Untitled - Hotel Wedina

Transcrição

Untitled - Hotel Wedina
Inhaltsverzeichnis
Sven Amtsberg Wedina Schulze ........................................... 06-09
Sigrid Behrens Wedina I + II .............................................. 10-11
Simone Buchholz Sieben Zimmer, eine Bar ............................ 12-18
Nino Haratischwili Die Überraschung .................................... 20-25
Karen Köhler Herr Wedina wacht auf ....................................
26-29
Benjamin Maack Gute Nacht ............................................... 30-31
Wolfgang Schömel Der Glücksspiegel ....................................
32-37
Frank Schulz Sag, fremdes Hemd .........................................
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Katrin Seddig Einen Tag älter und wieder ein Winter am Ende ...... 40-41
Michael Weins Flüstern ...................................................... 42-45
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Ein Wort vorweg
Was wären wir für ein Literaturhotel, wenn wir uns nicht auch um
beflügelnd-unterhaltsame Bettlektüre kümmern würden?
Für das vorliegende Büchlein haben wir zehn Hamburger Autoren
gebeten, eine Nacht in unserem Hotel zu verbringen und, inspiriert
vom eigenen Zimmer, eine „Gute Nacht Geschichte“ für unsere Gäste
zu schreiben. Sigrid Behrens, Nino Haratischwili, Michael Weins und
sieben weitere Schriftsteller sind dieser Bitte gefolgt und haben uns
mit schaurig-schönen Geschichten und Gedichten beschenkt.
Nun liegt es an Ihnen: Lernen Sie eine durchgeknallte Psychopathin
namens „Wedina Schulze“ kennen, erleben Sie eine turbulente Flucht
mit einem Elefanten, einem Bär und einem Äffchen und erfahren Sie,
inwieweit der „Glücksspiegel“ unseres Zimmers 411 auf spirituelle
Erotik verweist.
Ich freue mich, wenn Ihnen unser erstes Gute Nacht!-Büchlein so viel
Freude bereitet wie mir — nehmen Sie es als persönliches LiteraturSouvenir aus Hamburg mit auf Ihre Reisen.
Felix Schlatter
Hotelier
Hamburg, März 2016
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Sven Amtsberg
hauptsächlich Tiersendungen, so Wedina, er sei extra für sie angefertigt
worden. Wieder war ich versucht, ihr nicht zu glauben, doch tatsächlich –
was wir auch sahen, es kamen Tiere darin vor. Selbst in der Tagesschau
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Wedina Schulze
sah man eine dicke Perserkatze auf dem Schoß von Jens Riewa schnurren.
Sie nannte sich Wedina Schulze und sah im Grunde auch so aus. Wir
sie mich auf eine Art, die mich daran erinnerte, wie ich in meiner Jugend
hatten uns am Hauptbahnhof kennengelernt. Ich hatte gesagt, ich sei
einmal einen Hund gewaschen hatte.
auf dem Weg nach München. Sie hatte mich irgendwann gefragt, ob
Kurz darauf hörten wir jemanden im Gang. Sie nahm meinen Mantel
ich nicht mit zu ihr kommen wolle. Dazwischen hatten wir festgestellt,
und den Koffer, schob beides unters Bett. Bedeutete mir dann, mit ihr
dass trabende Ponys auf uns beide eine beruhigende Wirkung ausübten.
ebenfalls unter das Bett zu kriechen.
Zumindest von hinten.
Dort lagen wir und hörten kurz darauf, wie ein Mann
»Seelenverwandt«, hatte sie gesagt, meine Hand genommen und mich
schwer atmend das Zimmer betrat. Er schien einen
hinter sich her von den Gleisen weg durch St. Georg gezogen. Es war
Rollkoffer hinter sich herzuziehen, setzte sich dann
durch allerlei Straßen gegangen, durch die ich zuvor noch nie gegangen
aufs Bett und sah sich vermutlich eine Weile im
bin oder die mir zumindest nun, mit ihr, fremd vorkamen. Schließlich
Zimmer um, bevor er ins Badezimmer ging, wo wir
betraten wir eins der Häuser, gingen darin durch graue Gänge, vorbei an
kurz darauf das Klimpern der Gürtelschnalle hörten.
Zimmern mit Zahlen darauf. Was die Zahlen bedeuteten, fragte ich sie.
Ich sah sie nur an.
Sie blieb kurz stehen. Sagte: »Ich bin Waliserin. Im Walisischen würde
»Manchmal vermiete ich das Zimmer unter«, flüsterte
etwa die Zahl 303 Schulze bedeuten.«
sie. »Um Geld zu haben. Für das Zimmer.«
Vermutlich war das das erste Mal, dass ich ihr nicht glaubte. Das zweite
Unter dem Bett lagen neben ihrer Kleidung etwas Toastbrot, ein Glas
Mal war in ihrem Zimmer, als ich sie erstaunt fragte: »Hier wohnst du?«
Marmelade und Mandarinen. Lautlos bestrich sie eine Scheibe Brot und
Sie sah mich an, sah dann zu Boden. »Entschuldigung, aber ich leide
reichte sie mir, und während der Mann wiederkam und sich aufs Bett
unter einer Persönlichkeitsstörung. Ich kann mich nur schwer selbst
legte, sodass sein Körper durch die Matratze sich zu uns nach unten
ansehen. Deshalb sind hier keine Fotos oder sonst etwas Persönliches.«
drückte, aßen wir lautlos ungetoastetes Toastbrot. Ließen den Speichel
»Und was ist mit dem Spiegel im Bad?«
so lange darauf einwirken, bis wir es ohne zu kauen lautlos schlucken
»Ich putze die Zähne immer mit geschlossenen Augen oder konzentriere
konnten.
mich auf die Wanne. Deshalb habe ich auch so schlechte Zähne.« Sie
Den ganzen Abend lagen wir dort und hörten dem Mann zu, wie er
öffnete den Mund, half mit den Fingern nach, ich mochte nicht hinsehen.
fern sah. Später rief er bei einer der Sendungen an, und wir hörten ihn
Immerhin gab es Bücher in dem Zimmer, und der Fernseher zeigte
gleichzeitig im Zimmer und im Fernsehgerät sagen, dass er das Gefühl
»Ich lüge nicht«, betonte sie und zog mir den Mantel aus. Dann küsste
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habe, beobachtet zu werden. Der Moderator entgegnete, das sei ganz normal
ihn. Eingerollt lagen wir unter seinen großen Achseln, aus denen es nach
in einer Großstadt. Ihm selbst würde es oft auch ganz ähnlich gehen.
Amerika roch. Zumindest stellte ich mir Amerika so vor.
Der Mann solle alles Augenähnliche wie Knäufe, Schlüssellöcher oder
Ich musste schnell eingeschlafen sein, träumte jedoch von dem weit
Wasserhahnöffnungen aus dem Zimmer entfernen oder aber verkleben.
aufgerissenen Maul eines Bären und erwachte wieder. Wedina und der
Das würde helfen. Ganz sicher.
Mann schliefen noch. So leise ich konnte, schlich ich mich aus dem
In der Nacht konnte der Mann nicht einschlafen. So wie wir. Er wälzte sich
Zimmer, lief zum Bahnhof und nahm dort den erstbesten Zug, den ich
hin und her, ließ dann die Hand über den Bettrand baumeln, wo Wedina sie
kriegen konnte.
ergriff und so lange tätschelte, bis der Mann kurz darauf doch einschlief.
Zuvor habe ich noch diesen Text geschrieben. Sie sollen Bescheid wissen.
»Komm«, sagte sie. Wir krochen unter dem Bett hervor, standen dann in der
Sie sind nicht allein. Da ist noch wer. Sehen Sie nach, im Schrank, unter
Dunkelheit, die nach Männermundhöhle roch. Wedina verschwand kurz im
dem Bett. Manchmal kauert sie auch unter dem kleinen Schreibtisch in
Bad, wo sie laut das Wasser laufen ließ.
ihrem Zimmer, in einem wandfarbenen Gewand. Sie rieche so gerne Fuß,
Ich stand da und starrte diesen schlafenden Mann an, dessen Umrisse
sagt sie. Also, passen Sie auf. Sie sind nicht allein.
sich allmählich aus der Dunkelheit schälten, sodass ich ihn immer
deutlicher erkennen konnte. Mehr als mir lieb war. Ich hatte lange nicht
mehr oder vielleicht auch noch nie einen schlafenden Mann gesehen
und war einigermaßen fasziniert, wie sich mit jedem Atemzug der ganze
Leib aufzupumpen schien und sich erst mit dem Ausatmen so etwas wie
Erleichterung einstellte. Er erinnerte eher an eine Maschine als an ein
menschliches Wesen, und ich musste – ein Blitzen riss mich aus meinen
Gedanken. Wedina, die vor dem Mann hockte und ein Foto von ihm machte.
