder vierundzwanzig, das Zigeunermädchen ungefähr siebenzehn. Gesprochen
habe er mit dem Mädchen nicht, nur die Gestalt angeschaut, sich um ihr Wesen nicht gekümmert, „»denn an
Seele gibt es nichts Schöneres als dich, und da suche ich nicht weiter herum.« »Nun, so sei dir, wenn es so ist,
verziehen,« erwiderte seine Gattin, »daß du unter Zigeunern und Malaien schönere Gestalten findest, als deine
Frau ist.« Und ein recht freundlicher Kuß, um den ich bat, bekräftigte die Verzeihung.“
Da trieft einer vor schlechtem Gewissen. Gleichwohl: die Absolution will nicht gelingen. Ein „recht
freundlicher“ Kuss ist eben nur ein halbherziger Kuss. Kein Wunder, denn das Ganze ist ein Affront gegen
Amalia. Stifter erzählt ihr von den schönsten Frauen und zu allem Überfluss liest er ihr auch noch „alle Briefe
von Damen“ vor. Amalia sei „die geheimste Vertraute meiner Liebeskorrespondenzen“, schreibt er an Antonie
163
Vorbach, a.a.O., 144ff
Brief an Heckenast, 22.12.1856
165
Vorbach, a.a.O., 78
166
ibid., 124
164
29
Arneth167. Ob Frau Arneth über Amaliens Mitlesen ihrer Briefe erfreut war, sei dahingestellt. Kurzum: Stifter
sucht bei seiner Frau Entlastung von Schuld, als habe sie ihn beim ‚Geiger schauen’, dem Porno der Wiener,
erwischt. Zu Schuldgefühlen hatte Stifter allen Grund, denn Amalia war von Anfang an nur Ersatz für Fanny.
Amalia fungiert vielmehr ebenso als externes Überich wie sein Verleger, bei dem er um Vergebung wegen seiner
Augenerkrankung sucht. Wie Ödipus an seiner Mutter war Stifter an Juliana ‚erblindet’, d.h. er ‚konnte nicht
mehr’ (arbeiten). Die Kastration ist hier „augen“-fällig.
Das Peinliche und der Versuch der Wiedergutmachung
Julianas Suizid war eine narzisstische Katastrophe für den gottesfürchtigen Pädagogen. Man kann getrost von
einem narzißtischen Trauma sprechen. Stifter empfand Juliana gegenüber keine Schuldgefühle. Das wäre in
objektgerichtetes Gefühl gewesen. Nein, er reagiert selbstbezogen mit Angst um seinen Ruf. Sein Ichideal war in
Gefahr, gestürzt zu werden. War Juliana ein Selbstobjekt, für das er sich schämen musste? Aufgrund des bisher
Erörterten wäre das möglich. Stifter war weiblich identifiziert, die Wilde vertrat den triebhaften,
leidenschaftlichen Anteil seiner Persönlichkeit und sie war sein pädagogisches Objekt. Ihr Scheitern ist sein
Scheitern. Insofern würde er sich für einen Anteil seiner Person schämen. Mit seiner Erzählung Der
Waldbrunnen versucht er, die empfundene Peinlichkeit und die Angst vor Rufgefährdung wettzumachen. Zur
Ehrenrettung schreibt er sich in die Position des potenten Pädagogen. Wenn Stifter den Protagonisten des
Waldbrunnen ‚Stephan von Heilkun’ nennt, so könnte man auch ‚Stephan der Heilkun(dige)’ lesen. Fühlt er sich
im Brief noch geschockt der Peinlichkeit ausgeliefert, so betreibt er mit seiner Erzählung eine „Ästhetisierung
des Peinlichen“ (Pontzen).
