Familiäre Bewegungssozialisation von Jungen und Mädchen in der

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Familiäre Bewegungssozialisation von Jungen und Mädchen in der
Familiäre Bewegungssozialisation von Jungen und Mädchen in der frühen Kindheit
Ina Hunger
Familiäre Bewegungssozialisation von
Jungen und Mädchen in der frühen Kindheit
Im sportpädagogischen Diskurs über das Grundschulalter ist immer wieder die Rede
davon, dass Jungen und Mädchen geschlechtstypische Bewegungsinteressen und
körperbezogene Interaktionsstile oftmals bereits entwickelt haben (Engel 1986;
Pfister/Valtin 1993; Sinning 2003; Valtin/Klopffleisch 1996). Im Forschungskontext
der frühen Kindheit wurde der Aspekt Geschlechtsspezifik dagegen bislang nur selten
thematisiert. Dabei wird genau dort – in der frühen Kindheit – geschlechtstypisches
Bewegungsverhalten einsozialisiert und werden einschlägige Handlungsorientierungen ausgebildet. Der Beitrag fokussiert auf diese Forschungslücke und stellt eine
Studie vor, die u. a. auf die Frage abhebt, welche geschlechtsspezifischen Vorstellungen Eltern hinsichtlich der Körper- und Bewegungssozialisation ihrer Kinder
haben und inwiefern sie selbst (bewusst oder unbewusst) die Jungen und Mädchen
im Bereich Körper und Bewegung geschlechtsspezifisch erziehen und sozialisieren.
Sozialkonstruktivistische
Grundannahmen
Kinder werden zwar – biologisch sicht­bar – als Jungen oder als Mädchen
geboren. Was sie jedoch später jeweils
damit verbinden, ein Junge oder ein
Mädchen zu sein, welche geschlechts­
typischen Verhaltensmuster sie ausbilden oder welche Erwartungen sie mit
‚männlich sein’ und ‚weiblich sein’
verknüpfen, ist nicht naturgegeben.
Vorstellungen von ‚Weiblichkeit’ und
‚Männlichkeit’, ihre Verkörperung und
Symbolisierung sind vielmehr (auch)
sozial bedingt; sie entwickeln sich in
der Auseinandersetzung mit der Umwelt
und durch die Übernahme von sozial
Vorgegebenem. Die Konfrontation mit
(in der jeweiligen Gesellschaft vorhandenen) geschlechtsbezogenen Erwartungen beginnt quasi gleich mit der
Geburt. Schon gegenüber dem Säugling
gibt es Interaktionsformen und Verhaltensinterpretationen, die mit dem
(angenommenen) Geschlecht variieren
und die weitere Entwicklung subtil
prägen (vgl. Bilden 1998, S. 281). Die
Baby-X-Studien geben davon (immer
noch) eindrucksvoll Zeugnis.
Die geschlechtsspezifischen Verhaltenserwartungen, einschlägigen Inter­
aktionsformen und Rückmeldungen
nehmen in den ersten Lebensjahren –
mehr oder weniger latent – stetig zu,
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u. a. da das Kind nun verstärkt an
sozialen Praktiken teilnimmt. Gleichzeitig nimmt das Kind seine Umwelt unter
dem geschlechtsspezifischen Aspekt
zunehmend differenzierter wahr und
interpretiert sie. Auf subtile Weise und
durch diverse Sozialisationsinstanzen
lernen die Kinder in den ersten Lebensjahren bereits, was es heißt, ‚männlich’
oder ‚weiblich’ zu sein. Das heißt, aus
der unendlichen Vielzahl an Vorgängen,
Symboliken, Interaktionen etc., die die
Umwelt, die Familie, der Kindergarten,
die Medien etc. beinhalten, werden
jeweils – ganz subtil – Informationen
über das ‚weiblich’ und ‚männlich sein’
herausgezogen. So lernen die Kinder
implizit oder explizit z. B. wer tenden­
ziell die körperlich schweren Arbeiten
verrichtet, wer für das Sozial-emotionale zuständig ist, wer ein öffentlicher
Sportstar ist, wer sich ‚zurecht macht’,
wer kämpft usw. Bewusst oder unbewusst kann dieses Wissen ihr Denken
und Handeln im Alltag orientieren.
