Der rettende Engel hieß August Gaul
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Der rettende Engel hieß August Gaul
Der rettende Engel hieß August Gaul - Ernst Barlach und das Lockstedter Lager 1) Helmut Schmidt: "Für mich ist Barlach eine der ganz großen bewegenden Kräfte der bildenden Kunst dieses Jahrhunderts, der größte Bildhauer, den die Deutschen im 20. Jahrhundert hervorgebracht haben. Seine Kunst ist Ausdruck des Kampfes gegen Armut, Sünde, Übel, Angst, für die Erde und des Ringens mit Gott. In meiner Amtszeit in Bonn habe ich ausländische Besucher immer auf Barlachs Werk aufmerksam gemacht, eine deutsche Sonderleistung in der europäischen Kunst und Beispiel für das Drama der staatlichen Kulturvernichtung in Nazideutschland. Ich habe 1937, als junger Mann durch Barlachs Werk begriffen, dass die Nazis verrückt sind. Mir wurde klar, wer ihn als entartet bezeichnet, ist selber entartet. 2) Zur Zeit von Barlachs Armee-Erfahrungen tobt der I. Weltkrieg schon 1 ¼ Jahre: Die deutsche West-Offensive ist, nach Anfangserfolgen, in Frankreich zum Grabenkrieg erstarrt (was man mit Giftgas-Angriffen zu ändern versucht). Im Osten sind die in Ostpreußen eingefallenen russischen Armeen schon im August 1914 unter dem Oberbefehl von Generalfeldmarschall von Hindenburg bei Tanneberg geschlagen worden, inzwischen stehen Warschau und BrestLitowsk unter deutscher Militärverwaltung. In Afrika kämpfen Kolonialtruppen; Italien hat im Mai 1915 den "Dreibund" mit Deutschland und Österreich-Ungarn aufgekündigt und bekämpft seinen ehemaligen Verbündeten seitdem mit "Alpenkrieg" und Seegefechten auf dem Mittelmeer. Noch sind die USA nicht in den Krieg eingetreten. Die großen Vernichtungsschlacht um Verdun hat noch nicht begonnen, als sie im Februar 1916 losbricht, ist der Landsturmmann Ernst Barlach schon wieder auf unbestimmte Zeit vom Wehrdienst freigestellt. 3) Eigentlich nur ein Intermezzo in einem Intermezzo, eine Denkwürdigkeit aber doch – auch der Bildhauer Ernst Barlach wurde Ende Januar 1916 eine Woche lang zwischen den Baracken und Schießanlagen des Lockstedter Lagers gedrillt. Geprägt waren seine Tage im nachmaligen Hohenlockstedt von seltsamer Zwiespältigkeit: Versetzt in ein anonymes Massenschicksal, schwankend zwischen Erfahrungshunger und Pflichtbewusstsein, spielte sich sein Aufenthalt dort letztlich doch vor der einer Hintergrundkulisse einflussreicher Freunde ab, die – ohne sein Zutun – gleichzeitig auf höchster Ebene seine Ausmusterung betrieben. Um das als Ganzes zu verstehen, muss man etwas weiter ausholen: Der Gestellungsbefehl zum Infanterie-Regiment 85 hatte den 46jährigen nicht nur von der Arbeit in seinem Pferdestall-Atelier in Güstrow, sondern auch aus der ersten – seit ein paar Jahren – sicheren Existenz seines Lebens gerissen. Jahrzehntelang war der Sohn eines aus Herzhorn stammenden Landarztes vordem seiner Berufung nachgelaufen: Aufgewachsen in Wedel, Schönberg und Ratzeburg, machte ihn die Praxis des Vaters früh mit Tod und Leiden bekannt. Als der Vater mit 45 Jahren einer Lungenentzündung erlag, war die Zeit der Schmöker und Indianerspiele vorbei – Witwe Barlach hinterblieb mit insgesamt vier Söhnen, die sie in den folgenden Jahren mühsam durchbrachte. Ernst hatte allerlei gestalterische Neigungen entwickelt. Um sie für den Broterwerb nutzbar zu machen, schickte Mutter Barlach ihren Ältesten also auf die Hamburger Gewerbeschule. Unter Anleitung seines älteren Studienkollegen Garbers entwickelte sich Musensohn Ernst in Hamburg aber vorerst zum MöchtegernBohemien, der