Talcott Parsons 2003-4-076 Gerhardt, Uta: Talcott - H-Soz-Kult

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Talcott Parsons 2003-4-076 Gerhardt, Uta: Talcott - H-Soz-Kult
U. Gerhardt: Talcott Parsons
Gerhardt, Uta: Talcott Parsons. An Intellectual
Biography. Cambridge: Cambridge University
Press 2002. ISBN: 0-521-81022-1; 326 S.
Rezensiert von: Johannes Feichtinger, Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Wien
In der historischen Analyse wissenschaftlicher Theoriebildungen sind unterschiedliche
Verfahrensweisen signifikant. Sehen die Einen von äußeren sozialen, kulturellen und
historischen Einflüssen vollständig ab, so
dass der Anschein entsteht, dass es so etwas wie das „reine Denken“ gibt, beziehen
die Anderen in die Analyse der Entstehung
wissenschaftlicher Theorien den lebensweltlichen Kontext der maßgeblichen Akteure mit
ein. Die letztere Methode scheint besonders
fruchtbar, wenn sich die Sozialwissenschaften auf ihre Geschichte besinnen; sie ist um
so ergiebiger, wenn die untersuchten Autoren in ihrer Arbeit die brennendsten Themen
der Zeit aufgriffen, politisch engagiert waren
und Theorie nicht als Selbstzweck, sondern
als kondensierte Form von politischen Erfahrungen und Erkenntnissen begriffen. Die Rede ist hier von dem vielleicht einflussreichsten
amerikanischen Soziologen des 20. Jahrhunderts: Talcott Parsons (1902–1979).
Internationalen Stellenwert erlangte Parsons dank seiner Theorien über die Struktur
des sozialen Handelns und über soziale Systeme sowie seiner zahlreichen anderen Monografien und seiner mehr als 200 Aufsätze zu unterschiedlichen soziologischen Themen. So lieferte er einen maßgeblichen Beitrag
zur Ausbildung einer selbständigen akademischen Disziplin „Soziologie“ in den USA.
In seinem Standardwerk der 1930er-Jahre The
Structure of Social Action analysierte er die
Struktur sozialer Ordnungen: Dadurch, dass
sich Handelnde mit übergreifenden sozialen
Normen identifizieren, ist das Handeln der
jeweiligen Akteure im Prinzip berechenbar;
so sei soziale Ordnung gewährleistet. In dieser Theorie verschränkte er Grundaussagen
vier europäischer Wissenschaftler (Max Weber, Émile Durkheim, Vilfredo Pareto, Alfred
Marshall), um in der Nachfolge Max Webers
eine vom Sozialdarwinismus gesäuberte Soziologie zu entwickeln. Parsons hatte 1925/26
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in Heidelberg studiert. Social Action sollte
sich als Grundstock einer antidarwinistischen
Soziologie jenseits von Rasse, Volk und Nation erweisen, die seit der Mitte der 1960er
Jahre – durch Parsons vermittelt – auch in
Deutschland Fuß fasste.
Da der seit 1927 an der Harvard University tätige Parsons seine Systemtheorie aber auf
hohem Abstraktionsniveau entwickelt hatte,
wurde er seit dieser Zeit aber auch verstärkt
als Musterbeispiel eines apolitischen Gelehrten, dessen System von der sozialen Wirklichkeit absah, eingestuft. Dieses Bild von
Parsons revidiert die Heidelberger Soziologin Uta Gerhardt grundlegend in ihrer neuen „intellektuellen Biographie“. Was lange
Zeit als abstrakte Theorie aufgefasst wurde,
war in der Tat Ausfluss seiner unmittelbaren Erfahrungen einer von verschärften politischen Krisen geprägten sozialen Wirklichkeit. Auf jahrzehntelange Vorarbeiten zurückgreifend entwirft Gerhardt von diesem sozialwissenschaftlichen Klassiker ein neues plastisches Portrait mit historischer Tiefenschärfe. Sie stellt dessen Theorie mit den sozialen und politischen Zuständen seiner Zeit verschränkt dar. Zugleich legt sie aber auch seine Vorstellungen von der gesellschaftlichen
Entwicklung offen, die zwei verschiedene Extreme aufweisen konnten. Der eine Pol war
die Anomie, der andere die Integration; nur
der letztere entsprach in der Ansicht Parsons
der Demokratie, auch wenn diese von Zeit
zu Zeit Gefahr lief, in anomische Zustände
zu verfallen. So setzte sich Parsons intensiv
mit der Dynamik von Abbau und Wiedergewinn demokratischer Prinzipien auseinander.