Schließlich begann sie Luft aus seiner Mundhöhle zu atmen.
»Dann kann ich mir besser vorstellen, wie es ist, er zu sein«, wisperte sie.
Ich nickte unsicher. War froh über die Dunkelheit, in der ich im besten Falle
nachdenklich wirkte.
Wedina griff unter das Bett und holte einen Pyjama hervor, den sie sich
überzog. Sie stieg zu dem Mann ins Bett und schmiegte sich an ihn.
»Komm«, wisperte sie, und nachdem ich erst zögerte, legte auch ich mich
vorsichtig zu dem Mann – ich war müde, es war ohnehin inzwischen egal,
bei alledem, was schon passiert war – und schmiegte mich versuchsweise an
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Sigrid Behrens
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Wedina I
Wedina II
Fast wie zu
Haus ein
Häuten im Kopf
kein Körper
frisch
in diesem Raum
der Boden warm ganz
wie die Hand die
Kanten schärfer
als der Blick das Kissen
in Gedanken weiß
der Weg der bleibt
ist lang genug und dieses Fenster
wie erschütternd
dieses Glas kennt keine Angst
als wär die Aussicht fortgeweht
längst dorthin
wo man hingehört
Und wenn wir es
schließlich
doch offen ließen
die Tür fällt lautlos
das Blatt vor die Füße
uns treiben ließen und die Zeit
in Strömen
Schlangen
Linien
wenn Sonnenstrahlen uns voran
und fort
und während
liegen blieben wenn wir
endlich
ohne Zögern
und die Betten
ungemacht
Ungemach war gestern Liebling
heute folgen wir dem Fluss
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Simone Buchholz
SIEBEN ZIMMER, EINE BAR
neues Auto, fahren nach Berlin und knöpfen uns eine
Bank vor.“
Die beiden hatten sich nach dem Abitur dummerweise für
ein Betriebswirtschaftsstudium entschieden. Jetzt tun
sie, was man ihnen beigebracht hat, und rauben die Welt
aus.
EINS
„Sunny?“
„Jack?“
„Ich kann nicht schlafen.“
„Kann auch nicht schlafen.“
„Rauchen?“
„Rauchen.“
Die beiden, gerade mal 21 und 23 Jahre alt, rutschen
vom Bett und sind so schnell am offenen Fenster wie nur
sehr junge Menschen schnell am offenen Fenster sind.
Früher hätten Gangsterpärchen die Nichtraucher-Schilder
im Zimmer ignoriert oder gar nicht erst gesehen und
schön auf dem Bett geraucht, im Liegen und beim Lieben.
Aber heute kann man das nicht mehr bringen, gerade als
Gangsterpärchen. Wegen der Rauchmelder. Eine Zigarette,
zack, kommt die Feuerwehr. Zack, auch die Polizei.
Zack: hat sich’s ausgegangstert.
Sunny und Jack, die eigentlich Sonja und Jakob heißen,
lehnen sich aus dem offenen Fenster und rauchen schädliche Zigaretten.
„Und morgen?“
Sunny dreht sich geschmeidig um die eigene Achse und
lehnt sich rückwärts aus dem Fenster, ihren Kopf zieht
es beim Rauchen in Richtung Straße.
„Morgen …“, sagt Jack, guckt in den Himmel und denkt
nach. Der Himmel funkelt. „Morgen klauen wir uns ein
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ZWEI
Die Signorina liegt im Bett und schläft. Die Signorina
tut nichts anderes mehr. Hin und wieder steckt sie den
Zimmermädchen ein paar Scheine durch den Türschlitz,
damit sie das Signorina-Zimmer mit dem Signorina-Bett
in Ruhe lassen. Hin und wieder rührt sie sich ein paar
Löffel Haferflocken in eine Tasse H-Milch, damit der
Hunger nicht so wehtut.
Die Signorina hat entschieden, dass es jetzt gut ist.
Keine Kameras mehr. Kein Applaus. Keine Bühne. Schluss.
Es ist genug. Sie hat sich das Leben so reingestopft,
dass sie am Ende das Gefühl hatte zu platzen. Jetzt will
sie nur noch gehen. Abhauen in die Wolken, wo Heinrich
auf sie wartet, der alte Schwerenöter. Von Heinrich hat
nie einer was mitgekriegt. Darüber hat sie sich immer
ins Fäustchen gelacht. Das hat sie denen immer gegönnt,
die dachten, alles über sie zu wissen.
Dass sie sich für ihren Abgang ein Hotelbett mit weißer
Leinenbettwäsche ausgesucht hat, gehört zum Konzept.
Eine Frau wie die Signorina, die früher in der Lage war,
allein ein Theater zu füllen, kann sich den letzten Akt
doch nicht auf Jerseylaken geben. Ist doch so.
Und wenn jetzt jemand der Dame bitte mal eine Knarre
reichen könnte …?
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DREI
Arne Förster, Redakteur bei einer Zeitschrift.
Geschieden, zwei Kinder, fünf und sieben Jahre alt.
Ein Junge, ein Mädchen. Ex-Frau: im Himalaya unterwegs, vermutlich.
Der Vermieter hat Eigenbedarf angemeldet, vor drei Jahren.
Da war gerade Scheidung. Arne hat keine Nerven gehabt, sich
um die Mietsache zu kümmern. Um eine neue Wohnung für sich
und die Kinder. Hat erst ein Jahr vor Fristablauf damit
angefangen. Das war zu spät, in einer Stadt wie Hamburg.
Warum sie hier wohnen dürfen, weiß er nicht. Irgendjemand
hält wohl ein schützendes Händchen über sie.
„Papa?“
„Ja?“
„Mein Lego-Raumschiff ist weg.“
„Das hat der Lego-Troll gefressen.“
„So ein Blödmann.“
„Ja, echt. Blöd.“
Ab und zu muss Arne ein bisschen Lego verkaufen, damit
es am Ende des Monats noch für Essen reicht.
Der Lego-Troll ist ein furchterregendes Monster mit
siebzehn Köpfen. Arne träumt jede Nacht von ihm.
VIER
Ich bin Mr. Spade. Man kann auch McSpade sagen. Oder
MC Spade. Oder Spado. Oder Spacko.
Mr. Spade macht Beatz. Fette Beatz. Heute Nacht, morgen
Nacht, immer nachts. Leck mich am Arsch, Alter. Kannst
du zuhören. Das geht dir rein wie Hechtsuppe. Ja, das
zieht dich weg, Digger.
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Ich komm direkt aus Berlin, weißt du. Bin ab jetzt da
geboren. Dinslaken hab ich von mir abgeschafft.
Läuft wie geölt bei mir.
Die Puppen tanzen.
FÜNF
Spade, mein Liebster. Auch wenn Du mich nicht siehst:
Ich bin immer bei Dir. Seit zwei Jahren. Immer im Zimmer
neben Dir, sofern das möglich ist. Meistens mache ich
es möglich. Wenn Du nicht im Zimmer nebenan schläfst,
finde ich keine Ruhe. Es war um mich geschehen, nachdem
ich Dich in jener Nacht erlebt habe. Oben auf Deiner
Kanzel bist Du gestanden, in der Mitte des Saales.
Hast mir Musik ins Herz geschickt, auch in die Mitte.
Deine Baseballkappe saß schief. Das war unheimlich süß.
Ich wünschte, ich könnte ein einziges Mal in Deine Augen
blicken, nur, Du hast immer diese Sonnenbrille auf. Ist
aber auch unheimlich süß. Spade, Du bist mein Elektrotraum. Ich hab mir Dein Gesicht auf den Bauch tätowieren
lassen.
Heute, um 18 Uhr 37, als wir beide unsere Zimmer aufgeschlossen haben, hast Du mich zum ersten Mal bemerkt.
In Liebe
Koko
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SECHS UND SIEBEN
Thiago Luis Costa, Geschäftsmann aus Lissabon.
Hier wegen Geschäften.
Und Silvana Schröder, Brautmodenschneiderin aus Bochum.
Hier wegen Hochzeitsmesse.
AN DER BAR
Die Bar hat alles, was eine Hotelbar braucht. Sie ist
dunkel, gut sortiert – Thiago zählt allein fünf Sorten
Gin! – und keiner stellt Fragen. Strenggenommen ist in
Hotelbars nicht mal die Frage erlaubt, ob jemand beruflich oder privat in der Stadt ist. Trotzdem wird sie
immer wieder gestellt. Thiago mag das nicht. Portugiesen mögen vieles nicht, was auch nur ansatzweise mit
Geschwätz zu tun haben könnte. Alte Seefahrermentalität.
