Die Gletscher schmelzen so schnell wie noch nie
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Die Gletscher schmelzen so schnell wie noch nie
Datum: 16.08.2015 SonntagsZeitung 8021 Zürich 044/ 248 40 40 www.sonntagszeitung.ch Medienart: Print Medientyp: Tages- und Wochenpresse Auflage: 201'738 Erscheinungsweise: wöchentlich Themen-Nr.: 377.012 Abo-Nr.: 1070143 Seite: 44 Fläche: 202'746 mm² Die Gletscher schmelzen so schnell wie noch nie Der weltweite Schwund erreicht einen historischen Höchstwert. Die Folgen für die Schweiz sind instabile Hänge, weniger Wasser für Landwirtschaft und Stromgewinnung Joachim Laukenmann Mit surrendem Propeller schraubt sich die ein Meter grosse und nur 700 Gramm schwere Drohne über dem Gletscher in die Höhe. Bald wirkt sie wie ein Greifvogel, der in einer Thermik kreist. Ein Murmeltier, das an der Seitenmoräne lebt, hat den Styroporadler entdeckt und stösst Warnpfiffe aus. In rund 400 Meter Höhe schwenkt die Drohne autonom auf die vordefinierte Flugbahn ein und beginnt, mit der nach unten gerichteten Kamera Fotos des Oberaarglet- schers am Grimselpass zu schiessen. Der Glaziologe Michael Zemp von der Universität Zürich, Leiter des Weltgletscherbeobachtungsdiensts (WGMS), und seine beiden Mitarbeiter Philip Jörg und Annette Ramp sind aus verfolgen sie den Flug ihrer Droh- Zemp. Er zeigt nach oben Richtung ne mithilfe eines Laptops. Die Sonne Oberaarjoch. Schon jetzt, Anfang Aubrennt am Himmel. Selbst auf 2460 gust, ist mehr als die Hälfte des GletMeter Höhe ist es angenehm mild. Es schers schneefrei. Die Schmelzperiode ist der zweite Flug, den die Drohne heu- dauert aber noch zwei Monate an. te absolviert. Ihre Bilder werden zu eiSo wundert es nicht, dass der nem 3-D-Modell des Oberaargletschers Oberaargletscher schrumpft. Zwischen verarbeitet, aus dem sich dessen aktu- 1851 und 2006 zog sich seine Zunge elle Ausdehnung bestimmen und ein um 2500 Meter zurück. Und die neuesexaktes Abbild der Oberflächentopo- ten Messdaten mit der Drohne deuten an, dass der Gletscher seit 2006 um weigrafie berechnen lässt. Wie die meisten Eisflüsse weltweit tere 400 Meter kürzer wurde. Der akist auch der Oberaargletscher durch den tuelle Rückzug läuft sogar mehr als dopKlimawandel aus dem Gleichgewicht pelt so schnell ab wie im Mittel der letz- geraten: Oben im Nährgebiet wird ten rund 160 Jahre. Was sich am Oberaargletscher abder Gletscherzunge schmilzt. «Eine spielt, ist symptomatisch. Das hat Zemp Faustregel besagt, dass ein Gletscher kürzlich in einer Publikation mit 38 weniger neues Eis erzeugt, als unten an dann im Gleichgewicht ist, wenn er am Forscherkollegen aus aller Welt gezeigt. wollten schauen, wie aussergeauf einen Felsblock inmitten des Ende der Schmelzperiode noch zu zwei «Wir wöhnlich die globale GletscherschmelDritteln mit Schnee bedeckt ist», sagt Oberaargletschers geklettert. Von dort Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 58766941 Ausschnitt Seite: 1/4 Datum: 16.08.2015 SonntagsZeitung 8021 Zürich 044/ 248 40 40 www.sonntagszeitung.ch Medienart: Print Medientyp: Tages- und Wochenpresse Auflage: 201'738 Erscheinungsweise: wöchentlich Themen-Nr.: 377.012 Abo-Nr.: 1070143 Seite: 44 Fläche: 202'746 mm² ze der Jahre 2000 bis 2010 ist», sagt Vergleich mit aktuellen, vom Flugzeug lich dokumentierten GletschergeschichZemp. Das Resultat war eindeutig: «Seit aus oder mit Drohnen per Fotogramte sei die aktuelle Entwicklung ohne es Aufzeichnungen gibt, sind die Glet- metrie gewonnenen Geländedaten zeigt Beispiel. «Die Studie zeigt klar, dass der die Veränderung. «Mit dieser Methode scher nie so schnell geschmolzen.» aktuelle Gletscherrückgang ein globaSeit über 120 Jahren sammelt der können wir die Entwicklung von rund les Phänomen ist», sagt Zemp. WGMS mit Sitz an der Universität Zü- 1000 Gletschern bis zurück ins 19. JahrUnterdessen liegen die Zahlen bis rich weltweit Daten zur Veränderung hundert verfolgen», sagt Zemp. 2014 vor. Bezeichnend ist, dass im letzWeitere Daten liefert die direkte ten Jahrhundert das Jahr 1998 weltweit der Gletscher. Drohnen kamen bei der Messung der Längenänderung. In der aktuellen Studie noch nicht zum Eineine Rekordschmelze aufwies. In diesem Schweiz etwa hat man die Position der satz, dafür zahlreiche andere MessmeJahrhundert wurde dieser Rekord schon Gletscherzungen seit den 1880er- fünfmal getoppt: 2003, 2006, 2011, thoden. Eine davon zeigt Zemp im unJahren erfasst. Im Gegenteil zur Ändeteren Bereich des Oberaargletschers. 2013 und basierend auf den neuesten rung der Mächtigkeit, die auf die jährDort steckt ein zwei Meter langes KunstZahlen sehr wahrscheinlich auch 2014. liche Niederschlags- und Schmelzbistoffrohr in einem mit Schmelzwasser Selbst wenn wir den Klimawandel gefüllten Bohrloch. Mehrere weitere, lanz reagiert, ist die Längenänderung morgen stoppen könnten, würden die des Gletschers ein eher indirektes Gletscher vorerst weiterschmelzen. Das mit Ketten verbundene Stangen liegen Signal: Was die Gletscherzunge heute daneben. Zemp hat die Stangen letzten ist ein weiteres Resultat der Studie. In macht, wurde vom lokalen WetterSommer hier im Eis versenkt. Nun kann vielen Regionen der Welt sind die Eisgeschehen der letzten Jahre bis Jahrer messen, um wie viele Meter der Gletflüsse genau wie der Oberaargletscher zehnte geprägt. scher an Mächtigkeit verloren hat. Der vierte und am breitesten ab- so stark aus dem Gleichgewicht geragestützte Ansatz sind Satellitenbilder. ten, dass sie für das heutige Klima zu Veränderung von 1000 Gletschern «Damit konnten wir weltweit Zehn- gross sind. Die Alpengletscher beispielsseit dem 19. Jahrhundert tausende Gletscher analysieren», sagt weise würden auch ohne weitere ErwärOben im Nährgebiet graben die GlazioZemp. Auf den Satellitenbildern er- mung noch auf die Hälfte ihrer heutilogen regelmässig einen Schacht, an dem kennen die Glaziologen, ob und wenn gen Fläche schrumpfen. sie den jährlichen Schneezuwachs ableDas hat Folgen. Durch die schwinja, wie weit sich die Gletscher von der sen. So erhalten sie eine Art KontoausEnd- und Seitenmoräne zurückgezo- denden Gletscher werden Berghänge zug: Man sieht die Einnahmen (Schneezuwachs), die Ausgaben (Schmelze) und gen haben, die sie während der instabil, und es können sich wie