Auch wenn diese in einer gefestigten Demokratie wie den USA von Zeit zu Zeit beschnitten wurden, bestanden für ihn keine Zweifel, dass die Demokratie in ihrer höchst entwickelten Form in der amerikanischen Gesellschaft beheimatet war. Die Verteidigung
der pluralistischen Demokratie war ihm Zeit
seines Lebens das massivste Anliegen, dafür wurde er auch politisch aktiv. Von diesem Demokratieverständnis konnte auch das
von Hitler befreite Deutschland maßgeblich
profitieren, sollte seine Vorstellung des „kontrollierten institutionellen Wandels“ doch die
mittelfristige amerikanische Politik im okkupierten Deutschland mitbestimmen.
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Gerhardts Biografie spürt mit Akribie nach,
wie Parsons Theorie vom Zeitgeschehen beeinflusst war, wie er seine Diagnose der Zeitund Gesellschaftszustände in seinem Werk
verarbeitete und wie er das Zeitgeschehen
im Sinne der pluralistischen Demokratie einflussreich mitgestaltete. Die Autorin verlinkt
Scholarship und Politik. Stützten sich die bisherigen Studien hauptsächlich auf Parsons
Schriften, beruht die vorliegende Monografie
auf umfangreichen Quellenstudien im Archiv
der Harvard University. In den verschiedenen unveröffentlichten Aufzeichnungen, Memoranden, Rohfassungen von Manuskripten,
Briefen usw. wird sein politisches Interesse
offenkundig. Gerhardts Analysefeld ist noch
weitläufiger: Sie belässt es nicht bei der Verarbeitung von Dokumenten, sondern sie arbeitet auch jene Literatur auf, die in einer
bestimmten Zeit für Parsons prägend war.
Dadurch, dass sie Werk und Quellenmaterial miteinander verschränkt, gewinnt sie ein
umfassendes, detailreiches und von fehlerhaften Zuschreibungen gesäubertes Bild dieses
soziologischen Klassikers. Gerhardt konzentriert sich in ihrer Biograie auf vier zentrale Phasen seines innovativen Schaffens, die
sie in ebenso vielen Kapiteln darstellt: Der
Neuinterpretation der Structure of Social Action folgt ein Blick auf Parsons soziologischer
Analyse des Nationalsozialismus, danach beschreibt sie seine Rolle im Harvard Social Science War Effort und in der Social Science
Research Council Initiative, um mit Parsons
Theorie zur amerikanischen Gesellschaft in
den 1960er-Jahren abzuschließen. Im Dunkeln
verbleiben die 1950er-Jahre. Scheint die Zeit
der Eisenhower-Administration in Bezug auf
Parsons auch weniger bemerkenswert (dem
McCarthyism wird ein kurzes Kapitel gewidmet), so wäre eine eingehendere Betrachtung
der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, in der
sich die Vorgeschichte zu seiner neuen Theorie der 1960er-Jahre abspielt, doch aufschlussreich. In einer Neuauflage des Buches wäre
auch noch die Analyse der 1970er zu leisten.
Im ersten Abschnitt rekontextualisiert Gerhardt The Structure of Social Action (1937).
Sie begreift Parsons Theorie als Kondensat
seiner Analysen von amerikanischer Demokratie und NS-Totalitarismus. Seinen ersten
Weltklassiker sieht sie im Lichte einer Kritik
an den ideologischen Wurzeln von Zwangsherrschaft in Europa, die da waren: der Sozialdarwinismus, seine Vorformen (Spencer)
und verschiedenen Varianten, pseudowissenschaftliche Rassismustheorien und eine mechanistisch evolutionistische Wissenschaftsauffassung, die in der amerikanischen Soziologie der 1930er-Jahre noch durch einen utilitaristischen Positivismus verwurzelt war. Mit
Talcott Parsons vollzog sich der „lange Abschied“ der Soziologie von solchem naiven
Szientismus.