Er bestellt einen Gin Sul auf Eis und Orange und vertieft sich in seinen Drink.
„Ich nehme das Gleiche wie der Herr dort“, sagt Silvana.
Sie macht es sich an der Theke gemütlich, verstaut
umständlich Mantel, Schal und Handtasche an diversen
Garderobenhaken und lässt zwischen sich und dem dunkelhaarigen Herrn mit dem grimmig-eleganten Gesicht zwei
Barhocker Abstand. Der Herr schaut sie an. Eine Frau,
die Gin auf Eis und Orange bestellt? Er würde sie gerne
fragen, warum sie das tut, aber das geht natürlich nicht.
„Sieht lecker aus“, flüstert sie ihm zu. Mit in wichtige Falten gelegter Stirn und einem verschwörerischen
Blick, ganz so als dürfe das nur ja niemand erfahren.
„Ist lecker“, sagt Thiago und zuckt mit den Schultern.
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„Ich finde es nicht gut, wenn der Gingeschmack durch
Tonic kaputt gemacht wird.“
„Aha“, sagt Silvana und zieht die Augenbrauen hoch,
„Gin.“
Thiago fängt viele Sätze mit den Worten „Ich finde es
nicht gut, wenn …“ an.
Sie prosten sich zu und trinken jeder einen Schluck.
Silvana einen ordentlichen Schluck, Thiago einen zarten.
Er mag Frauen, die nicht zimperlich sind. Sie lächelt
in ihr Glas.
Silvana weiß nicht genau, was ihr an dem Mann so gut
gefällt, ob es die Marcello-Mastroianni-Haare sind,
das eckige Kinn oder der knurrige Akzent. Aber das ist
auch egal. Er gefällt ihr. Und sie hat den ganzen verdammten Tag Paare mit rosafarbenem Geblubber im Blick
gesehen, jetzt kann sie nicht mehr. Will auch die
Kleider in ihrem Kopf loswerden. Die Spitze, die Perlen,
den Satin. Die Seide. Die Rüschen. Manchmal, am Ende
eines solchen Tages, reicht schon der Anblick eines
langen Rocks, um bei ihr einen Würgereiz hervorzurufen.
Seid ihr mal zehn Jahre verheiratet, denkt sie dann
immer. Dann werdet ihr den Tag verfluchen, an dem ihr
die Idee hattet, euer Leben zu teilen.
Silvana ist geschieden. Und das ist auch sehr gut so.
Sie trägt einen schwarzen, schmalen Rock und einen
ebenfalls schwarzen dünnen Pulli mit kleinen weißen
Tupfen und dazu zierliche Perlenohrringe. Ihre Haare
sind schulterlang und brünett, ihre Nase ist spitz,
sie sieht exakt so aus, wie Thiago sich Frauen aus
Hamburg vorstellt, wobei er natürlich weiß, dass sie
nicht aus Hamburg sein kann, sonst würde sie ja nicht
im Hotel übernachten. Sie redet nicht viel. Es ist,
als wäre sie heute schon zu viele Worte losgeworden.
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Er findet, dass sie die angenehmste Barbekanntschaft
ist, die er in den letzten Jahren gemacht hat.
Und so sitzen sie da an der Theke. Trinken Gin Sul,
einen nach dem anderen, werden nicht betrunken davon,
gehen noch mal auf die Straße, bewundern den städtischen
Sternenhimmel, rauchen zwei von Thiagos filterlosen
Zigaretten für besondere Anlässe, und als sie gegen
halb zwei beschließen, jetzt Schluss zu machen,
morgen ist ja ein Arbeitstag, stellen sie fest, dass
sie Zimmernachbarn sind.
Thiago würde sie gerne fragen, ob sie mit auf sein
Zimmer kommt, aber er hat Prinzipien. Keine Fragen im
Zusammenhang mit Hotelbars. Er denkt zu lange darüber
nach, ob er sie zum Abschied küssen soll, und so erwischt
er nur ihren Hals.
Später im Zimmer liegt er auf seinem Bett, mit der
Hand an der Wand. Sie, auf der anderen Seite, macht
es genauso, und sie kann einfach nicht damit aufhören,
die Hand gegen den Putz zu drücken. Sie könnte schwören,
dass sie in der Mauer ein Herz schlagen hört.
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Nino Haratischwili
Die Überraschung
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Sie warf noch einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel und wickelte
das weiße Handtuch um das nasse Haar, es sollte einerseits perfekt sitzen
und gleichzeitig keineswegs den Eindruck erwecken, als hätte sie sich mit
diesem feuchten Turban allzu viel Mühe gegeben.
In solch einer Situation zählte jede Geste, jeder Eindruck, jedes Wort wurde
auf die Goldwaage gelegt. Sie sendete Signale, er empfing und deutete sie,
so lief das Spiel nun mal ab, dessen Regeln sie beide anscheinend bestens
zu kennen schienen, seine Deutungen wiederum gaben ihr die Möglichkeit,
ihn lesen zu lernen, sich ihn zu erschließen wie ein fremdes Alphabet. Es
war ein sehr fragiles Konstrukt, ein Spinnennetz gewoben aus Seide. Man
musste sich äußerst zaghaft und vorsichtig durch dieses Labyrinth bewegen, man musste das Gleichgewicht wahren, jede falsche Regung hätte die
dünnen Fäden abreißen lassen können.
Der Fall wäre vielleicht nicht besonders schmerzhaft, dafür mochte die
Höhe nicht ausreichen, aber er wäre brachial ernüchternd, wie der Moment,
in dem man aus einer geborgenen, behutsamen, warmen Dunkelheit ans
grelle, graue, kalte Licht tritt, die Augen weigern sich offenzubleiben, die
Lider müssen sich unweigerlich schließen, weil sie ... es nicht ertragen, so
urplötzlich in die Irre geführt worden zu sein.
Aber während sie sich im Spiegel ansah, spürte sie, wie eine stabile
Zufriedenheit sich in ihr breitmachte. Ihre blasse, vom heißen Wasser leicht
gerötete Haut, die Klarheit im Blick, nicht zu nüchtern und doch keineswegs etwas so Banales wie Romantik verheißend, der Duft der Frische, in
den sie eingehüllt war wie in eine warme Decke (nein, kein Parfum, solch
billige, simpel dechiffrierbare Codes würde sie niemals verwenden!), das
feuchte Haar unter dem mühelos zusammengelegten Handtuch zu einem
Knoten gebunden, die zwei kaum sichtbaren Wassertropfen auf der linken
Schulterspitze.
Sie konnte zufrieden sein.
Und dann klopfte er auch noch genau so, wie sie es sich gewünscht hatte.
Nicht zu aufdringlich, aber auch nicht zu zaghaft, es hätte sie enttäuscht,
wenn seinem Klopfen keinerlei Dringlichkeit zu entnehmen gewesen wäre.
Aber schließlich hatte er es auch in der Hotelbar geschafft, in keine der
ihm gestellten Fallen zu tappen, eigentlich hatte er im Verlauf des ganzen
Abends alle ihre Prüfungen bestanden, hatte alle ihre Anforderungen ohne
große Anstrengungen gemeistert.
Er hatte sich wahrlich gut bewährt, kein einziger Fehler bisher, zumindest
kein gravierender, abgesehen vielleicht von der Sache mit der Hand.
Da hatte für den Bruchteil einer Sekunde alles auf der Kippe gestanden,
da hatte sie das Ganze abblasen und ihm den Rücken kehren wollen, denn
er hatte für den ersten Körperkontakt etwas zu offensiv ihre Hand gestreift. Ihre Hand mit zwei winzigen Ringen am Daumen und Mittelfinger,
die beide nach Erbstücken aussahen, edel und geheimnisvoll, nicht zu
viel verratend und doch Neugier weckend. Natürlich hatte sie die
Hand absichtlich provozierend auf den Tresen gelegt, genau
aus dem Grund: Um zu sehen, wie gut er die Spielregeln
beherrschte, und vor allem, wie gut er sie zu brechen
wusste. Ja, um ein Haar wäre sie aufgestanden und hätte
ihn seinem Wodka mit etwas Zitrone überlassen. (Sogar die
Tatsache, dass er weder Wein noch Whisky bestellt hatte,
kam ihr angenehm klischeefrei vor.)
Aber er erfasste die Situation rechtzeitig und zog daraus die richtigen
Konsequenzen. Er griff mit der Hand zu der Schale mit den Knabbereien
und nahm ein paar Erdnüsse heraus. Somit revidierte er seine voreilige
Bewegung und löste die Anspannung auf humorvolle Weise. Natürlich
wussten sie beide um diesen naiven Betrug, aber diese Lösung wäre ihr
auf die Schnelle nicht eingefallen, es war eine charmante Art, seine Ungeschicklichkeit aus der Welt zu schaffen, und so blieb sie sitzen, amüsiert
von seinem Erfindungsreichtum.