nächtens ausgreifende Dichtungsfragmente auf´s Papier warf, tagsüber in Antikensälen Figuren gipste und zwei Mal pro Woche einen Eilbeker Vorstadtsaal zum Akt-Zeichnen besuchte. Während der übrigen Zeit setzte er in der „Elbschlucht“ und anderen Bierkneipen „Künstlerleben in unsicherer Nachahmung unklarer Vorbilder ins Werk“. Mit Garbers ging er 1891 auch an die Dresdener Akademie und 1896 für ein Jahr nach Paris, wo er schnitzte, einen „Geisterroman“ anfing, sich zum Glück aber auch viele Tage in Louvre-Besuchen verlor. Zurück in Hamburg, war das väterliche Erbe aufgebraucht, Garbers beschaffte jedoch stattliche Bildhauer-Aufträge: so klatschten sie u. a. eine 7 Meter hohe Figur (Neptun in einer von Pferden gezogenen Muschel) ans neue HAPAG-Gebäude an der Alster. Künstlerisch unfertiges Stückwerk, wie noch die nächsten Stationen: Ein Ladenatelier in der Kuhstraße in Wedel ( Haupteinkommensquelle: Grabsteine) und eine 1904 / 05 von Design-Gründervater Peter Behrens vermittelte Lehrerstelle an der Keramikschule Höhr im Westerwald. Erst eine Reise nach Charkow in der Ukraine 1906 (Bruder Hans betrieb dort ein Maschinen- und Heizungsbau-Unternehmen) geriet zum Erweckungserlebnis: Bei den Bauernmärkten, Landstreichern und Elendsgestalten des dortigen Straßenlebens erblickte er endlich die Inbilder vom Menschen als „armer Vetter Gottes“, die ihm vage immer vorgeschwebt hatten – drastisch-plastisch setzt er sie fortan zu Verkörperungen niederdeutsch-protestantischer Erdhaftigkeit um. Zwei Bettlerfiguren, 1907 in der Berliner „Secession“ ausgestellt, bewirkten den zweiten Umschwung: Bildhauer-Kollege August Gaul, zusammen mit dem millionenschweren Kunstsammler, -Händler und Verleger Paul Cassirer und dessen Gattin (und Salonlady) Schauspielerin Tilla Durieux einflussreichstes Trio im Berliner Avantgarde-Kunstbetrieb, wurden auf ihn aufmerksam. „Paulchen & Gaulchen“ hatten schon diverse Karrieren angestoßen, Cassirers Firma betreute namhafte Künstler exklusiv. Im Hause Gauls lernte man sich kennen, noch ein halbes Jahr Drängen brauchte es aber, bis sich Barlach wegen privater Kalamitäten zu einem Vorkaufsrechts-Abkommen bereitfand: Während seines Charkow-Aufenthalts 1906 war in Berlin sein Sohn Klaus geboren worden, Spross einer kurzen Liaison. Nach zwei Jahren Gerichtsstreit hatte man ihm nun die Vormundschaft zuerkannt. (Die Pflege übernahm Barlachs Mutter, sobald sie aus den USA zurückgekehrt war – per Segelschiff vom nördlichsten Ende der amerikanischen Westküste herunter um Kap Horn – in Texas und bei Seattle hatte sie sich zuvor bei misslungen Farm-Experimenten ihrer beiden Jüngsten mit durchgehungert.) Mit Cassirers Vorschüssen brachte er nun beide Angehörige in Güstrow unter – eher zufällig, Bruder Nikolaus hatte dort ein Durchgangs-Quartier – und pendelte noch für einige Zeit zwischen Güstrow und seinem Berlin-Friedenauer Atelier. Nach einem Aufenthalt in der Villa Romana in Florenz 1909 siedelte er sich dann fest in Güstrow an. Begünstigt durch die Abgeschiedenheit, von Cassirer verrentet und zur Produktivität angetrieben, hatte er sich seitdem als Bildhauer, Graphiker, Schriftsteller, gelegentlich auch Zeitschriften-Illustrator für „Jugend“ und „Simplicissimus“ stetig einen Namen gemacht. Nichts weniger als seine Existenz stand also im Herbst 1915 auf dem Spiel, als ihn der Kaiser zu den Fahnen rief. Zeittypisch-patriotisch wollte er sich dem auch gar nicht entziehen, hatte sich schon vorher zur Krankenpflege gemeldet, war zu seinem Verdruss aber nur für die Verpflegungsstelle