freigeist Sommer 2013 - Schul
Transcrição
freigeist Sommer 2013 - Schul
Foto: Leonie Mayr Einzelverkaufspreis: Eur 5,00 Jahres-Abo (4 Ausgaben): Eur 18.– kommunikation gewaltfreie kommunikation mit kindern und plötzlich wird es still - der dialogprozess social media interview mit herbert renz polster ausgabe sommer 2013 zeitschrift für freie pädagogik herausgegeben von der lernwerkstatt im wasserschloss pottenbrunn – für aktives und selbstbestimmtes lernen 2 freigeist sommer 2013 inhalt 0217(6625,0$7(5,$/ :LUIHUWLJHQVHLW0RQWHVVRUL 0DWHULDOPLWEHNDQQWKRKHP4XDOLWlWV DQVSUXFK 0DWHULDOLHQDXFKIUGLH6HNXQGDUVWXIH 3 4 6 9 3,./(5./(,1.,1'80*(%81* 9RP:LFNHOSODW]]XP6SLHOJLWWHUYRQ GHU.UDEEHONLVWH]XP/DE\ULQWK 1XW]HQ6LHXQVHUH.RPSHWHQ]DOV IKUHQGHU$QELHWHU 12 16 0,7+(1*67(1%(5*,1%(:(*81* 20 24 6FKDXNHOEUHWWHU7ULWWVWHLQH.LSSHO K|O]HU5XWVFKHQ/HLWHUQXVZIU %HZHJXQJVHUOHEQLVVHXQGHLQÄQHXHV *OHLFKJHZLFKW³ 28 32 63,(/=(8* 6SLHOXQG/HUQGLQJHDXVHLJHQHU :HUNVWDWWXQGYRQDXVJHZlKOWHQ /LHIHUDQWHQIUGHQLQVWLWXWLRQHOOHQ XQGSULYDWHQ*HEUDXFK 35 36 0DUWLQ3ODFNQHU :HUNVWDWWIU6SLHOXQG3lGDJRJLN $6W*HRUJHQLP$WWHUJDX )RQ)D[ 38 ZZZVSLHO]HXJPDFKHUDW 40 42 43 44 45 48 Leichter als man denkt editorial, impressum, screenshot gottes werk und evas beitrag gewaltfreie kommunikation gewaltfreie kommunikation im schulalltag der dialogprozess schmiede das eisen, wenn es kalt ist - interview steinkellner soziales netzwerken unbekannte reformpädagogInnen: ellen key (unser) leben ist lernen die wilde kinderhorde und der unstrukturierte raum - interview renz polster buchtipp erfahrungen mit der lernwerkstatt - interview schania wenn schule neugierig macht und bildung neue wege geht! fest der bildung schulen der zukunft schulalltag: rollenspiel eh normal dramolett, cartoon veranstaltungen impressum JETZT UMSTEIGEN – AUF 100% ÖKOSTROM Für unsere Zukunft – wechseln Sie auf die saubere Alternative ohne Atomstrom & CO2 erhältlich bei AAE Naturstrom Vertrieb GmbH A-9640 Kötschach-Mauthen 66 Tel.: +43 (0)4715/222 E-Mail: [email protected] www.geyrecker.com www.aae.at Sie möchten auch im freigeist inserieren? Infos & Mediadaten-Bestellung unter Tel: 02782/83160 oder [email protected] bezahlte Anzeigen AAE-Ökostrom wird in Kraftwerken mit Wasser, Biomasse, Wind und Sonne erzeugt. Ökostrombezug aus zertifizierten und kontrollierten Energiequellen ist aktiver Umweltschutz. Holen Sie sich Ihren persönlichen Preisvergleich zu Ihrem aktuellen Stromanbieter. Wir erstellen Ihnen gerne ein unverbindliches Ökostromangebot. 3 freigeist sommer 2013 Medieninhaber und Herausgeber (Verleger): Verein „Mit Kindern wachsen“ Initiative für aktives und offenes Lernen Verlagspostamt: 3140 Pottenbrunn Aufgabepostamt: 3100 St. Pölten Redaktion: Kay Mühlmann, Rainer Wisiak, Maria Altmann-Haidegger, Paul Braunstätter, Franz Josef und Brigitte Gaugg, Sonia Höllerer, Reinhard Kraus, Tobias Steirer, Luise Muschailov (Cartoon) [email protected] Lernwerkstatt im Wasserschloss Pottenbrunn Josef-Trauttmansdorff-Str. 10 3140 Pottenbrunn Schulinfo/Aboservice: fon 02742-43550 (fax 42457) [email protected], www.lernwerkstatt.ws Kto 22996, Sparkasse Herzogenburg, BLZ 20219 IBAN: AT 382021900000022996, BIC: SPHEAT21 Anzeigen: Brigitte Gaugg, [email protected] Layout: Franz Josef Gaugg, Reinhard Kraus Druck: DURABO Čelákovice Offenlegung gemäß §25 Mediengesetz: , Der Verein „Mit Kindern wachsen“ ist zu 100% Inhaber dieser Zeitschrift. Es erscheinen keine weiteren Medien. editorial Liebe Leserinnen und Leser, wir fanden es höchste Zeit, ein Heft zum Thema „Kommunikation“ zu gestalten. Ein auch für Kinder, Schulen und Lernumgebungen so zentrales und wichtiges Thema darf man einfach nicht links liegenlassen. Und, es ist nicht nur ein Heft über Kommunikation geworden, sondern vielmehr eines mit Kommunikation. So finden sich in dieser Nummer nicht weniger als vier Interviews und Gespräche - Nomen est Omen. Zum Thema Kommunikation bringen wir einen Artikel über die Rolle der Kommunikation bei der Entstehung von komplexen Gesellschaften, einen Artikel über gewaltfreie Kommunikation und ein Gespräch mit Mitgliedern des Betreuerteams der Lernwerkstatt über die Bedeutung und Anwendung gewaltfreier Kommunikation im Schulalltag der Lernwerkstatt. Des Weiteren beschäftigen wir uns mit Dialogprozessen und dialogischen Redekreisen. Diese Form der Kommunikation in der Gruppe bzw. im Kreis unterstützt ein verbindendes Denken und kann die Wirkungsweise unseres Denkens sichtbar werden lassen. In einem dialogischen Redekreis gibt es kein Führen, kein Moderieren, kein Richtig oder Falsch, keine Technik, kein explizites Ziel und keinen Zweck. Hans Steinkellner, der Leiter des „Institutes für Neue Autorität“ in St. Pölten war schon öfter in der Lernwerkstatt zu Gast. Die Frei- geist-Redakteure Anke und Martin Huber haben ihn zu Präsenz, gewaltfreien Widerstand und Wiedergutmachung interviewt. Stephan Halfpap schließlich hat in seinem Artikel versucht, dem Phänomen „Social Media“ auf die Spur zu kommen. In Niederösterreich hat sich in den letzten Jahren eine aktive Gruppe an Gleichgesinnten zusammengetan, die den individuellen Lebens- und Lernweg ganz in der jeweiligen Eigenverantwortung der einzelnen Familien lassen, Familien, die ihre Kinder also im „häuslichen Unterricht“ belassen. Die Freigeist Redaktion hat die „Freilerner“ eingeladen, um Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser regelmäßig von ihren spannenden Projekten und Erfahrungen zu erzählen. Zu den bewährten Features des „freigeist“ gehört unsere Serie zu unbekannten ReformpädagogInnen, die diesmal ein Portrait der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key (1849 – 1926) bringt und die Geschichten aus dem „Schulalltag“ der Lernwerkstatt. Norbert Mlinar, langjähriger LWS-Begleiter und Betreuer der LWS-Theatergruppe Pistatschios hat diesen „Schulalltag“ über den Rollenspielbereich gestaltet, der für die Entwicklung der Kinder so zentral ist. Viel Spaß beim Lesen wünscht Kay Mühlmann im Namen der Redaktion screenshot www.wechoosethemoon.org 4 freigeist sommer 2013 5 freigeist sommer 2013 gottes werk und evas beitrag Kay Mühlmann Über die Rolle der Kommunikation bei der Erschaffung der Welt. Kay Mühlmann Kommunikation als Grundlage des Bewusstseins Das besondere an Kommunikation ist ihre Anschlussfähigkeit. An eine Kom- munikation kann man immer eine weitere Kommunikation anschließen. Man kann immer etwas drauf sagen – es muss nie ein letztes Wort geben. Wir Eltern kennen das von unseren Kindern: Dann ist es so – nein so – nein so - eben! Nimmt man einem Geier seine Flügel, seine Krallen, und seinen Schnabel, dann ist er kein Geier mehr. Nimmt man einem Menschen Augen, Hände und Beine, so bleibt er immer noch ein Mensch. Außer er bleibt allein. Dann ist er kein Mensch mehr. Dieses Inka-Sprichwort beschreibt ganz gut das Dilemma, vor dem Adam stand, nachdem Gott ihn erschaffen hatte: Alleine ist er (noch) kein Mensch. Seine bloße Existenz reicht nicht aus, um aus ihm einen Menschen zu machen. Erst in der Begegnung zu Eva wird er zum Menschen. Durch Eva erkennt er sich selber - durch sie nascht er die Frucht vom Baum der Erkenntnis. Ohne Eva, das ist ganz klar, hätte Adam kein Bewusstsein. Es reicht nicht aus, alleine durch die Welt zu wandern, um ein Bewusstsein zu schaffen – wir brauchen den Anderen, die Andere, um uns selbst zu erkennen. Wir brauchen die Kommunikation mit den Anderen, denn die Basis des Bewusstseins sind die Selbsterkenntnis und die Entwicklung der sozialen Verbände, in denen wir leben. Gesellschaft ist die geteilte, die mitgeteilte Selbsterkenntnis. Im Teilen und Austauschen erschaffen wir unsere gemeinsame Wirklichkeit - also die Welt, in der wir leben. Für Menschen besteht die Welt nicht aus Fakten – auch wenn im Hintergrund unseres Gehirns ab. Er ist der zentrale Modus unseres Denkens. Diese Sinnerzeugung manifestiert sich dann in unserer sozialen Wirklichkeit. Im Laufe unserer Evolutionsgeschichte haben wir Menschen aber auch gelernt, uns nicht nur über gesprochene Worte mitzuteilen, sondern auch über zeitliche und räumliche Distanzen miteinander zu kommunizieren. Wer kennt sie nicht, die steinzeitlichen Höhlenzeichnungen, Darstellungen von Tieren und Jagdszenen? Die ältesten gefundenen Zeichnungen sind circa 40000 Jahre alt. Oder Figuren wie die Venus von Willendorf, die immerhin auf ein Alter von 25000 Jahre kommt. Die Information wird über ein Medium vermittelt, das die Botschaft trägt. Die Kommunikation ist dadurch mittelbar. wir als solche „faktisch“ erleben – unser Erleben ist vielmehr eine Interpretation von Sinneseindrücken, die wir (mit)geteilt, also mit anderen geteilt und somit „verwirklicht“ haben. Ohne Kommunikation keine Gesellschaft Kommunikation als der Austausch von Information beschreibt dabei die Beziehung, die wir zu unserer Umwelt haben, ein ständiges Hin und Her, Hinaus und Hinein. Ohne diese Beziehungen nach draußen gäbe es keine gemeinschaftlichen Denkstrukturen und auch keine Wirklichkeit und kein Bewusstsein. Dann wären wir eben kein Mensch (mehr). Kommunikation ist der Austausch von Information zwischen einem Individuum und seiner Umwelt. Dieser Austausch findet über unsere Sinne statt. Er kann direkt stattfinden, unmittelbar zwischen zwei Individuen, zwei Menschen, die miteinander sprechen oder auch miteinander tanzen, die sich an den Händen halten oder gemeinsam aneinandergeschmiegt einschlafen. Die gemeinsame Wirklichkeit wird in dem Augenblick von beiden Menschen untereinander ausgehandelt und so erschaffen. Dabei greifen wir auf vorgefertigte gelernte Denkstrukturen zurück, die automatisiert angewandt werden. Die Beziehungserfahrung passiert direkt zwischen den Individuen, sie wird nicht „vermittelt“. Unser Gehirn übernimmt dabei die Aufgabe, aus den von außen hereinkommenden Informationen und den vorhandenen, gespeicherten Erlebnissen ein kohärentes Bild zu erzeugen, also „aus der Welt Sinn“ zu machen. Dieser Prozess läuft automatisch und unbewusst Fotos: Leonie Mayr i mmer, wenn Menschen aufeinandertreffen oder zusammenkommen, dann teilen sie sich mit. Uns mitzuteilen ist ein Grundbedürfnis unserer Spezies. Wir reden und spielen. Wir lachen und weinen. Und selbst wenn wir einmal still sind, was für manche Artgenossen und Artgenossinnen durchaus eine Herausforderung darstellt, dann kommunizieren wir noch immer – mit unserem Körper halt. Wir tanzen und küssen, wir lieben und lachen. All das ist Kommunikation. Wir teilen uns ständig mit, wir geben ständig Informationen an unsere Umwelt weiter. Im Gegenzug und erhalten auch immer Informationen aus unserer Umwelt. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Keine andere Spezies dieser Erde hat diese Fähigkeit zu kommunizieren so entwickelt wie wir Menschen. Der Satz des bekannten österreichischen Kommunikationswissenschaftlers Paul Watzlawik hat immer noch Gültigkeit: „Wir können nicht nicht kommunizieren.“ ist Wissenschafter und Vater zweier Lernwerkstatt-Kinder Und sie ist konserviert – eine haltbare Denkstruktur sozusagen. Inzwischen glaubt man, dass es diese Fähigkeit des Homo Sapiens war, gemeinschaftliche Denkstrukturen über zeitliche und räumliche Distanzen zu kommunizieren, Erfahrungen und Gelerntes weiterzugeben und so Kultur im Sinne von erfolgreichen Handlungskonzepten zu erschaffen, das zum Aussterben des Neandertalers geführt hat. Metaphern als Grundlage komplexer Gesellschaftsordnungen Neueste Forschungen belegen die Theorie, dass komplexe Gesellschaften dadurch entstanden sind, weil die Menschen Fähigkeiten entwickelten, abstrakte Konzepte durch Metaphern auszudrücken und so neue kulturelle Konzepte zu kommunizieren. Ein Beispiel ist die Stadt Uruk in Mesopotamien, einer der ersten Stadtstaaten der Erde und jener Ort, an dem die erste Schrift gefunden wurde. Uruk ist aus der Idee eines Königs als guten Schafhirten geboren worden. „Der König hat seine menschliche Herde beschützt und sie ernährt, so war es recht und natürlich, dass sie ihm folgten.“ Der König als guter Schafhirte wurde zur Metapher einer neuen sozialen Ordnung, am Übergang von den vertikal geordneten Stammesgesellschaften zu hierarchisch geordneten Stadtstaaten mit differenzierter Arbeitsteilung. Vielen mag die Idee des guten Schafhirten durchaus bekannt vorkommen, spielt sie doch noch heute in den drei monotheistischen Religionen eine wichtige Rolle. Metaphern für gesellschaftliche Ordnung sind zum Beispiel Bilder oder Fi- guren oder Wegweiser, Landkarten, Bücher und Musik. Aber auch Theater, ein Gedicht oder eine ein E-Mail. Oder auch Fernsehen. Sie alle haben die Rollen, Regeln und Konventionen unserer Gesellschaften als Basis. Sie sind Medien der Gesellschaftsordnung und als solche Plattformen gemeinsamer Wirklichkeit. Sie dienen ihrer Kommunikation. Sie kommunizieren unsere gemeinsamen Denkmuster und erschaffen so die Strukturen unserer Kulturen. Diese Strukturen bestehen aus nichts anderem als Regeln und Ressourcen und sind ohne „wirkliche“ Existenz. Sie sind virtuell und manifestieren sich nur in den sozialen Praktiken der Gesellschaft. Sie werden erst dadurch sichtbar, dass sie ausgeübt werden. Es ist ein rekursiver Prozess: Strukturen entstehen durch Handlungen, aber sie machen eben gerade diese Handlungen erst möglich. Diese Prozesse gehen dabei automatisch vor sich – sie bilden die soziale Selbstorganisation der Gesellschaft. Und sie sind dynamisch, das heißt sie verändern sich. Wenn sich das Umfeld unserer Gesellschaft ändert, ändern sich gleichzeitig auch die Strukturen innerhalb der Gesellschaft, weil unsere sozialen Systeme immer mit ihrer Umwelt kommunizieren. Es sind komplexe dynamische Systeme, die entstehen, sich entwickeln und wieder vergehen. Ohne dass eine klare Beziehung von Ursache und Wirkung sichtbar oder vorhanden wäre. Sie folgen ihrer eigenen Dynamik. Ihre Wirkung ist mehr als die Summe ihrer Einzelteile. Ihre Entwicklung verläuft, wie die der gesamten Menschheit, der Erde oder des Universums nicht linear. Sie ist einfach nicht vorhersagbar. * 6 freigeist sommer 2013 7 freigeist sommer 2013 gewaltfreie kommunikation Kommunikation stammt aus dem lateinischen communicare und bedeutet „teilen, mitteilen, teilnehmen lassen, gemeinsam machen, vereinigen“. Und genau darauf zielt Dr. Marshall Rosenberg ab, seit er 1963 begonnen hat, seinen Ansatz der gewaltfreien Kommunikation (GfK) zu entwickeln. Sonia Höllerer Die höchste Form menschlicher Intelligenz ist die Fähigkeit zu beobachten, ohne zu bewerten.“ Jiddu Krishnamurti Gewaltfreie Kommunikation lädt ein, Wege abseits von Bewertungen und Analysen zu gehen und zeichnet stattdessen ein Bild vom Menschen, das uns als bedürfnisorientierte Wesen zeigt. Rosenberg meint, dass kein Mensch gegen andere handelt, sondern immer nur für sich, also alles Handeln ein (mehr oder weniger gelungener) Versuch ist, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, Unsere Bedürfnisse können nie unangemessen sein, lediglich unsere Strategien, diese zu erfüllen. Gewaltfreiheit beschreibt eine Haltung und Handlungen , mit denen wir sowohl unsere Bedürfnisse als auch die unseres Gegenübers und allgemeine gesellschaftliche berücksichtigen wollen. Im Fokus steht also nicht das Bestreben, den Menschen zu einem bestimmten Ideal zu „erziehen“, sondern sinnvolle Strategien zu finden, durch die die eigenen Bedürfnisse unter Einbezug der Bedürfnisse der Umgebung erfüllt werden. Entscheidend ist es, zu erkennen und zu kommunizieren, was das Verhalten des Verhalten des anderen zu verstärken. Und genau dann kann Lob manipulativ empfunden werden. Viele spüren auch ein Ungleichgewicht, wenn sie gelobt werden. Der Lobende erhebt sich auf eine höhere Ebene: Man nimmt sich heraus, ein Urteil über einen anderen zu fällen. Die gewaltfreie Kommunikation schlägt uns eine andere Möglichkeit vor ein Verhalten zu kommentieren, das in uns Erleichterung, Freude, Überraschung oder Interesse auslöst: Wertschätzende Anerkennung in Form von Ich-Botschaften (“Ich war richtig erleichtert, als ich nach Hause kam und alles hier war aufgeräumt. Ich hatte nämlich keine Lust aufzuräumen”) oder anteilnehmende Aussagen. Ein Kind, das zum ersten Mal einen hohen Turm erklimmt, erwartet keinen Applaus und auch kein bewertendes Lob. Vielleicht empfindet es Freude, die es gerne teilen möchte, oder Erleichterung. Manchmal reicht ein Augenkontakt („Ich hab’s gesehen!“) oder ein Ausdruck des gemeinsamen Erfreuens am Erfolg. Das Bedürfnis nach Anerkennung und Gesehen-Werden wird so erfüllt. anderen bei einem selbst auslöst. Dazu bedarf es Einfühlungsvermögen, sich selbst und auch dem anderen gegenüber. Einfühlung – diese Klarstellung ist Rosenberg wichtig – meint allerdings nicht uneingeschränkte Zustimmung: Gewaltfrei impliziert keinesfalls eine grenzen - lose Haltung, sondern lediglich den Verzicht auf die vier gern verwendeten Hilfsmittel der Erziehung: Scham, Schuld, Lob und Strafe. „Das Problematische an Belohnung ist, dass sie mit Liebe und Zuneigung verwechselt wird und dann macht sie abhängig. Dann tun wir alles, um Belohnungen, Lob und Komplimente zu bekommen und das ist in meinen Augen noch gefährlicher als Bestrafung. Diese Abhängigkeit macht aus einem anderen Menschen eine nette Person. Nett und tot. Ich würde weder Belohnung noch Strafe als pädagogisches Mittel einsetzen, beide gehören zum gleichen System. Zu einem System, in dem Recht und Gerechtigkeit durch Vergeltung hergestellt wird. Es basiert auf der Vorstellung von „verdienen“, davon, dass jemand, der nicht gut ist, es verdient hat, bestraft zu werden. Es ist dieses Denk- und Rechtssystem, zu dem Belohnung und Bestrafung gehören, und es ist dieses System, das mir Sorgen macht.“ Die vier Elemente der Gewaltfreien Kommunikation Kein Lob? Gerade in Erziehungsratgebern ist dieser Ratschlag häufig zu finden: So viel wie möglich loben! Was spricht eigentlich dagegen? Hilfreich ist hier die Unterscheidung zwischen Lob und Anerkennung. Ein Lob kommt manchmal mit einer bestimmten Absicht daher: Das positive Bild: Tamika Höllerer Marshall B. Rosenberg Der Zusatz gewaltfrei meint also, dass Gewalt nicht erst beginnt, wenn jemand beschimpft oder attackiert wird, sondern dort, wo der andere gezwungen wird, das zu tun, was man von ihm erwartet, gut kaschiert durch gängige gesellschaftliche Manipulationsmittel wie Erzeugung von Schuld- und Schamgefühlen sowie den Einsatz von Strafe und Lob. Foto: Beth Banning Seitdem habe ich einen spezifischen Zugang zur Kommunikation entdeckt zum Sprechen und zum Hören -, der uns dazu führt, von Herzen zu geben, indem wir mit uns selbst und mit anderen auf eine Weise in Kontakt kommen, die unser natürliches Einfühlungsvermögen zum Ausdruck bringt. Ich nenne diese Methode Gewaltfreie Kommunikation und benutze den Begriff Gewaltfreiheit im Sinne von Gandhi: Er meint damit unser einfühlendes Wesen, das sich wieder entfaltet, wenn die Gewalt in unseren Herzen nachlässt. Wir betrachten unsere Art zu sprechen vielleicht nicht als ‚gewalttätig’, dennoch führen unsere Worte oft zu Verletzung und Leid – bei uns selbst oder bei anderen. Um seine Ideen zu veranschaulichen führte Marshall Rosenberg ein neues Sprachbild ein, bestehend aus Wolf- und Giraffensprache. Die Giraffensprache ist ein Symbol für lebendige Kommunikation, sie kennt kein Schubladendenken und kein Abschieben der Verantwortung für unsere Handlungen. Methodisch empfiehlt Marshall Rosenberg 4 Schritte, um uns so auszudrücken, dass wir verstanden werden und dabei die Beziehung zueinander stärken: t Beobachtung t Gefühl t Bedürfnis t Bitte Wesentlich dabei ist, dass es sich bei der Gewaltfreien Kommunikation nicht um eine Methode oder um ein Modell handelt, sondern vielmehr um eine Haltung, mit der wir mit uns und mit anderen Menschen umgehen wollen. Gewaltfreie Kommunikation braucht sich somit nicht zwangsläufig in den 4 Schritten auszudrücken. Wenn uns etwas nicht gefällt, klären wir zunächst mit uns selbst: 1. Was wir beobachten - ohne Bewertung. „Hier sieht es aus wie im Saustall!“, ist eine Bewertung, während der Satz „Auf dem Fußboden liegen Spielsachen.“ eine Beobachtung ist. 2. Wie es uns geht - Gefühl. Rosenberg weist darauf hin, dass unser Wortschatz uns einige Fallen stellt, und es oft schwierig ist, zwischen Gefühlen und Gedanken zu unterscheiden: Beispiel: „Ich habe das Gefühl, mein Chef manipuliert mich.“ Das ist ein Gedanke. „Ich bin irritiert“ oder „Ich fühle mich hilflos“ könnte das dazugehörige Gefühl sein. 3. Was wir brauchen - Bedürfnis. Aussprechen, welche unserer Bedürfnisse hinter diesen Gefühlen stehen. Bedürfnisse sind nach Rosenberg „an den Wurzeln unserer Gefühle“. Was andere sagen oder tun, mag ein Auslöser für unsere Gefühle sein, es ist aber nie deren Ursache. In der GfK geht es darum, selbst die Verantwortung für unsere Handlungen - als Ursprung unserer Gefühle - anzunehmen. Wenn sich unsere Bedürfnisse nicht erfüllen, dann denken wir automatisch darüber nach, was andere Menschen falsch gemacht haben. Urteile 8 freigeist sommer 2013 über andere sind somit entfremdete Äußerungen unserer eigenen, unerfüllten Bedürfnisse. buchtipps 4. Was der andere tun kann, unser Bedürfnis zu erfüllen - Bitte. Eine Bitte kann eine Anfrage nach Austausch sein („Was meinst du dazu?“) oder eine konkrete Handlung vorschlagen. Abgesehen von einer klaren, positiven und konkreten Handlungssprache ist auch hier eine Unterscheidung hilfreich: Bitte versus Forderung. „Deckst du bitte den Tisch?