Und sie hatte diese Entscheidung auch nicht bereut. Zumindest bis jetzt nicht.
Die entscheidende Schlacht stand ihnen noch bevor.
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Sie durfte keine voreiligen Schlüsse aus der Sache ziehen.
Der Abend war fehlerfrei verlaufen, bis auf diese Sache mit der Hand hatte
er sich keinerlei Fehler geleistet, ja, das musste sie zugeben.
Sogar bei der Themenwahl hatte er Geschmack bewiesen. Die Arbeit hatten
sie nur zu Beginn des Gesprächs gestreift. („Beruflich hier?“ „Ja, und Sie?“
„Kann man so sagen, ja.“ „Sollen wir nun unsere Berufe verraten und uns
jeder geheimnisvollen Aura berauben, oder lassen wir sie außen vor und
konzentrieren uns auf die wichtigeren Dinge des Lebens?“ Sein Angebot
war ihr durchaus anziehend vorgekommen, und somit hatte es sich mit
dem Berufsleben.)
Dass sie beide zugaben, Hunger zu haben, erleichterte die Sache ungemein.
Es wurde beschlossen, gleich im Hotelrestaurant zu speisen. Die Karte
konnte sich sehen lassen. Kein großes Hin und Her. Er fragte, ob sie Wein
trinke, sie nickte, er bestellte für sie beide. Ihr war es recht. Dass er gerne
koche, verriet er. Er erwähnte, dass sein Onkel ein Restaurant besessen
und dieser Ort ihm als Kind der liebste gewesen sei. Sie spannte sich an,
befürchtete bereits einen langen Monolog mit zu vielen Offenbarungen zum
Thema Kindheit, aber auch da überraschte er sie auf eine angenehme Art
und Weise und fragte sie geradeheraus, ob sie auch so viel Zeit in Hotels
verbringen müsse und wenn ja, welche ambivalenten Gefühle sie mit diesen
kuriosen Orten verbinde.
Einige Anekdoten aus dem Reisealltag wurden ausgetauscht. Das Essen
kam, er hatte sich Fisch bestellt. Dorade. Es hatte ihr gefallen, dass es nicht
etwas so leicht Interpretierbares wie ein Wiener Schnitzel oder ein Steak
war. Der Wein war leicht und ließ viele Möglichkeiten erahnen, die der
Abend noch bieten könnte. Der Wein schien zu betonen, dass der weitere
Verlauf des Abends allein in ihren Händen lag.
Beim Dessert – sie orderten jeweils ein Soufflé aus Preiselbeeren und mussten auflachen, als sie dem Kellner ihre Bestellung fast zeitgleich mitteilten –
kam dann das erste Kompliment, was in ihren Augen eine besondere Gefahr
barg, denn es markierte den Übergang von der Unverbindlichkeit zu einer
Möglichkeit, zu einer Vorahnung. Das Kompliment war erfinderisch, aber
zum Glück nicht ordinär. Sie habe einen wunderschönen Nacken, sagte er.
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Wieso denn Nacken, wann er denn ihren Nacken unter die Lupe genommen habe, sie sitze ihm doch die ganze Zeit gegenüber. Als sie sich kürzlich
nach dem Kellner umgesehen habe, da habe er sich ihren Nacken genauer
ansehen können.
Das Flirten konnte nun unmaskiert ausgeübt werden. Und man flirtete mit
der absolut richtigen Dosierung an Blicken, Andeutungen und Interessenbekundung, denn auch diese
Grundkenntnis schien er verinnerlicht zu haben: Ebendiese Dosierung war die Grundvoraussetzung für den
weiteren Verlauf.
Dass er die Rechnung übernahm, erlaubte sie nur unter
der Voraussetzung, dass sie ihm später an der Bar
Drinks spendieren durfte. Als sie eine Zigarette rauchen ging, folgte er ihr,
rauchte selbst aber keine, ersparte sich jedoch jeden Kommentar bezüglich
ihrer Zigarette und beging auch nicht den Fehler, eine banale, notgedrungene
Diskussion übers Rauchen anzuzetteln.
In der Bar lachten sie viel, er bewies Humor. Sogar ein paar anzügliche
Witze fielen, die er wahrlich gut darbieten konnte, die Pointen absolut
richtig setzend.
Und als die Bar sich immer mehr leerte und sie sich der heiklen Situation
gewahr wurden, dass dieser eine, bestimmte Moment heranrückte, der
Moment, in dem der Barmann sie mit einem freundlichen Lächeln, aber
unbedingt wortlos, auffordern würde, auf die Zimmer zu gehen und sie so
mit der Frage konfrontiert wären, wie der Abend nun weitergehen solle –
da kam er der Situation zuvor und löste das Problem sehr gewitzt: Er griff
erneut zu den Nüssen und kippte ihr dabei den Wein über den blassgrünen Pullover. (Absolut sicher konnte sie sich natürlich nicht sein, aber
sie mutmaßte, dass er es absichtlich getan hatte, um alles Weitere zu
seinen Gunsten zu lenken.)
Obwohl es Weißwein war, war sie aufgefordert aufzustehen und entweder
ins Bad zu gehen oder gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen:
Sie erhob sich und bat den Barmann, die Drinks auf ihre Zimmerrechnung
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zu setzen. Er entschuldigte sich zweimal, entschieden und mit Nachdruck,
aber nicht weinerlich, und erhob sich ebenfalls vom Hocker.
Er begleitete sie zum Ausgang, blieb am Treppenabsatz einen Augenblick
länger als unbedingt nötig stehen und lächelte sie an. Sie bangte, er möge
nicht die dämlichste aller dämlichen Fragen formulieren und sie bitten,
auf einen Wein mit hochkommen zu dürfen, aber stattdessen zog er seine
Mundwinkel in die Breite, senkte den Kopf leicht nach links und überließ
ihr die Entscheidungsfreiheit. Nein, seine Beweggründe hierfür waren
keineswegs besonders ritterlich, er wollte damit keineswegs ihre Position
als Frau unterstreichen und ihr somit das Gefühl geben, sie zu nichts zu
drängen, es war viel mehr das Spiel mit den Eventualitäten, das ihn reizte.
Genau dieses Spiel war der Grund, aus dem sie den Abend miteinander
teilten. Es war nicht die spontane Lust auf jemanden, den man an einem
fremden, neutralen, geschützten Ort kennenlernte, und auch nicht dass
man keine Konsequenzen zu fürchten brauchte, ebenso wenig war es die
angenehme Trunkenheit, die Ruhe und Selbstzufriedenheit, die einen zu
mehr Waghalsigkeit anstachelte, sondern es war genau diese Wahrscheinlichkeit, diese Sezierung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse, das Ertasten und Erahnen der fremden Grenzen, genau diese Risikobereitschaft,
die sie am Treppenabsatz stehen bleiben und schlussendlich sagen ließ:
„Ich brauche dreißig Minuten. Dann kannst du hinaufkommen.“
Er kannte die Regeln, er lächelte etwas schelmischer als sonst, nickte kaum
wahrnehmbar und ließ ihr den Vortritt.
der es schaffte, sie – vor sich selbst zu retten. Vielleicht war er derjenige,
der die Nacht zum Äußersten treiben und überlisten konnte.
Vielleicht war es genau der Moment, in dem es sich lohnte, alle Regeln zu
brechen, nur hier, nur jetzt, solange dieser anonyme Schutzraum einem
diese Möglichkeit gewährte, solange man frei war, frei vom Gestern und
vom Morgen, solange man nicht wieder anfing Fehler zu machen und die
Leidenschaft an der Funktionalität des Lebens, an der Banalität des Vertrauten, an der Traurigkeit der erstrebten Zweisamkeit abstarb.
Sie warf noch einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel und ging zur
Tür. Ihr ganzes Leben schien in diesem winzigen Gang zusammenzufinden,
alle Erinnerungen, Erfahrungen, Wünsche und Ängste schienen in diesen
wenigen Schritten bis zur Tür gebündelt, und so illusorisch, so naiv und
töricht es auch schien (und das wusste sie besser als jede andere), so hoffte
sie trotzdem, dass er die Summe alles Gewesenen beim Eintreten in dieses
Zimmer auszulöschen imstande war. Sie hoffte, dass sich unter all den
Möglichkeiten, die sich beim Öffnen der Tür auftaten, das Unerwartete
ereignete, das Unberechenbare, kurzum: die Überraschung ...
(Auszug aus einer Kurzgeschichte)
Sie drehte das Wasser auf und stellte sich unter den heißen Strahl. Das
Wasser wusch den Tag von ihr ab. Alles Unwesentliche verschwand, nur
die Vorahnung auf das Bevorstehende blieb auf der weich gewordenen
Haut haften.