für durchfahrende Soldaten am Güstrower Bahnhof und als Hausarbeits-Aufsicht in Schulen beansprucht worden. Dem Wunsch, endlich die Landsturmflinte in die Hand zu kriegen, war sein Hausstand natürlich im Weg: Was zuhause werden soll, ist mir schleierhaft, heißt es in einem Brief an August Gaul, da meine Mutter fast hinfällig ist. Seine eigene schwache Konstitution zählte für ihn dagegen nicht: Meine Defekte aufzuzählen mit der Absicht, zurückgeschickt zu werden, wäre ich wohl nur unter ganz besonderen Umständen fähig. Da sagt man aus Ekel, als Drückeberger angesehen zu werden, lieber zu wenig als genug. Tatsächlich war diese Einstellung damals allgemein: Vom Hurra-Patriotismus bei Kriegsausbruch war zwar nichts mehr übrig, aber aus irgendwelchen Gründen nicht eingezogen zu sein, belastete fast jeden davon betroffenen Mann angesichts der Kriegsopfer beträchtlich. Weiter dachte nur Förderer Gaul, der Mitte 1915 allein vom Berliner Trio übrig geblieben war: Paul Cassirer, kurzfristig ebenfalls eingezogen, hatte als Landsturmmann in Rathenow bei Berlin eine so schwere Psychose befallen, dass Gattin Tilla ihn ( und sich ) nach dem Sanatoriums-Aufenthalt kurzerhand in den nächsten Zug in die Schweiz verfrachtete. Um Barlach der Kunst zu erhalten, ihm dies aber auch moralisch schmackhaft zu machen, verfiel Gaul auf einen gewitzten Dreh: Mit seinen Verbindungen zu obersten Stellen bracht er ihn ins Gespräch, einen „eisernen Hindenburg“ zu fabrizieren (eine damalige Attraktion für Kriegsspenden: hölzerne Nationalsymbole wie in Itzehoe der Kaiser Karl , in die man gegen Entgelt Eisen- oder auch Goldnägel schlagen konnte.) Falls der alte Generalfeldmarschall ihm im Hauptquartier Modell säße, wäre er dem Kriegsdienst ohne falsches Gewissen für geraume Zeit entzogen gewesen. Barlach reagierte entsprechend aufgeschlossen: Lieber Gaul, ich bin freudig einverstanden, einen eisernen Hindenburg zu versuchen. Ob es mir gelingt und ob ich die Zeit behalte, ist eine zweite Frage, denn ich bin kürzlich zum Landsturm II als Infanterist ausgehoben und warte auf weiteres. Die Frage, ob dieses Unikum zustande käme (Hindenburg-Skizzen sind erhalten) zieht sich bis Ende 1915 durch Barlachs Briefwechsel, schob die Dienstpflicht aber nicht auf. Für den 8. Dezember beorderte ihn der berüchtigte „rote Zettel“ nach Sonderburg – damals noch Nordschleswiger Außenzipfel des deutschen Kaiserreichs. Während seine Mutter in Güstrow mit Ischias, sein Söhnchen mit Scharlach darnieder lag, flitzte er nun im eisigen Ostseewind über Sandplätze, klopfte Griffe auf russischen Beutekarabinern und übte sich kurz vor dem Fest auch im militärischen Weihnachtslieder-Singen. Barlach: Ein „Lehrer“ wurde vom Feldwebel kommandiert, den Text vorzubeten, dann schwenkte er den Arm und dann brach die tausendstimmige „Stille Nacht“ heran. Bei all dem hoffte er weiterhin auf positiven Hindenburg-Bescheid. Eingemietet war er privat bei einer Familie Iversen, die – dänisch gesinnt – ihm von ihrem Weihnachtsklöben kaum etwas abgab, ihm aber immerhin jeden Abend ein warmes Federbett bereithielt. Ein reichhaltiges Fresspaket aus Güstrow half über die Feiertage hinweg. Vor Sylvester wurde es dann dienstlich ernst: Heute haben wir nach drei Wochen Ausbildung zum ersten Mal scharf geschossen erfuhr August Gaul und zugleich habe ich eine Vorübung für Flandern mit den Stiefeln voll Wasser gemacht. Generell hatten seine Herren Feldwebel, die uns alten Leute, alle über 40, wie die Lausbuben traktieren, natürlich keinen Schimmer davon, dass sie einen