“ Man könnte meinen, die Bitte ist hier offensichtlich. Doch es reicht nicht, das Wort „Bitte“ in den Satz einzubauen. Viel mehr entscheidend ist, wie offen man für ein eventuelles „Nein“ ist. Ist man das nicht, so ist es zielführender, seine Forderung erst gar nicht als eine Bitte zu verkleiden. Mit der inneren Haltung, dass echte und ehrliche Anteilnahme, Mithilfe und Entgegenkommen von innen und aus freien Stücken heraus passiert, fällt es leichter, eine Bitte auch als Bitte auszusprechen: Mit genügend Akzeptanz für eine abschlägige Antwort! Rosenberg schlägt vor, anstatt ein „Nein” als persönliche Absage aufzufassen („Warum kann ich dich nie um einen kleinen Gefallen bitten, immer bist du etc.“), dahinter das „Ja” für die eigenen Bedürfnisse des anderen zu erkennen. Denn das macht den Raum auf für weiteren Austausch. Man kann seine Bitte noch einmal genauer formulieren: „Ich sehe, dass du gerade ganz konzentriert beim Lesen bist und gerade nicht aufhören möchtest. Ich bin etwas nervös, weil gleich Besuch kommt und ich gerne vorbereitet bin. Meinst du, könntest du mir nach diesem Kapitel ganz kurz helfen?“ oder man bemüht sich um andere Lösungen „Ok, ich frage mal deinen Bruder!“ gewaltfreie kommunikation im schulalltag Mit dem Ziel, einen Einblick in die praktische Umsetzung der „Gewaltfreien Kommunikation“ (GfK) nach Marshall B. Rosenberg in der Lernwerkstatt Pottenbrunn zu erhalten, hat Tobias Steirer LWS-Begleiterin Maria Pöcksteiner und Schulleiter und Begleiter David Meixner zum Gespräch getroffen. w ann und wie seid ihr mit dem Modell der GfK von Marshall Rosenberg in Berührung gekommen? MARIA: Ich kenne es von Anbeginn der Neben Dr. Marshall Rosenbergs Stan- dardwerk „Gewaltfreie Kommunikation – eine Sprache des Lebens“ möchte ich noch einige weitere Buchhinweise anführen. Justine Mol: „Erziehen ohne Strafen und Belohungen“ und Britta Hahn: „ Ich will anders als du willst, Mama“ beleuch- ten beide Erfahrungen mit der Anwendung von GfK in der Familie und bieten neben Inspiration und vielen konkreten Beispielen auch brauchbare Bücher, die ich gerne an Menschen borge, die an der GfK mit Kindern interessiert sind. Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch die Reihe Junferlino von Vilma Costetti & Monica Rinaldini. Diese Buchreihe für Kinder zeigt, worin der subtile, aber fundamentale Unterschied besteht zwischen Bedürfnissen und Strategien und macht so die Essenz der Gewaltfreien Kommunikation sichtbar. Sonia Höllerer ist Diplompädagogin, selbständige freie Handwerkerin und Mutter von 2 Kindern in der Lern- und Spielwerkstatt. 9 freigeist sommer 2013 Lernwerkstatt an, aber nicht unter dem Namen „Marshall Rosenberg – GfK “, sondern über den Ansatz der Wilds. Dort geht es auch um die Grundlagen der nicht-direktiven Konfliktbegleitung, bei der man keine Lösungen und Lösungsvorschläge vorgibt, sondern Kinder danach suchen und ihre Wünsche sagen lässt. Erst 2005 bin ich im Rahmen eines Seminares draufgekommen, dass die GfK unser Konfliktbegleitungsmodell beinhaltet. Ich war dann auch eine Zeitlang in einer Gruppe, um das zu trainieren. DAVID: Unter der Überschrift „GfK“ be- suchte ich vor 5-6 Jahren einen Vortrag von Susanna Mader in der Lernwerkstatt. Sie hat den Unterbau geliefert zu der Person des M. Rosenbergs, den Kommunikationsschritten und seinen Betrachtungen, was Bedürfnisse grundsätzlich bedeuten. Mir war es aus dem Tun hier schon bekannt, wo wir viele Elemente, besonders in der Konfliktbegleitung verwenden. Wenn ich das richtig verstanden habe, hat die Pädagogik der Lernwerkstatt unabhängig von MR diese Elemente bereits enthalten. Diese wurden nur nochmals gebündelt und auf den Punkt gebracht. DAVID: Es ist ein typisches Merkmal der LWS, dass sie verschiedene Elemente und Ansätze beinhaltet. Im Grunde geht es immer um die Grundhaltung jedem einzelnen Kind gegenüber. Genauso, wenn mich jemand fragt: „Seid ihr eine Montessori-Schule?“ Im engeren Sinne nicht, aber wir haben die Materialien herinnen und es sind viele Elemente und pädagogische Überlegungen eingeflossen. Die 4 Kommunikationsschritte in der GfK formulieren Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis und Bitte. Zum Beispiel: „Wenn ich ... sehe, fühle ich mich ..., weil mir wichtig ist ... Wärst du bereit ...?). Ich kann mir vorstellen, dass es viel Übung erfordert, um nicht abgespult zu klingen. MARIA: Im Wesentlichen geht es bei der GfK darum, in Verbindung zu sein. Dazu reicht nicht die methodische Anwendung. Am Anfang versucht man das so, es ist ungewohnt. Es kann unecht wirken, bis man sein eigenes Repetoire entwickelt hat, in dem man sich wohlfühlt. Dieses genaue Nachgehen in 4 Schritten mit den speziellen Formulierungen hat mich anfangs irritiert. Darum bin ich auch eine Zeit in eine Gruppe gegangen, um das zu trainieren. Man muss sich dann auch wieder etwas befreien von solchen Methodiken, die aber schon hilfreich sind. DAVID: Ein neues Repertoire gehört ge- übt und immer wieder reflektiert. Kinder sind ja super darin, hohle Phrasen zu entlarven. Man kommt damit nicht weiter ... MARIA: ... wenn man plötzlich so komisch redet. Die Formulierung „gewaltfreie“ Kommunikation löst bei manchen Menschen sicherlich den Gedanken aus, bisher auch nicht „gewalttätig“ kommuniziert zu haben. Was ist genau unter „gewaltfrei“ zu verstehen? DAVID: Das ist ein weit gestecktes Feld. Wenn ein Erwachsener seine Macht in ungeeigneter Weise einsetzt, um das Eigene verbal durchzusetzten, dann geht es eigentlich um Gewalt. Auch wenn man den anderen nicht hört oder hören will oder wenn man die Bedürfnisse des anderen nicht respektiert, wenn man mit ihm in Kontakt tritt. MARIA: GfK heißt auch, nicht zu interpre- tieren, nicht zu bewerten. Rein bei dem zu bleiben, was man sieht. Das kann man auch üben. DAVID: Eine der ersten Herausforde- rungen in dem Seminar war es, Gefühle zu benennen, die den anderen nicht in eine gewisse Schuld oder Verantwortung mit hineinnehmen. Wenn ich sage: „Ich fühle mich nicht verstanden“, beinhaltet das einen mittransportierten Vorwurf. MARIA: Pseudobedürfnisse nennt das M. Rosenberg. DAVID: Eben nicht: „Du machst mich traurig, aggressiv, unglücklich...“, son- 10 freigeist frühling 2013 dern: „Ich fühle mich...“. Das richtig zu benennen ist eine der ersten, nicht zu unterschätzenden Hürden. dass ich sag: „OK, da geh ich jetzt mit dir mehr in Kontakt, denn das wär jetzt die schnelle Nummer.“ GfK geht ja davon aus, dass jeder von uns kooperieren will, wenn er es freiwillig tun kann und wenn er spürt, seine echten Bedürfnisse sind berücksichtigt. Z.B. kann man draufkommen: „Ach so, du möchstest vorher noch etwas jausnen gehen. Ist OK. Ich schau inzwischen auf den Bereich und muss halt den anderen Kindern sagen: Da muss erst weggeräumt werden, der ist jetzt jausnen. Aber du kommst nachher wieder.“ Ich hätte auch sehr viel Energie investieren können, durchzusetzen, dass das jetzt passieren muss. Bestrafung und Lob, „falsch“ und „richtig“ werden von M. Rosenberg abgelehnt. Wie steht ihr dazu? DAVID: Lob ist die Kehrseite der Bestra- auch jemand das Polsterhaus haben. Der ist jetzt ziemlich wütend rausgegangen. Weißt du, warum?“ Also wirkliches Interesse, was da passiert ist. Das kann sich von außen betrachtet vielleicht passiv anhören. Aber jeder, der einmal versucht, aufmerksam und nicht-direktiv zu bleiben, weis, dass das ziemlich fordernd sein kann. MARIA: Kinder sollen gesehen werden in dem, was sie tun, und das soll auch verbalisiert werden. In der GfK werden Bitten so formuliert, dass man klar macht, auch für ein „Nein“ offen zu sein. Welche Schwierigkeiten ergeben sich da in der Umsetzung notwendiger Regeln im Schulalltag, z. B. Wegräumen? DAVID: Ich finde es wichtig, Beziehungs- DAVID: Es ist eine unserer Grundregeln, gesten zu setzen, damit Kinder wissen, man ist da: Du wirst gesehen, wir sind aufmerksam, du kannst zu uns kommen, wenn du etwas brauchst. Oder wir fragen nach, wenn wir Situationen erleben, wo das Kind nicht von selber kommt: „Ich habe gesehen, da wollte dass man wegräumt, bevor man eine neue Tätigkeit beginnt. Für mich heißt es, anders mit einem Kind in Kontakt zu gehen, wenn es „Nein!“ sagt. „Nein“ ist ein sehr wichtiges Wort für Kinder, dient zum Schutz, zur Abgrenzung. Wenn ein Kind sagt: „Nein, ich räum nicht weg.“, dann wird das Gründe haben. Ich schaue, woran das liegen könnte. Wenn das Kind bei dem „Nein“ bleibt, vernetze ich mich mit anderen Begleitern, dass vorher noch etwas wegzuräumen ist, bevor es etwas Neues beginnt. Das geht dann eher in eine Art gewaltfreien Widerstand meinerseits. „OK, ich respektiere dein Nein. Aber bei uns ist der Rahmen so gesteckt, dass man etwas Neues nur beginnen kann, wenn man das, was man vorher gemacht hat, weggeräumt hat.“ Kinder gehen dann vielleicht in Protest, kommen aber meistens auch wieder zurück und können das beenden. Wenn es nicht geht, dann bleibt manchmal nur mehr die Möglichkeit zu sagen: „Uns ist es am liebsten, du kommst die nächste Zeit nicht in diesen Bereich und arbeitest nicht mehr mit diesem Material, denn da haben wir jetzt dieses Erlebnis gehabt.“ Manche Kinder versuchen es dann: „OK, ist mir eh Wurst, dann krieg ich eben Bereichsverbot.“ Das ist für mich ein Signal, MARIA: So ein Bereichsverbot ist auch im- mer wieder in Schulversammlungen besprochen worden. Eigentlich setzen wir da eine Schulregel, die wir gemeinsam mit den Kindern gemacht haben, um. Hat das Modell der GfK also auch seine Grenzen, vielleicht gerade im Konfliktbereich? MARIA: Wir sind ja mit der GfK eine zeit- lang unzufrieden geworden, weil uns kindermund Foto: ATobias Steirer fung, schafft dieselben Abhängigkeitsdynamiken und ist ein Manipulationswerkzeug. Wir versuchen, in all unserem Tun möglicht weg von Beurteilungen und Bewertungen zu kommen. Uns einfach darüber, was wir sehen, was wir spüren, schon als Erwachsener, aber auf gleicher Augenhöhe, zu unterhalten. Wir sehen das bei Kindern, die aus öffentlichen Schulen zu uns kommen, die schon ein Funktionieren auf Belohnung und Bestrafung antrainiert haben, also von Außenmotivation abhängig sind. Die benötigen wirklich viel Zeit hier in der LWS, bis sie aus eigenen Impulsen heraus etwas tun, mit eigenen Bewertungsgrundlagen. Echtes Tun braucht eigentlich keine Bewertung, Lob oder Ansporn von außen. 11 freigeist sommer 2013 Wir sitzen am Esstisch. Leo (5 Jahre) hat Eiswürfel im Wasserglas und überlegt, was wohl schwerer ist: Wasser oder Eis? Er kommt zu folgender Erklärung: Wasser ist schwerer als Eis, weil der Eiswürfel bleibt auf der Hand liegen, während das Wasser von der Hand runterfließt (fällt runter). Genau so ist das, ganz einfach oder? etwas abgegangen ist. So haben wir das Konfliktmodell von Haim Omer dazugenommen, wo es um eine empathische Konfrontation geht, wo es auch einmal ein „Nein!“ gibt. Z.B.: „OK, es gibt jetzt für dich dieses Bereichsverbot, wir kommen im Moment nicht weiter mit dir. Wir sagen jetzt einmal „Nein“ und wollen später mit dir weiter darüber reden.“ DAVID: Wie es der Name eben sagt: GfK kann ich dann gut nützen, wenn auch das Gegenüber in der Situation bereit ist, in Kommunikation zu treten. Ab da helfen uns dann die Elemente von Haim Omer. Wenn das „Sich mitteilen“ nicht möglich ist, dann braucht es trotzdem eine positive Kraft für die Situation, auch eine Beharrlichkeit. Sonst würde das heißen: „Ich rede nicht mehr mit euch und euch gehen alle Werkzeuge aus.“ In diesem Bereich haben wir nach mehr Möglichkeiten gesucht. Zusätzlich ist das auch abhängig vom Alter des Kindes. Jüngere Kinder haben noch nicht die Möglichkeiten, so über sich zu reflektieren. Wir können da unterstützen, indem wir Dinge formulieren wie: „Könnte es sein, dass du jetzt Opa und Gabriel (5 Jahre) rechnen miteinander. Opa: Wie viel ist 1 + 1? Gabriel: 11 Olivia (5 Jahre): “Mama ist heute schon morgen?“ Nina(5 Jahre): Immer wenn mich mein Gesicht kratzt, dann kratz ich zurück! einfach Ruhe brauchst?“ Dann hilft das auch dem Kind, sein Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern. Da ist es auch bei jüngeren Kindern oft genug, wenn man eine Situation stoppt, in Kontakt bleibt und schaut, was es da an Sprache braucht. Wo und wie kann man GFK erlernen? Gibt es Kursmöglichkeiten, Literaturempfehlungen? MARIA: Von MR gibt es sehr viele Bücher, die sind sehr praxisorientiert, da sind viele Beispiele drinnen, Situationen beschrieben und Lösungsmodelle. Man kann sich vieles abschauen und im konkreten Alltag mit den Kindern oder mit dem Partner ausprobieren. Ist es vielleicht überhaupt ein guter Ansatz, wenn man die Kommunikation einmal in der Partnerschaft testet? DAVID: Genau, es ist gut, wenn man sich nicht allein mit dem Buch hinsetzt, sondern wenn man jemanden zweiten dazu hat, mit dem man solche Erlebnisse reflektieren oder einfach erproben kann. Laura (3 Jahre) geht mit der Knetmasse weg und sagt: „Ich geh jetzt ein weibliches Gehirn bauen!“ Papa: Was ist jetzt Levi? Du sagst weder Muh noch Mäh. Levi (2 Jahre): Muuuhhhh! 12 freigeist sommer 2013 freigeist sommer 2013 13 der dialogprozess ein neuer alter weg voller entdeckungen Benno Kapelari war viele Jahre Begleiter in der Lernwerkstatt im Wasserschloss, später Mitbegründer vom LebensRaum Niederhof. Gemeinsam mit Franz Eberhart schrieb er das „Handbuch Freie Alternativschulen“. Heute arbeitet er unter anderem als Dialogprozessbegleiter und erzählt im folgenden Beitrag von der Herkunft, dem Ablauf, vor allem aber von den Vorteilen dialogischer Redekreise. Von Benno Kapelari j etzt ist es still. Die letzte Wortmeldung in der Rederunde liegt schon ein paar Minuten zurück, Ruhe breitet sich im Kreis aus. Nein, es ist keine unangenehme Stille. Eher wie ein kollektives Ausatmen und Entspannen. Später, in der Reflexion über diese Rederunde werden die Teilnehmenden Dinge sagen wie: „Ich habe nicht gewusst, wie angenehm es sein kann, in einer Gruppe zu schweigen.“ „Zuerst war ich etwas unsicher, aber dann habe ich mich immer mehr entspannt, nachgedacht über das Gesagte und die gemeinsame Stille genossen.“ Dialogische Redekreise halten viele Überraschungen bereit. Was sie in den ersten Begegnungen für Teilnehmende, unabhängig vom Kontext, in dem sie stattfinden und der Absicht, mit der sie initiiert wurden, ermöglichen, ist die Wahrnehmung, wie erfüllend eine klare, vereinbarte Struktur sein kann, ohne den Druck, ein Ziel zu erreichen. Was unterscheidet dialogische Rederunden von Diskussionen oder anderen Kommunikationsformen? Was sind ihre Wurzeln? Der Dialogprozess, wie ich ihn hier beschreiben möchte, hat mehrere Wurzeln. Eine Wurzel reicht weit in die Menschheitsgeschichte zurück und hat in einigen Kulturen bis in die Neuzeit herauf überlebt. Als Beispiel bringe ich hier in- dianische Redekreise, die als Versammlungs- und Entscheidungsform in vielen Stämmen Nordamerikas stattfanden und heute wieder verstärkt stattfinden. In ihnen gibt und gab es eine ausgeprägte Form des Storytellings, die sich in der neu entstandenen Form des Councils fortsetzt. Persönliche Geschichten, die von Herzen kommen, haben im Austausch innerhalb einer Gruppe eine tief verbindende und klärende Wirkung. Sie ermöglichen den Aufbau eines intuitiven Verstehens der Standpunkte und Sichtweisen des Anderen. Eine wunderbare Geschichte hierzu ist die Geschichte von Joe, einem Jungen, der von seinem Großvater, einem Ältesten des Stammes, zu einer Ratsversammlung eingeladen wird und dort erlebt, wie die Ältesten in Form des Erzählens von Mythen und Geschichten zu einer Entscheidung über den Verkauf von Land finden, ohne an diesem Abend jemals ein für den modernen jungen Mann vertrautes Element der Demokratie zur Entscheidungsfindung zu nutzen. (Die Geschichte ist in dieser Ausgabe abgedruckt, ich schicke sie auf Anfrage aber auch gerne zu.) Eine weitere Wurzel (erste Hälfte des 20. Jhs) geht auf Martin Buber zurück, der sich stark mit der vorbehaltlosen Begegnung zwischen einem „Ich“ und einem „Du“ beschäftigt hat. In dieser - er nennt diese Begegnung „dialogisch“ - erwächst ein tiefes gegenseitiges Verstehen des anderen und meiner selbst. „Irgendwie war das komisch. Es gab keine Agenda, kein Thema, keine gemeinsamen Definitionen von Begriffen und doch, als ich rausging, war ich voller Kraft und Energie. Noch am nächsten Tag war ich so voller Tatendrang.“ Als dritte Wurzel in der Entwicklung des Dialogprozesses nenne ich David Bohm. David Bohm hat sich als Experimentalphysiker stark mit dem wissenschaftlichen Diskurs und mit der Fragmentierung des menschlichen Denkens beschäftigt. Die Metapher einer Gruppe Blinder, die einen Elefanten untersucht, macht diesen Vorgang sichtbar: „Ein König beauftragt eine Gruppe blinder Weiser eine Expedition zu unternehmen, um ihm Kenntnis über den sagenhaften Elefanten Indiens zu überbringen. Die Weisen werden von einem Kundigen zu einem Elefanten gebracht und jeder von ihnen erforscht einen Teil des Elefanten. Den Rüssel, ein Bein, den Schweif, das Ohr, den Rumpf. Und jeder gewinnt eigene Erkenntnisse und überbringt diese dem König. So ist für den einen der Elefant eine kräftige Schlange, für den anderen eine Säule, eine Schnur, ein ledriger Lappen oder eine pralle Tonne.“ David Bohm bedauerte zutiefst, dass im gängigen wissenschaftlichen Diskurs Wissenschaftler das gemeinsame Potential für anstehende Problemstellungen nicht nutzen können. Er beschreibt das menschliche Denken als fragmentiert. Im dialogischen Redekreis mit seinen impliziten Haltungen entdeckte er eine Möglichkeit, anstelle dieser Fragmentierung ein verbindendes Denken anzuregen, gleichzeitig im Dialog Wirkungsweisen unseres Denkens sichtbar werden zu lassen und ergründen zu können. 14 Aktuelle Angebote: 25. - 26. 10. 2013 in Pressbaum Start der 3. Ausbildung zum/r Dialogbegleiter/in 21. 08. 2013 Am MIT (Massachusetts Institute of Technologie) Dialogue-project in Boston wurde unter Anbindung an diese drei Wurzeln das Grundgerüst des Dialogprozesses der heutigen Ausprägung in einem fortwirkenden reflexiven Prozess der Anwendung und Theoriebildung entwickelt. Was den Dialog von vielen anderen Kommunikationsformen unterscheidet, ist das Fehlen von Techniken und Zwecken. Der Dialog entwickelt sich zwischen Menschen im Aufbau von inneren Haltungen innerhalb einer unterstützenden Struktur. Hier erlebe ich sehr viele Parallelen zur prozesshaften Pädagogik der nichtdirektiven Begleitung von Kindern und Jugendlichen in Schulprojekten wie der Lernwerkstatt im Wasserschloss. Wie sieht nun so eine Dialogrunde aus? Eine Gruppe von Menschen trifft sich für einen vereinbarten Zeitraum, zum Beispiel in einem Redekreis, gestaltet eine Mitte, nutzt als Werkzeuge der Verlangsamung einen Redestab und eine Klangschale, klärt die gemeinsame Absicht (nicht das Ziel) dieses Kreises und beginnt einen Austausch über das, was jede/n Einzelne/n gerade bewegt (oder zu einem Thema, mit dem der Großteil der Gruppe Verbindung aufnehmen kann). Der Redestab ist bei demjenigen, der sich einbringt, die Aufmerksamkeit der „ZuhörerInnen“ bei ihm oder ihr. Wenn sie oder er ihren oder seinen Beitrag beendet hat, wandert das Redesymbol wieder zurück in die Mitte. So erlangt jeder Beitrag sein individuelles Gewicht, wird jede Person wahrgenommen. In einem dialogischen Redekreis gibt es kein Führen, kein Moderieren, kein Richtig oder Falsch, keine Technik. Das, was geschieht, ist das Einzige, was geschehen kann. Der Dialogprozess ist immer inklusiv – der Unterschied zwischen mir und dir ist eingeladen, sichtbar zu werden. In dieser Form des Zusammenkommens geht es nicht darum, ein Ziel zu erreichen, eine Lösung zu finden, sondern einfach jede Stimme zu hören. Wer diese Form der Begegnung im Kreis kennenlernt, wird bald erleben, wie sehr die Weltsicht des Gegenübers an die eigenen Grenzen des Denkens, Fühlens und Handelns zu kratzen beginnt, sich, im Sinne David Bohms gesprochen, „der Schleier von der Fragmenthaftigkeit unseres Denkens zu heben beginnt“. Was tue ich denn – wenn deine Werte, deine Glaubenssätze und Annahmen nicht übereinstimmen mit meinen, wo wir doch z.B. unsere Kinder aus vermuteten gleichen Beweggründen in die gleiche Schule geben? Erst in diesem Unterscheiden wird die Fülle der Vielfalt wahrnehmbar: Jede/r ist wichtig, anders und für das Ganze unverzichtbar. Ich lernte den Dialog als Redeform in der Gruppe durch Mauricio und Rebecca Wild kennen. Mit den Worten „Der Dialog ist die entspannte vorbereitete Umgebung für das Lernen Erwachsener“, hatte Mauricio Wild das Interesse für diese Form des Redens in der Gruppe unseres Gemeinschafts- und Schulprojektes LebensRaum Niederhof geweckt. Immer wieder führten tiefgreifende Spannungen zu einer Zerreißprobe für die Gemeinschaft. Nach den zwei Tagen im Kreis in der Begleitung der Beiden konnte ich ihm nur zustimmen. In der entspannenden Verlangsamung und dem Fehlen eines Zwecks oder Zieles begannen alte Verkrustungen sich aufzulösen. Die Gruppe entwickelte gemeinsam die Möglichkeit, neue Wege zu suchen. Die dialogischen Rederunden haben uns dann in weiterer Folge viele Jahre begleitet und unsere organisatorischen Aufgaben wesentlich erleichtert. Mit dieser Initiation bin ich zunehmend in den Prozess der dialogischen Begegnungen eingetaucht. Mein Weg führte mich nach Osnabrück zu Freemann Dhority und Martina Hartkemeyer, zum indianischen Redekreis, dem Communitybuilding, dem Storytelling und der Coucilbewegung und ich habe ihn seither nicht mehr verlassen. Warum auch – so viele wunderbare Weggefährten und Gefährtinnen, die mir auf der Suche nach dem verbindenden Kreis der Menschen schon begegnet sind! Es ist das Blut Eurer Ahnen Das fließt durch euren Leib. Die Form, sie wandelt sich, doch der Kreis des Lebens bleibt. Benno Kapelari Geb 1964, Dialogprozessbegleiter, Lebens- und Sozialberater und Pädagoge, Partner, Vater von 4 Kindern und Suchender nach allem, was der menschlichen Fülle einen Schritt näher bringt. 