Normalerweise hätte sie einen Fremden keinesfalls mit einem Handtuch
ums Haar und einem ausgeleierten T-Shirt empfangen, aber er hatte den
Abend meisterlich bestanden, also musste sie ebenfalls fair spielen, offener
und durchlässiger sein als sonst.
Vielleicht würde es dieses Mal klappen, vielleicht war er wirklich derjenige,
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Karen Köhler
Herr Wedina wacht auf
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Ich war wieder zu Besuch in der Stadt, war wieder in meinem Hotel
untergekommen, wieder in meinem Zimmer, dem "Chambre Classique".
Ich trug meinen guten Anzug und ging, wie so oft, ziellos durch die
Straßen, ein erneuter Versuch, mich zu verlaufen. Mittlerweile aber kannte
ich die Straßen, Gassen, Alleen, Plätze und Parks, die Hinter- und Innenhöfe, die Unter- und Überführungen immer besser, trainierte quasi unfreiwillig meinen Orientierungssinn, sodass meine Wege immer länger,
meine Schlaufen durch die Stadt immer größer werden mussten, um
mich tatsächlich zu verwirren, und immer seltener kam es vor, dass ich
nicht mehr wusste, wo ich war. Am Montag vor meiner geplanten Abreise
hatte es geklappt, und ich blieb irgendwo am Stadtrand plötzlich vor
einem Zirkuszelt stehen, das sich imposant vor mir aufspannte.
Eigentlich bin ich nicht der Zirkustyp. Absichtlich wäre ich nie dorthin
gelangt, weder in dieses Viertel, noch zum Zirkus. Aber genau das sind
ja die Vorteile des Sich-Verlaufens.
Die nächste Vorstellung sollte in einer Stunde beginnen. Ich beschloss
zu warten, die Zeit zu vertrödeln, kaufte die teuerste Eintrittskarte, ging
um das Zelt herum und sah die Wagen und Käfige zusammengedrängt
am hinteren Zelteingang im Halbkreis stehen.
Es roch streng. Aus einem Wohnwagen kam Musik von einem Grammophon. Ich ging näher ran, hielt mich aber versteckt. Ein noch ungeschminkter Clown kämmte lustlos seine Perücke. Zwei Akrobaten wärmten sich
mit Dehnübungen auf. Einer, der aussah wie der Direktor, trank klaren
Schnaps aus einer Flasche. Auf seiner Schulter saß ein Äffchen. Etwas
abseits stritt eine Schlangenfrau mit einem Gewichtheber. Oder war es
ein Messerwerfer? Zuweilen brüllten Löwen. Ein Pony wurde von einem
dicken Kind gefüttert, eine kleine Kapelle langweilte sich beim Kartenspiel.
Ich lehnte still an einem Käfig und beobachtete die Szenerie, als mich
etwas an der Schulter berührte. Ich fuhr herum, bereit, mich für mein Eindringen zu entschuldigen, sah aber nur ein Rüsselende, das zwischen den
Stäben des Käfigs hervorlugte und sich nun langsam zurückzog.
„Hol mich hier raus.“
Im Käfig stand ein Elefant mit traurigen Augen.
„Ich ... das ... das geht nicht.“
„Warum?“
„Ich habe keinen Schlüssel, die Tür, der Käfig,
er ist verschlossen.“
„Bitte ...“
„Es tut mir leid.“
Plötzlich ein Gebrüll. „Heda! Sie! Was machen Sie da!“, der Direktor kam
mit Stock und Flasche angelaufen. „Weg da! Weg!“
Ich machte mich davon, drehte mich aber noch einmal um und sah, wie
er trunken und wild durch das Käfiggitter auf den Elefanten einhieb. Mir
war übel.
Ich verzichtete auf Popcorn und Zuckerwatte, stand hilflos am Eingang
zwischen aufgedrehten Kindern, bis die Vorstellung begann, die ich mir
trotz des Vorfalls ansah. Ich hatte mir einen Platz in der ersten Reihe
geleistet, die Kinder hinter mir hassten mich dafür. Und da sie gleich von
Anfang an den Clown mit Popcorn bewarfen, behielt ich meinen Hut
absichtlich auf.
Als die Schlangenfrau auf dem Elefanten hereingeritten kam, hob der
Direktor den Stock, er zwang seinen nebligen Blick ins Publikum und
brüllte etwas. Das Tier blieb direkt vor mir stehen. Der Direktor brüllte
einen weiteren Befehl, den ich nicht verstand, wohl aber der Elefant.
Prompt hob dieser sanft die Vorderbeine an, die Schlangenfrau begab sich
nun auf seinen Kopf und machte dort eine schöne Figur auf einem Bein.
Das Publikum pfiff und klatschte. Wieder wurde ein Befehl gebrüllt, und
das Tier senkte sich ab, elegant glitt die Schlangenfrau an seinem Rüssel
zu Boden. Und wie der Elefant so geneigt war, sah ich, dass er weinte.
Unsere Blicke trafen sich, da hörte ich es erneut, diesmal leise, geflüstert:
27
„Hol mich hier raus!“
Ich nickte unmerklich.
Es gab eine unspektakuläre Zwischennummer mit Clown und Kapelle,
dann kam der Bär. Wieder direkt vor meiner Nase platziert, tanzte er
unter Stockhieben des Direktors auf seinen Hinterbeinen, drehte sich
tumb im Kreis und rasselte mit der schweren Kette, die durch seine
wunde Nase und um seinen Hals gezogen war. Noch nie hatte ich etwas
so Trostloses gesehen. „Der Elefant ...“, sagte der Bär zwischen zwei
Drehungen, „sagt ...“, Drehung, „du nimmst ...“, Drehung, „mich auch mit?“
Ich wollte antworten, verschluckte mich aber am Pfefferminzbonbon,
das ich mir während der Clownsnummer in den Mund gesteckt hatte. Die
Kinder über, hinter, neben mir riefen mit verschmierten Mündern und
warfen, trotz Ermahnung, Dinge in die Manege, um das Tier zu reizen.
Hustend und unter Tränen brachte ich das Bonbon schließlich wieder
aus der Kehle und rang nach Luft. Ich hoffte, dass die Vorstellung bald
vorüber war.
Peitschenknall, Ruhe, der Bär wurde abgeführt. Dann kam eine banale
Jongliernummer, in die der Affe mit eingebunden war, danach eine
Schlangenfraunummer am Trapez, dann mit ihr das Messerwerfen, ich
sah schon kaum mehr hin, wohl auch weil ich fürchtete, nach dem
Streit, dessen Zeuge ich geworden war, könnte der Mann sie mit Absicht
treffen. Schließlich noch einmal der Direktor und die trägen Löwen, die
nicht durch seine Ringe springen wollten, und ihm war’s wohl mittlerweile egal, seinen Zylinder hatte er auch schon nicht mehr auf. Den Abschluss bildete der Clown mit Kapelle, die uns mit Konfetti bewarfen.
Endlich war es vorbei, und ich ließ mich verstört in der Menschenmenge
nach draußen treiben.
Ich blieb in der Nähe des Zirkus und dachte über den Elefanten und den
Bären nach. Selbstverständlich musste ich ihnen helfen, so viel war klar.
Was aber, wenn wir uns nicht vertrügen? Wenn mein Hotelzimmer zu
klein für uns wäre? Oder wir uns stritten? War so ein Bär nicht gefährlich?
28
Noch während der letzten Vorstellung des Tages, es wurde langsam dunkel,
schlich ich mich wieder hinter die Wagen und beobachtete alles genau. Das
Kapuzineräffchen, das angeleint auf einer Stange neben dem DirektorenWagen saß und Erdnüsse knabberte, sah mich zuerst.
„Wenn du mich mitnimmst, bringe ich dir den Schlüssel.“
Ich nickte. Auf ein Äffchen mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht
mehr an. Es verschwand im Wagen und kam mit dem Schlüsselring des
Direktors zurück.
„Gerade läuft die Löwennummer, wir haben ein paar Minuten.“
Ich öffnete das winzige Schloss an seinem Fuß, das
Äffchen sprang mir sofort auf die Schulter. Leise schlich
ich zum Elefantenkäfig, klack klack, gleich der erste
Schlüssel passte. Ich legte den Hebel um, schob das
Gitter beiseite:
„Schnell, mach schnell.“
Zu dritt eilten wir nun zum Bärenkäfig, probierten ein,
zwei, drei unterschiedliche Schlüssel, bis wir den richtigen fanden.
Ich löste die Kette von Hals und Nase des Bären. Er legte seine Tatzen
um mich und seine Schnauze auf meine Schulter.