Das Peinliche, die narzisstische Dramatik also, die in der Erzählung virulent ist, ist samt ihrer ehrenrettenden
Funktion ohne biographischen Hintergrund nicht zu verstehen. Ohne ihn wäre die Erzählung nichtssagend, nur
für Pädagogen vielleicht von Interesse. Vor dem biographischen Hintergrund hingegen erkennt man Stifters
Motiv. Hier soll ein Trauma zum Triumph umgearbeitet, die realen Verhältnisse korrigiert und in eine gefälligere
Ordnung gebracht werden. Der Held muss unverletzbar bleiben, ein Merkmal, an dem man „ohne Mühe – Seine
Majestät das Ich, den Helden aller Tagträume wie aller Romane“ erkenne, so Freud168. Bereits die Figur des
Großvaters ist gefälliger als die Wirklichkeit, da Stifter mangels eigener Kinder nie Großvater werden konnte
(von unehelichen Kindern ist nichts bekannt). Vor allem ist die Figur der Entwurf seines idealisierten
Spiegelbildes, seines pädagogischen Ichideals. Ein Zeitzeuge berichtet, Stifter sei mit seinem Ideal
verschmolzen, sei „identisch“ mit seinen Büchern, er lebe und spreche, „als wäre er nichts als eine Novelle, die
er selber geschrieben“169. Strukturtheoretisch gesehen ist sein Ich mit seinem Ideal eins geworden, klinisch
gesehen führt das in die Manie. Was sich Stifter in seiner Ehe gewünscht haben wird, können wir ahnen: Im
Waldgänger bleibt die Ehe von Corona und Georg kinderlos, was die Ehe zunehmend trübt. Corona veranlasst
ihren Mann zur Trennung, damit dieser sich anderweitig seinen Wunsch nach Kindern erfüllen kann. Amalia
jedoch war nicht Corona. Aber Stifters unbewusster Wunsch, Amalia möge sterbe, füllt sich mit Sinn. Die Kluft
zu schließen zwischen dem, was ist und dem, was sein sollte, erhoffte sich Stifter mit seinem poetischen Werk.
Nur der Unbefriedigte phantasiere, sagt Freud170. Oder - eine holländische Version - auch schön: Poesie sei der
„Gesang einer Entbehrung“ (van der Meer de Walcheren), griffig auch Musil, der meinte, um zur Kunst zu
finden müsse man sich erst mehrfach die Seele gebrochen haben. Goethe habe ich erwähnt. Despektierlicher
Stadler, der Stifter durchgehend als „Schönschreiber“ versteht. Aber - muss man sich immer wieder seine
Traumata vorspielen und sich darüber ständig retraumatisieren? Darf man keine Auswege suchen? Warum haben
die unglücklichen Hellenen schöne Skulpturen gemacht? Der Mythologie zufolge dient das Schöne der
Entschädigung für eine unglückliche Herkunft171. Stifter kam für damalige Verhältnisse mit einem Makel auf die
Welt: er war unehelich gezeugt. Dieser Makel wird zum Signifikanten, der sein ganzes Leben bestimmt. So wie
er der Ehe seiner Eltern voraus war, war er später der Pädagogik seiner Zeit voraus. Dann verliert er seinen
Vater, bekommt Fanny nicht, hat keine Kinder, kommt zu keinem Wohlstand, seine Pädagogik geht mit Juliana
in der Donau ‚baden’. All dies macht die Flucht ins Ideal verständlich. Als er schließlich mit dem $achsommer
seine narzisstische Wunde imaginär nicht heilen konnte, weil ihn Hebbel aus dem Dichterolymp stößt, eine
Wunde, die zu heftig blutete, und sein Witiko auch nicht den erhofften Erfolg brachte, stürzte er aus dem
Himmel der Idealität in die schnöde Realität, erkannte wohl die Unmöglichkeit, die ‚Kastration’ ungeschehen zu
machen und brachte sich um.