Im zweiten Teil vertritt Gerhardt die These,
dass sich Parsons Soziologie zwischen 1938
und 1945 maßgeblich von der politischen Krise in Deutschland leiten ließ. Er analysierte die strukturellen Mechanismen des NSRegimes und verglich diese mit jenen der Demokratie, um seine Theorie von der Dichotomie von Anomie und Integration in der sozialen Struktur durch empirische Anschauung
zu bewähren und zu vertiefen. Im Nationalsozialismus sah er jenen gefährlichen Typus einer charismatisch-traditionalen Ordnung, der
sich vom rechtsstaatlichen Ideal anglosächsischer Prägung verabschiedet hatte und es
auf die Zerstörung der westlichen Zivilisation absah. Dem integrativen demokratischen
Pluralismus fühlte er sich aber nicht nur als
Soziologe, sondern auch als politischer Aktivist verpflichtet. Auf letzteren, der lange
Zeit im Schatten der Forschung lag, wirft
Gerhardt ihr besonderes Augenmerk. Parsons
hatte so manchem verfolgten deutschen und
österreichischen „refugee scholar“ (Eric Voegelin, Hans Speier) zur Flucht nach Amerika verholfen; auch betätigte er sich als überzeugter Demokrat und Anti-NS Aktivist. Er
befürwortete vehement die Intervention der
USA im Kampf gegen Hitler. An der Harvard
School of Overseas Administration ließ er seine systemtheoretischen Erkenntnisse in die
Ausbildung zukünftiger Besatzungsoffiziere
einfließen und als Adviser der Foreign Economic Administration der US-Administration
für die Nachkriegsplanung in Deutschland
trat er vehement für den kontrollierten institutionellen Wandel in Nachkriegsdeutschland ein. So untermauerte seine soziologische
Expertise auch die Sichtweise, dass der Morgenthauplan, der die Rückführung Deutschlands in eine Agrargesellschaft vorsah, für die
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U. Gerhardt: Talcott Parsons
weitere Demokratisierung dieses Staates verderblich war: Die Gefahr eines wiederauflebenden Nationalismus war für Parsons nicht
auf dem Wege der Deindustrialisierung zu
überwinden, das Ziel musste vielmehr die Demilitarisierung sowie die Modernisierung der
deutschen Wirtschaft sein.
Im dritten Abschnitt legt Gerhardt die
zeithistorischen Hintergründe seines zweiten Klassikers The Social System (1951) offen: Darin analysierte Parsons die Demokratie als integratives soziales System, um
als Modell für die Transformation früherer
(Deutschland und Italien) und – soweit absehbar – des zukünftigen Sowjetkommunismus zu dienen. Zwar waren auch Demokratien vor dem Verfall in anomische Zustände (McCarthyära) nicht gefeit, durch sozialen
Wandel und „institutionalisierte Rationalisierung“ konnten sie sich aber wieder aufrichten
und stabilisieren. Dieser Standpunkt gewährte den optimistischen Ausblick, dass auch der
Sowjetkommunismus früher oder später zum
Untergang verurteilt war. The Social System
war maßgeblich von seinem Engagement im
Harvard Social Science War Effort und an
der Social Science Research Council Initiative inspiriert. Parsons hatte nicht nur als AntiAtomwaffenaktivist Stellung bezogen, später
sollte er auch öffentlich für die Bürgerrechte
der Schwarzen auftreten.
Im vierten Teil ihres Buches steht Parsons späte Theorie der 1960er-Jahre im Mittelpunkt. In The Social System verfolgte er das
Ziel, die moderne Demokratie in ihrer entwickeltsten Ausformung einer neuen Analyse zu unterziehen, hatten doch die USA in der
jüngsten Zeit im Lichte des Vietnamkriegs,
der Bürgerrechtsbewegung und der Studentenrevolte einen strukturellen sozialen Wandel durchlaufen. Auch hier verfolgte die soziale Systemanalyse einen konkreten politischen Zweck: Die Gesellschaft sollte durch
die Schaffung einer vernünftigen Wissensbasis vor einem neuen Weltenbrand bewahrt
werden. So war ihm auch weiterhin politischer Aktivismus ein Anliegen. Als Präsident
der American Academy of Arts and Sciences
erhob er nicht nur das Wort gegen den Vietnamkrieg, sondern er bezeichnete auch Watergate als eine ähnliche Gefahr für die amerikanische Demokratie, wie einst der McCar-
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thyism eine gewesen war. In der McCarthyära
war Parsons selbst in den Verdacht geraten,
ein kommunistischer Sympathisant gewesen
zu sein.
Das Verfahren, das Gerhardt in ihrer intellektuellen Biografie anwendet, ist zweifelsohne ertragreich. Diese Art der dichten Beschreibung könnte auch methodische Impulse für
die biografische Aufarbeitung anderer bedeutender deutschsprachiger Sozialwissenschaftler liefern. Zuvorderst sind die Österreicher
Felix Kaufmann, Alfred Schütz und Paul Lazarsfeld namhaft zu machen, deren einflussreiches Wirken in den USA eine umfassendere intellektualbiografische Würdigung dieser Art längst verdienen würde. Diese Liste ließe sich aber um viele weniger bekannte und noch bekanntere Namen fortsetzen.
Selbst Max Weber, dem Talcott Parsons Theorie viele Impulse verdankt, könnte durch eine
Biografie dieser Art in neuem Licht erscheinen.
HistLit 2003-4-076 / Johannes Feichtinger
über Gerhardt, Uta: Talcott Parsons. An Intellectual Biography. Cambridge 2002, in: H-SozKult 07.11.2003.
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