Bewegung und geschlechts­
spezifische Sozialisation
Spielt Bewegung bei der geschlechtsspezifischen Sozialisation in der frühen
Kindheit eine Rolle? Folgt man der
einschlägigen Literatur, so entsteht der
Eindruck, dass die beiden Themenfelder
frühkindliche Bewegungssozialisation
und Geschlechtersozialisation in der
frühen Kindheit zunächst kaum
Schnittstellen haben (Ausnahme:
Gieß-Stüber 1999; Gieß-Stüber et al.;
siehe auch Hunger 2007). Bewegung
wird zwar in der Grundlagenliteratur als
der Zugang zur Welt deklariert und es
wird Bewegung eine zentrale Rolle im
ganzheitlichen Entwicklungsprozess
zugesprochen, insofern Bewegungs­
erfahrungen auch immer soziale,
emotionale und Erfahrungen über sich
selbst implizieren und damit nachhaltig
das Selbstkonzept prägen (Zimmer
2009). Dass die Welt aber zweigeschlechtlich vorstrukturiert ist, dass sie
für Jungen und Mädchen unterschiedliche Angebote, Identifikations- und
Prof. Dr. phil. Ina Hunger
Geschäftsführende Direktorin
Leiterin der Abt. Sportpädagogik
und -didaktik
Anschrift der Verfasserin:
Georg-August-Universtität Göttingen
Sozialwissenschafliche Fakultät
Institut für Sportwissenschaften
Sprangerweg 2
37075 Göttingen
Telefon: +49 (0) 551 39-89 16
Telefax. +49 (0) 551 39-1 94 00
E-Mail:ina.hunger@Sport.
uni-goettingen.de
geschlechtliche Inszenierungsmöglichkeiten bereithält, dass die Umwelt
(Eltern, Erzieher/innen, Peers etc.) auf
das Bewegungsverhalten von Jungen
und Mädchen potenziell unterschiedlich
reagiert, wurde in diesem Diskurs bislang
kaum thematisiert. Der Bereich Bewegungs­sozialisation und -erziehung wird
alles in allem als ein eher geschlechtsneutrales Terrain behandelt.
Dabei offenbart ein kurzer Blick in die
Wirklichkeit bereits, dass Jungen und
Mädchen schon in der frühen Kindheit
mit unterschiedlichen Verhaltenserwartungen (auch) im Bereich Bewegung
konfrontiert werden: Da zeigen Super-,
Spider- und Batman auf den Kleidungsstücken der meisten Kindergarten­
jungen sich derzeit in actionbereiten
Posen, der Piraten- und Safarilook
dominiert auf Brotdosen und Getränkeflaschen, Fußball ist durch diverse
Accessoires präsent etc. Auch wenn
selbstverständlich nicht alle und
insbesondere die Jüngeren noch wenig
mit der Symbolik anfangen können,
signalisiert diese doch eindeutig:
Jungen sind voller Power, sie sind
raumgewinnend und angriffslustig, sie
sind potenziell schnell und zweikampfstark! (Mit einer ähnlichen körpernahen
Symbolik können Mädchen mit ihren
Aufdrucken von tanzenden Prinzessinnen und grasenden Ponys dagegen
nicht aufwarten.) Es ist davon auszugehen, dass u. a. auch diese geschlechts­
typischen Symboliken unbewusst den
Erwartungshorizont für ‚Junge sein’ und
‚Mädchen sein’ (mit) abstecken und die
verinnerlichten Vorstellungen von
‚männlich und weiblich sein’ im Kontext
von Bewegungsaktivitäten orientierungs­
wirksame Funktion haben.