vor maximalen Ausdehnung vor 150 bis einigen Jahren am unteren Grindelkann daraus Verlust oder Gewinn (die 200 Jahren schufen. Die Satellitendaten waldgletscher gefährliche Seen bilden. jährliche Massenbilanz) ableiten. sind zwar nicht sehr genau, zeigen aber «Plötzlich tauchen Gefahren an Orten Allerdings wird diese «glaziologische auf, die vorher sicher waren», sagt Methode» nur bei 37 «Referenzglet- für eine Vielzahl von Gletschern, welZemp. «Und Orte werden sicher, die schern» lang genug angewandt, um di- che Richtung vorgegeben ist: Wachsvorher gefährdet waren.» rekt einen Klimatrend erkennen zu kön- tum oder Rückzug? Derzeit sorgt die Gletscherschmelnen. Im Vergleich zu den rund 200 000 ze in den Sommermonaten für einen Gletschern weltweit ist das nur eine klei- Der Rekord vom Jahr 1998 wurde erhöhten Wassernachschub. Die Speischon fünfmal getoppt ne Stichprobe. «Es könnte sein, dass sich ausgerechnet die 37 Referenzgletscher Insgesamt werteten Zemp und Kolleanders verhalten als der Rest», sagt Zemp. gen rund 47000 Gletscherbeobachtun«Damm ergänzen wir die glaziologischen gen aus. Einige Daten reichten bis ins Daten mit geodätischen Messungen.» 16. Jahrhundert zurück. «Die Eisdicke Eine Variante dieser Geodäsie be- der beobachteten Gletscher nimmt dersteht darin, die einstige Ausdehnung zeit jedes Jahr zwischen einem halben und Mächtigkeit der Gletscher aus al- und einem ganzen Meter ab», sagt ten Landeskarten abzuleiten. Anhand Zemp. «Das ist zwei- bis dreimal mehr der Höhenlinien in den Karten können als der entsprechende Durchschnitt im die Glaziologen erkennen, wie mäch- 20. Jahrhundert.» Auch für den gesamtig die Gletscher seinerzeit waren. Ein ten Zeitraum der bildlich oder schrift- Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen cherkraftwerke profitieren. «Der Wen- depunkt ist aber fast erreicht», sagt Zemp. «Schon in naher Zukunft werden die Alpengletscher mangels Eismasse weniger Schmelzwasser liefern.» Trockenperioden wie in diesem Sommer werden gravierendere Folgen haben, insbesondere für Laufwasserkraftwerke im Unterland, für die Schifffahrt und für die Landwirtschaft. Auf dem Oberaargletscher hat der Fallwind inzwischen aufgefrischt. Das ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 58766941 Ausschnitt Seite: 2/4 Datum: 16.08.2015 SonntagsZeitung 8021 Zürich 044/ 248 40 40 www.sonntagszeitung.ch Medienart: Print Medientyp: Tages- und Wochenpresse Auflage: 201'738 Erscheinungsweise: wöchentlich Themen-Nr.: 377.012 Abo-Nr.: 1070143 Seite: 44 Fläche: 202'746 mm² erschwert den dritten Start der Drohne. Kurz nach dem Abflug knallt sie aufs blanke Eis. Kamera und Akku wer- den hinausgeschleudert, der Propeller bricht. Zum Glück lässt sich der Schaden mit Sekundenkleber und Ersatzpropeller schnell beheben. Startbereit: Glaziologe Zemp mit Drohne auf dem Oberaargietscher Foto: J. Laukenmann Totale Massenbilanz der Gletscher Aufsummierte mittlere jährliche Massenbilanz aller vermessenen Gletscher der Welt. Das zeigt: Die 37 Referenzgletscher sind eine gute Repräsentation für alle Gletscher. Seit 1980 nahm die Mächtigkeit der Gletscher im Mittel