1 Ich glaube, sein Name war Joe. Oder so ähnlich. Er war zum Teil Spanier und zum anderen Teil Südamerikaner. Sein Großvater väterlicherseits war ein Vollblut, ein Pueblo-Indianer, und er gehörte zum Rat der Ältesten. Joe hatte das Volk der Pueblo als kleines Kind verlassen, als seine Mutter mit ihm nach Spanien ging. Später, in der Zeit der Wirtschaftskrise, kam er zurück. Er war etwa zwanzig und wollte seine Ausbildung nach alter Tradition fortsetzen. Kurz nach Joe’s Rückkehr in seine alte Heimat machte die Landesregierung dem Volk der Pueblo ein ernstzunehmendes Angebot. Man wollte ihnen Land abkaufen und das Recht an Rohstoffen erwerben. Der Ältestenrat berief eine Versammlung ein, um zu entscheiden, überarbeitet aus „The way of council“ von Jack Zimmerman Angewendet wird der Dialogprozess in Unternehmen, Organisationen, in der Sozialarbeit, in der Begleitung von Gruppen, Paaren und Einzelnen und in vielen Bereichen, in denen eine verbindende Begegnung wesentlich wird. Einen zunehmenden Ruf nach dialogischer Begegnung erleben wir Dialogprozessbegleiter im schulischen Bereich. Weitere Informationen zum Dialogprozess finden Sie auf www.dialogbegleiter.at joe 1 info 15 freigeist sommer 2013 Fotos: Benno Kapelari freigeist sommer 2013 was zu tun sei. Joe’s Großvater lud seinen Enkel ein, mitzukommen und zuzusehen. Joe wartete, bis alle Mitglieder des Rates in der Kiva, dem Zeremonienraum waren, ehe er selbst die Leiter hinunterkletterte. Er trug eine zusammengerollte Decke unter seinem Arm. Joe nahm in der Nähe seines Großvaters Platz, in der Nähe eines Vorsprungs in der Ziegelwand, auf dem Tontöpfe, Trommeln und ein paar getrocknete blaue Maiskolben aufgelegt waren. Ein Feuer knisterte in einer Grube im harten Lehmboden, in der Mitte des Raumes. Der traditionelle große Gesprächsstein ruhte auf der einen Seite des Feuers, genau gegenüber der sipapu, einer Grube, die traditionellerweise daran erinnert, dass die ersten Menschen aus der unteren Welt an die Oberfläche der Erde gekommen waren. Die Ältesten saßen einige Minuten lang still, während Joe aufgeregt lauschte. Er konnte den Beginn der Diskussion kaum erwarten. Der Häuptling der Pueblo öffnete ein blauweißes Bündel und wickelte etwas aus, das wie ein Pfeifenstiel aussah. Er war etwa so lang wie ein Arm und war an einem Ende mit Federn und türkisen Fäden verziert. Das andere Ende war mit Leder umhüllt. Obwohl Joe noch nie so etwas gesehen hatte, wusste er, was es war. Der traditionelle Sprechstab, der nur bei wichtigen Versammlungen eingesetzt wird. Der Häuptling hielt den Stab für einen Moment stumm und sanft in Händen, dann hob er an, eine Geschichte zu erzählen, vom Hirschen, dem der trockene Wüstenwind beibrachte, so schnell wie ein Steppenläufer zu rennen. Joe erinnerte sich dunkel an diese Geschichte, noch aus seiner Kindheit im Stamm der Pueblo. Als der Häuptling zu Ende gesprochen hatte, reichte er den Stab seinem linken Nachbarn. Der Alte erzählte eine Geschichte, die Joe noch nicht kannte, über die Ahnen, die das Dorf der Pueblo gebaut hatten. Und so ging es weiter. Jeder der alten Männer trug seine Geschichte in den Kreis, als würde er ein kostbares Holzscheit ins Zeremonienfeuer legen. Ein Teil von Joe wurde wieder zum Kind und war bezaubert von den Geschichten, die sein Volk seit Generationen stärkten und trugen. Ein anderer Teil wurde ungeduldig und war verwirrt. Wann fangen sie denn endlich an, den Vorschlag der Regierung zu diskutieren, fragte sich dieser Teil von Joe. Obwohl all die Geschichten irgendetwas ganz tief in ihm berührten, waren doch bereits vier Stunden vergangen und der Diskussionsgegenstand war noch kein einziges Mal erwähnt worden! Als der Sprechstab wieder beim Anführer angelangt war, setzte sich Joe kerzengerade auf, um ja kein Wort der folgenden Diskussion zu verpassen. Jetzt würde es losgehen. Doch der Häuptling legte den Stab langsam auf den blau-weißen Stoff und schloss seine Augen. All die anderen taten dasselbe. Das einzige Geräusch im Raum war das leise Knistern des Feuers. In der Stille, inmitten der Ältesten erinnerte sich Joe an die Geräusche der Trommeln und an die Gesänge seiner Kindheit. Und zugleich fragte er sich wieder, wann die Debatte beginnen würde. Nach einer sehr langen halben Stunde begann Bewegung in die Versammlung zu kommen. Als hätten sie sich abgesprochen, schlugen alle die Augen auf und blickten einander an, jeder jeden, langsam und bewusst. Kein weiteres Wort wurde gewechselt. Eine Debatte wurde nicht geführt. Zu Joes Verwunderung begannen sich alle zu strecken, nachdem sie stundenlang ohne Bewegung gesessen waren. Man stand auf und verließ den Versammlungsraum, ohne noch etwas zu sagen. Joe wartete, bis alle gegangen waren und lief dann, um seinen Großvater einzuholen. „Was war denn das?“, platze es atemlos aus ihm heraus. Der alte Mann unterdrückte ein Lächeln und ging weiter. „Ich dachte, die Versammlung würde über den Vorschlag der Regierung abstimmen?“, fragte Joe verwirrt. „Das hat sie“, sagte der Großvater mit ruhiger Stimme. „Ich habe keine Diskussion gehört – und ganz bestimmt keine Abstimmung“, antwortete Joe, immer noch sehr verwundert. „Dann hast du nicht richtig zugehört“, gab sein Großvater zurück und verlor den Kampf gegen das Lächeln. „In der Ratsversammlung hört man auf die Stille zwischen den Worten. Mit den Ohren eines Hasen.“ „Du meinst, der Rat hat tatsächlich den Vorschlag der Regierung aufgenommen und zu einer Entscheidung gefunden?“ „Ja.“ „In der Stille?“ „Und in den Geschichten“, fügte der Großvater hinzu und lachte. Plötzlich verstand Joe, was sich zugetragen hatte. Im selben Moment verstand er die Magie der Ratsversammlung und er fühlte, dass auch er mit dem, was in der kiva geschehen war, verbunden war. Die Art, wie die Männer zugehört und gesprochen hatten, wie jeder von ihnen seinen Teil zu einer größeren Wahrheit beigetragen hatte, erschien ihm plötzlich wie ein Wunder. Kommt dir diese Geschichte unglaubwürdig vor? Ist es schwer für dich zu glauben, dass eine Gruppe von Menschen so tief und wirkungsvoll über eine komplexe, kritische Fragestellung kommunizieren kann, ohne das Thema tatsächlich zu diskutieren? Zweifel, das war auch meine erste Reaktion, als ich die Geschichte vor dreißig Jahren zum ersten Mal hörte. Ein Freund von Joe, der ihn seit vielen Jahren regelmäßig bei den Pueblo besucht, hat sie mir erzählt. Falls du dich fragst: Der Rat der Ältesten hat das Angebot der Regierung nicht angenommen. 16 freigeist sommer 2013 17 freigeist sommer 2013 schmiede das eisen, wenn es kalt ist! Anke und Martin Huber Hans Steinkellner war schon öfters in der Lernwerkstatt zu Gast, um über die „Kraftquelle Erwachsenenpräsenz“ zu referieren. Gemeinsam mit Stefan Ofner leitet er das „Institut für Neue Autorität“ in St. Pölten. Dort trafen ihn Martin und Anke Huber zum Interview, um mit ihm über Präsenz, gewaltfreien Widerstand und Wiedergutmachung zu diskutieren. Neue Autorität (NA) ist ein Begriff, der entstanden ist, weil deutlich geworden ist, dass die traditionelle Form von Autorität heute so nicht mehr funktioniert. Traditionelle Autorität war aufgebaut auf Gehorsam, darauf, dass Kinder folgsam sind. Früher war es legitim, den Gehorsam mit Macht und Gewalt durchzusetzen. Immer mehr Eltern und LehrerInnen merken, dass das so nicht mehr funktioniert, weil sich die Gesellschaft verändert hat. Heute brauchen wir andere Methoden, um Kinder in ihrer Entwicklung gut zu unterstützen. Wir wollen eine Kindererziehung, wo es um Nähe und Beziehungsorientierung geht. Autonomie ist viel wichtiger geworden, auch die Autonomie der Kinder. Deswegen funktioniert auf Macht aufbauende hierarchische Autorität nicht mehr. Neue Autorität ist kein schöner Fachbegriff, aber es ist eine hilfreiche Definition, als Abgrenzung zur traditionellen Autorität, auch, um zu unterstreichen, dass es eine neue Form der Autorität braucht. Wir wissen ja aus bitterer Erfahrung aus der Geschichte, dass Kindererziehung ohne Autorität auch nicht funktioniert. Präsenz bedeutet aber nicht nur anwesend zu sein, sondern es geht vielmehr darum, das Pflichtgefühl wach zu rufen, sich einzumischen, immer dann, wenn es nötig ist: wenn Gefahrenmomente da sind, wenn Alarmsignale da sind, dann geht es darum, die wachsame Sorge zu erhöhen und die Präsenz zu steigern. Wenn es wieder gut läuft, kann man die Präsenz wieder reduzieren. In der Entwicklung von Kindern wird Autonomie immer wichtiger, die Räume, die Lebensräume der Kinder werden immer weiter. Enger muss es dann werden, wenn wir Sorge haben, dass sich Kinder nicht gut entwickeln. Dass sie sich in Gefahr begeben, dass sie andere gefährden. Dann ist es wichtig, dass die Erwachsenen präsenter sind, dass sie näher dran sind, einschränkend, Widerstand leistend, unterstützend, immer dann, wenn Kinder das brauchen. Kannst du ein einfaches Beispiel für Präsenz nennen? Wenn Kinder in die Pubertät kommen, stellt sich in fast jeder Familie die Frage, wie lange sie ausgehen dürfen. Jugendliche haben dann manchmal andere Vorstellungen als die Eltern. Wenn Eltern merken, dass Jugendliche sich nicht an Ausgehzeiten halten, die ausgemacht wurden, dann ist wichtig, ihnen deutlich zu machen, dass das so nicht geht. Dass wir Erwachsenen wissen müssen, wo sie Wie wichtig ist die Zusammenarbeit von Eltern und LehrerInnen in der Schule? Was sind die Grundsäulen der Neuen Autorität? Die wichtigste Grundsäule der NA ist vielleicht die Präsenz. Präsenz als Unterscheidung oder als entgegenstehender Wert zu Distanz und zu Unnahbarkeit. hingehen, mit wem sie unterwegs sind, was sie so grob als Programm vorhaben und wann die Ausgehzeit wieder zu Ende ist. Es braucht die Abmachung zwischen den Eltern und den Kindern. Es kann nicht sein, dass Kinder die Regeln alleine definieren und selbst entscheiden, wie lang die Ausgehzeiten sind, nicht nur, weil es im Gesetz so geregelt ist, sondern auch, weil es für die Sicherheit und die gute Entwicklung des Kindes wesentlich ist. Die vorhin angesprochene wachsame Sorge ist der wichtigste Faktor dafür, dass sich Kinder gut entwickeln. Es ist wesentlich für Eltern, zu wissen, dass sie nicht nur wachsam sorgend für die Kinder da sein dürfen, sondern dass sie sogar die Verpflichtung dazu haben, es auch enger zu machen, wenn es notwendig wird. Hans Steinkellner Foto: Martin und Anke Huber w as versteht man unter Neuer Autorität und wie ist dieser pädagogische Ansatz entstanden? sind Eltern von zwei Kindern in der Lernwerkstatt Das ist auch eine wichtige Säule der NA. Wenn es keine Zusammenarbeit gibt, wird es schwieriger für beide Seiten, für Eltern und LehrerInnen. Das muss auch beiden Seiten bewusst sein. Es ist wichtig, die Dynamik des „sich die Verantwortung gegenseitig zuzuschieben“ zu durchbrechen und die Energie dazu zu nutzen, Bündnisse zu schmieden, die Zusammenarbeit zu verbessern , Austausch zu pflegen, auch dann, wenn es gut geht. Viele Eltern sind gewohnt, dass sich Lehrer nur dann melden, wenn es Probleme gibt. Das führt mitunter dazu, dass manche Eltern schon nicht mehr das Telefon abheben, wenn die Schule dran ist. Manche Schulen gehen aber schon dazu über, dass sie bereits im Vorfeld, bevor das Kind in die Schule kommt, Kontakt mit den Eltern aufnehmen und dass sich die LehrerIn vorstellt und darauf hinweist, dass das Interesse an einer guten Zusammenarbeit besteht. Das hat sich in diesen Schulen sehr bewährt. In dem Fall, wo Eltern und Lehrer sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben, entstehen negative Folgen: die Autorität der Eltern und der LehrerInnen schwindet, damit steigt das Problemverhalten des Kindes und das Sicherheitsniveau der Klasse wird geringer. Was ist mit Kindern, die nur mehr unregelmäßig zur Schule kommen. Eltern und Lehrer haben sich schon darüber ausgetauscht. Beide Seiten erkennen es als massives Problem an. Wie wären im Sinne der NA die nächsten Schritte? Insbesondere im Pflichtschulalter ist die Not immer auf beiden Seiten groß, wenn Kinder oder Jugendliche die Schule verweigern. Häufig ist es in der Schule so, dass andere Kinder fragen: „Und was passiert jetzt, X. war schon 3 Wochen nicht mehr in der Schule?“ Wenn die LehrerInnen darauf wenig zu sagen haben, dann ist die implizite Botschaft „eigentlich passiert nicht viel.“ Die Kinder verstehen dann, „ah, wenn nichts passiert, wenn ich nicht in die Schule gehe, warum gehe ich dann überhaupt?“ Wir müssen dann versuchen herauszufinden, was das Problem ist. Das heißt nachfragen, dran bleiben, die wachsame Sorge erhöhen. Schulverweigerung ist ein eindeutiges Alarmsignal. Wir müssen versu- chen in Beziehung und ins Gespräch zu kommen und alles zu tun, um das Kind zu unterstützen, damit die Ursache gefunden wird. Wenn ein Kind dann noch sehr wenig bereit ist die Ursachen zu nennen, warum es versucht, die Schule zu verweigern (ohne dass z. B. Mobbing oder Ähnliches vorliegt), dann ist es notwendig, sehr entschlossen Widerstand zu leisten. Wie geht das am besten? Indem man die Präsenz erhöht, auch im Zimmer des Kindes, und das Netzwerk nützt. Die Eltern machen deutlich:“ Wir wollen, dass du wieder in die Schule gehst!“ und im Sinne des Netzwerkes: Wer kann die Eltern noch unterstützen? Die Eltern sind in aller Regel alleine nicht dazu in der Lage. Das liegt nicht an der Motivation der Eltern, sondern an der Machtdynamik, die sich in der Familie umgekehrt hat, wobei die Kinder die Eltern dominieren. Bei Schulverweigerung ist es manchmal ähnlich. Die Dynamik ist dann so, dass das Kind entscheidet, „Nein, ich geh nicht mehr!“ Dies lässt die Eltern oft verzweifelt und voller Ohnmacht zurück. Wenn die Eltern auch noch allein und isoliert sind, dann ist es ganz schwierig, die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Ich habe ein Beispiel im Kopf, wo die Eltern es geschafft haben, dass das Kind zwar ins Auto einsteigt, aber vor der Schule ist es dann nicht ausgestiegen. Was macht man da? Man kann ja nicht am Parkplatz vor der Schule das Kind aus dem Auto schleifen. Wir können Gehorsamkeit 18 nicht erreichen und Kinder wissen das. Sie sagen das dann auch so „Wenn ich nicht aussteigen will, habt ihr keine Möglichkeit, mich aus dem Auto zu bringen“. In diesem Fall war es so, dass eine Lehrerin dazu gekommen ist und sich zu dem Burschen ins Auto gesetzt hat. Sie sind dann eine Zeit im Auto gesessen, dann sind noch ein paar andere LehrerInnen dazu gekommen, und schließlich war er bereit mitzugehen. Aber nicht, weil er gehorsam war, sondern weil er sich entschlossen hat mitzugehen. Das ist immer das Wichtigste, dass wir Erwachsene versuchen, unser Verhalten unabhängig zu machen von dem Verhalten des Kindes. Er kann bestimmen, ob er aussteigt, aber nicht, ob jemand zusätzlich einsteigt. Das Wichtigste daran ist, dass dieser Bursche selbst entscheiden kann, „ja, ich bin jetzt bereit in die Schule zu gehen“ und dass er dabei nicht das Gesicht verliert. Das Ehrgefühl der Kinder zu wahren, die Integrität zu schützen, ist das Um und Auf. Du hast das Unterstützungsnetzwerk angesprochen, wie kann man sich das konkret in der Praxis vorstellen? Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten. Es können Bekannte, Verwandte oder Freunde sein, aber auch im Bereich der Schule können es BetreuungslehrerInnen, SchulsozialarbeiterInnen, SchulpsychologInnen, bis hin zur Schulbehörde und Bezirksschulräte sein. Außerdem macht es Sinn, so genannte Unterstützungsteams zu bilden. Das kann ganz unterschiedlich ausschauen. Ich war letzte Woche in einer Schule, wo sie sich entschieden haben, dass immer 3 LehrerInnen in der Woche für Eskalationen zuständig sind. Jede LehrerIn kann, wenn Alarmsignale da sind, z. B. Stören des Unterrichts, Gewalt, Mobbing - alles was destruktives Verhalten ist, diese Probleme mit den 3 LehrerInnen besprechen. Sie haben sich entschieden, die Themen auf Kärtchen aufzuschreiben und in einen Korb zu legen. Jedes Kärtchen, das im Korb landet, wird noch in derselben Woche vom Unterstützungsteam besprochen. Dieses Team hat die Aufgabe, die LehrerInnen, bei denen das Problem aufgetaucht ist, bei der Lösung zu unterstützen. Da geht es darum, Autorität auf breitere Beine zu stellen. Dann merken die Kinder, dass die LehrerInnen sich als gegenseitige UnterstützerInnen sehen und das Motto aufstellen, wenn im Unterricht eines Lehrers große Probleme auftreten, dann betrifft es nicht nur eine Lehrkraft, sondern alle. Das ist die Haltung dahinter. Gewaltfreier Widerstand - kannst du uns ein Beispiel nennen, wo Eltern in einem Problemfall/Eskalationsfall gewaltfreien Widerstand leisten bzw. was das Gewaltfreie daran ist? Die Präsenzsteigerung wird mit gewaltlosem Widerstand unterstützt. Dabei wird entschlossen gegen problematisches Verhalten vorgegangen. Hier ist wichtig, beides zu betonen: die Gewaltfreiheit und den Widerstand, in dem man gewisse Grenzen setzt. Immer mit der Haltung:“ Wir können dich nicht verändern, aber wir werden gegen dieses Verhalten protestieren und alles tun, was wir können, damit das aufhört. Ein einfaches Beispiel wäre, wenn Kinder nicht zu vereinbarten Zeiten nachhause kommen. Dann kündigen wir an, dass wir bereit sind, andere Bekannte oder Verwandte mit einzubeziehen, sie anzurufen. Dass wir uns einmischen und wenn es notwendig ist, nachgehende Präsenz aufweisen, d.h. dass wir an Orten auftauchen, wo Kinder uns normalerweise nicht erwarten z. B. in Discos, Bars u.ä. Ein anderes Beispiel im Schnittpunkt zwischen Elternhaus und Schule ist es, wenn am Schulweg Probleme auftauchen. Wenn ein Kind andere Kinder bedroht, gewalttätig ist, dann leisten wir Wider- 5 19 2012 er 2013 sotmm istrbs igehe freige freist ich unterstützend, beharrlich dafür sorge, dass ein Kind Verantwortung übernimmt - auch mit Hilfe des Netzwerkes, wenn es notwendig ist. Dieser Prozess, der begleitet wurde von Erwachsenen, der wird dann noch zusätzlich transparent gemacht in der Gruppe, sodass ihn alle sehen. Es gibt viel Anerkennung von der Gruppe dafür, wie er/sie das gelöst hat. Wieder ist das Ehrgefühl ganz wichtig. stand. Wir machen deutlich, dass das Kind von einem Erwachsenen auf dem Schulweg begleitet wird, solange es keine Sicherheit und kein Vertrauen gibt. Was passiert nach dem Ansatz der NA, wenn schon etwas vorgefallen ist? Wie schaut es aus mit der Wiedergutmachung? Es gibt zwei Ansatzpunkte. Das Eine ist der gewaltlose Widerstand, der sich gegen das Problemverhalten richtet, solange es Bestand hat. Das Zweite ist es, dass der Schaden, der schon angerichtet wurde, wieder gut gemacht werden muss. Das eine ist die Verantwortungsübernahme. Verantwortungsübernahme meint „Ich habe es gemacht, ich stehe dazu, jetzt im Nachhinein kann ich es auch sagen, es tut mir leid.“ Der zweite Schritt ist eine Geste des guten Willens. Wir sagen dem Kind/Jugendlichen “Du hast jetzt Schaden angerichtet, das ist das eine, was könntest du tun, damit die anderen sich freuen, was könntest du tun, damit Gutes in die Welt kommt?“ Wichtig ist der Prozess und weniger, was dann genau dabei herauskommt. Es macht einen Unterschied, ob ich, als Erwachsener, ein Kind für ein Fehlverhalten bestrafe und damit klein mache oder ob Es gibt ja den Spruch in der NA:“ Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist.“ Was hat es damit auf sich? Es macht oft Sinn, das Prinzip Aufschub walten zu lassen. Ganz einfach formuliert: Als Erwachsener muss ich in der Phase der Eskalation nur dafür sorgen, dass jeder geschützt ist. Ansonsten ist es besser, die Konfliktregelung auf später zu verschieben. In der Phase der größten Eskalation sind meine Emotionen und die Emotionen des Kindes auf einem Höhepunkt. Da Konflikte regeln zu wollen, ist schier unmöglich. „Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist“ unterstreicht die Idee, dass wir Kinder nicht kontrollieren können, aber dass wir uns selbst kontrollieren können. Die Ausdehnung über die Zeit stärkt die Autorität. Gibt es noch einen Punkt, den du noch gerne ausgesprochen hättest, der dir wichtig ist? Foto: beigestellt freigeist sommer 2013 Ich würde gerne noch zu den Beziehungsgesten etwas sagen. Es ist total wichtig, dass wir immer wieder parallel zu Widerstandsmaßnahmen Beziehungsgesten machen. Viele LehrerInnen, auch manche Eltern haben gelernt, die Strenge über viele Bereiche des Lebens auszudehnen. Eltern sagen z.B. „Ich kann das Kind, wenn es etwas angestellt hat, ja nicht belohnen. Das Problem dabei ist, dass Kinder erleben, wie sie für ein problematisches Verhalten in allen Lebensbereichen bestraft werden. Dann glauben sie, dass sie von den Eltern nicht mehr geliebt werden. Das sagen sie auch so: „Ich bin bei dem/der LehrerIn unten durch, der/die hat mich auf der Abschussliste“ usw. Beziehungsgesten meinen, dass der Widerstand sich gegen ein bestimmtes Verhalten richtet. Dass das Kind aber erleben muss, dass es in seiner persönlichen Würde nicht attackiert wird, sondern „du bist willkommen, wir mögen dich, schön dass du da bist“. Dieses Verhalten ist nicht willkommen, dagegen richtet sich der Widerstand. Die Unterscheidung zwischen Person und Verhalten ist ganz wichtig. Ein Kollege von mir hat dies mal so formuliert: “Kinder brauchen unsere Liebe dann am meisten, wenn sie diese am wenigsten verdienen.