Die Studie:
„Geschlechtsspezifische Körperund Bewegungssozialisation
in der frühen Kindheit“
Welche geschlechtsbezogenen Vorstellungen Mädchen und Jungen in ihrer
frühen Kindheit in Hinblick auf Körper
und Bewegung entwickelt haben,
welche Inszenierungsformen Mädchen
und Jungen wählen, um ihrer Geschlech­
terrolle im Kontext von Bewegungs­
aktivitäten Ausdruck zu verleihen oder
inwiefern sich im Kindergartenalter
typische Geschlechterdifferenzen im
Kontext von Bewegungsaktivitäten
bereits auf der Verhaltensebene konkret
zeigen, ist, wie bereits erwähnt, empirisch bislang noch nicht systematisch
untersucht worden. Auch der Frage,
inwiefern sich Erzieher/innen im Kindergarten und Eltern darüber bewusst sind,
dass sich insbesondere im Kontext von
Bewegungsaktivitäten einschlägige
Sozialisationsprozesse vollziehen und
einschlägiges geschlechtstypisches
Verhalten eingeübt wird und inwiefern
sie selbst – bewusst oder unbewusst –
einer (traditionellen) geschlechtsspezifischen Erziehung im Bereich Körper
und Bewegung Vorschub leisten, wurde
bislang nicht systematisch nachge­
gangen.
Genau an diesen aufgeworfenen Fragen
setzt unsere Untersuchung an. Ziel ist
es, unter der Perspektive Körper und
Bewegung empirischen Aufschluss über
das geschlechtsspezifische Wissen,
Denken und Verhalten von Kindern im
Alter von vier bis sechs Jahren zu
erhalten. Ferner wollen wir aufdecken,
welches (Problem-)Bewusstsein bei
Erzieher/innen und Eltern in Bezug auf
geschlechtsspezifische Sozialisation
und Erziehung im Kontext von Körper
und Bewegung vorliegt.
Bezogen auf die Zielgruppe Kinder
streben wir im Einzelnen an,
• geschlechtsspezifische Vorstellungen
der Kinder in Bezug auf Körper und
Bewegung aufzudecken,
• Bewegungssituationen zu identifizieren und zu interpretieren, in denen
die Geschlechtszugehörigkeit sowie
ein geschlechtsspezifisches symbolisches Repertoire eine besondere
Rolle spielt,
• und das Bewegungsverhalten der
Jungen und Mädchen daraufhin zu
analysieren, inwiefern es (bereits
definiertem) geschlechtsstereotypischen Verhalten (z. B. in Hinblick
auf raumexplorierende, ästhetischexpressive, wettbewerbsorientierte
Bewegungsaktivitäten) entspricht.
Bezogen auf die Erzieher/innen und
Eltern versuchen wir aufzudecken,
• welche geschlechtsspezifischen
Vorstellungen sie hinsichtlich der
Körper- und Bewegungssozialisation
der Kinder haben und
• inwiefern sie selbst (bewusst oder
unbewusst) die Jungen und Mädchen
im Bereich Körper und Bewegung
geschlechtsspezifisch erziehen und
sozialisieren – und damit unter
Umständen an das Geschlecht
gebundene Bevorteilungen und
Benachteiligungen vollziehen.
Die Untersuchung orientiert sich am
qualitativen Paradigma. Mithilfe von
kindzentrierten Interviewverfahren,
videogestützten und teilnehmenden
Beobachtungen sowie leitfadenorientierten Erwachseneninterviews werden
die Daten erhoben; mit ausgewählten –
an dem Konzept der Grounded Theory
orientierten – Verfahren (Breuer 2009;
Glaser/Strauss 1993) werden die
gesammelten Daten ausgewertet.
Perspektivisch sollen auf der Basis der
Untersuchungsergebnisse die Rahmenbedingungen für eine bewusste und
auf Chancengleichheit ausgerichtete
Erziehung und Bildung für Mädchen
und Jungen verbessert werden.
­Gefördert wird die Studie durch das
Niedersächsische Ministerium für
Wissenschaft und Kultur. Die beteiligten
Wissenschaftler/innen sind: Maika
Beppering, Ina Hunger, Sabine Kubicek,
Steffen Loick und Renate Zimmer.
Erste Ergebnisse: Die Eltern
Im Folgenden soll auf die Elternpers­
pek­tive fokussiert werden. Ich beziehe
mich dabei auf die aus den Elterndaten
generierten theoretischen Konzepte.