Dem Signifikanten des unehelich Gezeugtseins füge ich jetzt den von der Mutter artikulierten Signifikanten:
„geistlicher Herr“ zu werden hinzu. Letztendlich dürfte es die solchen Signifikanten eigene Wirkmächtigkeit
gewesen sein, die Stifter unbewusst veranlasst hat, sowohl die Liebschaft mit Fanny zu zerstören als auch an
Juliana den Auftrag ergehen zu lassen, sich zu töten. Des „Zölibats“ wegen durfte Stifter weder eine Geliebte
167
am 22.1.1853
Freud, S. 1908e, 220
169
Heinrich Landesmann, zit. n. Roedl, a.a.O., 78
170
Freud, S. 1908e, 216
171
vgl. Menninghaus, a.a.O.
168
30
noch ein Kind haben, also auch keine (Zieh-)Tochter, zumal eine solche zwangsläufig unehelich ist. Amalia,
zwar sexuell aktiv, war nur ‚Haushälterin’.
140 Jahre später
Wahrscheinlich wollte Stifter die Dinge seiner Welt nicht nur in eine gefälligere Ordnung, sondern schlicht in
Ordnung bringen. Es ist, als müsse er alle Objekte einschließlich seines eigenen Selbst vor dem „tigerartigen“ in
ihm retten: Den Bruder, die Katze, den Vater, Fanny. Alle sollen „Glück haben“ und in der Idylle leben. So auch
Juliana. Was er mit ihr in der Erzählung macht, ist ein Wiedergutmachen an dem nur 18 Jahre alt gewordenen
Mädchen. Er will ihr eine Zukunft geben, indem er das Leben skizziert, das er ihr gewünscht hätte, wäre sie
erwachsen geworden. Gleichwohl wollte Stifter mit dem Text nicht nur das Kind retten, sondern auch seinen
eigenen Narzismus. Sagen wir, er hat sich mit seiner Erzählung Der Waldbrunnen die pädagogische Hose wieder
hoch gezogen, um nicht beschämt dazustehen.
Da passiert etwas Merkwürdiges. 140 Jahre später, an seinem 200. Geburtstag holt, sozusagen als Geburtstagspräsent, das Feuilleton das Peinliche wieder hervor und verweigert dem Autor den Versuch der Ehrenrettung:
„Was in der Literatur gelang, das harmonische Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, glückte dem Dichter,
der als Hauslehrer, Schulrat und Inspektor der oberösterreichischen Volksschulen arbeitete […], nur selten. Und
das Scheitern eines dieser Erziehungsversuche mündet in eine Katastrophe“172. Es war die Katastrophe mit
Juliana. „Denn Stifters literarische Umdeutung von traumatischen Erfahrungen ist notorisch, die Vergeblichkeit
dieser Bemühungen aber teilt sich auf jeder Buchseite mit: All diesen Refugien, die sich der Autor im Lauf der
Jahre ersinnt, auf deren Beschreibung er große Sorgfalt verwendet und deren sinnreiche Einrichtung ihm viele
Seiten oder gar Kapitel wert ist - all diesen eingezäunten Idyllen fernab der Städte, allen pädagogischen Projekten wohnt etwas so offensichtlich Zwanghaftes inne, daß sie schon deshalb unterschwellig durch die Außenwelt
bedroht wirken.“173. Zu dieser bedrohenden Außenwelt gehört der Artikel in der F.A.Z. Bezog sich Spreckelsens
Verdikt zuvor noch auf das Vorgehen in der Erzählung, so stehen jetzt der Affekt, das Peinliche, die Scham, der
Zwang und das Vergebliche im Vordergrund.
Was hier passiert, erinnert an den hysterischen Anfall. Diesen mache undurchsichtig, dass die Hysterikerin „die
Tätigkeiten beider in der Phantasie auftretenden Personen auszuführen unternimmt“, so Freud. So könne die
Kranke mit der einen Hand (als Mann) das Kleid herunterreißen, während sie es mit der anderen (als Weib) an
den Leib presst174. Was die Hysterie als Monoperformance agiert, findet hier als Szene im Duo zwischen Autor
und Rezipient statt. Der eine zieht sich mit seiner Erzählung die Hose hoch, um dem Peinlichen zu entkommen,
der andere zieht sie ihm mit seinem Verdikt runter. Der eine will seine Ehre als Pädagoge retten, der andere
entehrt ihn mit dem Vorwurf des Zwanghaften und Vergeblichen: eine hysterische Pantomime, verlagert in den
Bereich des Narzissmus.