„Kommt, wir müssen uns beeilen“, mahnte das Äffchen.
Wir liefen, flogen fast, rannten, stolperten, kicherten, holperten durch den
Abend und die Stadt und erst, als wir uns weit genug weg wähnten, hielten
wir an, weil der Elefant über Seitenstiche klagte. Als er wieder zu Atem
gekommen war, gingen wir in ein Geschäft und kauften Wein und Brot und
Käse, ließen uns die Flasche entkorken und fragten nach dem Weg zum Fluss.
Später saßen wir am Ufer und aßen und tranken und waren frei. Und als
wir müde wurden, machten wir uns auf den Weg zum Hotel. Wir schmuggelten uns an der Rezeption vorbei und legten uns in das große Bett mit
seinen weichen Federdecken. Der Elefant. Der Bär. Das Äffchen. Und ich.
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Benjamin Maack
Ein Schlaflied.
Gute Nacht.
_______________ (Gute Nacht)
Dein Schlaflied.
Gute Nacht.
Gute Nacht, gute Nacht.
Sechs Schritte so,
fünf Schritte so.
Ins Bad,
Ins Bett.
Licht aus.
Ein Gebet.
Nur du allein.
Im Raum.
Kopf, Kissen,
Haut, Laken.
In diesem Raum.
Ein Gebet.
Ein Gesang.
Gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht.
Gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht,
gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht,
gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht,
gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht,
gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht
Gute Nacht.
Irgendwo ist ein Loch in der Nacht.
Und irgendwo ist kein Loch in der Nacht.
Ein Gebet.
Ein Gesang.
Irgendwo ist ein Loch in dir.
Und irgendwo ist kein Loch in dir.
Ein Gebet.
Ein Gesang.
Ein Lied.
Gute Nacht.
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31
Wolfgang Schömel
Der Glücksspiegel
Insgesamt war ich ziemlich am Ende,
als ich in Hamburg ankam. An Leib und
Seele erschöpft, schleppte ich mich aus
dem Terminal. Der Zweck meiner Reise:
Im Hamburger Literaturhaus am Schwanenwik sollte ich mit dem
Schweizer Schriftsteller Peter Stamm über die Liebe der Frauen zu
den Männern diskutieren. Aus Peter Stamms Stories wusste ich, dass
er an der Substanz dieser Angelegenheit ebensolche Zweifel hegte
wie ich. Darüber hatte ich einen Aufsatz veröffentlicht, der mir diese
Einladung zur Reihe "Das philosophische Café" eingebracht hatte. Seit
drei Jahren lehrte ich "Creative Writing" am Department of Germanic
Studies an der University of Texas in Austin. Die Studierenden schrieben jeweils zwei Versionen der kreativen Stories, auf Englisch und auf
Deutsch. Auf diese Weise war jene Laura in mein Leben getreten, eine
Schönheit mit einem unfassbar gelungenen Mund und mit grünen
Augen, die derart tief lagen, dass sie erst dann zu sehen waren, wenn
sie den Kopf hob und einen ansah. Das traf mich jedes Mal mitten in
die Eingeweide. Als Thema des Kurses hatte ich gewählt: "Wie schreiben wir Sexstellen, die nicht peinlich sind?" Die Folgen dieser Themenwahl lagen durchaus in meiner Absicht. Im Seminar saßen drei blasse
Männer und vierzig junge Damen. Eine davon war Laura. "May I stay
behind?", fragte sie mich nach ein paar Sitzungen. Allein mit mir im
Raum, sagte sie dann, dass die Art, wie ich im Seminar über Sex rede,
sie heftigst errege. Sie errötete stark, drehte sich um und ließ mich
stehen. Ich sah ihre langen Beine unter dem kurzen Glockenröckchen,
wie sie den Raum verließen.
Schon eine Woche später waren wir kein Paar. Was wir stattdessen
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waren, diktierte allein Laura. Wir hätten zweifellos eine "spirituelle
Erotik" miteinander, sagte sie gleich nach dem ersten stundenlangen
sexuellen Gemetzel, aber mit "Liebe" werde das niemals etwas zu tun
haben! Nur unsere Seelen seien sich innigst nahe. Ganz verschmolzen seien wir, wenn wir es trieben, in einer gemeinsamen Heimat. Sie
benutzte tatsächlich das deutsche Wort "Heimat". Ich solle mit ihr
machen, was ich wolle, sie vertraue mir vollkommen und sei mir völlig
hingegeben!
In unserer gemeinsamen spirituellen Seelenheimat durchlebte ich die
besten Sexpassagen meines Lebens. Ihre Hingabebereitschaft lotete
ich auf immer neuen Pfaden hemmungslos aus. Auch die Dialoge, die
wir während der Passagen führten, waren absolute Weltliteratur, auf
Englisch und Deutsch durcheinander. Nichts unterschied sie
von den großen Liebestexten der Menschheitsgeschichte.
Eine überzeugendere Imitation eines Liebespaares als
die unsere war kaum denkbar. Einige von den harmloseren Abläufen machte ich dann zu Themen im
Seminar. Keine schrieb die Storylines kreativer
aus als Laura. Da war zweifellos eine beträchtliche
junge Autorin im Entstehen!
Ein gutes Jahr später sagte sie, erst durch mich habe sie ihre weibliche
Sexualität zur Gänze entdeckt. Sie sei nun völlig beherrscht von ihrer
Lust und müsse sehen, was man damit machen könne. Wir hätten eine
wunderbare erotische Freundschaft gehabt, und ab jetzt hätten wir
eine ganz normale Freundschaft. Während sie dies und Ähnliches sagte,
suchte sie die auffälligen Gerätschaften zusammen, die sie nach und
nach zur Steigerung unserer Seelennähe mit in meine Wohnung gebracht hatte und die überall rumlagen. Zwei davon ließ sie zurück, da
sei sie inzwischen "rausgewachsen".
In den folgenden Monaten wurde ich ein alter Mann. Alles an mir war
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hässlich und wert, entfernt zu werden. Ich stand vor dem Spiegel in
meinem kleinen Flur, ein ausgesprochen bösartiges Exemplar ist das –
es verkürzt die Beine und verdickt den Bauch –, und betrachtete
meinen körperlichen Zerfall, wie er stündlich voranschritt. Wie hatte
diese Göttin namens Laura jemals diesen hässlichen Körper und sein
hässliches Gehänge mit spiritueller Begeisterung geradezu anbeten
können? Der Kurs, den ich jetzt gerade hielt, hieß "Liebesschmerz als
Männerdomäne?". Zu Hause las ich die Tagebücher von Cesare Pavese
und diskutierte den Sinn eines Suizids mit mir, ergebnislos, wie immer.
Übrigens war auch dieser Kurs stark von jungen Damen besucht. Das
machte die Sache nicht besser.
Nun also Hamburg, alles ohne Laura. Ich kannte die
Stadt ein wenig, denn in meinem früheren Leben
hatte es eine Hamburgerin gegeben, mit der ich
neuerdings über Facebook wieder Kontakt hatte.
Aber fertig, wie ich nun einmal war, musste ich ein
Taxi nehmen, um das Hotel zu finden, das die Leute
vom Literaturhaus mir genannt hatten und das
direkt am Bahnhof liegen sollte. Es hieß "Wedina", was glücklicherweise nichts mit dem Islam zu tun hatte, und bestand aus mehreren
Häusern, eine ganz seltsame Geschichte. Auf dem Pult der Rezeption
standen ein paar von meinen Büchern. "Dieser Schriftsteller" sei "heute
zu Gast". Immerhin, ich wurde respektiert! Ich musste dann über die
Straße zu einem "gelben Haus" gehen, ins "Zimmer 411". Das war
kein Zimmer, sondern eine ganze Wohnung, und zwar vom Feinsten.
Eichendielen überall, ein romantisches Schlafabteil, das mit einem
Vorhang geschlossen werden konnte, eine großer Wohnraum und eine
kleine Küche. Aber das Schönste war das Bad. Nackt in diesem Bad
stehend, das aussah wie aus einem dieser teuren InnenarchitekturMagazine, durchweg cremefarben und weiß, schaute mir ein ziemlich
attraktiver Mann aus dem großen Spiegel entgegen, männlich, mit
einem recht athletischen Körper und einem ehrfurchterweckenden
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tatendurstigen Glied. Wie konnte das sein? Was hatten die hier mit
dem Licht gemacht? Ich war zwanzig Jahre jünger als vor meinem
Spiegel in Austin – und überhaupt: Ich verstand Laura plötzlich sehr gut
und auch all die ungeheuerlichen Lobeshymnen, die sie während unserer endlosen seelischen Heimattreffen ausgestoßen hatte. Hinzu kam,
dass der zusätzlich vorhandene, erfahrungsgemäß höchst gefährliche
Kosmetikspiegel, in den ich angstvoll blickte, derart stark vergrößerte,
dass die problematischen Hautpartien, die abgebildet wurden, sich
nicht zu meinem Antlitz zusammenfügen konnten.