Da die Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist, sind die Einblicke als
vorläufig zu werten. Bei dem derzeitigen Stand der Untersuchung kann in
der Tendenz festgehalten werden:
Erschien im Gesamt der Interviews die
Bewegungssozialisation und -erziehung
der Mädchen und Jungen durch die
Eltern zunächst sehr heterogen, so
zeichnete sich bei systematischer
Analyse der Daten ab, dass es in erster
Linie folgende Kategorien sind, die für
die Form der Bewegungserziehung und
-sozialisation von Jungen und Mädchen
entscheidend sind: „Bildungsferne
Familie – Bildungsnahe Familie“,
„Einfluss der Mutter – Einfluss des
Vaters“, „Herkunftsdeutsch – Migra­
tionshintergrund“ sowie (unter Einschränkung) „Sportivität des Elternhauses – keine Sportivität“. Auf die
Kategorien „bildungsfern – bildungsnah“ wird nun näher eingegangen.
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Familiäre Bewegungssozialisation von Jungen und Mädchen in der frühen Kindheit
Bildungsferne Eltern
Mit – dem Untersuchungsstand geschuldet – noch hohem Abstraktionsgrad
kann festgehalten werden, dass in
bildungsfernen Familien tendenziell
eine im klassischen Sinne geschlechtsspezifische Sozialisation und Erziehung
im Bewegungsbereich vorherrscht.
Traditionelle Zuschreibungen von
‚Mädchen und Junge sein’ werden kaum
in Frage gestellt: Jungen „sind eben
eher wild“, „kämpferisch“, „voll Power“
und „auf Vergleich aus“; Mädchen sind
dagegen „eher ruhiger“ und „verträglicher“, „wenn auch zickig“. Auffällig
erscheint in diesem Zusammenhang das
von den Eltern (vor allem den Müttern)
gewählte Outfit der Kinder: Das der
Mädchen kann in der Tendenz als das
Bewegungsverhalten einschränkend
bezeichnet werden (nicht für das
Laufen, Springen, Klettern geeignetes
Schuhwerk, vielfache Accessoires in
Frisur und an Kleidung etc., empfindliche ‚Rosa-Kleidung’, die die Mädchen
oftmals selbst „nicht schmutzig machen
wollen“); das Outfit der Jungen kann
dagegen alles in allem als bewegungsfunktional und robust, zum Teil auch
als explizit für raumexplorierende
Bewegung ausgelegt (Military-Look,
Alltagssportzeug) umschrieben
werden.
Als ‚geschlechtsuntypisch’ ausgelegtes
(Bewegungs-)Verhalten der Jungen wird
in der Tendenz negativ gewertet („da
war ich so’n bisschen schockiert!“) und
auch sanktioniert. Die Eltern, vor allem
die Väter, fordern ein „jungenhaftes“
Bewegungsverhalten vielfach aktiv ein
(„beim Schwimmen hat er [der Vater]
ihn dann total gedrängt, da von der
ganz obersten Station die Rutsche
runterzurutschen, obwohl F. schon in
der Mitte total Angst hatte. … Der will
aus ihm eben einen richtigen Jungen
machen“) und unterstützen es, wann
immer es geht („gleich im Fußballverein
angemeldet“).
Als von den Eltern „eigentlich mädchenuntypisch“ umschriebenes Bewegungsverhalten („die ist wild und eher
draufgängerisch“, „die spielt auch
Fußball“) wird dagegen akzeptiert und
in der Tendenz sogar positiv konnotiert
(„an der ist ein Junge verloren gegangen“). Hier zeigt sich gewissermaßen
eine Aufwertung des Mädchens, indem
es in den klassischen Bereich des
„jungenspezifischen Bewegungsverhal152
tens“ verortet wird, was implizit mit
Mut, Raumexploration, Durchsetzungsfähigkeit, Ballsicherheit etc. umschrieben wird. Auch wenn die Eltern dieses
– für sie mädchenuntypische – Bewegungsverhalten nicht aktiv fördern
(wollen), legen die Eltern die Verhaltensmöglichkeiten von Mädchen doch
als relativ weit aus.
