Der Mann, der die geheimen Melodien hört
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Der Mann, der die geheimen Melodien hört
Siegmund Ehrmann, MdB Berlin/Güstrow, 25. Mai 2014 „Der Mann, der die geheimen Melodien hört“ Ernst Barlach und die Musik“ Rede als Schirmherr der Ausstellung in Güstrow am 25. Mai 2014, 11.30 h Sehr geehrte Damen und Herren, Wie habe ich mich auf diesen Tag und darauf gefreut, endlich einmal das Werk Ernst Barlachs in dieser Vielfalt im Original zu sehen! Zwar kenne ich – nahe meiner Heimat am Niederrhein – den beeindruckenden »Schwebenden« und den »Lehrenden Christus« in der Antoniterkirche in Köln. So nahe wie heute war ich Ernst Barlach allerdings noch nie … Adolf Muschg – jener große Schweizer Schriftsteller, der am Anfang seines Wirkens eine Dissertation über den »Dichter Barlach« verfasst hat, schrieb in einem Essay, dass Kunst dorthin führen müsse, wo »nicht nur gut geredet und besonnen gehandelt, sondern auch schön gelebt wird«. Schön leben wollen – das war in aller Eigenwilligkeit jedenfalls auch Ernst Barlachs Credo, wie er es 1903 in der Kurzprosa »So ist es« für sich als eigenes Lebensmotto formuliert hat. Er suche nach »Weiligkeit, Sammlung, Freude, Wahrheit und Vollendung.« Schon zu Lebzeiten Barlachs wurde deutlich, dass er damit keineswegs meinte, Kunst müsse (nur) schön oder gar gefällig sein – im Gegenteil. Der von den Nationalsozialisten später als entartet verfemte Künstler widmete sich nach seiner Russlandreise 1906 in seinen Werken immer wieder den Schwachen, den Ausgestoßenen, den Hungernden, den Bettelnden, den Blinden und Frierenden. Er war ein sozialkritischer Künstler, der wie Käthe Kollwitz und viele andere seiner Zeit gegen das akademische Verständnis einer möglichst unpolitischen, konfliktfreien Kunst rebellierten und nach einem Menschenbild suchten, dass die Wirklichkeit des von Kriegen und Hungersnöten bestimmten Jahrhundertbeginns widerspiegelte. Aber er gab seinen Figuren in einer unvergleichlichen Formensprache Ruhe und Würde, die nahe am Ideal von Wahrheit und Vollendung und damit an einer Schönheit ist, die am ehesten als Menschlichkeit und Menschenliebe bezeichnet werden kann. Auf der Suche nach den Formen, die dies auszudrücken vermögen, half ihm die Musik – zunächst in der Wahrnehmung als etwas, das zu sinnlichen Hochgefühlen (mit Johann Sebastian Bach etwa oder mit Franz Schubert) und »zu absoluter Freiheit« führte – und die dann schließlich direkte Inspiration und Gegenüber für die eigene Kunst wurde. Diese besondere Symbiose zweier Künste führt uns heute hier zusammen. Wir lauschen in den Hausherren des Güstrower Heidbergs und damit in jenen Mann hinein, „der die geheimen Melodien hört“. Und wir sehen auf die in klingender Resonanz entstandenen Werke seiner Hand – auf die Zeichnungen und graphischen Werke ebenso wie auf die Plastiken, deren viel bewunderte und -beschriebene Stille eben nicht leer, sondern voller Klänge zu sein scheint. Die Ergriffenheit des Selber-Musizierens wie bei dem »Singenden Mann« oder die beseelte Hingabe wie die des »Träumers« berührt uns alle gleichermaßen. Alle diese Figuren sind für den Moment Abbild eines schönen Lebens in »Weiligkeit, Sammlung, Freude, Wahrheit und Vollendung«. Sie sind eine Brücke zwischen dem Künstler und der Welt. Zwischen dem Künstler und uns. Und sie geben uns ein Abbild der Welt, wie sie sein könnte. Ein Abbild der Welt, das in den schmerzlichen und schönen Erinnerungen dieses Jahres zwischen dem Gedenken an den Ausbruch der Weltkriege und der Freude über die Friedliche Revolution zu einem doppelten Symbol der Versöhnung zwischen den Menschen und den Völkern wird. Man möchte es auf den Majdan nach Kiew stellen, nach Donezk, nach Charkiw und überall dorthin, wo über- statt miteinander geredet wird und Versöhnungswille als Zeichen von Schwäche geächtet wird. In Der bereits eingangs zitierte Ernst Barlach-Verehrer Adolf Muschg konstatierte einmal: »Jedes große Kunstwerk ist gebrochenes Schweigen, das seine Erinnerung bewahrt.