“ Wichtig ist aber, dass wir für Kinder in der Zeit des Widerstandes nichts tun, was sie fordern. Wenn Kinder z.B. sagen:“ Ja, o.k., ich werde nicht mehr gewalttätig sein, wenn du mir die Playstation XY kaufst.“, dann ist die Playstation keine Beziehungsgeste, sondern das Ergebnis der Erpressung der Kinder und das wäre keine geeignete Form von Beziehungsgesten. Wie kann ein Eltern - LeherInnenbündnis ausschauen? Indem Eltern und Lehrer sich zusammen tun und gemeinsam überlegen: Wie können wir das Kind am besten unterstützen? Wie können wir unsere gemeinsamen Werte als Ziele formulieren? Wie können wir dafür sorgen, dass wir das Kind so unterstützen, dass es sein Ziel erreicht? Wie können wir bei problematischem Verhalten Widerstand leisten? Welche Beziehungsgesten machen wir? Wie inszenieren wir Wiedergutmachung? Wie können Eltern sich dabei einbringen? Wie können LehrerInnen sich einbringen? Die Idee ist, herauszuarbeiten, was wir gemeinsam machen können, anstatt sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben. Die NA ist ja sehr situationsorientiert, sehr handlungsorientiert, das heißt, dass auf Situationen und das entsprechende Verhalten reagiert wird. Wie ist das mit der Ursache bzw. dem Hintergrund, das hinter diesem Verhalten steckt. Wird da nicht nur der „Symptomträger“ behandelt? Systemisch gesehen ist der „Symptomträger“ die Person, an der ein Problem sichtbar wird. Das heißt nicht immer, dass dort auch das Problem, die Ursache oder die Lösung liegt. Meist arbeiten wir mit den Eltern und den Lehrern, nicht mit dem Kind. Das Kind kommt dazu und wird gefragt, was es erlebt und was es zur Verbesserung der Situation beitragen kann. Bei der NA spielt es immer eine große Rolle, wie die Beziehung zueinander ist. Wie kann man Eltern stärken, dass sie die Beziehung verbessern können? Damit geht es gar nicht um das „Problem Kind“, sondern um das, was zwischen den Personen ist. Es geht um die Kommunikation, es geht um die Vereinbarungen, es geht um den Widerstand, es geht um die Gestaltung der Beziehung und es geht um das Netzwerk. Was wichtig ist, ist, dass wir die Kinder immer wieder mit einbinden. Was können sie tun und wie können wir ihr Interesse gewinnen, damit ein Problem aufhört. Da hilft uns sehr die Idee der Vielstimmigkeit, die Idee, dass in Kindern immer konstruktive Stimmen da sind, und Stimmen, die wir als destruktiv bezeichnen könnten. Kinder folgen der Stimme, die sich durchsetzt. So lange sie kein Interesse daran haben, konstruktiv mitzumachen, werden sie es auch nicht tun und wir können sie dazu auch nicht zwingen. Wir sagen dem Kind auch, warum wir etwas machen: „Weil du uns wichtig bist, auch weil es unsere Pflicht ist. Du bist unser Kind und wir lieben dich.“Lehrer sagen : „Weil du uns wichtig bist, weil du zu uns gehörst.“ Vielen Dank für das Gespräch! 20 freigeist sommer 2013 soziales netzwerken Von Stephan Halfpap Was macht Facebook so erfolgreich? n och rund 10 Monate und dann feiert Facebook sein 10 jähriges Bestehen. 2004 begann die Erfolgsgeschichte als kleines Netzwerk in der Elite-Universität Harvard in der Nähe von Boston. Der damals 20-jährige Mark Zuckerberg, Student der Informatik und Psychologie bastelte bereits einige Zeit an einer Internetplattform, die es ermöglichte, neben Kommunikation der einzelnen Teilnehmer auch Bewertungen abzugeben. Zunächst gab es Facebook nur an Universitäten, aber es dauerte nicht lange, bis es eine offene Plattform für alle wurde. Heute nutzt fast 1 Milliarde Menschen dieses Netzwerk. Laut eigenen Angaben von Facebook (Quelle: digitalaffairs. at) sind hier in Österreich bereits fast 2,8 Mio. Menschen registriert. Betrachten wir mal die Zielgruppe der 14- bis 49-jährigen ÖstereicherInnen genauer, bedeutet dies mehr als die Hälfte, mindestens jeder Zweite ist via Facebook erreichbar. Was der Begründer und Erfinder Mark Zuckerberg geschafft hat, ist beispiellos. Verschiedene andere Plattformen versuchen sich daneben zu behaupten. StudiVZ, Netlog, Xing, LinkedIn, Google+ und viele mehr haben ihre Nischenplätze in diesem Markt gefunden. Sie sind jedoch derzeit nur kleine Beiboote des großen Dampfers aus Boston. 21 freigeist sommer 2013 Schwer zu sagen, wieso sich diese SocialMedia-Plattform durchgesetzt hat und keine andere. Das ist aber auch nicht so wichtig. Interessant ist, wieso diese Kommunikationsform seit 10 Jahren wächst und wächst. Menschen wollen sich mitteilen, einer Gruppe angehören, nicht alleine sein. Das gesamte Spektrum dessen, was Kommunikation untereinander ausmacht, wird hier digital ermöglicht. Sechs Hauptantriebe für die FacebookMitgliedschaft identifizierte Adam Joinson von der Universität Bath: 1. Kontaktaufnahme mit alten Freunden 2. Soziale Überwachung (erfahren, was die Freunde so machen, ohne mit ihnen zu reden) 3. Bekanntschaften online nachschlagen 4. Fremde online beobachten 5. Statusmeldungen 6. Teilen von Inhalten Vor Facebook gab es bereits Social-Media-Plattformen, aber die meisten Nutzer haben dort sogenannte Nicknames, also Fantasienamen. Facebook baut darauf auf, mit echten Daten zu arbeiten. Wer sich registriert, tut dies in der Regel mit seinem richtigen Namen. Eine der ersten Kampagnen stand damals auch unter dem Motto: Finde alte Freunde wieder. Und tatsächlich, wie in einem großen Telefonbuch lassen sich Schulkameraden, Kollegen von früher suchen und finden. Was ist so reizvoll daran? Die öffentlichen Mitteilungen der einzelnen Benutzer können gleich von mehre- ren Menschen gelesen werden. Ein Brief an mehrere Adressaten sozusagen. Ein „Mir geht´s gut heute“ auf der eigenen Seite posten und schon wissen alle Freunde Bescheid über den eigenen Gemütszustand, können sich dazu äußern, gratulieren, oder was immer ihnen dazu einfällt. Klicke ich auf der Seite „Lernwerkstatt Pottenbrunn“ zum Beispiel den „Gefällt Mir“-Button, wissen gleich alle 276 Mitglieder (Stand Mitte April) Bescheid darüber, dass ich, wie sie, diese Seite mag. Wer ein Facebook-Nutzerprofil hat, gibt freiwillig Auskunft über sich. Er lädt Fotos hoch, erklärt eventuell seinen Beziehungsstatus, zeigt auf einer Karte, wo er wohnt und wo er schon in Urlaub war. Die Darstellung geht weiter mit möglichen Lieblingsfilmen, Büchern, Fußballmannschaften, Stars und anderen Seiten. Daneben ist die Freundesliste in den meisten Fällen auch einsehbar. Alles freiwillig. Klar ist, dass jeder nur das veröffentlicht, was er möchte und klar ist, dass hier auch die Möglichkeit besteht sich so zu zeigen, wie man es sich wünscht zu sein. Wie weit ist also das Facebook Profil nah oder entfernt von der echten Person? Mehrere Studien der Mainzer Universität zeigten kürzlich, dass die meisten ihr wahres Ich in ihrem Online-Profil präsentieren. Narzissten beispielsweise vermarkten sich besonders eitel. Interessant ist aber deshalb auch, dass Computerprogramme die Profile der Nutzer durchforsten können und nur (!) anhand der „Gefällt Mir“-Aussagen Rückschlüsse auf die Personen ziehen können. Ein Versuch in den USA ergab Erstaunliches. Knapp 60 000 Menschen gaben nur ihre „Gefällt Mir“-Angaben in einem Testlauf an und das mathematische Computerverfahren konnte zu 93 % das Geschlecht errechnen, zu 70 %, ob derjenige Alkohohl trinkt, zu 95 % die Hautfarbe und zu 82 % die Religionszugehörigkeit feststellen. Ein Userprofil zeigt somit doch sehr viel. Es sind die „Gefällt Mir“-Angaben , die sehr viel über die Person aussagen können. Nutzer sozialer Netzwerke (schreibt Spiegel Online) sollten genau aufpassen, welche Informationen sie öffentlich machen möchten und welche nicht. Niemand sollte sich falschen Illusionen hingeben: Was öffentlich ist, wird auch genutzt, etwa von Strafverfolgungsbehörden, Kriminellen oder Scheidungsanwälten, die dort nach Belegen für Ehebruch suchen. Und der Internetgigant Facebook macht letztlich nichts anderes, als mit der Persönlichkeit seiner Nutzer Geld zu verdienen. Tipp: Ob die eigenen „Gefällt mir“-Angaben öffentlich sind oder nicht, lässt sich leicht in der eigenen Timeline einstellen. Es genügt ein Klick auf den PrivatsphäreButton unter einer beliebigen mit „Like“ markierten Seite. Faszination Internet gerade für junge Menschen Junge Menschen nutzen das Internet, die digitale Kommunikation immer stärker. Was kann Internet auch, was kann das Internet, was die andere Welt nicht kann. Räume, so sagt Georg Simmel (18581922) sind nicht geografisch zu verstehen. Räume sind losgelöst von Umfang und Quadratmeilen. Räume sind ein Resultat der Tätigkeit der Seele, sie werden durch psychologische Kräfte geschaffen. Anders gesagt, eine Vereinigung funktioniert über ihre emotionale, psychologische Nähe, nicht durch ihre räumliche. 22 freigeist sommer 2013 Der städtische Raum konstituiere sich durch die interaktiven Beziehungen der Bewohner und Bewohnerinnen und diese Interaktionen wirkten über die physikalischen Grenzen hinaus. Es geht um die psychologischen Kräfte für die Erstellung eines Raumes. Damit ist auch das Netz ein Raum, der sich auf die Tätigkeit der Seele stützt. Dieser Raum steht somit auch in Konkurrenz zu anderen Räumen. Simmel bezeichnet Räume auch in einem Beispiel als Reich. Diese konkurrieren demnach um die „Gunst“ der Seelentätigkeiten. Eine Community im Netz ist gleichzusetzen mit einer Dorfgemeinschaft. Eine „Gilde“ in „World of Warcraft“ dann mit einem Freundeskreis , der sich zum Spielen trifft , eine Freundesliste trifft sich im Facebook, um sich auszutauschen, zu plaudern. Christina Schachtner schreibt in einem Artikel („Ich bin online , also bin ich“, Psychologie heute, März 2010) sehr beeindruckend , wieso das Internet mit allen Formen der dortigen Kommunikation so interessant f ü r ju n g e M e n schen ist und berücksichtigt auch vor allem eine Tatsache: Web 2.0 ist ein wesentlicher (wenn auch für viele neuer) Bestandteil unseres Lebens, den man erst mal nicht mit gut/schlecht einordnen kann. Zu den wichtigsten Ressourcen und Orten für die Selbstfindung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gehören heutzutage die digitalen Medien. Rund 95 % der 14- bis 19-Jährigen und 91 % der 20- bis 29-Jährigen sind regelmäßig online. Schon immer lieferten Medien wie TV, Film, Musik und Zeitschriften den Stoff, aus dem Jugendliche für die Gestaltung des eigenen Ichs schöpfen können. Sie offerieren Modelle für Rollen, für Lebensstile, für das Outfit. Die digitalen Medien aber haben den audiovisuellen Medien eines voraus: In ihnen können Jugendliche selbst aktiv werden. In den sozialen Netzwerken wie Facebook sind die jugendlichen User nicht nur Zuschauer oder Rezipienten – sie treten selbst in diesen Netzwerken auf. Digitale Medien werden wie bislang kein anderes Medium von der jungen Generation für Selbstinszenierungen genutzt. Die Zahlen sind bereits eingangs beschrieben. Selbstverwirklichung steht bei heutigen jungen Menschen hoch im Kurs. Der Ort der Selbstverwirklichung ist die Freizeit – und für viele ist es die Freizeit im Cyperspace. Das virtuelle Universum, das sich Jugendliche im Cyperspace schaffen, ist ihre Welt, fernab – so zumindest die Hoffnung – vom Zugriff kontrollierender Instanzen. Ein neuer Begriff von Heimat zeichnet sich ab. Heimat ist nicht nur dort, wo man herkommt, sondern auch dort, wo man sich bewegt, wo die Freunde sind, wo man neue gewinnen kann. Die Wege durchs Netz machten nicht heimatlos, sie laden ein zum Verweilen, sie erlauben ein oft intensives Miteinander – für eine bestimmte Zeit, nicht für immer. Das ist ganz nach dem Geschmack heutiger Jugendlicher, wie aus der Shell Studie 2006 hervorgeht. Jugendliche präferieren demnach lockere soziale Bindungen ohne formale Verbindlichkeiten. Sie wollen ihr soziales Engagement selbst dosieren und spontan initiativ werden. Das soziale Zuhause ist verschiebbar geworden. Das „Aufsich-selbst-gestellt-Sein“ heutiger Jugendlicher verstärkt das Bedürfnis nach Austausch und Spiegelung in anderen, wovon sie sich die Wiedergewinnung von Sicherheiten erhoffen, die ihnen durch den gesellschaftlichen Umbruch entzogen werden, resümiert Schachtner. Noch ein paar spannende Details aus diversen Forschungen bezüglich Facebook und ähnlichen Plattformen. Fühlen sich einsame Menschen einfach mehr zu sozialen Netzwerken hingezogen? Oder hat ständiges Surfen den Effekt, dass man auf Dauer einsamer wird? Wer wenig aktiv kommuniziert wird möglicherweise unzufriedener. Besonders das passive Nutzen von Facebook, sagt eine Studie schürt intensiv Neid und kann da- 23 freigeist sommer 2013 Stephan Halfpap ist selbständiger Berater und Coach und nur noch ein paar Tage LWS -Vater. rüber die Lebenszufriedenheit beeinträchtigen. Wer selbst nur wenig aktiv kommuniziert, sondern eher Posts von Freunden liest oder deren Fotos durchklickt, ist tendenziell unzufriedener. Neid ist Grund Nummer 1, fehlendes Feedback auf eigene Posts Grund Nummer 2. Der Neid bezieht sich auf Urlaube, tolle Aufnahmen. Auch im Ranking oben ist beispielsweise, wenn Freunde an ihren Geburtstagen mehr Glückwünsche erhalten haben als man selbst an seinem. Im „richtigen“ Leben führen Status, Talent, Erfolg und Besitz öfters zu Neid. Der Neid im Netz ist also ein anderer. Da sich im Facebook aber alle überwiegend positiv darstellen, wird der „andere“ gerne auch überschätzt und neidisch betrachtet. „Neid kann in sozialen Netzwerken wuchern und durch passives Verfolgen noch intensiviert werden“, sagen Forscher. Eigene Aktivität auf Facebook hat hingegen, so zeigen andere Studien, eher positive Effekte: Sie führt dazu, sich verstanden und mit anderen verbunden zu fühlen. Und das ist nicht nur Illusion, wie wissenschaftlich ebenfalls gesichert ist. Aktive Facebook-Nutzer erhalten demnach tatsächlich mehr soziale Unterstützung, wenn sie sie brauchen. Wie real ist die Facebook Freundschaft? Soziologen haben ziemlich übereinstimmend herausgefunden: Je mehr Menschen sich digital miteinander austauschen, desto stärker sind sie auch im realen Leben miteinander in Kontakt. Digitaler Kontakt würde realen Kontakt stören, das ist bisher nicht festzustellen. Gesellige Menschen haben im realen Leben viele Kontakte, ebenso in der digitalen Welt. Facebook ist möglicherweise also eine Fortsetzung der realen Kommunikation nur eben online. Facebook und Einsamkeit Einsamkeit kann durch Interaktion reduziert werden. Und das geschieht vor allen Dingen bei Leuten, die interagieren, also die mit Leuten schreiben und Aktionen machen. Leute, die auf Facebook nur lesen, können nicht wirklich ihre Einsamkeit reduzieren. Wenn man Menschen dann fragt, inwieweit Facebook ihre Lebenszufriedenheit insgesamt beeinflusst, zeigt sich ein interessanter Unterschied. Man kann in Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die online-Unterstützung bekommen, durchaus zufriedener mit ihrer Unterstützung sind. Aber wenn es darum geht, ein zufriedener Mensch zu werden, also um Lebenszufriedenheit in größerem Maße, dann spielt die onlineUnterstützung, die man dort erfährt, keine große Rolle, sondern dann spielt die offline-Unterstützung die entscheidende Rolle. Facebook ist und kann nicht weggedacht werden . Es bedarf einer differenzierten Sichtweise auf dieses Thema. Facebook ist Teil unserer realen Welt und kein Rückzug, kein Angriff. Nur wenn wir die positive Faszination begreifen, können wir sinnvoll mit der Nutzung umgehen. Da wir dabei die sonst auch gültigen Umgangsformen berücksichtigen und verstehen, dass das Internet nicht vergisst, man also sorgsam mit seinen Informationen umgehen sollte, versteht sich von selbst. Und damit bin ich off :) 24 freigeist sommer 2013 25 freigeist sommer 2013 unbekann te reformpädagogInnen ellen key Im Jahre 1900 erschien in Schweden Ellen Keys Buch „Das Jahrhundert des Kindes“, zwei Jahre später in Deutschland, wo es begeistert aufgenommen wurde. In nur wenigen Jahren mussten 20 weitere Auflagen gedruckt werden und begründeten so den wachsenden Ruhm der schwedischen Autorin. Es sei ihr bekanntestes Buch, urteilten damals Kritiker, aber nicht ihr bestes. Denn Ellen Key schrieb nicht nur über Pädagogik, sie publizierte auch über Frauenrechte, Pazifismus und Literatur. Ihr großer Freundeskreis war über ganz Europa verteilt, sie stand im Austausch mit Reformpädagogen wie Gustav Wyneken oder Paul Geheeb, mit Bertha von Suttner oder Literaten wie Stefan Zweig und Rilke. In Schweden selbst stark angefeindet, brachen durch die Wirren des Ersten Weltkrieges auch viele dieser Kontakte ab. Ellen Key starb 1926 sehr zurückgezogen in ihrem Haus am Vättersee. Über die Jahrzehnte gerieten ihre Bücher wie Gedanken mehr und mehr in Vergessenheit. Zu Unrecht, meint Rainer Wisiak ‚g eboren bin ich den 11. Dezember 1849 auf Sundsholm als erstes Kind junger und glücklicher Eltern“, schrieb Ellen Key an einer Stelle und verweist in Bezug auf ihre Kindheit immer wieder darauf, dass es schöne Jahre waren. Die familiäre Atmosphäre soll eine Mischung aus solider Geborgenheit und aufgeklärter Intellektualität gewesen sein. Bücher waren wichtig im Hause der Keys, die Erwachsenen lasen sich gegenseitig vor. Eine Rolle, die Ellen Key später für ihre Geschwister übernahm und ihnen beispielsweise aus dem gerade erschienenen Buch „Der Letzte der Mohikaner“ vorlas. Das war etwa zur selben Zeit, als sie ihre fünf Geschwister dazu anstiftete, sich aus dem Elternhaus in die Wälder in Richtung Bauernhof der Großeltern davonzumachen. Zwei Nächte waren sie verschwunden und noch im hohen Alter blickte sie stolz auf dieses Erlebnis zurück, das sie durchaus einer guten Kindheit angemessen empfand. Eine Schule haben die Kinder der Keys nie besucht. Für die wichtigsten Dinge gab es HauslehrerInnen für die Burschen wie für die Mädchen, vor allem für das Erlernen der drei meistgesprochenen europäischen Sprachen, wohl ein Grund dafür, dass Ellen Key sich später relativ leicht und rasch in der europäischen Literatur und Kultur zurechtfand. Lesen wur- de bei ihr bald zur Sucht. Als Zehnjährige hatte sie das Wichtigste an Weltliteratur aus der Bibliothek ihrer Eltern gelesen. Als Ellen zwölf Jahre alt war, gaben die Eltern das Vorhaben auf, in der Bibliothek die Bücher nach Bücher für Erwachsene und Bücher für Kinder zu trennen und sie erhielt einen eigenen Schlüssel für die Bibliothek. Zeitlebens war sie froh, nie dem egalisierenden staatlichen Schulwesen ausgesetzt gewesen zu sein, in welchem jeder Kenntnisdrang und jede Selbsttätigkeit erstickt wird: „Der Schule der Jetztzeit ist etwas gelungen, das nach den Naturgesetzen unmöglich sein soll: die Vernichtung eines einmal vorhanden gewesenen Stoffes. Der Kenntnisdrang, die Selbsttätigkeit und die Beobachtungsgabe, die die Kinder dorthin mitbringen, sind nach Schluss der Schulzeit in der Regel verschwunden, ohne sich in Kenntnisse oder Interessen umgesetzt zu haben. Das ist das Resultat, wenn die Kinder ungefähr vom sechsten bis zum achtzehnten Jahre ihr Leben auf Schulbänken damit zugebracht haben, Stunde für Stunde, Monat für Monat, Semester für Semester Kenntnisse zuerst in Teelöffel-, dann in Dessertlöffel- und schließlich in Esslöffelportionen einzunehmen, Mixturen, die der Lehrer oft aus Darstellungen aus vierter oder fünfter Hand zusammengebraut hat. Unwirklichkeiten auf das Gebiet der Wirklichkeit, indem sie die Bücher in die Ecke werfen und sich irgendeiner Aufgabe des praktischen Lebens widmen.“ Mit solchen Gedanken war Ellen Key zu ihrer Zeit aber nicht alleine, selbst Sigmund Freud weist auf die denkwürdige Tatsache hin, dass die „strahlende Intelligenz der Kinder“ ziemlich regelmäßig zum Erliegen komme, sobald die Betreffenden in etwas engeren Kontakt mit Und nach der Schule kommt oft eine weitere Studienzeit, in der der einzige Unterschied in der `Methode´ darin besteht, dass die Mixtur jetzt mit dem Schöpflöffel zugemessen wird. Wenn die Jugend diesem Regime entrinnt, ist die geistige Esslust und Verdauungsfähigkeit bei einigen so zerstört worden, dass ihnen für immer die Fähigkeit fehlt, wirkliche Nahrung aufzunehmen; andere wieder retten sich von all diesen Ellen Key (1849 - 1926) den öffentlichen Schulen gekommen seien. In ihrem Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ widmet Ellen Key ein Kapitel der Analyse des damaligen Schulsystems und betitelt es mit „Die Seelenmorde in den Schulen“, dem dann das Kapitel „Die Schule der Zukunft“ folgt – einer Darstellung von Schule, wie sie sich eine solche für Kinder im damals gerade angebrochenen neuen Jahrhundert erträumen würde. Davon aber später. Ellen Key war jedenfalls realistisch genug, um zu wissen, dass es noch Jahre oder Jahrzehnte dauern wird, bis solche Schulen entstehen werden, wenn sie schreibt: „Wer vor die Aufgabe gestellt würde, mit einem Federmesser einen Urwald zu fällen, müsste wahrscheinlich dieselbe Ohnmacht der Verzweiflung empfinden, die den Reformeiferer vor dem bestehenden Schulsystem ergreift.