Zusammenfassend kann gesagt werden:
Die Eltern haben einen individuums­
bezogenen Blick auf ihre Kinder – (sie
charakterisieren ihre Kinder als eher
temperamentvoll, phantasievoll etc.)
und erläutern ihr Erziehungsverhalten,
ohne dass sie explizit auf das Geschlecht abheben. Dass sie in der
Tendenz geschlechtstypisch erziehen
bzw. sozialisieren, spielt sich auf der
Bewusstseinsebene nicht (voll) realisiert
ab. In den Bereich der bewussten
Reflexion geraten die geschlechtstypi­
schen Erwartungen erst, sobald das
kindliche Bewegungsverhalten deutlich
vom verinnerlichten und normativ
abgesteckten Rahmen der gesellschaftlichen Erwartungen abweicht. In diesen
Fällen wird bei Jungen sorgenvoll interveniert („wenn der solche Art Bewegung
macht, … wird der doch dann ausgelacht“), bei Mädchen wird das ‚geschlechtsuntypische’ Verhalten dagegen
toleriert bzw. ‚auf Zeit gesetzt’ („Das
verliert sich schon, bevor die ihren
Freund hat!“). – Oder wie es eine Mutter
formuliert: „Man versucht einen Jungen
eigentlich wie einen Jungen zu erziehen
und bei Mädchen ist es egal.“
Bildungsnahe Eltern
Während ein Großteil der bildungsfernen Eltern das (Bewegungs-)Verhalten
von Jungen und Mädchen vordringlich
als Resultat von biologischen Prozessen
sieht, betonen viele bildungsnahe Eltern
zunächst den sozialisatorischen und
erzieherischen Einfluss auf das Bewegungsverhalten von Jungen und
Mädchen. Sie wollen (in der Tendenz)
die Kinder unabhängig von ihrem
Geschlecht in ihrer Persönlichkeits­
entwicklung fördern und sprechen
Bewegung dabei einen großen Stellenwert zu. Grundsätzlich deuten sie an,
dass sie sich ein Aufweichen der
Rollenklischees, insbesondere der
„typischen Mädchenrolle“ wünschen.
Auffällig erscheint dabei, dass die Väter
in dem Fußball spielen ihrer Töchter
gleichsam den Beweis für eine emanzipatorische Weiterentwicklung der Gesellschaft sehen (wollen). („Die alten Bilder
stimmen eben nicht mehr“).
Die Eltern argumentieren in Bezug auf
die Bewegungserziehung ihrer Kinder
tendenziell persönlichkeitsbezogen und
sehen einen potenziellen Zugewinn an
Kompetenzen durch ermunternde
Bewegungserziehung bei den Mädchen
(im Sinne von: Mädchen müssen sich
mehr zutrauen, Durchsetzungsstärke
zeigen etc.); bei ihren Söhnen formu­
lieren sie zwar keinen allgemeinen
Aufholbedarf an persönlichen Kompetenzen (im Rahmen der Jungensozialisation), deuten aber an, dass auch bei
Jungen die traditionellen gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen nicht
mehr „so“ dominieren würden. Bei
näherer Betrachtung der Interviewaussagen verlieren die Aussagen, die sich
auf emanzipatorische Bemühungen
beziehen, jedoch ihren zunächst
eindeutigen und handlungsorientierenden Charakter. Zum einen fällt auf,
dass auch diese Eltern rein äußerlich
die Mädchen und Jungen ‚typisierend’
ausstatten (Kleidung, Kinderzimmer,
Spielzeug, Sportzeug), in der Überzahl
traditionelle Sport- und Bewegungs­
aktivitäten aktiv unterstützen (Mädchen: Tanzen und Reiten; Jungen
Fußball) und einschlägige Erfahrungsräume geschlechtsgebunden eröffnen
(z. B. Raufen, Kissenschlacht und
Wettrennen mit Jungen). Die Eltern
stellen diese Tendenz der Reproduktion
klassischer Muster interessanterweise
jedoch primär als „zwangsweise“
Handlung bzw. unter dem Aspekt der
Notwendigkeit dar. („Sie zieht nichts
anderes an als Rosa … es musste Tanzen
sein!“) Genau an diesem Punkt, wo der
kindliche Wille als Handlungsgrund für
das Unterstützen traditioneller Geschlechteraspekte angegeben wird,
kommen die Eltern (auch in den
Interviews) oftmals ins Zweifeln, ob der
sozialisatorische Ansatz zur Erklärung
von geschlechtstypischen Verhalten
wirklich trägt („Da kommt man irgendwie nicht gegen an“) oder ob sich im
Bereich Bewegung nicht vielleicht doch
die ‚natürliche Wesensart’ von Jungen
und Mädchen zeigt.
