Meine Jahre als Vorstand in der Industrie gaben viel Gelegenheit

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Meine Jahre als Vorstand in der Industrie gaben viel Gelegenheit
Meine Jahre als Vorstand in der Industrie gaben viel Gelegenheit zur Beobachtung großer
Schwächen unserer Marktwirtschaft.
Die Vorstandsarbeit für Siemens und Carl Zeiss waren supertolle Aufgaben, aber als ich
danach dann in zehn Aufsichtsräten saß und dabei die Finanzbranche von innen erlebte,
stieg ich aus, um meine Erfahrungen für eine Marktwirtschaft einzusetzen, die Werte auch
über das Gesetz hinaus respektiert. Wie meine Skepsis zum Heute entstand, habe ich der
GAZETTE aufgeschrieben.
die
Gazette
DAS POLITISCHE KULTURMAGAZIN
NUMMER 29 / FRÜHJAHR 2011
Der Niedergang des Amerikanischen Imperiums
D, AU: 9 Euro, CH: 14 Fr
ABBAU EINER MILITÄRMASCHINE
Chalmers Johnson
Die Christliche Rechte
IN GOD WE TRUST
Manfred Brocker
Monsantos Samen-Monopol
DIE WELT IST NICHT GENUG
Ananth Sayanan
Unsichtbares Komitee
DER KOMMENDE AUFSTAND
dazu ein Interview mit Stéphane Hessel und Jean Lacouture
Themen
Neues aus der Wirtschaft
Ein Manager steigt aus
Es ist nicht recht vorstellbar, dass unsere erfolgreichen Manager nicht wissen, was sie tun. Sie sind
zweifellos klug genug, um zu wissen, dass die gegenwärtige Wirtschaftsweise den Planeten nur
gierig ausbeutet und den kommenden Generationen ein menschenwürdiges Leben unmöglich
macht. Es ist auch nicht recht vorstellbar, dass unsere Manager einfach böse sind. Warum tun sie
dann, was sie tun? Hier gibt einer von ihnen, der ganz oben mit dabei war, eine ehrliche Antwort.
Von Peter H. Grassmann
B
Sallicio, Wikimedia
eautify America, get a haircut" (Für
ein schöneres Amerika: Lass dir die Haare
schneiden), so stand es in riesigen Buchstaben
auf einer großen, fensterlosen Hauswand nahe
der Harvard University, dazu das
Bild eines langhaarigen Hippie,
Werbung: So lieben wir
etwas fettleibig, unrasiert, aber
den Times Square.
fröhlich selbstbewusst. War das
die Aktion eines frustrierten Millionärs, dem die immer länger
werdende Haarpracht der opponierenden Jugend zu viel wurde,
oder nur eine Werbung der Friseur-Innung, die mit dem neuen
Haarstil ihre Felle davonschwimmen sah?
Das war 1968. Wenige Monate
war ich nun in USA. Noch unsicher und wie mit Kinderaugen
sah ich eine Welt vor mir, die
hektischer war als die gewohnte,
laut und merkwürdig von sich
selbst überzeugt.
Werbung war hier überall. Jede
Nachrichtensendung war mehrfach davon unterbrochen, genau
wie jede andere Sendung im noch
jungen Fernsehen.
Diese Werbung entsprach den
modernen Lehren der Sozialpsychologie. Anfangs hatte es mich
überrascht, dass es solche Kurse
am Massachusetts Institute of
Technology (MIT) überhaupt
gab, aber bald wurde mir klar,
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warum. Es ging um die neueren Ergebnisse der
Verhaltenspsychologie und ein genaueres Verständnis von Gruppendynamik, die Einordnung des Individuums durch Motivation, das
Erschließen seiner Leistungskraft und seiner
Kreativität. Menschen seien emotional, und
wer erfolgreich sein wolle, müsse Emotionen
für sich nutzen können.
Diese Vorlesungen verfolgte ich mit Begeisterung. Jede Seite des Lehrbuchs versah ich mit
Randbemerkungen. Die Erkenntnisse waren
nicht gut oder schlecht, sie waren einfach wichtig für Führungsaufgaben. Sie lehrten das
Nachdenken über den anderen, über seine Gefühle, seine soziale Einbindung und seine Motivation, sie stärkten Empathie und Menschenkenntnis. Aber sie zeigten auch, wie stark hier
die Emotion im Vordergrund steht, wie sehr sie
gerade im Marktgeschehen zu gebrauchen ist, ja
die Vernunft fast ausschalten kann. Dass damit
Märkte steuerbar werden und die Kundschaft
den kritischen Blick verliert, war offensichtlich.