“ Ihre eigene Erziehung sah Ellen Key als einen möglichen Weg, bis es solche neuen Schulen geben würde und verweist in Folge auf ähnliche Lebenswege: „Fast alle großen Männer und Frauen, die selbstdenkend und selbstschaffend waren, haben ihre Bildung teils gar nicht in der Schule, teils mehr oder weniger spät, teils mit längeren oder kürzeren Unterbrechungen, teils in verschiedenen Schulen erhalten. Meistens war es die lebendige Anschauung, das im geheimen gelesene Buch, die eigene Wahl des Stoffes, die dem Ausnahmemenschen seine Bildung gegeben hat. Goethes Erziehung ist in diesem Falle ideal, wenn man von einiger Pedanterie seines Vaters absieht. Am Arbeitstisch der Mutter lernt er die Bibel kennen; Französisch lernt er von einer Theatertruppe; Englisch von einem Sprachmeister zusammen mit seinem Vater; Italienisch, indem er die Schwester in dem Gegenstande unterrichten hört; Mathematik von einem Freund des Hauses … Er führt seine Aufsätze in Form eines Briefwechsels in verschiedenen Sprachen zwischen mehreren, in verschiedenen Ländern zerstreuten Geschwistern aus, er studiert eifrig Geogrophie in Reisebeschreibungen … Er wandert mit dem Vater herum, lernt verschiedene Handwerke beobachten, kleine Aufträge ausführen.“ Eine neue Welt öffnet sich 1868 wurde ihr Vater als Abgeordneter in den Reichstag gewählt und es kam zur Übersiedlung eines Teils der Familie nach Stockholm. Kaum zwanzigjährig, begann Ellen Key als Sekretärin ihres Vaters zu arbeiten, der seiner Tochter Reden, Artikel und Aufsätze diktierte. Dabei erlernte sie nicht nur das Handwerk der Schriftstel- lerin, sondern wurde gleichzeitig in die politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen ihrer Zeit eingeführt Der norwegische Schriftsteller Bjornson, der die Wohnung mit den Keys teilte, ermutigte sie zum Schreiben. Ihre ersten Zeitungsartikel zeichnete sie noch mit dem Namen ihres Vaters, 1874 dann zum ersten Mal mit ihrem eigenen Namen. 1880 kam es zum Beinahe-Bankrott der Familie und Ellen Key musste sich eine eigene bezahlte Tätigkeit suchen. Sie begann an der Schule von Anna Whitlock (einer privaten, fortschrittlichen und koedukativen Elementarschule) zu unterrichten und hielt wöchentlich Vorträge in Kulturgeschichte am „Stockholmer Arbeiter Institut“, eine Tätigkeit, die sie für die kommenden 20 Jahre beibehalten sollte. Das Institut wurde für sie so zu einer Plattform, auf der sie zu einer öffentlichen und politischen Person in Schweden wurde, denn pro Jahr hörten dort an die 10.000 Menschen ihre Vorträge. Ruhm und Kritik In den folgenden Jahren begann eine Zeit reicher publizistischer Tätigkeit. Aber was immer Ellen Key auch veröffentlichte, sie eckte an, brachte damit gesellschaftliche Dogmen ins Wanken: In nationalen Angelegenheiten nannte man sie explizit eine Verräterin, da sie mit ihren politischen wie pazifistischen Schriften Finnland und Norwegen in ihrem Unabhängigkeitsstreben unterstützte und sich kritisch mit dem nationalen Traum von einem „Großschweden“ auseinandersetzte. Mit ihren Büchern zu Frauenrechten wie „Missbrauchte Frauenkraft“ oder „Liebe und Ethik“ hob sie gängige Muster zu Arbeit oder Liebe, Partnerschaft und Ehe aus den Angeln, wenn sie beispielsweise für Frauen das freie 26 freigeist sommer 2013 27 freigeist sommer 2013 unbekann te reformpädagogInnen Recht auf Mutterschaft (oder deren Ablehnung) einforderte oder das Recht auf Scheidungen von Partnerschaften und Ehen, die sich nicht mehr als tragfähig erweisen. Die Forderung nach gelebter Sinnlichkeit auch vor der Ehe brachte ihr den Titel „Verführerin der Jugend“ ein. Mit ihren pädagogischen Schriften stieß stav Landauer über „Die Revolution“ und Lou Andreas-Salomé (später eine enge Freundin Ellen Keys) über „Die Erotik“. Mit dem Thema „Die Frauenbewegung“ beauftragte er Ellen Key. Als 1902 „Das Jahrhundert des Kindes“ in Deutschland erschien, war Rainer Maria Rilke einer der ersten Rezensenten des Buches und begründete damit eine jahrzehntelange Freundschaft mit Ellen Key. Er schrieb:„Das Buch von Ellen Key ist die erste Station auf einem neuen Wege. Es wird den Kindern noch nicht helfen können; aber es wird dazu beitragen, unter denen, die jetzt heranwachsen, neue Erzieher und neue Eltern zu bilden. Und das tut vor allem not.“ „Das Jahrhundert des Kindes“ Ellen Key mit Carl Milles sie als Frau ohne akademischen Abschluss auf ein von männlichen Akademikern beherrschtes feindliches Terrain vor und Kritiken wie jene von Wirsén (von der Schwedischen Akademie) oder Friedrich Paulsen (der Pädagogik an der Universität Berlin lehrte) zu ihrem „Jahrhundert des Kindes“ lesen sich wohl auch deshalb wie eine Art territorialer Exkommunikation. Aber auch die Zahl der Befürworter ihrer Gedanken wuchs. Martin Buber brachte in diesen Jahren beim rennomierten Verlag Rütten&Loening eine Sammlung sozialpsychologischer Monografien heraus: Neben vielen anderen schrieb dort Fritz Mauthner über „Die Sprache“, Gu- Sehr vereinfacht könnte man sagen, Ellen Keys Hauptanliegen mit ihrem Buch war offenkundig die Kritik an Kinderarbeit und an den Arbeitsbedingungen für Frauen und Mütter. Den Platz für Kinder sah sie in Bildung und Erziehung und nicht am Arbeitsmarkt und wünschte sich gesetzliche Maßnahmen zum Mutterschutz. Es ist eine Analyse der damaligen Zeit, und vieles wird nur dadurch verständlich. Ihre sozial-darwinistischen Aussagen wirken heute eher befremdlich und ihre Schulkritik bezieht sich auf ein rigides preußisches Schulsystem, das Schweden damals von Preußen übernommen hatte. Ungebrochen über ein Jahrhundert hinweg scheint aber jene Kraft zu sein, wenn Ellen Key von ihrer „Schule der Zukunft“ spricht: „In dem zukünftigen Schulgebäude gibt es gar keine Klassenzimmer. Aber es gibt da verschiedene Säle mit reichem Material für verschiedene Gegenstände, und neben ihnen Arbeitsräume, wo jeder seinen gegebenen Platz zum Selbststudium hat … In meiner geträumten Schule herrscht Wahlfreiheit in allen Gegenständen. Die Schule bietet dieselben, aber sie zwingt sie niemandem auf … Gut sehen zu können – in den Welten der Natur, des Menschen und der Kunst – und gut lesen zu können, das sind die zwei großen Ziele, denen die Erziehung der Schule zusteuern soll. Wenn das Kind das vermag, kann es fast alles andere selbst lernen … In meiner geträumten Schule wird es keine Zeugnisse oder Belohnungen geben; es werden keine anderen `Reifeprüfungen´ angestellt werden als solche, die sich durch Gespräche vollziehen. Bei diesen werden nicht die Detailkenntnisse, sondern die Ganzheit der Bildung den Ausschlag geben. Schon beim allerersten Unterricht gilt es, die Selbstbeobachtung und die Selbstarbeit des Kindes als Erziehungsmittel für das Kind und als Richtschnur für seine eigene Beobachtung desselben zu gebrauchen … Die Lehrbücher werden voll Kraft und Lust sein … Die Bibliothek der Schule wird das größte, schönste und wichtigste Lehrzimmer sein, und das Bücherverleihen der Schule ein wesentlicher Teil ihrer ganzen Lehrtätigkeit … Ich träume mir jede Zukunftsschule von einem großen Garten umgeben … mit Platz für Tanz und freie Spiele, das heißt solche, wo die Kinder, nachdem sie einmal das Spiel gelernt haben, sich selbst überlassen sind. Beständig vom Lehrer angeleitete Spiele machen das Spiel zur Parodie! Für die Schule der Zukunft müssen ganz neue Seminarien die Lehrer vorbereiten. Die patentierte Pädagogik wird der individuellen weichen, und nur der, welcher durch Natur und Selbstkultur mit Kindern spielen, mit Kindern leben, von Kindern lernen, sich nach Kindern sehnen kann, wird in einer Schule angestellt werden … Und angestellt werden diese Lehrer nur nach einem Probejahr, nach dem nicht nur die Prüfungsbeisitzer – die das ganze Jahr hindurch den Unterricht verfolgt haben – sondern auch die Kinder ihr Urteil aussprechen!“ Ellen Key fügt ihrem Traum noch viele weitere Bilder und Wünsche hinzu und begründet diese auch. Ihr „Traum“ endet mit einer sehr konkreten Aufforderung, die wohl auch heute noch Gültigkeit hat: „Meine geträumte Schule kommt solange nicht zustande, wie die Staaten ihre größten Opfer für den Militarismus bringen. Erst wenn dieser überwunden ist, wird man es in der Entwicklung so weit gebracht haben, dass man einsieht, dass der teuerste Schulplatz – der wohlfeilste ist.“ Impulse für die Reformpädagogik Ellen Key hat selbst nie ihre Träume in einem eigenen Schul- oder Erziehungsprojekt verwirklicht, war aber sehr wohl Initiatorin oder Richtschnur für viele andere. Sie besuchte das von Gustav Wyneken gegründete Landerziehungsheim Wickersdorf und des Öfteren Paul und Edith Geheeb in ihrer 1909 gegründeten Odenwaldschule. Sie nahm an den Diskussionen um die pädagogische Ausrichtung der Schule teil und die Geheebs nannten sie gar die „Prophetin“ ihrer Schule. Paul Geheeb sah Keys Ideen zur „Schule der Zukunft“ weitgehend in der Odenwaldschule verwirklicht. Nur wenige Monate nach dem Erscheinen vom „Jahrhundert des Kindes“ gründeten Lizzie und James Gibson – beides Freunde von Ellen Key – in Göteborg das erste schwedische ReformpädagogikProjekt: die „Högre Samskola“. Sie ist heute eine der größten freien Schulen in Schweden mit 1600 Kindern und Jugendlichen. Rilke, der 1904 Ellen Key besuchte, schrieb nach der Besichtigung dieser „Schule“: „Es ist eine ungewöhnliche, eine völlig unimperativische Schule, eine Schule, die nachgibt, eine Schule, die sich nicht für fertig hält, sondern für etwas Werdendes, daran die Kinder selbst, umformend und mitbestimmend, arbeiten sollen … Die Kinder sind in dieser Schule die Hauptsache. Man begreift, dass damit verschie- dene Einrichtungen fortfallen, die an anderen Schulen üblich sind, z. B. jene hochnotpeinlichen Untersuchungen und Verhöre, die man Prüfungen genannt hat, und die damit zusammenhängenden Zeugnisse … Man ist in einer Schule, in der es nicht nach Staub, Tinte und Angst riecht, sondern nach Sonne, blondem Holz und Kindheit.“ Rilke war von der Högre Samskola derart beeindruckt, dass er mit seiner Frau Clara im Bremer Raum ebenfalls einen solchen Schulversuch wagen wollte, der aber scheiterte. Auf viele ähnliche Geschichten könnte man verweisen. Ola Stafseng, ein norwegischer Autor, meint gar in der Kinderkonvention der Vereinten Nationen Ellen Keys „Handschrift“ erkennen zu können. Rilke schrieb einst über das „Jahrhundert der Kinder“: „Dieses Buch, in seiner stillen, eindringlichen Art, ist ein Ereignis, ein Dokument, über das man nicht wird hinweggehen können.“ Das gilt auch heute noch. Sämtliche Zitate sind entnommen aus: Baader, Meike Sophia / Jacobi, Juliane / Andresen, Sabine (Hrsg.): „Ellen Keys reformpädagogische Vision. ‚Das Jahrhundert des Kindes‘ und seine Wirkung“, Beltz Taschenbuch 63 Key, Ellen: „Das Jahrhundert des Kindes“, Beltz Taschenbuch 28 Mann, Katja: „Ellen Key. Ein Leben über die Pädagogik hinaus“, Primus Verlag Rainer Wisiak ist Waldorf- und Montessori-Pädagoge und Vater einer Jugendlichen in der LWS IUHLJHLVWVRPPHU IUHLJHLVWVRPPHU J XQ HU SL XS JU H HQ RJ HU HW WK UV H lX H LQ H ² OHUQHU GLH XQVHUOHEHQLVWOHUQHQ Karin Siakkos, Vorstandsmitglied im Familiennetzwerk der Freilerner, lebt mit ihrem Mann Niko und den drei gemeinsamen Kindern in Eichgraben, wo sie auch die Kreativwerkstatt leitet. Seit 2007 beschäftigt sie sich intensiv mit dem Thema „Home- bzw. Unschooling“ und erzählt dem freigeist vom gemeinsamen Alltag ohne Schule. X nser Weg ins Unschooling hat schon vor der Geburt unseres ersten Kindes begonnen, als wir in der Schwangerschaft passende Literatur bekommen haben. Unter anderem war da das für mich wichtigste Buch zum Thema Kinder-“Erziehung“: „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ von Jean Liedloff. Attachment Parenting hat uns die Augen geöffnet und hat sich vom ersten Augenblick an aus dem Bauch heraus richtig angefühlt. Ein weiterer Meilenstein war dann das Buch „Teach Your Own – Bildung in Freiheit“ von John Holt, von dem ich daraufhin alle Bücher eines nach dem anderen verschlungen habe. Seine Entwicklung vom hoch motivierten, aber vom System frustrierten Regelschul-Lehrer hin zum großen Verfechter des Unschoolings war für mich als Lehrerin unglaublich spannend und bereichernd. Ich weiß nicht, wie viele Aha-Erlebnisse ich bei der Lektüre hatte! Von da weg haben wir beide viele der „Klassiker“ gelesen wie Jesper Juul, Gordon Neufeld, etc. Je mehr wir über diese Art von Beziehung mit Kindern gelesen haben, desto sicherer wurden wir in unserer Entscheidung, unser erstes Kind zu tragen, im Familienbett zu schlafen, zuhause zu gebären, auf Windeln, Schnuller und Fläschchen zu verzichten, auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen. Oftmals unter ziemlichem Unverständnis unserer Umgebung, besonders meiner Familie. Nicht immer war ich dabei ganz ohne Zweifel. Mein Sohn allerdings hat uns vom ersten Tag an den Weg gezeigt, den er bereit war zu gehen. Jeder Tag war (und ist) eine Lektion in Vertrauen. In mein Kind, in mich selbst, meinen Partner und unsere Gefühle. Das braucht viel Reflexion und verlangt oft nach einem Innehalten und genau Hinschauen, ob wir noch am richtigen Weg sind. Schließlich haben wir alle eine andere Prägung erhalten, waren viele Jahre lang in der Schule, haben das herkömmliche Werte- und Gesellschaftssystem eingeimpft bekommen. Als unsere Tochter geboren wurde, hatten wir ein kurzes Intermezzo in einem Regelkindergarten. Innerhalb von zwei Monaten hat sich damals unser Sohn von einem aufgeweckten, neugierigen Kind in ein wütendes, aggressives Bündel verwandelt. Nach dem Beschluss, ihn da wieder rauszunehmen, wollte er selbst im Kindergarten anrufen und sich verabschieden. Er hat damals einfach am Telefon gesagt: „Ich komme nicht mehr.“ Besonders ich musste damals Å2UDQJHQXQG0DQGDULQHQHUQWH EHL-DMD2PDLQ*ULHFKHQODQG´ mit meinen aufkeimenden Ängsten fertig werden, dass wir uns von da an ins soziale Out geschoben hätten. Das Gegenteil war der Fall: Wir waren zuhause, hatten Zeit und alle wussten das. Daher war (und ist) bei uns immer was los! Trotz der positiven Erfahrungen, die wir zuhause gemacht hatten, haben wir uns dann doch entschlossen, unseren Sohn noch einmal in eine alternativpädagogische Kindergruppe zu geben, wo er eineinhalb Jahre bis zur Schulreife war. Erinnert er sich jetzt daran zurück, dann wird er ganz melancholisch, wie schön es dort war. Während dieser Zeit allerdings hat er uns jeden einzelnen Tag gefragt, warum er dort überhaupt hingehen muss. Er wollte immer schon zuhause bleiben. Mit dem Einstieg in die Schule bzw. dem Beginn des offiziellen „häuslichen Unterrichts“ dann war endlich alles klar. Er war zuhause und mit ihm sein Vater und die kleine Schwester. Trotz allem hat er das erste Jahr gebraucht, um zuhause anzukommen. Er war glücklich und erfüllt und hat so gut wie nie nach anderen Kindern gefragt. Endlich hatte er seine Ruhe und konnte tun, was er wollte: Sich um seinen stetig wachsenden kleinen Streichelzoo kümmern und mit seinem besten Freund von gegenüber möglichst viel Zeit verbringen. In diesem ersten Schuljahr ist es für uns als Eltern immer wichtiger geworden, mit anderen Freilerner-Familien Kontakt zu haben und eine Gruppe von Gleichgesinnten zu haben, an die man sich wenden kann, wenn man einmal keinen so guten Tag hat. Und ja, die gibt es auch: Die Tage, an denen man flucht, weil das Haus schmutzig und chaotisch ist, man nie ausschlafen kann, es immer laut ist, man ständig nur her- und wegräumt und keine Sache mal zu Ende bringen kann, ohne dass nicht mindestens ein Kind etwas braucht. Wir haben dieses Problem gelöst, indem wir von unseren Kindern das fordern, was Allem voran: Wir freuen uns, zukünftig regelmäßig Artikel für den freigeist beisteuern zu können! Und nun wollen wir – das „Familiennetzwerk der Freilerner, Verein zur Förderung freier Bildung und Unterstützung von Familien im häuslichen Unterricht“ - uns zum Auftakt hier vorstellen … eine schwierige Aufgabe, wie sich herausgestellt hat. Das liegt daran, dass wir uns zwar in einem losen Netzwerk zusammengeschlossen, aber dennoch den individuellen Lebens- und Lernweg ganz in der jeweiligen Eigenverantwortung der einzelnen Fami- lien belassen haben. Daher werden unsere AutorInnen für den freigeist immer über ihre eigenen Erfahrungen und Zugänge schreiben und auf diese Weise den LeserInnen unterschiedlichste Einblicke vermitteln, wie ein Leben als Freilernerfamilie aussehen kann. Speziell in Niederösterreich hat sich in den letzten Jahren eine sehr aktive Gruppe an Gleichgesinnten zusammengetan, sodass es nahe liegt, in dieser aktuellen Ausgabe Karin Siakkos, die mit ihrer Familie in Eichgraben wohnt, mit einem Bericht beginnen zu lassen. Wer gerne über Veranstaltungen und Treffen der NÖ-Freilerner informiert werden möchte, schreibt ein Mail an [email protected] oder findet uns auf Facebook unter Freilerner Niederösterreich. Natürlich wird auch auf ZZZIUHLOHUQHUDW über unsere Aktivitäten informiert. -R\D0LFKDHOD 0DUVFKQLJ ist Obfrau Familiennetzwerk der Freilerner :DV PDFKHQ GHQQ GDQQ GLH .LQGHU GHQ JDQ]HQ 7DJ ZHQQ VLH QLFKW LQ GLH 6FKXOH JHKHQ" Å5DGDXVÁXJPLW%lUODXFK([NXUVLRQ´ wir ihnen bieten: gegenseitigen Respekt und Rücksichtnahme. Im Klartext heißt das, dass auch wir uns unsere „Auszeiten“ nehmen dürfen, und dass es okay ist, wenn ich auch einmal Raum für meine Bedürfnisse fordere. Klar kann ich das nicht immer und von jedem Kind verlangen, aber es funktioniert erstaunlich gut. Die Zeiten, in denen wir genießen, dass wir nicht frühmorgens außer Haus müssen, die Kinder irgendwo hin schleifen müssen und in denen wir einfach nur in den Tag hinein leben, möchten wir auf gar keinen Fall missen. Wir verreisen, wenn wir gerade Lust darauf haben und müssen uns nicht an Ferienpläne halten. Wir gehen ins Museum, ins Theater, machen Sport, wenn wir die Räumlichkeiten mehr oder weniger für uns haben, weil alle anderen in der Schule oder in der Ar- beit sind. Die Vorteile überwiegen für uns bei weitem die Nachteile. Alleine schon, dass für die dritte Schwangerschaft und die Neugeborenenzeit so viel Zeit und Ruhe da war, macht alles andere wett. Wir sind immer alle zuhause, da geht das Zusammenleben nicht ohne Regeln. Unser oberste Familiendoktrin ist z.B. „We say what we do and we do as we say“ (Dr. Suess). Das bedeutet, dass man sich gegenseitig aufeinander verlassen kann, und dass wir immer miteinander reden. Über alles. Wir haben oft philosophische Gespräche mit unseren Kindern - davon hätte ich in meinen besten Studentenzeiten nur geträumt... Wenn ich jemandem von unserer Art des Daseins erzähle, kommen unweigerlich immer die gleichen Fragen auf. Daher hier ein fiktives“Interview“ mit mir selbst. Ich nehme als Beispiel mal den heutigen Tag her. Heute sind die Kinder wie üblich so um sieben herum aufgestanden, haben noch lange mit uns beiden gekuschelt und sind im Pyjama herumgekugelt. Nach dem Versorgen der Tiere, um die sich unser Sohn täglich kümmert, haben wir gemeinsam gefrühstückt. Die Kinder haben ein Zelt im Garten aufgebaut und dann darin gepicknickt. Dazwischen hat Tamino Tischtennisspielen gelernt (er kann öfters plötzlich neue Dinge, ohne dass er sie „geübt“ hätte). Danach haben beide Kinder einen Staudamm im Bach gebaut, dabei Regenwürmer gesammelt, um sie den Hühnern zu füttern. Wieder zurück im Haus, haben sie eine Schatzsuche veranstaltet. Tamino hat Hinweiszettel geschrieben und vorgelesen (bis vorletzte Woche hätte er freiwillig nie auch nur einen Stift in die Hand genommen) und Allegra hat aufgeregt den „Schatz“ gesucht. Beide haben daraufhin für uns Eltern eine Schnitzeljagd geplant. Nach einer halben Stunde im Trampolin sind die beiden dann ins Haus und haben sich zur Erholung einen Film angesehen. Wir haben gegessen und gemeinsam aufgeräumt. Wir haben uns dabei Rätselfragen gestellt, und die Kinder wollten, dass ich IUHLJHLVWVRPPHU IUHLJHLVWVRPPHU LQIR :DVSDVVLHUWZHQQVLFKHLQ.LQGQLFKWIU HLQHZLFKWLJH)lKLJNHLWLQWHUHVVLHUW" Schulgegenstände sind eine Erfindung des (Regel-)Schulsystems. Das Leben ist eine chaotische Mischung, die Übergänge sind fließend. Unsere Kinder haben die soziale Prägung von guten und schlechten, leichten und schwierigen, interessanten und uninteressanten Gegenständen nie bekommen. Dementsprechend darf sich jeder immer für alles interessieren und natürlich gibt es da Vorlieben und Interessensschwerpunkte. So finden und ihnen zu zeigen, wo und wie sie Informationen bekommen können. %HLHXFKJHKWGDVVFKOLHOLFKELVWGX/HK UHULQ Ich habe die Erfahrung gemacht, dass meine Ausbildung als Lehrerin dem Unschooling eher im Wege steht, als dass sie mir helfen würde. Oft falle ich schnell in eingefahrene Denkweisen, wie etwas zu tun ist und auf welche Arten die Kinder sich Wissen „anzueignen haben“. Es kommt ganz oft vor, dass ich aktiv dagegen steuern muss, nicht in solche Muster zu fallen. Freilernen kann jeder, immer und überall, egal welche Vorgeschichte, welche Bildung, welche soziale Schicht. Freilernen ist meiner Meinung nach eher eine Haltung: Offenheit, Neugier und die Lust, gemeinsam Geheimnissen auf die Spur zu kommen ist alles, was man dazu braucht. Und den Willen, mit seinen Kindern den Tag gemeinsam zu verbringen. Å7DPLQRJHEXQG$OOHJUDJHEPLWXQVHUHU=ZHUJ 6XOPWDOHU.XVFKHOXQG%UXWKHQQH´ sind das z.B. bei Tamino die Tiere. Alleine dadurch, dass er Hühner hat, um die er sich kümmern muss, von denen er die Eier verkauft, die er züchtet und für die er die Nahrung kaufen muss, hat sich ihm ein ganzes Universum an Themen und Problemstellungen erschlossen. Durch die Hühner musste er sich (und wir mit ihm) unter anderem beschäftigen mit: Pflege & Aufzucht, Tierhaltung, Krankheit & Tod, Umweltschutz und Fleischkonsum, Schädlinge, die Nahrungskette im Tierreich, Vermarktung & Verkauf von Waren inklusive Kundenbetreuung, Kalkulation von Investition & Gewinn, vorausschauende Planung beim Einkauf, Wirtschaften und Haushalten mit dem erarbeiteten Gewinn, Bau von artgerechten Behausungen inklusive Auslauf... Wiederum in schulischen Gegenständen sprechend hat er mit und wegen seinen Hühnern vor allem gelernt, zu rechnen. Aber er hat