Oftmals werden im Interview an dieser
Stelle ähnliche Erfahrungen befreundeter Eltern und auch Versatzstücke von
veröffentlichen Meinungen angeführt,
um die Plausibilität des eigenen Zweifelns zu untermauern. Nur äußerst
selten wird in Betracht gezogen, dass
sie, die Eltern, selbst über Jahre hinweg
geschlechtstypische Haltungen (nachweislich) durch Spielzeug, Kleidung und
Accessoires genährt und subtil das
kindliche Verhalten beeinflusst haben,
dass die Umwelt polarisierende Zuschreibungen von Geburt an vorhielt, dass die
Peers im Sinne eines verinnerlichten
geschlechtsspezifischen Normenspektrums einschlägige Verhaltensbewertungen vornahmen und vor diesem
Hintergrund – in der frühkindlichen
Phase des Aufbaus einer Geschlechtsidentität – eine aktive Rollenauslegung
im Sinne der vorgefundenen, gesellschaftlichen Geschlechtstypik eigentlich
nicht verwundern dürfe.
Dieser Zweifel am ‚sozial Verursachten’
bzw. die mehr oder weniger latente
biologische Idee der Wesensmerkmale
wird nochmals virulent im Vergleich
zwischen Sohn und Tochter. Insbesondere wenn es um den Punkt Bewegungsaktivitäten geht, wird Jungen im
Allgemeinen ein größerer Bewegungs-
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drang und ein höheres Konkurrenzverhalten im ‚Sport’ zugesprochen, infolge
ein regelmäßigeres Ausleben ihrer
Bewegungsbedürfnisse und damit die
Eröffnung identitätsstiftender Momente
(auspowern, sich in Vergleichssituationen erleben) ermöglicht.
Traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit im Bereich
von ‚Bewegung und Sport’ sind – trotz
emanzipatorischer Bemühungen und
der sozialen Erwünschtheit neuer
‚Rollenbilder’ – offensichtlich nach wie
vor bei bildungsfernen und -nahen
Eltern vorhanden und orientieren
vielfach das Handeln im Bereich der
frühkindlichen Bewegungserziehung
und -sozialisation. In den ersten
Lebensjahren, in denen die Kinder
motorische Fähigkeiten erst entwickeln
müssen (z. B. laufen, klettern, springen),
scheint die ‚Beeinflussung’ in Form von
geschlechtsspezifischen Verhaltens-
erwartungen und Rückmeldungen
zunächst äußerst subtil zu sein und
wird auf der Bewusstseinsebene kaum
realisiert. Mit zunehmender Bewegungssicherheit steigen aber offensichtlich die an die Bewegungsaktivitäten geknüpften sozialen Erwartungen –
vor dem Hintergrund des verinnerlichten
geschlechtsspezifischen Normenspektrums. Die Eltern sehen in – der mit
dem Lebensalter zunehmenden – aktiven Auslegung der Geschlechtertypik
durch das Kind selbst oftmals eine
Bestätigung für ihre (m.o.w. latente)
Theorie der Wesensmerkmale – dass
geschlechtstypisches Bewegungsverhalten auch als eine Konsequenz der
Verarbeitung sozialer Realität gilt, wird
in diesem Zusammenhang oftmals
ausgeblendet.
Unsere gegenwärtigen Forschungsbemühungen richten sich auf die
Ausdifferenzierung der familiären
Strukturen und Hintergründe (Migration, Familiensituation etc.), um
tieferen Einblick in die Form der
Erwartungen und Verhaltensinterventionen zu erhalten.
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