Emotionale Gruppendynamik ist eben genauso bestimmend wie die reine „Vernunft”. Im
Grunde ging es um das reale Funktionieren der
Marktwirtschaft. Dass die geringe Bedeutung
der Vernunft gegenüber so gesteuerten Emotionen zwangsläufig die Bedeutung von Werten erhöht, liegt auf der Hand. Werte aber
schienen in USA dennoch wenig gefragt zu
sein. Das Land lebte von seinem Überfluss, es
hatte zwei Weltkriege gewonnen, war wirtPeter H. Grassmann ist heute Vorstandsvorsitzender der UmweltAkademie.
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schaftlich stark, innovativ, erfolgreich und
selbstbewusst. Anders als zu Beginn seiner Geschichte ging es hier nur noch um Wachstum,
Konsum und wirtschaftlichen Erfolg, und das
schien Werteorientierung genug.
So mischte sich in die Bewunderung für Innovationskraft und Wirtschaftsstärke der USA
bald eine gehörige Portion Skepsis über dieses
Gesellschaftssystem mit seiner Verherrlichung
von Geschäft und globalem Herrschaftswillen.
Entgegen dem nationalen Anspruch erschien
mir dieses System nicht als überzeugendes
Vorbild und nicht einfach kritiklos nachahmenswert. Trotzdem war mir klar: Die USA
würden bald mein wichtigster Markt werden,
wie für viele andere Exporteure der deutschen
Industrie auch. Ohne Erfolg in den USA kein
Weltgeschäft: Das war und ist stehende Regel.
Wer am MIT studiert hat, trägt in der Hochtechnologie-Branche das Markenzeichen des
Besonderen und hat damit beste Karriere-Voraussetzungen. Und so erhielt ich schon nach
wenigen Jahren die Verantwortung für das
Großgeräte-Geschäft der Siemens-Medizintechnik und damit Berührung mit fast allen
Ländern und Kulturkreisen. Es ging um teure
Anlagen, um Großaufträge. Das öffnete überall
Türen. Kommunalpolitiker, Krankenhausplaner, manchmal Minister und besonders die
Ärzteschaft waren neugierig auf diese neuen,
kostspieligen Apparate und Methoden und
suchten den persönlichen Kontakt. Und überall ergaben sich Gelegenheiten, neben dem
Beruf auch die Besonderheiten des politischen
und des gesellschaftlichen Systems kennenzulernen, in Südamerika genauso wie in der Sowjetunion oder in Japan. Die Flugkilometer
addierten sich auf mehrere Millionen, und die
Kombination von Geschäftsgesprächen und
tieferen Einblicken in die politische Situation
in so vielen Ländern war faszinierend für ein
gesellschaftlich neugieriges Auge.
Vorstand dabei mit den großen Kontakten
selbst zu befassen. Nun, ich zog es vor, nicht
Spanisch zu lernen, dadurch auszuweichen und
mich auch in Lateinamerika auf meine Rolle
als Technischer Vorstand zu konzentrieren und
diese Praktiken anderen zu überlassen.
Aber es waren Probleme, die bedrückend, ja
deprimierend wirkten, denn er hatte recht: Es
wurde überall dramatisch bestochen. Moderne
Medizintechnik ist, wie gesagt, ein Geschäft
mit oft millionenschweren Anlagen. Somit
waren in Südamerika Geschäfte ohne Korruption schlicht unmöglich. Die staatliche Ordnung war nicht stark genug, sie zu verhindern.
Ansätze zu Demokratie und sozialer Ordnung
wurden fast überall zynisch durch den Machterhalt der Eliten unterdrückt und dieser durch
staatliche Ineffizienz und Scheinbürokratie unterstützt. Es war offensichtlich: Exportierbar
waren allein unsere Produkte, aber unser System einer geregelten sozialen Marktwirtschaft
und repräsentativen Demokratie reüssierte dort
nicht. Nur ein starker Staat kann das für eine
gute Marktwirtschaft notwendige Ordnungssystem sichern, ein Staat noch in den Kinderschuhen erfüllt diese Voraussetzungen nicht.
Amigos weltweit
„Sie müssen Spanisch lernen”, hatte mein erster Chef schon kurz nach Amtsantritt gemahnt.
Seine Begründung allerdings erzeugte Skepsis.