ganz besonders auch ein unglaublich gutes Gefühl für den Wert von Geld bekommen. Er weiß genau, wie lange es dauert und wie viel Arbeit es beeinhaltet, bis eine gewisse Summe zustande kommt. Es kommt schon vor, dass er sich mit seinem eigenen Geld Dinge leistet, die wir ihm nicht kaufen würden. Aber er würde niemals das Wohl seiner Tiere aufs Spiel setzen und gibt daher nicht leichtsinnig große Summen aus. Nie werde ich vergessen, als er seiner kleinen Schwester ein langersehntes Spielzeug gekauft hat, weil sie das so gerne haben wollte und wir nein dazu gesagt haben... Die Kinder lernen das, was sie brauchen, um ein Problem, das sich ihnen stellt, zu lösen. Es besteht ein Bedürfnis, für das sie eine Lösung finden wollen. Wir sehen unsere Aufgabe darin, sie in ihren Interessen und Stärken zu unterstützen, ihnen zu helfen, ihre eigenen Lösungen zu :LHLVWGDVÀQDQ]LHOOPDFKEDU" Fotos: Autorin ihnen Rechenaufgaben stelle. Dann hat Tamino mir Rechenaufgaben gegeben, die ich „sicher nie schaffe“. Ich habe die letzten Vorbereitungen für die anstehende Kreativwerkstatt getroffen und die Kinder sind mit Niko zum Singen und Karatetraining gefahren. Wir achten darauf, dass wir nicht zu viele solcher Aktivitäten planen, da wir der Meinung sind, dass die Kinder viel Ruhezeit brauchen. Wir finden außerdem, dass sie erst aus der „Langeweile“ heraus selbst aktiv werden können. Die Eigeninitiative ist uns wichtig. Zur Zeit ist bei uns so viel los, dass wir schön langsam kürzer treten müssen, weil wir nicht täglich drei Sachen gleichzeitig haben können und wollen. Soviel zum Thema Sozialkontakte. Gegen Abend haben die Kinder den Besucherkindern aus der Kreativwerkstatt das Haus und die Tiere gezeigt. Allegra und Tamino haben geholfen, den Garten zu gießen und die restlichen Pflänzchen auszusetzen. Wir haben uns gemeinsam noch kurze Dokumentationen über Roboter angeschaut und dann darüber diskutiert. Würde ich das alles in „schulisch“ übersetzen müssen, wären da höchstwahrscheinlich alle Schulgegenstände irgendwie eingebaut. Wir haben gelebt, wir haben gelernt. Wo ein Wille, da ein Weg. Wir sind nicht reich, haben nicht geerbt, haben keine Sponsoren oder sonstige wundersame Einnahmequellen. Wir kaufen so gut wie nie etwas neu. Wir machen keine teuren Urlaube und sind trotzdem oft und lange auf Reisen. Wir tauschen, reparieren, sammeln und verwenden mehrmals. Wir versuchen, so viel wie möglich selbst zu machen, schon einfach, damit die Kinder sehen, wie etwas gemacht wird und wie viel Mühe und Zeit in Dingen steckt. Aber auch, weil wir Freude daran haben, unsere eigenen Lebensmittel herzustellen, mit den Kindern im Garten zu arbeiten, Altes wieder zum Leben zu erwecken. Wir haben die Zeit dazu, nach Alternativen zum Geldausgeben zu suchen. Es ist erstaunlich, mit wie wenig Geld man aus- kommen kann, wenn man dazu bereit ist. Wir möchten unseren Kindern vermitteln, dass Dinge nicht glücklich machen. $EHUZDVLVWPLWGHU6R]LDOLVDWLRQ" Diese Frage kommt mit Garantie bei jedem Gespräch über unsere Lebensweise. Ich habe sie absichtlich hier ans Ende gestellt. Wir sind davon überzeugt, dass wir zuerst einmal in unserem direkten Umfeld sozialisiert werden, sprich in der Familie. Diese ist das Übungsfeld für jede weitere Sozialisation in unserer Gesellschaft und die Basis für die Kinder, in ihren sozialen Erfahrungen weitere Kreise zu ziehen. Sie befreunden sich mit Kindern in ihrem Alter, mit jüngeren, älteren, sie haben Bekanntschaften und Freunde, die doppelt so alt oder zehnmal so alt wie sie selber sind. Sie kennen die Idee unseres Schulsystems nicht, dass sie nur mit Gleichaltrigen Kontakt haben sollten. Sie kennen auch Noten nicht. Sie treffen Menschen, die für sie interessant oder sympathisch sind und nehmen mit ihnen Kontakt auf. Die Kinder leben bei uns unseren Alltag aktiv mit: Sie haben mit uns Häuser renoviert und neu gebaut, Computer zerlegt und wieder zusammen gebaut, genäht, gebastelt, jede erdenkliche Art von Maschinen gebaut, repariert, ausgedacht, sie machen mit im Haushalt, sie kümmern sich um Lebensmittel, sie beobachten und staunen über die Natur, sie sind Teil unseres Lebens. Das ist für mich abschließend das größte Geschenk unseres Lebensstils: Freilernen ist ansteckend! Je mehr wir unseren Kindern die Freiheit gewähren, sich nach ihren Interessen und Vorlieben zu richten, desto mehr erlauben wir auch uns selbst, die Neugier wieder zu entdecken, täglich Neues zu erfahren, voneinander zu lernen. (LQODGXQJ]XP6RPPHUWUHIIHQ in der Steiermark im Pfadfinderzentrum Leibnitz von Freitag, 21.6. bis Dienstag, 25.6. Einige Familien werden das Zusammensein am Campingplatz bis Freitag, 28.6. verlängern. Nähere Infos, Anmeldung und Programm unter: ZZZIUHLOHUQHUDW EXFK WLSS John Holt Bildung in Freiheit Genius Verlag, Bremen, 2009 ISBN 978-3-934719-29-3 .DULQ6LDNNRV Leitung der Kreativwerkstatt Eichgraben Lehramt für Bildnerische Erziehung und deutsche Philologie IUHLJHLVWVRPPHU IUHLJHLVWVRPPHU GLHZLOGHNLQGHUKRUGHXQG GHUXQVWUXNWXULHUWHUDXP Der deutsche Kinderarzt und Publizist Herbert Renz-Polster wirft einen Blick in die Evolution, um Kinder zu verstehen. Interview: Kirstin Breitenfellner Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Wochenzeitschrift „Falter“ )DOWHU In ihrem Buch „Kinder verstehen“ schreiben Sie: „Es könnte nicht grausamer sein: Wir bekommen Kinder geliefert, denen es am besten geht, wenn sie einen Erwachsenen von seinem „normalen“ und für ihn befriedigenden Leben abhalten!“ Passen Kinder nicht mehr in unsere Welt? 5HQ]3ROVWHU Das habe ich geschrieben? Das klingt schon sehr provokant. Ja, ich glaube, dass Kinder sehr gut vorbereitet sind auf eine Welt, die untergegangen ist. Normalerweise schauen wir in Hinblick auf Kinder eher in die Zukunft. Es ist aber auch wichtig zu sehen, dass sie schon eine Geschichte in sich tragen, wenn sie geboren werden. Und die weist auf eine Welt, in der Menschen als jagende und sammelnde Gruppen lebten. Spätestens in den letzten zwei-, dreihundert Jahren haben wir die Welt aber komplett umgebaut. Da gibt es Anpassungsprobleme, die alle Eltern kennen. - Können Sie Beispiele nennen? Von Eltern werden diese Probleme oft als Störungen empfunden, aber Sie bestehen darauf, dass sie sehr wohl einen Sinn haben. Ich gehe sogar noch weiter. Kinder kommen aus der evolutionären Perspektive mit Stärken auf die Welt. Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick keinen Sinn machen, sind in Wirklichkeit keine Defekte, sondern haben den Kindern geholfen zu überleben. Zum Beispiel schlafen: Eltern stellen sich vor, dass Babys schlafen wie Oma oder Opa: Man legt sich abends hin und wacht morgens wieder auf. Aber Kinder haben ein ganz anderes Programm, sie wollen in der Nähe einer verlässlichen Bezugsperson sein. Das erfordert unsere Präsenz und wird als lästig angesehen. - Dazu rechnen Sie auch das Trotzalter ... Schon der Name impliziert eine Wertung, die Zornphasen werden verstanden als Trotz gegen uns, auch weil es da immer gegen die Bindungsperson geht und nicht gegen die Nachbarin. Wir etikettieren dieses Verhalten, das man rund um den Globus beobachten kann und das ein wichtiger Entwicklungsschritt ist – sagen, das ist ein Problem, die Kinder wollen die Macht im Hause übernehmen. Aber mit Blick auf die Vergangenheit liegt darin eine Stärke. Denn früher kam nach spätestens drei Jahren das nächste Kind – und das Schoßkind musste selbstständig werden. Ausgangslage. Wenn Sie mit einem Partner leben, der nicht so ist, wie Sie es sich vorstellen, dann sagen Sie gleich mal: Das ist Protest. Der geht gegen mich. Viele Schlaftrainings sind nichts anderes als ein aktiver Bruch einer Beziehung, denn kein Kind kann verstehen, dass seine Bindungsperson bis acht Uhr verfügbar, verlässlich, feinfühlig, authentisch mit ihm umgeht und danach genau das Gegenteil der Fall ist. Die Eltern stehen hinter der Tür – und sind auch nicht eins mit sich. Die wichtigste Ressource in der Erziehung ist nicht, dass Kinder lang gestillt oder lang getragen werden, sondern eine funktionierende Beziehung. - Jean Liedloff, die in den 1970er Jahren bei südamerikanischen Indianern lebte, hat ja behauptet, dass Trotzanfälle bloß Resultat eines westlichen Erziehungsfehlers sind. In Liedloffs Buch geht es ja vor allem um Babys, und sie hat sich um die Kultur der Nähe und des Tragens von Säuglingen verdient gemacht. Und sie war keine Ethnologin. Studien haben aber erwiesen, dass Kinder weltweit durch Zornphasen gehen, wo sie ihren Willen durchsetzen, sogar Primaten wie Schimpansen oder Gorillas. Nach Liedloff läuft alles harmonisch, wenn wir natürlich leben. Aber in sozialen Verbänden wie dem menschlichen werden auch Ressourcen verteilt. Gemeinsames Leben und Großwerden beinhaltet immer Konflikte, Verhandlungen und Kompromisslösungen. +HUEHUW5HQ]3ROVWHU - Das heißt, der Blick zurück macht nicht alles gut? Ist Kindererziehung nicht angeboren? Menschen haben keine fixen Programme. Das bedeutet, dass wir in jedem Kulturraum und jeder Lebensphase neue Wege finden müssen, wie wir mit unseren Kindern umgehen und wie wir ihnen helfen, kompetent zu werden. Denn Sozialisation ist die Umsetzung von Kompetenzerwartung der Erwach- Foto: Renz-Polster K erbert Renz-Polster fragt nicht danach, was Kindern fehlt, sondern nach den Vorteilen, die sie mit auf die Welt bringen. Also nicht danach, warum sie so ungern gehorchen, sondern danach, warum es wichtig ist, dass sie selbstständig werden. Und er fragt nach den Gründen: Warum schlafen Babys nicht alleine ein? Warum bekommen Kinder weltweit Trotzanfälle? Die findet er in der Evolution. Die Botschaft hinter seinem Konzept, das dazu angetan ist, Eltern zu entspannen und ihnen Schuldgefühle zu nehmen: Kinder sind okay so, wie sie sind. Erziehung ist nicht alles. Und Fehler sind erlaubt. Zum Gespräch mit dem Falter kommt Renz-Polster nach einem Vortrag in der Freiraum-Schule Klosterneuburg und in der Lernwerkstatt Pottenbrunn ins Wiener Café Central, das den großen, gut aussehenden Mann Marke Naturbursche sichtlich beeindruckt. Dabei kennt er Wien seit über 20 Jahren. Damals machte er mit seiner schwangeren Frau und dem ersten Sohn, drei Jahre alt, eine sechsmonatige Tour per Tandem durch Europa, inklusive dem damals noch wilden Osten. Vor den Toren Wiens in Kritzendorf am Donauufer wollte man sich mit einer Jause stärken – und wurde prompt von zwei Frauen ins Haus eingeladen. Die Freundschaft besteht übrigens bis heute. senen. Natürlich heißt das im Hochland von Kamerun, wo man seine Rolle in einem engen sozialen Rahmen ausfüllen muss, etwas ganz anderes als in einer individualistischen Kultur. In unserem Erziehungsmodell hängen wir an viele ganz normale Verhaltensweisen ein pädagogisches Etikett. Wir sagen, Kinder sollen früh lernen, sich selbst zu regulieren, und glauben, dass das funktioniert, indem wir ihnen Nähe entziehen. Behandeln sie, als ob sie schon ein bisschen größer wären, mit dem Gedanken: dann werden sie schon größer werden. Das bringt viele Eltern in echten Stress, weil es sie aus der Beziehung zu ihren Kindern hinauswirft. Weil sie den Kindern Ziele setzen, die nicht von deren Welt sind, und ihnen latent Vorwürfe machen, wenn sie diese nicht erreichen. Etwas „Schlafprotest“ zu nennen ist keine gute - Wer soll Kinder erziehen? Die Eltern oder die Schule? Gängige Theorien gehen immer vom dominierenden Einfluss der Erwachsenen aus, aber wenn man sich anschaut, wie Kinder weltweit aufwachsen, spielen auch Geschwister eine große Rolle, aber vor allem informelle Spielgruppen, die wilde Kinderhorde, die es früher in jedem Dorf und so gar in der Stadt gab. Erst seit einer Generation wachsen Kinder auf, ohne sich ganz dicht mit anderen Kindern in einem unstrukturierten Umfeld auszutauschen und zu spielen und dabei so etwas wie eine Art Selbstorganisation zu betreiben. In Kindergruppen fördern Kinder sich gegenseitig, sprachlich und sozial. - Was größere Kinder anschaffen ist für kleinere ja viel mehr Gesetz als das, was Eltern sagen ... Ab dem dritten Lebensjahr entwickeln sich Kinder, die sich bislang stark an Er- wachsenen orientiert haben, zu einem Gruppenwesen. Ältere Kinder bieten Entwicklungsreize nach oben, aber auch die jüngeren sind wichtig. Es gibt einen Vorbildabstand, zwei, drei Jahre, und einen Empathieabstand, auch zwei, drei Jahre. Ein sechsjähriges Kind kann sich gut einem dreijährigen widmen. Es merkt, wie es an Status gewinnt, wie es helfen kann. Das ist ein gutes Gefühl, während es unter Gleichaltrigen viel Konkurrenz gibt. - Unterdrücken in der wilden Kindergruppen nicht die Älteren die Jüngeren? Das darf man sich tatsächlich nicht zu romantisch vorstellen. Ich habe kürzlich mit meiner Mutter darüber geredet, die jetzt 86 ist. Natürlich gibt es da auch Zoff und schwierige Typen. Die Kindergruppe ist so wie das echte Leben auch nicht immer optimal, aber hier läuft immer so was wie ein Quirl. Das heißt, die Kinder kommen als die Jüngeren rein und durch den Altersfortschritt immer in andere Positionen. Irgendwann mal sind auch schüchterne Kinder die, denen andere zuhören. Kindergruppen funktionieren dann gut, wenn deren Bindung im Elternhaus funktioniert, denn da lernen die Kinder den Keim der Empathie, ohne den unstrukturiertes Spiel schwierig ist. Kindergärtnerinnen in sozialen Brennpunkten erzählen, dass es dort kaum Kinder mit Doppelstrategie gibt, die also sowohl für sich selbst als auch für die Gruppe sorgen können, die die Regeln und die Kultur der Gruppe kennen und pflegen. Wenn sie funktioniert, liefert die Kindergruppe den Kindern Dinge, die sie in keinem anderen System kriegen können, denn die grundlegenden sozialen IUHLJHLVWVRPPHU IUHLJHLVWVRPPHU EXFKWLSS Herbert Renz-Polster: Kinder verstehen. Born to be wild. Wie die Evolution unsere Kinder prägt. Kösel, 511 S., 20,60 Herbert Renz-Polster: Menschenkinder. Plädoyer für eine artgerechte Erziehung. Kösel, 191 S., 18,50 Kurosch Yazdi Junkies wie wir edition a: 2013 Kurosch Yazdi: -XQNLHVZLHZLU - Halten Sie auch deswegen zu viel Behütung und zu frühe formale Bildung für gefährlich? Kinder wollen wirksam sein, von sich aus die Welt gestalten. Wenn sie alles von Erwachsenen vorgesetzt bekommen, verlieren sie die Lust und Begeisterung, die es auslöst, wenn man sich selbst Freundschaften aufbaut oder sich mit anderen ausgleicht. Es ist nett, wenn Kinder ein paar Brocken Chinesisch können oder ihren Zahlenraum erweitern, aber das hilft ihnen nichts, wenn sie nicht mit sich selbst und in Gruppen klar kommen. Ohne sich in einer widerständigen Welt seinen Weg suchen zu dürfen, ist es schwer, fundamentale Kompetenzen zu erwerben. - Ihr neues Buch, das im Herbst erscheint, handelt vom Thema Natur ... Natur heißt nicht nur Bäume und Grün, es bedeutet unstrukturierte Räume, die keine Ziele vorgeben. Und genau diese werden immer weiter zurückgebaut. Studien zeigen aber, dass es Kinder genau dort hinzieht. Dort können sie am besten archetypische Spiele spielen, Behausung schaffen oder ihr Lager. Kinder interessiert nicht, wie ein Bach dahinfließt, sondern wie er aufgestaut wird. Sie suchen unmittelbare Erfahrungen, es zieht sie zu Matsch, Wasser, zum Licht. Alle Eltern wissen: Wenn Kinder draußen waren, schlafen sie besser, sind ausgeglichener. Die Welt, die ich Natur nenne – das kann aber genauso ein altes Fabrikgelände sein – vermittelt Freiheit. In einer Stadt wie Wien gibt es solche Räume wenig. Deswegen ist es wichtig, dass Kindergärten mehr „Naturelemente“ enthalten, wo nicht alles durchorganisiert ist. Da treffen aber immer gleich zwei Kulturen aufeinander: Die eine Elternfraktion sagt: Wir brauchen mehr freies Spiel, mehr Räume, die die Kinder ausfüllen und gestalten können. Und die andere sagt: Und wo lernen sie dann ihre Chinesischvokabeln? Wenn sich sage: Natur ist gut für Kinder, sagen alle juhu! Aber wenn es um die Umsetzung geht, sieht man, dass das schon architektonisch gar nicht vorgesehen ist. Und wenn es hart auf hart kommt, sagen alle: Eigentlich müssen die Kinder ihren Zahlenraum erweitern. - Eltern wollen es nicht mehr so machen wie früher, aber viele wissen gar nicht mehr, was sie tun sollen. Muss man Kinder überhaupt erziehen? Darf ich mein Kind strafen? Die unverhandelbare Entwicklungsressource und das, was Kinder suchen, sind funktionierende Beziehungen. Ist die Beziehung verlässlich und authentisch, funktioniert die Entwicklung. Wie das dann ausgefüllt wird, ist vielleicht was anderes – die einen werden vielleicht ihre Kinder ganz anders erziehen wie die sich selbst eintreten müssen, um erfolgreich zu sein. Zu den häufigsten Fragen zählt, ob man das Kind nicht verwöhnt oder abhängig macht, wenn man sein Nähebedürfnis befriedigt. Selbstständigkeit ist natürlich ein wichtiges Ziel, aber wie Kinder selbstständig werden hat nichts damit zu tun, dass wir ihnen Nähe wegnehmen. Die ganze Menschheitsgeschichte haben Kinder ganz viel Nähe bekommen, und mussten das auch, um überhaupt zu überleben und sich zu entwickeln. Die mussten bei ihren Bezugspersonen schlafen, die wurden getragen, lange gestillt – die hatten all das, von dem wir heute gleich denken, dass es Verwöhnung wäre. Und sie sind trotzdem selbstständig geworden. Und damals war die Welt noch nicht in Plüsch ausgelegt ... anderen. Ein Rezept gibt es dafür aber leider nicht. Sie haben vier Kinder, sind Sie ohne Strafen ausgekommen? Ich glaube, dass keiner in der Erziehung, ob er es will oder nicht, im Alltag ganz ohne Strafe auskommt. Manchmal ist man gestresst und dreht durch, die Kinder drehen auch durch, und man schlägt um des lieben Friedens Willen ein paar Pfeile rein. Die Kritik gegen Strafen ist aber trotzdem berechtigt. Denn Strafen ersetzen oft echte Beziehungen. Zum Beispiel weiß man, dass das Maß, in dem Kinder lügen, mit den Kosten der Wahrheit zusammenhängt. Wenn Sie in einer Beziehung leben, die Ihnen, wenn Sie ehrlich sind, gleich mal Kosten aufbürdet, seien es Strafen, Nachteile oder Verlust an Ruf („Wie kannst du nur!“), dann wird gelogen. Je verlässlicher und tragfähiger eine Beziehung ist, desto weniger wird gelogen und desto weniger wird gestraft. Die meisten Probleme kann man im Rahmen von Beziehungen lösen. Ein Nein zu erklären ist immer besser, als eine Strafe einfach zu verhängen, in einem Roboter-Automatismus. Wenn du das machst, passiert automatisch das. Noch besser ist natürlich, sich zusammenzusetzen und zu sagen: Das funktioniert für mich nicht mehr. Sag du, was du dazu meinst. - Welche Frage bekommen Sie am häufigsten gestellt? Und was antworten Sie darauf? Vieles dreht sich um die Selbstständigkeit, das ist in unserer Kultur das Höchste. Wir nehmen an, dass Kinder für Mehr zu Herbert Renz-Polster unter: ZZZNLQGHUYHUVWHKHQGH Foto: Rober t Fleischanderl Kompetenzen, die rund um den Globus immer geholfen haben, um erfolgreich zu sein, können nicht in einem didaktischen Rahmen vermittelt werden, die müssen erfahren werden. Wenn das Kind merkt: Es tut mir gut, dass ich diesem kleinen Kind geholfen habe. Selbstständigkeit kann man nur durch das Ausfüllen seines Erfahrungsraums lernen. .LUVWLQ %UHLWHQIHOOQHU Kirstin Breitenfellner lebt als Autorin, Journalistin und Yogalehrerin und -ausbildnerin in Wien, verheiratet, zwei Kinder. “Wir verbringen immer mehr Zeit im Internet. Wir surfen, plaudern in sozialen Netzwerken, kaufen ein, spielen Onlinespiele. Für immer mehr Menschen wird das Internet zur unkontrollierbaren Sucht”, warnt der Linzer Psychiater und Suchtexperte Kurosch Yazdi eindringlich. Sein neues Buch „Junkies wie wir“ nimmt Verhaltenssüchte unserer Gesellschaft - hier speziell Online-, Kauf- und Spielsüchte unter die Lupe. Als Leiter der Suchtabteilung der Nervenklinik Wagner-Jauregg kann er dabei aus dem Nähkästchen plaudern, seine Kapitel sind mit etlichen Fallbeispielen aus seiner ärztlichen Praxis gespickt. Wie jenes eines 26jährigen Studenten, der seit acht Jahren das Online-Spiel World of Warcraft spielt und das Zimmer im Haus der Eltern kaum mehr verlässt. Der Arzt schildert, wie einerseits die wachsende Entfremdung und Isolation das Suchtverhalten des Betroffenen verstärkt, aber auch in welch starke CoAbhängigkeit Eltern von Betroffenen rutschen können. „Unsere Gesellschaft hat verstanden, dass Heroin oder Alkohol ein großes Problem sein können. Doch wenn es um Online- und Verhaltenssüchte geht, existiert noch kein Problembewusstsein“, postuliert Yazdi, der einfordert, dass auch wir Erwachsenen uns diesem Thema stellen - und neben aller berechtigen Sorge um das Wohlergehen unserer Kinder nicht uns selbst und unsere eigenen Suchtfallen außer Acht lassen. Facebook und anderen sozialen Plattformen attestiert der Autor kein geringeres Suchtpotential, besonders für weibliche Teenager, die durch den Faktor Kommunikation einem echten Bedürfnis nach Kontakt folgen - in eine Welt der Pseudobeziehungen, Pseudokommunikation, Pseudowertschätzung und Pseudovertrauensverhältnisse: Facebook, “die Sucht mit dem sozialen Gesicht”. Ebenfalls im Buch beschrieben sind Mechanismen bei Glücksspiel- und Kaufsucht, bei denen die Industrie willfähriger Komplize der Verhaltenssucht wird. Kein gutes Haar lässt der Autor folglich auch an den politisch Verantwortlichen. Doch unabhängig, um welche Sucht es sich handelt: Die Opfer solcher Süchte sind nicht süchtig nach Schuhen, Geld oder Internetseiten sondern von Verhaltensmustern abhängig, die an das Kaufen, das Spielen und das Surfen gekoppelt sind. Jenen Verhaltensmustern auf der Spur führt Yazdi seine Leser in die Hauptschaltzentrale von Süchten: unserem Hirn mit dem dort angesiedelten - und seit der Steinzeit funktionell unveränderten - Belohnungssystemen. Wenn auch teils überzeichnet und allzu schematisch präsentiert, legen Yazdis Aussagen und Argumente unmissverständlich den Kern des Problems frei: Die gesellschaftlich gesehen flächendeckende Ignoranz gegenüber Verhaltenssüchten wie der Kaufsucht und der Internetsucht gepaart mit einer politischen Vogelstrauß-Taktik aus Angst davor, als wirtschafts-, technologie oder gar demokratiefeindlich eingestuft zu werden. Ein Buch, das klare Stellung bezieht – zu einer gesellschaftlichen Dynamik, die uns fester im Griff zu haben scheint, als wir das vielleicht gerne zugeben wollen. Noch dazu eines der wenigen Bücher zu diesem Thema, das von der Situation hierzulande ausgeht. David Meixner IUHLJHLVWVRPPHU IUHLJHLVWVRPPHU HUIDKUXQJHQPLWGHUOZV Interview mit Baumeister Ing. Johann Schania Das Interview führte Paul Braunstätter fühlt sich hier recht wohl. Auffällig ist sicher der gute Umgang dieser Burschen mit den Kunden. -RKDQQ 6FKDQLD Ich bin hier in Potten- )UHLJHLVWKonnten Sie Unterschiede fest- brunn aufgewachsen und habe nach dem Gymnasium die HTL besucht und nach 5 Jahren Praxis die Baumeisterprüfung und danach die Zimmermeisterprüfung abgelegt und durfte dann mit diesen Meisterprüfungen den Betrieb führen. Ich stehe der Lehre sehr positiv gegenüber, mein Sohn hat z. B. bei uns Zimmerer gelernt und ist jetzt in einem anderen Betrieb. Wir bilden auch sowohl im Zimmerer- als auch im Baumeisterbetrieb Lehrlinge aus. Mit unserem Betrieb hier sind wir bereits seit über 100 Jahren tätig und machen alles rund ums Einfamilienhaus und gelegentlich Arbeiten für kleine Gewerbebetriebe. Heute beschäftigen wir uns sehr viel mit Niedrigenergie- und Passivhausbau. stellen von der Persönlichkeit bzw. vom Verhalten her gegenüber anderen Lehrlingen, die aus dem sogenannten Regelschulsystem kommen? den Sie auch Lehrlinge aus. Mehrere dieser Lehrlinge sind von der Lernwerkstatt gekommen. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht? -RKDQQ 6FKDQLD Insofern schon, als ich durchaus den Eindruck habe, dass in der Lernwerkstatt Spiel, Sport und der gebotene Freiraum sich positiv auf die Schüler auswirken. Jener Bursch, der letztes Jahr den Lehrabschluss machte, war enorm gelenkig und sehr flott gleich auf den Dächern unterwegs, obwohl er das im ersten Lehrjahr mitunter noch gar nicht dürfte. Also motorisch ist er gut drauf gewesen und die Kommunikation hat auch gepasst. Ich hatte auch bemerkt, dass sich eine intensivere und bessere Eltern-Kind-Beziehung positiv auswirkt, das würde ich jetzt aber nicht unbedingt auf’s Schulsystem beziehen. Wenn irgendwo bei einem Lehrling das Elternhaus nicht passt, dann geht’s schon sehr schnell drunter und drüber. -RKDQQ 6FKDQLD Positive Erfahrungen )UHLJHLVW Von Seiten der Wirtschaft wird )UHLJHLVW Wie bereits angesprochen bil- habe ich zu vermerken: Ein Lehrling hat 2012 tadellos die Lehrabschlussprüfung Zimmerei bestanden und macht jetzt Zivildienst. Er ist das Ganze sehr offen angegangen und sehr schnell und gut bei den Kunden angekommen, weil er durchaus bei der Kommunikation mit Kunden einen sehr guten Umgang hatte. Im Herbst 2012 haben wir gleich wieder mit einem Lehrling Nachschub von der LWS bekommen. Dieser aktuelle Lehrling ist wieder in der Zimmerei tätig und Fotos: Paul Braunstätter M ohann Schania hat den elterlichen Betrieb in Pottenbrunn 1995 übernommen. )UHLJHLVW Zurzeit wird viel über die not- wendige Reform des Bildungssystems diskutiert, gibt es aus Ihrer Sicht dazu irgendwelche Vorschläge, was man verbessern könnte? -RKDQQ6FKDQLD Mir persönlich fällt schon auf, dass z. B. der EDV ein Gewicht beigemessen wird, wo ich denke, das lernen die Kinder sowieso selbst. Gewisse Grundkenntnisse in Mathematik, Geographie und Geschichte scheinen mir oft wichtiger – also eine gewisse Allgemeinbildung. Ich habe schon oft den Eindruck, die Schüler werden vollgestopft. Das allgemeine Schulsystem kommt mir schon leider als die große Spielwiese der Politik vor: Die einen wollen dies, die anderen das; und jene, die es auszuführen hätten, so mein Eindruck, mauern. So gesehen gefällt mir das, was in der Lernwerkstatt mit den Kindern gemacht wird auf alle Fälle. Das belebt sicherlich das Schulwesen. )UHLJHLVW Das ist ein schöner Abschluss, Herr Schania; wir danken für das Gespräch. *** -RKDQQ6FKDQLD ja immer wieder Kritik am Bildungssystem laut, dass junge Leute, die aus der Schule kommen nicht genug für die Ausbildung in einem Betrieb gerüstet seien. Haben Sie diesbezüglich Erfahrungen gemacht, die dies bestätigen? 3DXO%UDXQVWlWWHU -RKDQQ6FKDQLD Diesbezüglich muss ich sagen, hat jeder, egal wo er herkommt, Stärken und Schwächen. Derzeit fällt uns wie gesagt am krassesten der Einfluss des Elternhauses auf. Wenn hier etwas nicht passt, färbt das sofort auf die Jugendlichen ab. Beim Schulsystem bin ich völlig offen, für den einen passt dieses besser, für den anderen jenes. Hier wie da gibt es zu Beginn mitunter Defizite (etwa beim Rechnen), die jedoch aufgeholt werden können. Das ist unabhängig vom Schulsystem, da will ich gar nicht den Schwerpunkt drauf legen. Unsere Mitarbeiter müssen sich in der Praxis bewähren; ein guter Umgang mit den Leuten ist mir (wir sind ein kleiner Betrieb) viel wichtiger, als ein Abschlusszeugnis mit vielen Einsern und der Mensch ist sonst eine „Pflaume“. )LUPHQVLW]LQ3RWWHQEUXQQ ist Bautechniker, Vater eines Schülers der LWS und zweier mittlerweile erwachsener Töchter, die ebenfalls die LWS besuchten. IUHLJHLVWVRPPHU IUHLJHLVWVRPPHU ZHQQVFKXOHQHXJLHULJPDFKWXQGELOGXQJQHXHZHJHJHKW Die Gesellschaft braucht in Zukunft sicherlich Menschen mit Herzens- und Geistesbildung, mit emotionaler Intelligenz. In der Schulwerkstatt wird für diesen Entwicklungsprozess neben dem herkömmlichen Erwerb der Grundfertigkeiten des Lesens, Rechnens und Schreibens und der Aneignung von vielen Wissensgebieten viel geleistet. Ein Bericht über die Schulwerkstatt Ebreichsdorf von Ruth Laimer, Sabine Oberhauser und Petra Falk. Å)UXQVLVWHVZLFKWLJ7DOHQWH]XI|UGHUQ XQG GLH .LQGHU LP ULFKWLJHQ 0RPHQW DP ULFKWLJHQ2UWDE]XKROHQ´ sagt die Gründerin der Schulwerkstatt Ruth Laimer, die als Südtirolerin ein anderes Schulsystem kennengelernt hat und in der Studienzeit auch als Legasthenie- und Gedächtnistrainerin viel Erfahrung darüber gesammelt hat, wie man Kinder auf ihrem Weg des Lernens unterstützt. In unserem Team gibt es ausschließlich Fachkräfte: Pernilla, unsere Naturwissenschaftlerin und Mathematikerin aus Schweden, Andrea, die Tanzpädagogin, Paul, den Theaterpädagogen und Musiker, Elli, die Kunsttherapeutin sowie Anita, Nativ-Speakerin für Englisch. Gemeinsam versuchen wir, den Kindern die Welt zu zeigen, Wissen zu vermitteln, ihnen Raum für Neugierde und Experimentieren zu lassen und ein respektvolles Miteinander zu leben. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass jedes Kind lernen will und grundsätzlich sein Bestes gibt. Es liegt an den Lehrerinnnen, den Unterricht auf so hohem Niveau zu gestalten, dass jederzeit für jeden etwas dabei ist. Das ist vor allem für hochbegabte Kinder wesentlich, auf die die Schulwerkstatt spezialisiert ist. Die Zusammenarbeit mit der Hochbegabtentrainerin Katja Hiegatzberger Geografie oder Sozialkunde, die gesamte Museumspädagogik kann den Schülerinnen Inhalte wesentlich detaillierter und interessanter präsentieren, als es in den vier Wänden einer Schule im Rahmen des Unterrichts möglich ist. Die SchülerInnen lernen so Zusammenhänge herzustellen und das Gehörte, Gesehene und Erlebte im Kopf zu behalten. Im letzten Semester erlebten wir im Rahmen des Semesterthemas „Tierisch gut“ tolle Ausflüge: in Sparbach auf den Spuren der Wildschweine, Langenlois und seine Straußenfarm, die Burg Greifenstein mit der Falknerei. Natürlich bietet auch der Tiergarten Schönbrunn fantastische Führungen, von den Affen bis zum Regenwaldhaus und das Naturhistorische Museum darf nie fehlen. 3URMHNW(UQlKUXQJ $IULNDWDJ eröffnet uns Möglichkeiten, die im Volksschulbereich einzigartig sind. Anders als in der Regelschule wird der Unterricht stark vernetzt-fächerübergreifend gestaltet. Dazu gehört auch, dass wir viel unterwegs sind, nicht nur in der Natur, auch in Museen und anderen Institutionen, die das laufende Semesterthema bereichern. Die Experten aus den Gebieten Biologie, Geschichte, Sowohl die Sechsjährigen als auch die Jugendlichen profitieren sehr von diesen Lehrausflügen, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch besonders die Sozialkompetenz stärken. Kindern muss die Möglichkeit gegeben werden, sich im akademisch-kreativen wie im sozialen Bereich gleichermaßen entwickeln zu dürfen. Um das zu ermöglichen, muss man ihnen Zeit und Raum lassen und Ak- 6FKXO:HUNVWDWW(EUHLFKVGRUI Wienerstraße 25 2483 Ebreichsdorf [email protected] www.schul-werkstatt.at Tel.: 06642346148 $P6WUDQGYRQ%DUFHORQD tivitäten bieten, die im herkömmlichen Schulsystem schwer umsetzbar sind. Den SchülerInnen werden beispielsweise stets Kurse angeboten, in denen es um Stille geht: Yoga, Kinesiologie, Gehirnjogging, Brain-Kinethik. Die Kinder müssen sich auch ausreichend bewegen können: Tanz, Theater- und Turnunterricht und ein großer Garten und Wald bieten bei uns das geeignete Umfeld dafür. Kreative Momente werden durch Zusatzangebote geschaffen: Gemeinsam mit Norberto Bertassi „Teatro“ studierten die Mädels der Schule heuer die Geggis von Mira Lobe ein und präsentierten das Stück den Eltern und MitschülerInnen. Einige SchülerInnen haben in den letzten Jahren beim Kunstwettbewerb „Kunst schätzen unter dem Hammer“ mitgemacht. Die Werke wurden in den Börsesälen für die Karl-Schubert-Schule in Wien versteigert. Fotos: Autorinnen H in bestens ausgebildetes LehrerInnenteam beschreitet mit Kindern und Eltern in Sachen Bildung und Schule neue Wege! Die Schulwerkstatt arbeitet nach den Prinzipien von Jesper Juul, dem dänischen Psychologen und Familientherapeuten und den Hirnforschern Manfred Spitzer und G. Hüther. Derzeit besuchen 32 Mädchen und Burschen im Alter von 5-15 die reformpädagogische Ganztagsschule. Das Klassenzimmer ist immer dort, wo die Kinder sind, wohin ihre Neugierde sie trägt. Einen starren Stundenplan gibt es in unserer Schule nicht, die SchülerInnen haben die Möglichkeit, sich vom Frontalunterricht bis hin zu völlig frei gestalteten Einheiten eine gute Mischung auszusuchen. Eine große Vielfalt an Material ermöglicht es den Kindern, sich das herauszusuchen, was für sie gerade passt: für die einen ist es das traditionelle Schulbuch, für die anderen das Montessorimaterial; die einen eignen sich Wissen über Filme an, die anderen hören lieber dem Lehrer oder der Lehrerin zu, je nach Lerntyp, ganz verschieden. LQIR :HOWRIIHQKHLW Für die Sekundarstufe wurde heuer der Wunsch Realität, in eine große europäische Stadt fliegen zu dürfen: Wir waren mit den Kids in Barcelona! Am Afrikatag lernten die Kinder die nigerianische Kultur kennen, indem uns ein Gast viel darüber erzählte. Jedes Jahr gibt es in der Schule eine Projektwoche. Wir waren in Zell am See, in Podersdorf, in Laa an der Taya, Zelten in Kobersdorf - jedes Mal ist es ein großes Erlebnis für Groß und Klein. Für die Mädchen und Burschen und auch für die LeherInnen bedeutet das eine Menge Eigenverantwortung und setzt bei den Kindern eine Selbständigkeit voraus, die täglich im Unterricht auch geübt werden kann. Den Eltern und Pädagoginnen gelang es in diesem Schuljahr im Rahmen des Bildungsforums, zwei große Veranstaltungen mit Dr. Manfred Spitzer und Dr. Michael Winterhoff zu organisieren. Wir sehen uns nämlich dafür verantwortlich, die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft in unser pädagogisches Konzept einfließen zu lassen und diese Erkenntnisse auch anderen zur Verfügung zu stellen. Nur so ist es möglich, gesellschaftspolitisch etwas zu verändern. Bildung geht neue Wege, wenn engagierte Menschen den Mut haben, Kin- dern eine Lernatmosphäre zu bieten, in der sie für ihren Lebensweg profitieren. Die Mädchen und Buben entwickeln einen unglaublichen Ehrgeiz und können nicht genug von Lernen und Schule bekommen, wenn Schule und Leben nicht isoliert voneinander stattfinden. Die Schulwerkstatt arbeitet nicht nach einschlägigen pädagogischen dogmatischen Richtungen, sondern strebt an, Lebensfreude zu vermitteln, Selbstentfaltung zu ermöglichen und Empathie zu lehren. Denn Jesper Juul sagt: “In naher Zukunft werden alle erkennen, dass die Empathie die härteste und wichtigste Währung von allen ist!“ Die Schulwerkstatt schafft somit Rahmenbedingungen, die Kinder in der Entwicklung ihrer Lebenskompetenz unterstützen. 5XWK/DLPHU Mag., Päd. Leiterin der Schulwerkstatt, Mutter von Jakob (10) und Anabelle (7), seit 12 Jahren Unterrichtserfahrung, Gedächtnistrainerin, Suggestopädin, Legasthenietrainerin, Leiterin der Lernwerkstatt Ebreichsdorf 6DELQH2EHUKDXVHU Mutter von Niklas (7), Redakteurin bei der Kronenzeitung 3HWUD)DON Sprechtrainerin und Moderatorin IUHLJHLVWVRPPHU IUHLJHLVWVRPPHU IHVWGHUELOGXQJRGHUGDVUHFKWXQVHUHUNLQGHUDXIGLHIL QDQ]LHUXQJLKUHVVFKXOXQGNLQGHUJUXSSHQSODW]HV G ie Plattform „Zukunft Bildung“ ist ein Zusammenschluss der reformpädagogischen Bildungseinrichtungen in Niederösterreich. Obwohl ihre Schulen das Öffentlichkeitsrecht zuerkannt bekamen, ihre Kindergruppen und Kindergärten somit von den Behörden anerkannte Einrichtungen sind, haben sie kein Recht auf gesicherte finanzielle Zuwendungen. Der Vorstand der Plattform „Zukunft Bildung“ empfindet dies als eine unzumutbare Belastung. Auch für die Eltern der rund 2000 Kinder ist diese Situation unverständlich: „Wir zahlen Steuern und Gemeindeabgaben wie alle anderen. Wieso haben unsere Kinder nicht das Recht 0DWWKLDV auf Finanzierung ihres 6WDGOHU Schul- oder Kindergruppenplatzes?“, fragt Mag. Ing. Egbert AMANN-ÖLZ, Vater von 4 Kindern und Obmann der Plattform. Bürgermeister Mag. Matthias STADLER hob in seiner Eröffnungsrede hervor, dass St. Pölten über 60.000 Ausbildungsplätze (mehr als Einwohner) hat und betonte die große Auswahlmöglichkeit, die hier dank zahlreicher privater Initiativen wie der Lernwerkstatt in Pottenbrunn besteht. Er wisse, dass sich Schule heute verändern müsse. Er wünschte unserem Bildungswesen, dass es abwechslungsreich, bunt und modern sei und jedem eine indivi-RKDQQ duelle Chance geben +HXUDV möge. Der zweite Niederösterreichische Landtagspräsident Mag. Johann HEURAS bedankte sich bei allen Verantwortlichen des Festes und betonte, dass hier das Entscheidende, nämlich die (Reform)Pä dagogik, im Mittelpunkt *HRUJ7DSSHLQHU stehe. Dieser Grundsatz solle zusammenführen und die Richtlinien der Fördermaßnahmen seien zu überdenken im Sinne von reformpädagogischen Ansätzen. Bei allen pädagogischen, schulischen und bildungspolitischen Überlegungen solle das Kind im Mittelpunkt stehen. Den ganzen Tag über bot der Rathausplatz Raum für Präsentationen der einzelnen Bildungsinitiativen, ihrer Konzepte und vielfältige Angebote für Kinder. Währenddessen zeigten auf der Freilichtbühne Gruppen von Kindern und Jugendlichen ihr Können und im Cinema Paradiso fand ein abwechslungsreiches Rahmenprogramm statt: Reformpädagogische Schulen und Kindergärten aus Niederösterreich stellten ihre Aktivitäten in einem Kurzfilmprogramm vor, die Filme „Wie Kinder lernen“ von Ilse CRILLOVICH und „1+1=100 oder die Schule des Lebens“ von Doris KITTLER wurden gezeigt, wobei jeweils die Regisseurinnen nach dem Film für ein Gespräch zur Verfügung standen. Auch die Theatergruppe „Pistatschios“ der Lernwerkstatt sorgte mit dem Kindertheaterstück „Grüffelo“ für einen ausverkauften Saal. Am Beginn des Programms im Cinema Paradiso stand ein Podiumsdialog mit BildungsexpertInnen und PolitikerInnen zu der Frage: „Reformpädagogische Schulen und Hirnforschung heute – was hat sich nach 100 Jahren Montessori in der Bildungslandschaft verändert?“ Mag. Georg TAPPEINER gelang es in seiner Moderation, einen repräsentativen Querschnitt durch die vielfältigen und teilweise gegensätzlichen Dialogbeiträge der einzelnen TeilnehmerInnen zu vermitteln. Das $QGUHD3LVD Publikum folgte dem zeitweise sehr emotionalen Dialog mit großer Begeisterung und Anteilnahme. Prof. Thomas MOHRS von der Pädagogischen Hochschule OÖ meinte zu Beginn, dass sich in den letzten Jahren offensichtlich nicht genug verändert habe. Er wies auch auf die Erkenntnis der Gehirnforschung hin, dass Gehirne sich nur selbst belehren können. Auch ist es völliger Unsinn, Kinder in Jahrgangsstufen zu unterrichten, da jedes Kind seine individuelle kognitive und auch emotionale Bildungsbiografie hat; man kann daher verschiedenen Kindern einer Altersstufe nicht dasselbe zumuten. Kognitive Leistungsfähigkeit und Ratio werden gnadenlos überschätzt, während 'RULV.LWWOHU die eigentliche Kommandozentrale das limbische System ist, das die Emotionalität steuert. Kinder können daher nur das lernen, was ihnen attraktiv erscheint. In Angstsituationen wird Lernen verhindert. Wenn man Fotos: Paul Braunstätter Am 27. April setzte die NÖ Plattform „Zukunft Bildung“ ein kräftiges Lebenszeichen am Rathausplatz in St. Pölten. Von Paul Braunstätter Statistiken glaubt, wonach ca. 40 % der Kinder bereits in der Volksschule mit Angst in die Schule gehen, ist das ein verhee+HLGL6FKURGW rendes Zeugnis. Nach aktuellen Studien zum Bewegungsdrang von Kindern wird der Peak im Alter von 6 bis 8 Jahren erreicht. Wenn man reflektiert, dass Kindern dieses Alters in der Regelschule zugemutet wird, drei bis vier Stunden stillzusitzen, muss man eigentlich sagen, das ist eine Form der Kindesmisshandlung. MOHRS größter Wunsch wäre es, die natürliche Entdeckerfreude der Kinder zu nutzen, damit sie sich optimal entwickeln können. Mag. Heidi SCHRODT, Vorsitzende der Initiative Bildung Grenzenlos bedauerte das Fehlen eines nationalen Konsens über alle Parteigrenzen hinweg als Vision einer notwendigen Reform in der Österreichischen Bildungspolitik. Der Philosoph Bertrand STERN stellt die Institution Schule grundsätzlich in Frage: „Ist es Ignoranz, Verblendung oder ist es Dummheit? Ist es die Angst der Wohlerzogenen, die wir alle mehr oder weniger sind, dass wir aus mangelndem Vertrauen so tun, als könne es nichts ,ORQD7U|OV+RO]ZHEHU anderes geben?“ Die NÖ Bezirksschulinspektorin für Schulversuche und reformpädagogische Schulen in freier Trägerschaft Mag. Ingrid HEIHS bemüht sich, dass gerade die Schulversuchsklassen Bildungsarbeit leisten und Kolleginnen und Kollegen mit einbinden, um diese gelingenden Beispiele auch in die Breite zu bringen. Die NÖ Landtagsabgeordnete Ilona TRÖLS-HOLZWEBER stellte die Arbeit der Jugendberatungsstelle „Ampel“ vor. Auffällig sei, dass die Jugendlichen mit immer größeren und vielfältigeren Problemen in die Beratung kommen. Mag. Andrea PISA, Schulleiterin der Neuen Schule Eichgraben und Vorstand der NÖ-Plattform Zukunft Bildung berichtete von ihren Erfahrungen, von den Behörden so lange im Kreis geschickt zu werden, bis eine Legislaturperiode endet. Sie hat den Eindruck, dass die zuständigen Beamten und Politiker so Zeit schinden, um keine Entscheidungen fällen zu müssen. Der Bildungssprecher der Grünen im NÖ Landtag Emmerich WEIDERBAU(PPHULFK ER berichtete :HLGHUEDXHU davon, dass er bei seiner Arbeit im Landtag immer wieder mit dem Aufruf konfrontiert sei: „Macht nicht die Schulen so schlecht, wir haben eh schon so ein schlechtes Image und alles liegt ja wirklich nicht am Boden!“ Den Grund dafür, warum noch immer nicht alles am Boden liegt, sieht er jedoch darin, dass es immer noch PädagogInnen gibt, die auch bei schlechtesten Rahmenbedingungen bemüht sind, das Beste aus den Kindern herauszuholen, damit sie sich gut entwickeln können. Das hält das System aufrecht und nicht die Parteien. Er fordert für die re- formpädagogischen Initiativen in privater Trägerschaft die gleichen finanziellen Mittel, die den konfessionellen Initiativen zustehen: „Ihr braucht die gleiche Bezahlung, um gut arbeiten zu können“. Prof. Karl GARNITSCHNIG von der Uni Wien spricht sich für eine Öffnung der Schule im Sinne einer größtmöglichen ,QJULG+HLKV Autonomie aus und betont die Bedeutung der Wertschätzung des Kindes für die Motivation und die Notwendigkeit der finanziellen Unterstützung für alle Initiativen. Der 2. NÖ Landtagspräsident Mag. Johann HEURAS sorgt sich um das Image von Schule und Bildung und spricht sich für eine Stärkung der Autonomie von Schulen aus. Niederösterreich geht verstärkt den oft komplizierten Weg von Schulversuchen, weil der bundesgesetzliche fehlt. HEURAS schlägt eine Art Kopfquote zur Stärkung der Autonomie vor. Was an finanziellen Mitteln notwendig ist, um einen Schüler zu begleiten, sollte den Schulen in Eigenverantwortung zur Verfügung gestellt werden. Mehr Autonomie, mehr .DUO*DUQLWVFKQLJ Selbstständigkeit und mehr Verantwortung bei den Schulen, das ist für ihn ein Ansatz, über den man diskutieren sollte. >>> IUHLJHLVWVRPPHU Nun, diskutiert wird darüber ja schon länger, aber wie stehen die Chancen, dass dies tatsächlich 7KRPDV0RKUV zu einer Änderung dieser für viele unverständlichen Situation führt? GARNITSCHNIG: „Das Modell des Bildungsgutscheines gibt es in Österreich schon seit Jahrzehnten. Ich weiß, dass darüber auch in den Ministerien gesprochen wurde. Aber offensichtlich hat man Angst davor, dass tatsächlich die Subjekte als solche beginnen würden, ihre Bildungswege selbst zu entscheiden. Wenn Menschen tatsächlich über Bildungsgutscheine diese Freiheit der Wahl hätten, wo und wie sie ihre Bildung und ihre Entwicklung wahrnehmen wollen, dann müsste auch jede Schule sich viel stärker dieser autonomen Individuen annehmen und der ganze Prozess der Schulentwicklung würde sich radikal verändern.