Das gab dann letztlich den Ausschlag, mein Tablet anzuschalten und
Dörte – so nämlich hieß bedauerlicherweise die Ex-Geliebte – über Facebook anzumorsen. Die Veranstaltung im Literaturhaus war erst am
nächsten Abend. Neulich hatte sich ihr Mann von Dörte getrennt.
Das hatte sie über Facebook Gott und der Welt erzählt. – Ob sie Lust
habe, mich heute Abend auf ein Glas in meiner "Suite" im Hotel "Wedina"
zu besuchen? Gelbes Haus! Zimmer 411! Dörte sagte sofort zu.
Erneut mental von Dusche und Spiegel gestärkt und in voller Montur
auf der dicken Matratze des Bettes liegend, war ich wohl außerplanmäßig eingeschlafen und wurde von meinem Handy geweckt. Es war
Dörte. Sie finde mich nicht, wo das denn sei, sie sehe nur ein rotes
Haus und wolle nicht in der Rezeption fragen. Ich eilte auf die Straße,
wo Dörte mit ihrem Hollandrad wartete. Oje, dachte ich, sie war ganz
schön alt geworden, wobei ich wusste, dass ihr gerade zu meinem
Anblick genau das Gleiche einfiel. Ihre Haare waren immer noch rötlich,
was mich daran erinnerte, dass ich damals die These vertrat, Rothaarige
verfügten über besonders schöne Gesäße. Das hatte sich bei Dörte
leider nicht zur Gänze bestätigt. Aber auf das Gesäß allein kommt es ja
nicht an, und man kann immer was draus machen aus so einer Sache.
Sie, Dörte, war sehr eingeschüchtert und anfänglich resistent gegen
den Champagner, den ich noch schnell um die Ecke bei Aldi besorgt
hatte. Wir saßen am schönen alten Tisch im Zimmer 411, und sie
quasselte mir den Kopf voll von ihrem Klaus, der sie verlassen hatte – bis
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ich die Idee hatte, sie zu fragen, ob sie sich denn gar nicht ein wenig frisch
machen wolle. Wir waren schon bei der zweiten Flasche. Gewärmte
Handtücher lägen bereit, und so weiter. Als sie nach zwanzig Minuten aus
dem Bad kam, war sie wie verwandelt, und ich wusste genau, warum.
"Früher warst du nicht so stürmisch", sagte sie später, ehe sie ging. Tja –
früher! Ich schlief fast bis zum kommenden Mittag, was aber weniger
an meiner Müdigkeit lag, sondern eher am spirituellen Vakuum, das ich
trotz oder wegen Dörte empfand. Diese ewigen Diskussionen um den
Sinn meiner Fortexistenz nervten mich entsetzlich, aber ich konnte sie
nicht verhindern.
Das Bad und der Spiegel rissen es dann irgendwie wieder einigermaßen
raus. Dem Leiter des Literaturhauses sagte ich, ich würde noch ein
paar Museen besuchen und bräuchte dazu keine Begleitung. Selbstverständlich hasse ich Museen, aber das darf niemand wissen.
Stattdessen kaufte ich mir beim besten Hamburger Herrenausstatter
drei schicke Hemden und Schuhe für den Abend. Das Honorar ging
dabei dreifach drauf. Das Literaturhaus war überfüllt. Fast ausschließlich ältere Bildungsbürgerinnen waren anwesend. Warum sollten sich
auch junge Damen für das Thema interessieren, die kriegen die Liebe
ja hinterhergeschmissen. Und Männer? – Die hatten da wohl sowieso
längst den Glauben verloren. Ich vertrat sehr radikale Positionen und
merkte, wie das meinen Schmerz, der im Augenblick auch von den
neuen Schuhen stammte, etwas linderte. Peter Stamm hielt dagegen.
Nun ja, der musste ja auch seine Bücher an die Leserinnen
verkaufen. Ich sei mit meiner Interpretation deutlich zu weit gegangen,
meinte er. Dann gab es Publikumsfragen, und die erste Fragende, es
war, wie ich schon lange beobachtet hatte, die einzige hübsche junge
Frau im Raum, sagte einen Satz, der mich einen ganzen Schritt voranbrachte, hin zu neuem Lebensmut und zum Glauben an erfolgreiche
Liebesmöglichkeiten. Sie sagte: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass
ausgerechnet Sie" – sie meinte mich – "die Erfahrung gemacht haben,
von Frauen nicht geliebt zu werden."
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Ist das nicht herrlich, was sie da gesagt hatte? Und jetzt kommt das
eigentliche Wunder von der Alster, das ich erleben durfte. Nach dem
Ende der Veranstaltung stellte sie sich nämlich als "Laura" vor. Laura,
die Zweite! Das konnte kein Zufall sein! Laura II war erschienen, um
mich zu erlösen! Ich würde jetzt gern davon erzählen, dass irgendwas
mit dieser neuen Laura gelaufen war, aber dann würde ich lügen.
Unsere Begegnung war nur kurz. Ich musste mit Peter Stamm und den
Literaturhausleuten essen und trinken, und am kommenden Tag flog
ich zurück nach Austin.
Irgendwie trug ich aber das Gefühl mit nach Hause, dass es mit Laura I
noch eine Fortsetzung geben könnte. Ich wäre auch völlig zufrieden mit
regelmäßigen, rein seelischen Verschmelzungen.
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Frank Schulz
SAG, FREMDES HEMD
Hotel Wedina gewidmet
Wie vom Wind der Vorhang, reißt auch der Himmel auf
über St. Georgs Türmen und Schindeldächern und
des Gastes Lebenslauf.
Vom Trott war’n Kehl’ und Ferse, war’n Aug’ und Seele wund.
Es galt Tapetenwechsel, galt Badeschaum und Pils
und Herz und schöner Mund.
Ins Fenster schielt der Mond des Millionenstadtidylls.
Das Laken raunt; vom Bad her schnalzt scharf und schwarz ein Straps.
Sag, fremdes Hemd: ,Ich will’s!‘
,,Ich will’s!“ Ich darf ’s ... ich hab’s.
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Katrin Seddig
Einen Tag älter und wieder ein Winter am Ende
Ich wusste, er liebt mich nicht, nicht mehr oder noch nie, und
würde das auch nie tun. Aber über solcherart Gewissheiten bin
ich geneigt mich hinwegzusetzen. Es war der letzte Wintertag,
wir tranken Wein auf einer Bank und der Tag verglühte rot. Dann
gingen wir ins Hotel, und trotz meines Wissens war ich ängstlich
glücklich. Ich war immer ängstlich glücklich mit ihm, das lag an
den Umständen. Im Hotel kam es mir einfacher vor. Im Hotel
waren wir nicht so eingefügt wie in unseren Wohnungen, in unseren eigenen Leben. So ließ es sich leichter an. Wir aßen und
wir tranken, wir bummelten durch die dunkle Stadt, er war unterhaltsam und charmant, ich lächelte, bis mein Kiefer schmerzte.
Dann saßen wir wo drinnen, tranken mehr und er küsste mich.
Dies hinnehmend, mit halb geschlossenen Augen, gab ich mich
einem schwachen Bild von uns hin, als säße ich uns gegenüber,
auf der anderen Seite, unter den gerahmten Fotos, und sähe uns
zu bei einer Vorstellung von echter Nähe.
Später kauften wir Bier und Schokolade und sahen einen Film im
Pay-TV. Wir schätzten die Stimmung im Raum, aber wir wollten
auch noch uns, nach all dem Gelage, das ganze Programm. Ich
wusste, ich konnte ihn gar nicht haben, nie würde ich ihn haben
können, und das machte mich gierig.
Was ihn gierig machte, musste mehr mit mir selbst zu tun haben,
denn er hatte ja schon mich. Dieser Gedanke hat mir übrigens
immer Mut gemacht. Wenn einer mich schon hat und trotzdem
noch will, dann bin ich vermutlich okay. Das glaubt man ja nicht,
wenn man so aufgewachsen ist. Wie das durchschnittliche Kind.
Die Nacht war gar nicht sanft. Mehr geht nicht, dachte ich.
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Mehr Wollen und Nichtkriegen. Und am Ende ist das Nichtkriegen
vielleicht alles, was man kriegen kann, und dann nimmt man das
besser, denn am Ende kriegt man sonst noch weniger. Am Ende
sagt dir einer, er liebt dich nicht, aber es läge nicht an dir.