Denn es ging um die in dem von ihm aufgebauten Südamerika-Geschäft „unvermeidbare”
Korruption und die Notwendigkeit, sich als
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Diese Fehlentwicklungen junger und schwacher Staaten wurden indes von den klassischen
Industriestaaten wohlwollend gefördert. Die
auf Kapitalflucht spezialisierten Länder, wie die
Schweiz oder Luxemburg, überboten sich beim
Schutz des Bankgeheimnisses. Nummernkonten gehörten zum Routineangebot, und fast
alle Industriestaaten erlaubten die steuerliche
Absetzbarkeit der sogenannten „Nützlichen
Aufwendungen”, und über die Geldflüsse in
die genannten Länder wurde großzügig hinweggesehen.
Besonders nachdenklich machte dabei der
Vergleich mit ganz anderen Ländern. In der
Sowjetunion zum Beispiel war Korruption kein
Thema, mangels eines freien Bankensystems,
mangels frei konvertierbarer Währung und
wohl auch wegen gegenseitiger Bespitzelung.
Kleine Geschenke auf Auslandsreisen, die gab
es schon, aber Korruption im großen Stil nicht.
Während der reale Sozialismus also am Unterbinden von Besitz und der darauf aufbauenden
„Gier” scheiterte, war diese in Lateinamerika
wiederum so ausgeprägt, dass Kapitalexport,
schnelles Geschäft und eben Korruption an
oberster Stelle standen. Kein Wunder, dass
dort linke Untergrund-Organisationen wie die
gefürchteten Montoneros das politische System
bekämpften. Aber weder die sozialistische
Doktrin noch irgendein anderes unserer Gesellschaftssysteme hatte die Kraft einer überzeugenden Ordnung für diese Schwellenländer,
weder der amerikanische „Traum” noch unsere
Demokratie. Marktwirtschaft und Demokratie
hatten fundamentale Systemschwächen, die
nicht aus dem System heraus von selbst ausheilten und gegen die der Einzelne machtlos
war. Auch die japanische Kultur war kein Allheilmittel: Sie setzte zwar auf das alte konfuzianische Verständnis von Gemeinwohl und
Loyalität, aber auch ihre Besonderheiten passten wenig auf junge Schwellenländer und
waren ohne jahrhundertelange Tradition nicht
übertragbar.
Ändern konnte ich das nicht. Das sieht für
einen „Industriekapitän” – wie unser Lateinlehrer Manager respektvoll genannt hatte –
nicht anders aus als für jeden anderen. Persön50
liche Haltung mischt sich dann mit Mitläufertum, man pflegt ein Mitschwimmen im Strom,
der geborgene Gleichmäßigkeit bietet, manchmal mit überraschenden Wirbeln auch zur
Nachdenklichkeit mahnt, ohne dass man deshalb gleich einen Anlass sieht, nach neuen
Ufern zu suchen. Das Mitschwimmen im
Strom ist Existenzgrundlage und legt nicht
nahe, Frau und Familie in ein exotisch anderes
Leben zu zwingen. Die Skepsis angesichts der
Unvollkommenheit unserer Zivilisation war
da, aber nirgends war ein zufriedenstellender
Endzustand zu erkennen, überall überwog soziale Ausgewogenheit bei unausgewogenen
Machtstrukturen; Geld und kurzsichtige Wirtschaftsinteressen bestimmten das Geschehen.
Sollte ich deshalb aber den Lebensoptimismus
aufgeben, „aussteigen”? Das hatte keinerlei
Logik. Andererseits: Fehler akzeptieren zu müssen, gesellschaftlichen Problemen hilflos gegenüberzustehen, passte auch nicht zu meinem
Charakter. Meine Skepsis suchte Ausgleich
und Ventil.
Und so begann ich zu schreiben. Ich begann
mein Wunschbild eines anderen Gesellschaftssystems zu entwickeln. Man baut sich so ein
zweites Innenleben auf, denkt immer wieder
darüber nach, wie die Alternativen aussehen
könnten. Viele Seiten füllten sich. Nur für
mich, für meinen inneren Frieden entstand ein
Gesellschaftsmodell, wie die Marktwirtschaft
besser zu steuern und die Demokratie weiter
zu entwickeln wäre. Für diese Überlegungen
schienen mir die zentralistisch organisierten,
sozialistischen Staaten ein Ausgangspunkt. Die
Unruhe eines Gorbatschow lag in der Luft,
während ich hinsichtlich unserer eigenen Reformfähigkeit äußerst skeptisch war (und noch
heute bin).