um knapp 18 MWÄ ab. Da Wasser etwas dichter ist als Eis, entspricht das einem Rückgang der Eisdicke um rund 19,5 Meter. Massenzuwachs Massenverlust Massenzuwachs Massenverlust In In Meter Meter Wasseräquivalent Wasseräquivalent (MWÄ) (MWÄ) Gries-Gletscher (Schweiz) 2 1 0 in Meter Wasseräquivalent (MWÄ) 0 -1 -1 -6 -2 -2 Alle vermessenen -12 -3 -3 Gletscher Gletscher der der Welt Welt Storbreen (Norwegen) 37 37 Referenzgletscher Referenzgletscher 2 -18 1 1 1 1980 1985 1990 1990 1995 1995 2000 2005 2010 15 Quelle:WGMS Quell e:WGMS 0 -1 Jährliche Massenbilanz ausgewählter Referenzgletscher -2 -2 -3 -3 Die meisten Gletscher der Welt verlieren deutlich an Masse. Die Massenbilanz hängt jedoch stark von der lokalen Klimaentwicklung, von der jährlichen Niederschlagsbilanz und der Temperatur im Jahresverlauf ab. Minus 1 MWÄ bedeutet, dass ein Gletscher etwa 1,1 Meter an Mächtigkeit verloren hat. Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 58766941 Ausschnitt Seite: 3/4 Datum: 16.08.2015 SonntagsZeitung 8021 Zürich 044/ 248 40 40 www.sonntagszeitung.ch Medienart: Print Medientyp: Tages- und Wochenpresse Auflage: 201'738 Erscheinungsweise: wöchentlich Nisgardbreen (Norwegen) (Norwegen) Nisgardbreen Themen-Nr.: 377.012 Abo-Nr.: 1070143 Seite: 44 Fläche: 202'746 mm² 70 44 3 2 Prozent des Süsswassers sind in Gletschern gespeichert. 0 -1 47 000 -2 -2 Ts. Tuyuksuyskiy Tuyuksuyskiy (Kasachstan, (Kasachstan, Zentralasien) Zentralasien) Ts. Gletscherbeobachtungen sind weltweit verfügbar. Manche reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück. 1950 1960 1960 1970 1970 11111111 1980 1980 11111111 1990 1990 730000 Quadratkilometer beträgt die totale Gletscherfläche der Erde -so gross wie Deutschland, Polen und die Schweiz zusammen. -2 -2 11111111 Meter würde der Meeresspiegel ansteigen, wenn alle Gletscher der Erde abschmölzen (ohne die Eisschilde von Grönland und der Antarktis). 2000 2010 2010 2000 WGMS Quelle: WGMS Rückzug des Oberaargletschers Ausdehnung des Oberaargletschers in den Jahren 1881 - 1947 - 2006 - Prozent ging die Gletscherfläche der Alpen zwischen 1850 und 1970 zurück, weitere 22 Prozent zwischen 1970 und 2000. abgeleitet aus alten Landeskarten. Mit Hilfe der Höhenlinien können die Glaziologen jeweils auch die Mächtigkeit des Gletschers bestimmen. Die maximale Ausdehnung erreichte der Gletscher um 1850. Die Staumauer wurde zwischen 1952 und 1954 errichtet. Seit 2006 hat sich der Gletscher um weitere 400 Meter zurückgezogen. 1415 Meter hat sich die Gletscherzunge des Rhonegletschers zwischen 1879 und 2014 zurückgezogen. 3785 Quadratkilometer sind in Mitteleuropa mit Eis bedeckt. Das entspricht in etwa der Fläche der Kantone Zürich und St. Gallen. Scheuchzerhorn 19 OB ERAARGLETSCH ER Jahre umfasst die Messreihe über Zuwachs und Schmelze des Claridenfirns. Es ist die weltweit längste Messreihe dieser Art. Meter hat sich die Gletscherzunge des Grossen Aletschgletschers zwischen 1870 und 2014 zurückgezogen. SoZ Candrian: Candrian; Quelle: Bundesamt für Landestopografie, Uni Zürich Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 58766941 Ausschnitt Seite: 4/4