Drama und Trauma von 1859 wiederholen sich transepochal 140 Jahre später, als habe die Zeit keine
Beruhigung gebracht. Exakt dies ist Merkmal traumatischen Wiedererlebens. Das Trauma kennt kein Gefühl für
Raum und Zeit, weswegen es kein Verfallsdatum für sein Erleben gibt. Könnte Stifter den Artikel lesen, es wäre
ein flashback für ihn und er würde vermutlich vor Scham im Erdboden versinken.
Dass eine Erzählung von 1866, hier Der Waldbrunnen 140 Jahre später ein solch heftige Rezipientenhaltung
hervorzurufen vermag, dass sich in ihr ein Trauma, erlebt mit einem jungen Mädchen, das den Tod in der Donau
fand, 140 Jahre später noch so wirkungsvoll durchzusetzen vermag, macht ihren Reiz aus. Sie zeigt
beeindruckend, wie Poesie von Biographie imprägniert ist, wie und dass ein Trauma zur Wiederholung tendiert
und wie die Literatur von einer traumatischen Vorgeschichte heimgesucht werden kann. Sie zeigt auch: Freuds
Votum, der Dichter versetze seine Welt in eine bessere Ordnung, kann man dahingehend ergänzen, dass das
Verbesserte Rückschlüsse auf den ihm zugrundeliegenden Mangel erlaubt. „Wie einer denkt, daran kann man
sehen, was ihm fehlt“ (Goethe).
Die Erzählung imponiert als Vorgriff auf die psychoanalytische Heilpädagogik, ist sonst eher lahm. Sie ist zur
Traumabewältigung für den Autor wichtig, reißt jedoch mit ihrem gottgefälligen Happy End nicht vom Hocker.
Vielleicht hätte Darwin seine Freude daran gehabt. Er wollte nicht eine Person über hunderte Seiten
liebgewonnen haben, um sie am Ende sterben zu sehen und schlug deshalb vor, „ein Gesetz gegen unglücklich
endende Romane zu erlassen“175. Aber keine Frage: Der Waldbrunnen zeigt beeindruckend, dass Fiktion und
Biographie nicht zu trennen sind, denn der Inhalt der Erzählung kann nicht Anlass für die harsche Rezeption
gewesen sein, sondern was sich über den Text an Unbewusstem dem Leser mitteilt und ihn zur Rollenübernahme
zwingt. Berücksichtigt man die Biographie, empört sich der Leser darüber, wie schamlos Stifter hier
„schönschreibt“ (Stadler), eine Empörung, die u.a. Spreckelsen artikuliert. Wenn Stifter anlässlich des Todes
seiner Ziehtochter fürchtete, man könnte „Steine auf uns werfen“, denke ich, er hat aus einem unbewussten
Geständniszwang heraus im Waldbrunnen wirkmächtig inszeniert, dass seine Leser genau dieses tun - noch 140
172
Spreckelsen, a.a.O.
ibid.
174
Freud, S.1909a, 236
175
F.A.Z., 11.2.04
173
31
Jahre später. Davor kann ihn Verleger Heckenast nicht mehr schützen. Diese Rollenübernahme ist Spreckelsen
keineswegs anzulasten. Die Leserlenkung erzwingt sie - wenn man sich darauf einlässt. Im Gegenteil: In seiner
Widmung Stifters ansonsten kritisch-wohlwollend erschließt Spreckelsen uns erst über diese Rollenübernahme
die ganze Brisanz der Erzählung und der Ereignisse um sie herum.
Während die beiden nun mit ‚Hose rauf, Hose runter’ beschäftigt sind, verabschiede ich mich ….
E$DE
© Thomas Ettl Juni 2014
32

Documentos relacionados