Mein Lieblingsthema war: Wie könnte der
reale Sozialismus zu einem besseren System
geführt werden, das unsere Schwächen vermeiden und zugleich die Schwächen des Sozialismus überwinden würde. Hunderte von Seiten
füllte ich im Laufe der Jahre mit langen Kapiteln über einen anderem Umgang mit Kapital,
eine andere Definition des Eigentums, die
Trennung von Kapital und verbrauchbaren
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Dank guter Erfolge galt ich immer als ein
Mann für Hochtechnologie-Geschäftsbereiche.
Und das führte dann zu einer Überraschung.
Der Aufsichtsratsvorsitzende von Siemens bot
mir die Führung von Carl Zeiss an. Dieser renommierte Optikkonzern war durch die Eingliederung eines Teils seiner alten Aktivitäten
in Jena in Schwierigkeiten geraten. Eine Sanierung stand an. Die Rede war von der Notwendigkeit, zweieinhalbtausend Mitarbeiter in Ost
und West zu entlassen. Hart, aber die Aufgabe
reizte mich: komplexe Optiksysteme für die
Halbleiter-Industrie und Biotechnologie, das
berühmte Brillenglasgeschäft, Messtechnik,
Planetarien, ein bunter Strauß technologisch
äußerst interessanter Produktgebiete – und
Carl Zeiss war eine Stiftung. Es gab hier keinen
Aktionär, keinen privaten Eigner, Carl Zeiss
gehörte sich selbst, verpflichtet auf ein Statut
zu sozialer Fairness, zu Anstand im Geschäftsleben. Das versprach neue Erfahrungen, trotz
der Last der Sanierung sagte ich zu.
Bald war mir klar: Das war überhaupt keine
neue Welt, trotz dieser ungewöhnlichen Eigentumsstruktur konnte Carl Zeiss ebenso erfolgreich funktionieren wie jede andere Firma
auch, nur etwas weniger „getrieben”, etwas weniger hektisch. Das Fehlen einer „Kapitalseite”,
also von Aktionären und Investoren, hatte keinen Einfluss auf die Motivation der Mitarbeiter. Das Gegenteil war der Fall: Motivation
und Geschäftswille waren hier insgesamt besser, leidenschaftlicher als anderswo. Sicher, ohne hart fordernde Aktionäre hatte man zu lange
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Mitteln, ein anderes Erbrecht, ein anderes Bankensystem und eine stärkere innere Steuerung
der Wirtschaft. Immer ging es dabei um Möglichkeiten, den Gemeinschaftssinn in den Mittelpunkt zu stellen. Solches Schreiben war mir
oft Ausgleich, wenn ich wieder irgendwelche
Schocks durch Korruptionserfahrungen, sozialistische Dogmatik oder USA-typische Marktentwicklungen zu verdauen hatte.
Gorbatschows übereilte Umstellung auf eine
de facto rein kapitalistische Marktwirtschaft
ohne eine stark ordnende Staatsmacht bereitete
solchen Träumen ein jähes Ende. Aber bald
kam eine andere, eine neue persönliche Herausforderung, zum Grübeln blieb keine Zeit.
Ein Ort der Mitbestimmung
gewartet mit der notwendigen Sanierung, hatte
man den hinhaltenden Widerstand der Betriebsräte nicht überwunden.
Die Betriebsräte? Anfangs sah ich in ihnen
nur den verlängerten Arm der Gewerkschaften.
Auf die war ich nicht gut zu sprechen. Zu sehr
hatten sie nun mehrere Jahrzehnte lang nur die
Rechte der Festangestellten verteidigt ohne
Rücksicht auf die Beschäftigungskraft der Gesamtwirtschaft und hatten damit mehrere Wellen hoher Arbeitslosigkeit ausgelöst. Aber diese
Betriebsräte hier, sagte ich mir, vertraten die
Belegschaft, die fünfzehntausend Mitarbeiter
von Carl Zeiss, und deren Interesse war identisch mit meinem: Das Unternehmen sollte
überleben, mit Opfern zwar, aber auch mit
einer positiven Zukunft. Man musste mit
ihnen doch reden können. Das tat ich, ausführlich. Immer klarer wurde: Zwischen den Interessen der Gewerkschaft – hier der IG Metall
– und denen der Betriebsräte gab es einen wesentlichen Unterschied. Betriebsräte ließen sich
vielleicht instrumentalisieren, aber nur bis zu
einem bestimmten Grad, bis zur Überlebensfrage. Dann wurden sie Unternehmer und
sprachen die gleiche Sprache wie ich: die der
Zukunftssicherung, sprachen nur noch im Interesse der Belegschaft, ohne Ideologien.