« Dass Kunst und Kultur als in konkreten Werken verdichtete Welterfahrung und als komprimierter Ausdruck von menschlichem Empfinden die Fähigkeit besitzen, dem Alltäglichen etwas hinzuzugeben, was man als „intensiviertes Erleben“, als Herausforderung an den Geist, das Gefühl und die Sinne beschreiben könnte, gehört zu den handlungsleitenden Grundeinsichten eines jeden Kulturpolitikers. Immer wieder gilt es zu betonen, dass Kunst und Kultur in unserer Gesellschaft nicht Selbstzweck, sondern wichtiger Bestandteil einer pluralen, einer toleranten und sozial verantwortlichen Gemeinschaft sind, weil sie Intensität und Empathie befördern, aus denen Engagement und Teilhabe erwachsen können. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hier und heute endlich einmal Ernst Barlach aus der Nähe begegnen zu können, verbindet sich mit der Freude über diese besondere Ausstellung und über dieses zur vielfältigen Nachahmung empfohlene Konzept des Dialogs der Künste: Vielgestaltigkeit und Vielsprachigkeit sind Voraussetzung für Verständigung – und Verständigung ist die wichtigste Voraussetzung für die Aushandlung unterschiedlicher Interessen. In einer Welt wie der unseren, die an immer mehr Stellen in Konfliktfelder und Krisenherde zu zerfallen droht, kann das nicht hoch genug geschätzt werden. Dies in Güstrow anlässlich einer Ausstellung zum Werk Ernst Barlachs zu sagen, ist für mich allerdings von besonderer Bedeutung: In diesem Jahr gedenken wir – neben vielen anderen großen historischen Ereignissen – dem 25jährigen Jahrestag des Mauerfalls. Ich erinnere deswegen besonders gern daran, dass Helmut Schmidt seinen einzigen offiziellen Besuch in der DDR 1981 in Güstrow abhalten wollte: Schmidt war und ist großer Kunstliebhaber (bekanntermaßen sowohl der bildenden Kunst als auch der Musik) – sein Wunsch, Barlachs Werke im Original zu sehen, ist also nur zu verständlich. Auf der symbolischen Ebene allerdings geschah etwas ganz anderes: Er nutzte Güstrow quasi als Resonanzboden für eine zu dieser Zeit des Kalten Krieges politisch nicht aussprechbare Botschaft: Der kulturellen Einheit der beiden deutschen Staaten, die beide aus dem gleichen historischen Grund hervorgegangen waren. Eine der ersten kulturpolitischen Aktivitäten nach der Wiedervereinigung Deutschland war die Erstellung des so genannten Blaubuchs: einem Verzeichnis der kulturellen Gedächtnisorte von nationaler Bedeutung. Die Ernst-Barlach-Stiftung gehört mit ihren Museen von Anfang an dazu. Dass ich Schirmherr dieser Ausstellung sein darf, ist für mich ebenso Verpflichtung, Ihr Wirken hier in Güstrow wie das aller »kulturellen Gedächtnisorte von nationaler Bedeutung« immer wieder in den Blickpunkt zu rücken, damit Sie Ihren Aufgaben der Sensibilisierung für die Kultur und ihre Bewahrung nach Kräften leisten können. Als Vorsitzender des Ausschusses für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag, dessen Aufgabe es ist, das Wirken kultureller Institutionen nicht nur zu fördern, sondern die besten Voraussetzungen zu schaffen, dass Kunst und Kultur als Ausdruck und Gestaltungsbereich des Lebens ihren selbstverständlichen Raum in unserer Gesellschaft haben, danke ich der Ernst Barlach Stiftung Güstrow und dem einmal mehr ideenreichen und nimmermüde tätigen Kulturbüro des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und hier vor allem Martin Bresgott für diese Ausstellung. Sie schließt uns nicht nur die Vielseitigkeit des Künstlers Ernst Barlach auf, sie lässt uns auch an der Ganzheitlichkeit des Menschen überhaupt teilhaben. Einer Ganzheitlichkeit, die sich nicht auf ein Entweder-Oder reduziert, sondern in der Mannigfaltigkeit der Begabungen und Ausdrucksweisen ihr Verhältnis zur Welt insgesamt offenbart. Dieses Erlebnis wünsche ich Ihnen und allen Besuchern dieser Ausstellung. Siegmund Ehrmann, MdB Vorsitzender des Ausschusses für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag Schirmherr der Ausstellung