Das durchschnittliche Kind will das glauben, aber dem durchschnittlichen Kind fällt das schwer.
Am nächsten Morgen war draußen noch die Straße und der Tag.
Stand mein Fahrrad noch am Pfahl. Lag Feuchtigkeit auf dem
Pflaster. War ich einen Tag älter. Und wieder ein Winter am Ende.
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Michael Weins
Flüstern
Um 0 Uhr 17 lösche ich das Licht. Endlich ein Hotel, in dem sich die
Fenster anständig verdunkeln lassen. Ich liege in absoluter Schwärze.
In Abrahams Schoß. In Nebukadnezars Hintereingang. Ich atme ruhig.
Seid willkommen, Abermillionen verschlungener Gedanken, die ich
denken muss, bevor ich schlafen darf. Heute Nacht werde ich euch
alle zu Ende denken. Ich werde die Wendeltreppen hinunterschreiten
bis auf den Grund, wo mich die schwärzeste Öffnung schluckt. Die
Matratze ist gut. Das Bettzeug fühlt sich fest und weich an. In diesem
Moment bin ich sicher: Hier werde ich schlafen können. Ich atme tief.
Ich versuche, mir etwas Schönes vorzustellen, eine Dünenlandschaft,
in der ein einsamer Mann eine Bierflasche sucht.
Plötzlich stellen sich mir die Haare auf.
Ein silberkalter Strom durchfährt mich.
Ich spüre: Anwesenheit.
Hier im Raum ist jemand, oder etwas. Obwohl ich nichts höre. Obwohl
die Stille absolut ist. Ich warte, aber das Gefühl geht nicht weg. Mein
Blut will sich nicht beruhigen.
„Hallo?“, flüstere ich in die Schwärze.
Die Stille knistert, sie pulsiert.
„Hallo?“, flüstere ich noch einmal.
Ich lausche, bis sich meine Ohren vom Körper lösen. Sie schweben
ins Schwarz.
„Hallo“, meine ich es zurückflüstern zu hören.
„Ist da wer?“, flüstere ich.
„Ja“, flüstert es. Eindeutig. Eine Stimme. Rechts von meinem Ohr,
ganz dicht.
Ruhig, denke ich, ruhig, ruhig. Welle auf Welle rollt durch meinen Körper.
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Rushhour körpereigener Gefahrenbotenstoffe.
„Wer ist da?“, flüstere ich.
„Spielt das eine Rolle?“, flüstert es zurück. Ich denke über die Frage
nach.
„Ja!“, flüstere ich dann. Ich taste nach dem Lichtschalter, aber ich
kann ihn nicht finden.
„Wer sind Sie?“, flüstere ich.
„Wieso wollen Sie das wissen?“, flüstert die Stimme.
„Sie sind in meinem Zimmer“, flüstere ich.
„Das ist nicht Ihr Zimmer“, flüstert es.
„Doch“, flüstere ich, „heute schon.“
Endlich habe ich den Lichtschalter gefunden. Ich knipse das Licht an.
Nichts. Das Zimmer wirkt unberührt. Ich stehe auf und schaue in den
Schrank, ins Bad, in jede Schublade. Ich probiere die Tür, sie ist
verriegelt. Ich überprüfe das Telefon. Nach einer Weile lege ich mich
wieder hin. Ich muss an den Witz denken, in dem drei Personen nacheinander ins Hotel gehen, und immer sagt eine Stimme im Dunkel: Ich
schäle dich, ich esse dich, und dann werfe ich dich aus dem Fenster.
Den Witz hat mir ein Kind erzählt. Es dauert eine Weile, bis ich mich
wieder traue, das Licht zu löschen.
Schwärze.
„Hallo“, flüstert es.
Ich versuche es zu ignorieren.
„Hallo?“, flüstert es. „Hallo? Hallo?“
„Wo sind Sie?“, flüstere ich.
„Hier“, flüstert die Stimme.
„Sind Sie in mir?“
„Bitte?“
„Sind Sie eine innere Stimme?“
„Ich glaube nicht“, flüstert die Stimme.
„Sind Sie die Stimme des Gewissens?“
„Nein.“
„Sind Sie ein Geist?“
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„Das kann ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen.“
„Wie schön“, flüstere ich, aber ich fühle mich nicht beruhigt. Ich höre,
wie die Stimme vor sich hin flüstert: „Was bin ich? Was bin ich?“
Ich seufze.
„Sie liegen öfter nachts wach, oder?“, flüstert die Stimme.
„Das stimmt“, flüstere ich. „Das kann man sagen.“
„Warum?“
„Ich mache mir Gedanken.“
„Worüber?“
„Über meine Mittelmäßigkeit.“
„Aha?“
„Ja, mein Versagen.“
„Sind Sie ein Versager?“
„Nachts schon. Ich meine, allein in der tiefsten Schwärze der Nacht.“
„Das ist nicht schön“, flüstert die Stimme.
„Definitiv nicht“, flüstere ich.
„Sie Armer“, flüstert es.
Ich schweige.
„Wollen Sie mir nicht davon erzählen? Warum erleichtern Sie sich
nicht? Warum erzählen Sie mir nicht, was genau Sie bedrückt?“
„Im Ernst?“, flüstere ich.
„Ja“, flüstert die Stimme, „ich kann wirklich gut zuhören.“
Also mache ich es mir bequem und erzähle einer flüsternden Stimme
nachts im Hotelbett meine Geschichte. Zwischenzeitlich denke ich
darüber nach, mir die Weintrauben aus dem Obstkorb zu holen. An
genau den richtigen Stellen fragt die Stimme interessiert nach oder
sie flüstert etwas Einfühlsames. Es hat etwas Tröstliches, mich dieser
Stimme anzuvertrauen.
Irgendwann schlafe ich ein.
Irgendwann wache ich auf, viel später als geplant.
Die Sonne scheint. Die Vorhänge sind zurückgezogen, obwohl ich
sicher bin, sie sorgfältig geschlossen zu haben. Ich fühle mich leicht.
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Ich fühle mich seltsam ausgeruht. Das Hotelzimmer sieht schön aus.
Glanz liegt auf den Dingen. Weiße Möbel. Wände aus Sichtbeton.
Draußen ein nackter Obstbaum mit schwarzen, starken Armen. Felsbrocken im Zementgarten.
„Hallo?“, flüstere ich.
Nichts.
Ich bin glücklich.
Geschrieben in der Nacht vom 21. auf den 22. Februar 2015 im Hotel Wedina, Zimmer 313
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Autoren
Impressum
……………………………………………………………………......................
……………...............................................................................................
SVEN AMTSBERG, geb. 1972, schreibt Erzählungen, aber keine Gedichte und
wird die „Saragossa Band des Literaturbetriebs“ genannt.
Gute Nacht!
SIGRID BEHRENS, geb. 1976, Künstlerin, Autorin und Dramatikerin.
Gedichte und Geschichten
aus Hamburg
SIMONE BUCHHOLZ, geb. 1972, schreibt Kriminalromane und Texte für
Zeitschriften.
Herausgegeben vom Hotel Wedina,
Hamburg 2016
NINO HARATISCHWILI, geb. 1983, aus Georgien stammende Theaterregisseurin,
Dramatikerin und Romanautorin.
© Hotel Wedina und die Autoren.
Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung.
KAREN KÖHLER, geb. 1974, Schriftstellerin mit Zickzackbiografie.
Druck: print24
BENJAMIN MAACK, geb. 1978, lebt seit 1998 als Redakteur und freier Autor in
Hamburg.
Gedruckt in Deutschland
WOLFGANG SCHÖMEL, geb. 1952, Germanist und Schriftsteller, seit 1989
Hamburger Literaturreferent.
FRANK SCHULZ, geb. 1957, Journalist, Redakteur und heute Schriftsteller in
Hamburg.
………………………………….........
Dankeschön!
Team des Literaturhauses Hamburg
Werner Irro, Wortinstitut
KATRIN SEDDIG, geb. 1969, Schriftstellerin, studierte Landwirtschaft,
Wirtschaftswissenschaft, Jura und Philosophie in Hamburg, wo sie auch lebt
und arbeitet.
MICHAEL WEINS, geb. 1971, Schriftsteller, Mitbegründer des Literaturclubs
Macht e.V., der Schischischo und der Liv-Ullmann-Show.
……………………………………………………………………......................
Vorwort: FELIX SCHLATTER, Hotelier aus Leidenschaft; liebt Literatur, Film,
Kunst, Musik und Wandern.
Illustration: LARISSA BERTONASCO, geb. 1972, lebt und arbeitet als freie
Illustratorin und Zeichnerin in Hamburg. Seit 2004 realisiert sie Projekte
zusammen mit der Künstlerinnengruppe SPRING.
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