So lernte ich den Wert ideologiefreier Mitsprache schätzen. Das war eine neue Erkenntnis, weit über das nur Betriebliche hinaus. Man
muss sich Zeit nehmen und bereit sein, dem
anderen Gesichtspunkt zuzuhören. Das schafft
Akzeptanz – und die besseren Lösungen.
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Die Sanierung von Carl Zeiss war erfolgreich,
ein Nachfolger stand bereit. Ich konnte mich
zurückziehen ohne das Gefühl, einer Aufgabe
ausgewichen zu sein. Nach sechs Amtsjahren
war ich ein freier Mann, gut versorgt mit mehr
als einem „Grundeinkommen”, offen für neue
Pläne, aber auch für die angefragten Aufsichtsund Beiratsmandate. Noch ahnte ich nicht,
dass ich nun einer Welt der Gier, dem Hunger
der Finanzwelt begegnen würde. Es wurde ein
Schock.
Ausscheidende Vorstände sind die Lieblinge
der Investmentbranche. Sie haben Erfahrung,
sind gut vernetzt und respektiert, sie verleihen
das Siegel der Seriosität. Und so hatte ich bald
zehn Aufsichtsratsmandate, drei bei großen
Firmen und sieben bei kleineren, sogenannten
Start-ups. Das sind die, die sich ständig die Geschichte der Microsoft-Aktie erzählen oder
auch die von eBay, Amazon oder Google. Die
Vertausendfachung der Anfangsinvestition in
einem Jahrzehnt.
Schon der erste Einsatz eigenen Geldes
machte mich zum Papiermillionär – allerdings
mit Verkaufsverbot für zwei Jahre. Die Hauptinvestoren konnten sich einen zweistelligen
Millionengewinn ausrechnen. Aber es kam anders. Der Aktienwert verfiel, zu sehr hatte man
beim ersten Börsengang geprahlt. Das Geschäft
entwickelte sich gut, aber übertriebene Erwartungen konnte man naturgemäß nicht erfüllen.
Immerhin, viel Geld aus dem Börsengang war
in der Firmenkasse, die Mittel zu einem sauberen Geschäftsaufbau waren da. Aber die Hauptinvestoren hatten es eilig, wollten an das Geld.
Sie warfen uns externe Aufsichtsräte raus und
setzten ihre eigenen Leute ein. Bald fehlten der
Firma acht Millionen, herausgezogen über falsche Titel und Verschiebung über mehrere
Konten. Später war ich froh, wenigstens in etwa
meinen Einsatz gerettet zu haben. Einige der
Strohmänner wurden verurteilt, aber die eigentlichen Drahtzieher blieben ungeschoren.
Hinter all diesen Firmen standen gute, ausbaufähige Geschäftsideen. Es galt nur, den
immer schwierigen Weg zwischen positivem
Erwerbsstreben und schnell zugreifender Gier
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sauber zu gehen. In allen sieben Fällen haben
da die Investoren versagt, es wurde getrickst,
falsch gespielt und betrogen. Es zählte nur das
eine: Wie kommt man schnell an die Börse
und, sobald dort gelistet, wie manipuliert man
Kurse so, dass daraus rasche Megagewinne werden, ohne Rücksicht auf das Später. Weder die
Finanzaufsicht noch die Gerichte kamen mit
der Situation zurecht. Ich dankte ab und zog
mich aus allen Aufsichtsratsmandaten zurück.
In jenem Sommer sah ich Al Gores Film Eine
unbequeme Wahrheit, in europäischer Uraufführung auf dem Piazza Grande in Locarno,
gesponsert vom schweizerischen Wetterdienst.
Ein herrlicher Abend unter freiem Himmel, eigentlich romantischste Stimmung. Dennoch,
ich war tief betroffen. Hier war sie wieder, die
Trägheit einer ganzen Generation in einer unheiligen Allianz mit den Mächtigen der Wirtschaft, die sich von Öl und Gas als billigen
Energiequellen nicht trennen wollten. Energie
gab es genug, Sonne, Wind, geologische
Wärme, da sind weder Öl noch Gas notwendig. Und als Ingenieur ist man erzogen, Risiken
vorzubeugen. Es ist nicht so entscheidend, wie
der Klimawandel genau aussieht. Das physikalisch belegbare Risiko genügt als Handlungsanleitung. Die Bevölkerungsexplosion wird
von unserer Zivilisation nicht beherrscht; gefordert sind Nachhaltigkeit und der Respekt
vor Ressourcen, ohne die eine Katastrophe programmiert ist.