“ STERN schlägt vor, die finanziellen Mittel, die ein Staat für Bildung vorgesehen hat, nicht an Institutionen, die immer kontraproduktiv sind, zu verteilen, sondern direkt an die Personen: Jeder Mensch bekommt Geld für Bildung von der Geburt bis zum Tod. Das heißt, weg von der passiven Bildung hin zum Recht sich frei zu bilden. So wurden vielfältige Ideen in den Dialog eingebracht, Vorschläge zur Diskussion gestellt und Wünsche zu notwendigen Reformen geäußert. Doch wer beginnt damit, diese umzusetzen? MOHRS: „Ich denke, wir brauchen eine systemische Veränderung. Das System will unmündige, passive Weisungsempfänger, die man leicht regieren kann, das System will unkritische, unreflektierte IUHLJHLVWVRPPHU KonsumentInnen, denen man jeden Mist verkaufen kann. Wir brauchen ein System, in dem die Menschen mündige Subjekte ihres eigenen Lebens sind.“ PISA zeigte sich sehr glücklich über die allgemeine Wertschätzung und Anerkennung, welche heute der Reformpädagogik entgegengebracht werden %HUWUDQG6WHUQ und wünscht sich, dass diese Wertschätzung nicht nur mündlich geäußert wird, sondern sich endlich auch in finanzieller Hinsicht niederschlägt. STERN: „Der Wandel wird kommen, wenn Ihnen Ihre Tochter oder Ihr Sohn unmissverständlich verkündet: ‚Ich will da nicht hin‘!“ VFKXODOOWDJUROOHQVSLHO Von Norbert Mlinar VFKXOHQGHU]XNXQIW Y Prof. Dr. Gerald Hüther zählt zu den renommiertesten Hirnforschern Deutschlands. Er wurde 1951 in Gotha geboren, hat in Leipzig studiert und in Jena promoviert, bevor er zum Max-PlanckInstitut für Experimentelle Medizin in Göttingen wechselte. Gerald Hüther interessiert sich vorwiegend für die frühen Erfahrungen im menschlichen Leben und deren Einfluss auf die Hirnentwicklung, wozu vor allem emotionale Reaktionen wie Angst und Stress gehören. Seine Erkenntnisse veröffentlicht Hüther nicht nur für die Fachwelt, sondern auch in gut zugänglichen Sachbüchern. Gemeinsam mit Daniel Hunziker leitet er die Initiative Schulen der Zukunft, eine Initiative für eine Kultur der Potentialentfaltung. Die Initiative Schulen der Zukunft setzt sich für eine lebensnahe, dem Wesen von Kindern und Jugendlichen entsprechende Bildung ein. Diese orientiert sich an der Natur des Menschen und den Gesetzmäßigkeiten des Lebendigen in ihm. Gelingt dies, zeigt sich das Lernen vom Kindergarten bis in die Berufsschulen und Gymnasien als lustvoller, freudiger Prozess und die Beteiligten erleben sich als wertvoll, fühlen sich in ihrer Gemeinschaft aufgehoben und können dadurch ihre Potentiale besser entfalten. Die Initiative Schulen der Zukunft steht entwicklungsbereiten Bildungseinrichtungen auf diesem Weg zur Seite. Am Wegrand sucht und sammelt sie Projekte, bei denen Bildung in diesem Sinne gelingt und modellhaft für andere Bildungseinrichtungen steht. „Modellschulen sind Schulen, welche wir kennen und als modellhaft für eine potentialentfaltende Bildungseinrichtung ansehen.“, schreiben die Leiter der Schulen der Zukunft. Neben Modellschulen in Deutschland und in der Schweiz ist die Lernwerkstatt im Wasserschloss die bisher einzige Modellschule Österreichs. Foto: Autor Die Lernwerkstatt ist Modellschule! erkleiden, schminken, in verschiedene Rollen schlüpfen, Erlebtes nachund ausspielen, selbst Geschichten erfinden und sie mit FreundInnen spielen, dafür gibt es im zweiten Stock des Wasserschlosses den Rollenspielbereich mit Postamt und Einkaufsladen und unter einem Hochplateau eine Art Wohnküche, die aber jederzeit zu einem Wirtshaus, einem Kindergarten, einem Juwelierladen oder einem Schuhgeschäft umfunktioniert werden kann. Aber nicht nur im Rollenspielbereich stöckeln feine Damen herum, schreien Kleinkinder, bellen Hunde oder überfallen Räuber die Post, tagtäglich finden auch in anderen Bereichen Rollenspiele statt. Im Bewegungsraum werden Schaumstoffmatratzen und –pölster zu einem Haus oder einem Turm, zu einem Labyrinth, zu einer Geisterbahn oder zu einer Höhle, in der sich Katzen im Kampf gegen einen verfeindeten Katzenclan verkriechen. Der Außenbereich wird zum Dschungel oder Jurassic Park, ein Teil des Sprachbereiches zu einem Klassenzimmer, wo eine autoritäre Lehrerin aufmüpfige Schülerinnen zu disziplinieren versucht, und nebenan im Rechenbereich verlassen Geldscheine die Bank und den Bankomaten. Das Rollenspiel ist ein Zusammenspiel von Sprache, Bewegung, Emotionen und Sinnen. Es eröffnet uns das Verständnis für die Welt, die uns umgibt, und bereitet uns letztlich darauf vor, verantwortlicher Teil eines Ganzen zu werden. Eine sehr strukturierte Form des Rollenspiels ist das Theaterspiel. Die Theatergruppe Pistatschios, die mit ihren Stücken seit 18 Jahren in der Öffentlichkeit auftritt, vereint Kinder und Jugendliche aller Altersstufen in einem gemeinsamen Projekt: Im Prozess vom Finden der richtigen Geschichte, aus der die Bühnenfassung entsteht, bis hin zum Abschminken und Wegräumen nach einer Aufführung, können alle die ihrem Alter entsprechenden und für ihre Entwicklung notwendigen Möglichkeiten finden, Dinge zu erfahren, zu tun und Verantwortung zu übernehmen. Wir Erwachsene würden sagen, dass das Theaterspiel einen „hohen erziehe- rischen Wert“ für die Persönlichkeitsentwicklung hat, ein weites Übungs- und Lernfeld darstellt, vor allem auch ein soziales, und eine Fülle unterschiedlichster Herausforderungen bietet, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln. Die Gehirnforschung vermeldet, dass es für eine gute Gehirnentwicklung eigentlich nur Dreierlei braucht: Bewegung, Natur und Theaterspielen. Kinder und Jugendliche spielen aber nicht Theater, weil es einen erzieherischen Wert darstellt oder weil sie spüren, dass es ihrer Gehirnentwicklung gut tut; sie spielen Theater, weil es ihnen einfach Spaß und Freude macht. 1RUEHUW0OLQDU ist Begleiter in der LWS, Leiter der LWS a.D. IUHLJHLVWVRPPHU PDO HKQRU JHVFKLFK WHQDXVGHPXPI HOGGHUOZ V Eigentlich ist es in dieser Zeitschrift ja nicht üblich, Lebensweisheiten zum Besten zu geben. Nichtsdestotrotz will ich dieses ungeschriebene Gesetz brechen. Also, aufgepasst: „Wenn Sie ein Schwerhöriger anlächelt und nickt, dürfen Sie sicher sein, dass er kein Wort verstanden hat!“ Diese Weisheit gilt jedenfalls in der männlichen Form und wahrscheinlich auch in der weiblichen. Der Schreiber dieser Zeilen – er meint jetzt nur die maskuline Form - gehört dieser gar nicht so seltenen menschlichen Spezies an, die gemeinhin als Schwerhörige oder gar terrisch bezeichnet wird. Die Bezeichnung Terrischer habe ich, wenn auch meist pseudo-jovial benutzt, stets besonders verletzend empfunden. So Sie dazu in der Lage sind, lade ich Sie ein das Wort „Terrischer“ möglichst nach Kärntner Art intoniert (langes a!) laut zu rufen: T-e-h-r-i-sch-a! Und dabei stellen Sie sich die Bedeutung vor: terrisch bezeichnet eine Person, die aufgrund mangelnden Hörvermögens zweck- und sachdienliche Informationen nicht verarbeiten kann und umgangssprachlich auch als dumm bezeichnet wird. Sie verstehen meine Verletzung? Ergo: wenn mich jemand unbedingt als dumm bezeichnen möchte, dann soll er/sie das tun, aber dabei bitte meine Ohren aus dem Spiel las- sen! Wobei, genau genommen sind es ja nicht meine Ohren, sondern vielmehr ist es mein Hören, das mir diesen speziellen Zugang zur Welt gestattet. Mein eingeschränktes Hörvermögen schafft zwischen mir und meiner Umwelt – Mensch, Tier, Pflanzen und Straßenverkehrslärm eingeschlossen – eine Pufferzone. Die Außenwelt dringt primär über den Hörsinn an uns heran und das meist ungefragt obendrein. Mein Hören dämpft diese Eindrücke. Beispiel gefällig? Gelsen höre ich nicht. Gespräche, die hinter mir stattfinden, verstehe ich nicht. Hohe Töne – z.B. Wecker – zwecklos. Stille Post – ein Kindheitstrauma! Andererseits lernte ich Lippenlesen und erkenne am Fernsehbildschirm, auch ohne nervende Kommentatorenstimme im Hintergrund, was der deutsche Fußball-Bundestrainer seinem Einwechselspieler an der Linie verbal mit ins Spiel gibt. Und Verkehrslärm – welcher Verkehrslärm? Es lässt sich in dieser gedämpften Welt gut leben, vor allem morgens, beim Frühstück, visuell hinter einem deutschen Großformat verborgen, akustisch von der hektischen Betriebsamkeit der Kleinfamilie geschützt. So gestaltet sich der Weg in die Isolation – zuhören wird anstrengend. Nicht erst im Alter wird’s einsam. „Papa, ich rede mit Dir! Hast wohl nicht RRVHQQLVW0DFKWPDFKWQL[ FDUW:LV Franz Josef Gaugg deine Hörgeräte drin, was!“ brüllt eine meiner Töchter nicht sehr liebevoll. Der Informationsfluss versiegt, ich weiß nicht, was vor sich geht um mich herum, vielleicht werde ich doch langsam – terrisch? „Nein, soweit kommt es nicht!“, denke ich mir und gebe jetzt doch meine Hörgeräte rein. Ein morgendlicher Konflikt zwischen unseren beiden Töchtern erreicht just in diesem Moment einen Höhepunkt. Die Jüngere fordert lauthals und selbstbestimmt Respekt von der älteren Schwester ein. Meine Hörgeräte beben und mein Trommelfell droht beinahe zu platzen, doch gottlob hat sich - im Moment des höchsten Geräuschpegels - das dünne Röhrchen des Gerätes, welches Gehörgang und Außenwelt verbindet, mit Ohrenschmalz verklebt. Dieser Umstand wirkt sich in diesem Fall günstig aus, da ihre Stimmchen jetzt nur gedämpft an mein Trommelfell pochen. Vielleicht auch deshalb begleite ich die Beiden heute gelassen durch den Morgen. Das ist die eine Seite des Lächelns und Nickens. Die andere möchte ich den geneigten Leserinnen – der Schreiber benutzt bewusst die feminine Form – nicht vorenthalten: „Nicht jeder, der Sie anlächelt und nickt, ist schwerhörig!“ 0X Hier sind die neuen Beobachtungs- Eh normal. )!$ !!! !( ""!!$!"" ! ! % ! Biohof Mogg Sankt Andräer Ortsstraße 21 3130 Herzogenburg Tel.: 02782/83129 [email protected] ZZZELRKRIPRJJDW ! & " " ! # # #""! ! ! ! INSTITUT für NEUE AUTORITÄT Steinkellner & Ofner OG Mag. Stefan Ofner +43 650 / 999 90 99 DSA Hans Steinkellner +43 650 / 982 98 92 [email protected] I www.neueautoritaet.at bezahlte Anzeigen Die Biokiste vom Biohof Mogg ist ein Abonnement, das Ihnen bequem ins Haus zugestellt wird. !$ Luise Muschailov ROVLEHW GUDP OH3WKDVHQSURSK\OD[H 6HQ 'LH%LRNLVWHDXVGHU5HJLRQ „In unseren Kisten finden Sie ausschließlich Bioprodukte, die zum größten Teil aus eigener Produktion stammen.“ IUHLJHLVWVRPPHU bögen für unsere Kinder. Von namhaften Pädagogen und Gehirnforschern entwickelt. 9DAha. Und was können die? 0X Alles! Es ist unglaublich. Endlich liegt hier die Quintessenz aller Pädagogischen Forschung vor uns. 9D Ja, aber was haben wir davon? 0X Endlich können wir genau berechnen, welcher Input nötig ist, damit unser Kind optimal entwickelt ist, wenn es fertig ist. 9D Zeig her. Ah, hier stellt man ein, welcher Beruf und welche Beziehungsform es leben wird. 0X Ist das nicht fantastisch? Ich nehme mal – hier –Tierarzt. Was braucht es um Tierarzt zu werden? 9D Monogamer Tierarzt? 0X Na sicher. Kinder? 9D Nein, die sind hinderlich für die Karriere. 0XNa, da nehmen wir doch einfach die passende Frau dazu. So. 9D O.K. Hier liest man das Ergebnis ab. Zwei Stunden Kulturtechnik täglich in der optimalen sensiblen Phase, Bewegungsraum drei Stunden wöchentlich, fünf Stunden Zielorientiertheit üben, abstrahiertes Denken entwickeln, Rollenspiel, vorzüglich Doktorspiele, – 0X Nein, das ist die falsche Spalte. Hier, Tierarzt. Pferdespiel. 9D Ah ja. Geschichte, Geographie, … und so weiter und so fort. Du, wäre da nicht eine Regelschule angebrachter? 0X Nein, die schauen nicht auf die sensiblen Phasen. Das soll ja alles selbstbestimmt passieren. 9D Und wie kriegen wir sie da hin? Ich meine, selbstbestimmt das zu tun, was wir wollen? 0X Naja. Und merken sollen sie es ja auch nicht. 9D Vielleicht peilen wir einen anderen Beruf an. Lass mal schauen… 0X Wir geben mal ein, was unser Kind jetzt so tut…. 9DErgebnis? 0X Verdammt. 9D Waas? Straßenkehrer?! 0X Warte, wenn ich da ein bisschen mit Mathe was tue …und etwas Fremdsprachen… und hier drehe, kommt… kommt… Pädagoge raus. Luise Muschailov 9D Damit kann man leben. 0X Allerdings nicht monogam und 14 Kinder. 9D Damit kann man auch noch leben. 0X Gut. Dann schauen wir, dass wir noch die nötige Menge Mathe in ihn hineinkriegen, dann ist es geritzt. Hier kann man die sensiblen Phasen eintragen und im Auge behalten. Das macht eh die Schule. 9D Was ist, wenn er was merkt und was anderes will? 0X Hier ist eben pädagogisches Fingerspitzengefühl gefragt. 9D Und das macht eh die Schule. 0X Sag ich doch. Und nun können wir frei von Zukunftssorgen unser Leben genießen. 9D Ja, wir machen das mit deiner Karriere, Sohn! 0XVertrauen verpflichtet. 9D Geiz ist geil. 0X Und vergiss nicht die Faserschmeichler… 9D und 0X singen beseelt: Wir streicheln und schmeicheln uns eeeiiin… Und wenn sie nicht gestorben sind, dann faserschmeicheln sie noch heute… Cranio Sacrale Energiearbeit für Mensch und Tier Diese sanfte Form der Osteopathie kann mit sehenden Händen Traumen, Verletzungen, Schiefstellungen erkennen, ganzheitlich korrigieren und den Körper animieren selbst das Ungleichgewicht zu regulieren. bau GmbH sorgt für die techni-Maschinenbaubüro entwickelt brem.technik sche Umsetzung von Ideen undundMaschinenbau fertigt qualitativ hochwerInnovationen. Unser Kremser tige Maschinenbaulösungen GmbH, www.bremtechnik.at Maschinenbaubüro entwickeltund setzt dort an, wo SpezialIng. PeterhochwerMucha: und fertigt qualitativ wissen gefragt ist, das nicht tige Maschinenbaulösungen direkt im Unternehmen zur Ver� 0676-898711710 und setzt dort an, wo Spezial-fügung steht. Sie sind in der DI Thomas wissen gefragt ist, das Breiteneder: nichtBiochemie, Industrie, Produktidirekt im � Unternehmen zur Ver-on oder Forschung und Ent0676-898711720 Ihre Ideenschmiede fürwicklung tätig? fügung steht. Sie sind in der Werbung Maschinenbaulösungen Biochemie, Industrie, Produkti-Wir unterstützen Sie bei der on oder Forschung und Ent-technischen Weiterentwicklung Die tätig? brem.technik Maschinenwicklung ihrer Projekte! bau GmbH sorgt die techniWir unterstützen Siefürbei der sche Umsetzung von Ideen und technischen Weiterentwicklungbrem.technik Maschinenbau Innovationen. Unser Kremser ihrer Projekte! GmbH, www.bremtechnik.at Maschinenbaubüro entwickelt Ing. Peter Mucha: und fertigt qualitativ hochwertige Maschinenbaulösungen brem.technik Maschinenbau� 0676-898711710 setzt dort an, wo SpezialGmbH, und www.bremtechnik.at DI Thomas Breiteneder: wissen gefragt ist, das nicht Ing. Peter Mucha: � 0676-898711720 direkt im Unternehmen zur Ver� 0676-898711710 Werbung fügung steht. Sie sind in der DI Thomas Breiteneder: Biochemie, Industrie, Produkti� 0676-898711720 on3IHUGHKRI%LUNHQKRO]²GDV3IHUGHSDUDGLHV oder Forschung und Entwicklung tätig? Werbung ]ZLVFKHQ6W3|OWHQXQG0HON Wir unterstützen Sie bei der Miriam Braunstätter technischen Weiterentwicklung Horsemanship Trainerin ihrer KurseProjekte! f. Kinder u. Erwachsene Claudia Stifter 0676 57 33 613 Alle Infos auf Das Magazin zum Leben 26. Jahrgang Österreichs größte, unabhängige Zeitschrift für • Lebensart • Gesundheit • Beziehungen !"#$ !"#$ ! " LQVHUDWFUDQLRLQGG !"#$ Reitunterricht, Bodenarbeit brem.technik Maschinenbau Jungpferdeausbildung Einstellplätze, Kindercamps GmbH, www.bremtechnik.at Doppellonge, Verladetraining Ing. Peter Mucha: �Gelassenheitstraining 0676-898711710 DIwww.miriambraunstaetter.com Thomas Breiteneder: �[email protected] 0676-898711720 tel 0676 6604792 Werbung Durch diese energetische Arbeit kann die bestehende Therapie des Arztes oder Tierarztes unterstützt und mit manueller Lymphdrainage und Massage ergänzt, umfassend begleitet werden. ! " ! " [email protected] www.dr-steirer.at Missongasse 9 3500 Krems im zentrum Obere Landstraße 227 3511 Furth bei Göttweig LQ%HZHJXQJ9,% 3URMHNW9LVLRQHQ www.wege.at 1/12 „Gesund & Krank“ 2/12 „Gut oder Böse?“ 3/12 „Gehirn & Lernen“ Visionen in Bewegung – VIB Kreativer Tanz und Bewegungstheater, Integrative Bewegungstherapie Seminare und bewegte Projekte Lebenshilfe und Selbstreflexion zum Lesen Jede Ausgabe hat ein Schwerpunktthema. Jahres-Abo in Österreich: Eur 25,Kostenloses Probeexemplar für „Freigeist“-LeserInnen anfordern unter [email protected] oder Tel. 07676 / 7017 (KW Freigeist). Ausgabe 4/12 erscheint Mitte Dezember zum Thema „Jugend & Alter“. bezahlte Anzeigen 4x jährlich zu den Jahreszeiten bezahlte Anzeigen Jede WEGE-Ausgabe bietet inspirierende, philosophische, kritische, satirische Beiträge zu verschiedenen Lebensbereichen und aktuellen Themen. Unabhängig, ganzheitlich, informativ, anregend… Bücher: „Tanz dich ganz“ und „mit der Zeit tanzen“ Leitung und Infos: Auguste Reichel DXJXVWHUHLFKHO#JPDLOFRP ZZZUHLFKHOUHLFKHODW Foto: Don Ferguson www.tintezirkus.at reinigen mit ökologischen Reinigungs* wir mitteln Ihre Wohnung und Büro und öko-Waschmittel * öko-Reinigungsmittel für Wäsche können Sie auch bei uns kaufen von * öko-Reinigungsmittel www.uni-sapon.com Susanne Deimel-Heiderer 3131 Inzersdorf ob der Traisen Tel: 0680 / 1400-646 [email protected] ZZZRHNRVGKDW veranstaltungen freigeist sommer 2009 pistatschios 21 e e Schul r e s n u Sie gi k Wollen sere Pädago ? n e und u ennen lern n näher k „Feuerpfote und der Donnerclan“ nach dem Buch „Warrior Cats“ Dienstag | 1. Okt. 2013 im Pfarrsaal St. Stephan, Amstetten Geschlossene Vormittagsveranstaltung schulführung Samstag | 30. Nov. 2013 | 15:00 im Paradies der Fantasie, St. Pölten Ein Schaf für‘s Leben nach Maritgen Matter Samstag | 7. Dez. 2013 beim Schloss-Advent in der Lernwerkstatt lws veranstaltungen Do It Yourself ! Windrad Workshop Mit Jonathan Schreiber Freitag | 5. Juli bis Mittwoch | 10. Juli 2013 Do it yourself-Windrad-Workshop Praxisorientierter Einblick zur Herstellung von Kleinwindrädern mit Jonathan Schreiber. Im Zuge des Workshops wird ein komplettes Windrad aus einfachen, möglichst recycelten Materialien gebaut. Ort: LWS Pottenbrunn Kosten (inkl. Mittagessen): € 300 (Unterkunft/Verpflegung im Schloss: € 60) Infos und Anmeldung: 0680-3048338, [email protected]; JonnysWindBlog.wordpress.com Eine Schulführung bietet die Gelegenheit, einen Einblick in das Leben der Lernwerkstatt zu bekommen. Anhand von Filmszenen aus dem Schulalltag und einer Führung durch die Räume im Wasserschloss stellen wir Ihnen die Pädagogik der Lernwerkstatt vor. Die gezeigten Filmausschnitte stammen aus der DVD „Wie Kinder Lernen“, erhältlich bei den Schulführungen sowie unter www.lernwerkstatt.ws Nach Absolvierung einer Schulführung ist das Hospitieren während des Schulvormittages gerne möglich. Nach der Hospitation findet ein Abschlussgespräch statt. Kostenbeitrag: € 35/25 (Stud.). Für interessierte Eltern ist die Hospitation Unverb indlic kostenfrei. V schul einschreibung Samstag | 26. Okt. 2013 | ab 09:00 Schloss der Vielfalt Ein Tag mit vielen Kursangeboten für Körper, Geist und Seele Ort: LWS Pottenbrunn Freitag | 8. Nov. 2013 | 19:00 Vortrag 9. und 10. Nov. 2013 | ab 10:00 Workshop Original Play - von Herzen spielen mit Fred O. Donaldson „Kleine Kinder spielen aus dem gleichen Grund, wie Wasser fließt und Vögel fliegen. Für den Erwachsenen heißt ursprüngliches Spiel, mit sich selbst, miteinander und mit der Welt in Berührung zu kommen.“ (Donaldson 2004) Fred O. Donaldson am 17.10.2013 und 21.11.2013 jeweils Do, 16-18:30 Eintritt frei! Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung! [email protected] oder 02742/43550 Führung Spielwerkstatt 14:30 - 16 Uhr, Anmeld. 02742/43802 „Original Play“ bedeutet in Verbindung sein mit dem eigenen Herzen und in liebevollen Kontakt treten mit anderen Lebewesen. Ursprüngliches Spiel zwischen Kindern oder zwischen Kindern und Erwachsenen sieht auf dem ersten Blick aus wie lustiges Balgen. Es gibt keine Konkurrenz und keinen Wettstreit, es gibt keine GewinnerInnen und keine VerliererInnen. Original Play ist von der UNESCO anerkannt als Prävention von Gewalt gegen Kinder. Ort: LWS Pottenbrunn Spendenbeitrag: € 15/12 (V), € 190 (WS inkl. V), Anmeldungen erforderlich bis 04.10.2013 unter [email protected], 02742/43550 www.originalplay.at Vorschau zu allen geplanten Veranstaltungen auch unter www.lernwerkstatt.ws he oranm jederze eldungen it mögl ich! Um eine gute Entscheidung des Schuleintrittes Ihres Kindes treffen zu können, haben wir für Sie einen Aufnahmemodus entwickelt. Für die Terminplanung bitten wir um rechtzeitige Kontaktaufnahme. Ein Schulwechsel von der Regelschule ist vor der zweiten Klasse Volksschule möglich. Ausnahme: Wechsel aus einer Alternativschule. mit allen sinnen lernen Aktiv und selbstbestimmt den eigenen Entwicklungsplan entfalten! Vortrag, Filmvorführung: „Wie Kinder lernen“ (Regie: Ilse Crillovich) über den Schulalltag in der LWS und Diskussionsrunde. Termine auf Anfrage für Elternabende in Kindergruppen und Kindergärten. raumvermietung Es besteht die Möglichkeit, Räume im Wasserschloss in der schulfreien Zeit zu mieten. Terminvereinbarung und Preisinformation: [email protected] weitere informationen: Lernwerkstatt im Wasserschloss Josef-Trauttmansdorff-Straße 10 3140 Pottenbrunn [email protected] 02742 435 50 (Di-Fr 8:00-12:00) www.lernwerkstatt.ws kstatt ist Die Lernwer ule von ch ls el Mod Zukunft Schulen der .org w w w.schulen -der-zukunft P.b.b. Erscheinungsort 3140 Pottenbrunn / Aufgabepostamt 3107 St. Pölten Ausgabenummer: 2/2013, Zulassungsnummer: 04Z035787