Wenn der Mensch ein Inferno auslöst, hilft
nur noch Glück. Das war mir wohl hold, als
ich die Bombenangriffe auf Dresden überlebte.
Noch heute habe ich das Brummen des Bombers im Ohr, dessen Bombe im Nachbarhaus
einschlug. Kurz danach flohen wir vor den anrückenden Sowjets auf den großväterlichen
Landsitz südlich von München, in die amerikanische Zone. Das bedeutete Freiheit, wenn
auch alles Hab und Gut zurückblieb. Das
glückliche Ende einer Periode, die eine ganze
Generation in Schuld brachte.
Den Blick für Generationenverantwortung
hat diese Katastrophe offensichtlich nicht geöffnet. Sonst könnte das dramatische Risiko
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der Klimaveränderung nicht seit Jahren so
heuchlerisch behandelt werden.
Energieangebote sind eine Markt- und Technologiefrage, keine unabänderlichen Gegebenheiten. Es braucht eigentlich nur „vernünftige”
Märkte. Da aber Märkte unvernünftig sind,
kann man ihnen allein die Lösung nicht überlassen. Zusätzlicher Ordnungswille ist erforderlich, aber der staatliche Ordnungsrahmen allein
wird die Lösung nicht bringen. Es wird wieder
notwendig, dass die Unternehmen selbst sich
stärker um Werte, um gesellschaftliche Problembereiche kümmern. Das gilt für einen rascheren Ausstieg aus der CO2-Falle genauso wie
für andere Probleme. Der Bürger erwartet, dass
sich die Wirtschaft selbst um Generationengerechtigkeit kümmert, um Ressourcengleichgewichte, die Erhaltung des Globus, Fairness und
Ehrlichkeit und um das Vererben eines gesellschaftlichen Systems, das der Jugend Optimismus und Zukunft gibt. Es braucht die Bereitschaft der Wirtschaft zu einem eigenen, von
innen heraus gestützten Ordnungsrahmen.
Dieser Traum treibt mich, meine jahrelangen
Erfahrungen einzusetzen für etwas, das der Gesetzgeber nicht bieten kann: die Fähigkeit der
Wirtschaft, werteorientiert zu kooperieren und
Fehlentwicklungen zu unterdrücken auch ohne
staatliche Intervention. Eine neue Form einer
werteregulierten Marktwirtschaft mit mehr
Mitsprache der Zivilgesellschaft und einem anderen Modell der Bürgerbeteiligung auch in
politischen Entscheidungen. Eine Wirtschaft,
in der Ehrbarkeit wieder zählt. Ich bin überzeugt, es ist ein wichtiger, ein richtiger Teil der
Antwort. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen.
Hätte ich früher aussteigen, mich früher engagieren sollen? Ein Ausstieg in den erfolgreichen Berufsjahren war wohl nicht die Antwort.
Mein Ruf wäre verhallt. Aber ein sofortiger
Umstieg und ein Selbstbekenntnis nach der
Beendigung des Vorstandsvorsitzes bei Carl
Zeiss hätte das Interesse der Medien ideal mobilisiert, heute eine der Voraussetzungen, um
gehört zu werden. Stattdessen erlag ich den
Verlockungen der vielen Aufsichtsratsmandate
(ein harmloses Vergeuden der neuen Freiheit),
statt den Kampf für die Weiterentwicklung unserer maroden Marktwirtschaft aufzunehmen.
Aber die Aufgabe blieb. Es nagt an mir, auf
die geschilderte Weise fast ein Jahrzehnt verloren zu haben. Ein Jahrzehnt, in dem eine Gesellschaft versagte, ein Jahrzehnt, in dem der
Druck zum Wandel zu gering war. Freiheit
kann wie ein Rausch sein, sie kann süchtig machen. Deshalb hat man Gesetze und Wertenormen erfunden – um die Freiheit im
wahrsten Sinne des Wortes wertvoll, lebenswert zu machen.
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„Die Trägheit einer Generation in einer unheiligen Allianz mit den Mächtigen der Wirtschaft”
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