der bedeutendsten deutschen Bildhauer das 20. Jahrhunderts vor sich hatten und behandelten ihn wie alle anderen als „Bande, Blase, als überführter Tunichtgut“, oder „Gesellschaft, die man sich schämen muss zu kommandieren“. Prompt verstauchte er sich im Exerzierplatz-Schlamm den Fuß. Am nächsten Tag trat er mit an, weil es zum Schießen gehen sollte, aber wir mussten mit Gewehr über Schützengräben, die voll Wasser standen, springen, was mein Fuß nicht erlaubte. Ich kam also ins Wasser statt aufs Jenseits und hatte die Schaftstiefel bis oben voll. Half mir aber alles nichts, ich musste mit zum Schießplatz, musste schießen und den anderen Dienst mitmachen und durfte mich erst dann nach Hause trollen. Es scheint aber auch nicht geschadet zu haben. Die Leute wissen wohl, was man den Menschen zutrauen darf. Ich kann also wohl sagen, dass ich Soldat mit einer gewissen Freudigkeit bin, wenn auch vieles anders ist, als man dachte. Auf der höheren Ebene der Barlach´schen Wehrertüchtigung war hingegen eine Kunstpause eingetreten. Wie er Gauls letztem Brief entnehmen musste, war es dessen Mittelsmann im Hauptquartier nicht gelungen, ihn bei Hindenburg als Portraitplastiker durchzusetzen, der wollte „jemanden, der schon Studien im Hauptquartier gemacht“ habe. Hindenburg selbst hat mein Soldatentum besiegelt notierte Barlach zu Neujahr 1916 in einer Mischung aus Stolz und Selbstironie (im Nachhinein ein Glücksfall: Ein von ihm verantworteter 13 m hoher Schlachtenlenker-Koloß, wie er dann vor der Siegessäule in Berlin errichtet wurde, wäre der künstlerischen Gesamtaussage später arg in die Quere gekommen). Die Einberufung fasste er jetzt endgültig als ethische Bewährungsprobe auf. So lange ich erwarten durfte, dass das Rote Kreuz meine Beurlaubung beantragen würde, hatte ich Hoffnung, aber jetzt fühle ich mich mit den tausend Rekruten an ein Schicksal geschmiedet, und wenn´s auch bitterböse Momente gibt, so werde ich mich sicher einmal freuen, wenn ich´s durchgesetzt habe. Wie man sich schämt über das, was man so geredet und gezeichnet. Und wie man zu würdigen lernt, was da draußen an Leiden geleistet wird. Denn darin sind sich alle einig. Das Dulden und Leiden ist das Größte. Das bisschen Sterben wird kaum mehr berücksichtigt. In acht bis zehn Wochen sind wir hier fertig, dann geht´s hinaus. Über Silvester saß er an Briefen, u.a. einer Postkarte nach Itzehoe (Vetter Karl, Rechtsanwalt in Neumünster war als Vizewachtmeister zum Artillerieregiment 9 eingezogen und wohnte nun am Holzkamp 2 im Hotel). Seine düsterfaszinierten Schilderungen von Gewaltmärschen („Ziemlich viele Leute bleiben liegen – und so ein Mensch der krampfhaft nach Luft schnappt und den Mund entsetzlich weit aufreißt sieht schauerlich aus“) ließen August Gaul weiter keine Ruhe. Die Aussicht, dass der hochbegabte Plastiker demnächst zerfetzt in einem französischen Granattrichter verbluten könnte, ließ ihn den direkten Dienstweg einzuschlagen - eine Eingabe an die Militärbehörden. Der Entwurf des Antrags hat sich im Nachlass erhalten. Nach der Überzeugung seiner unterzeichneten Berufsgenossen, heißt es darin, die auch von den berufensten Kunstkennern und Kunstfreunden unserer Zeit geteilt wird, ist die künstlerische und damit kulturelle Bedeutung Barlachs nicht nur für unsere Zeit, sondern kunstgeschichtlich und für alle Zeiten eine geradezu überragende, sind seine tiefempfundenen, eindrucksvollsten, im allerbesten Sinne „deutschen“ Werke den wertvollsten und höchsten an die Seite zu stellen. Da ferner Barlach bereits 46 Jahre alt und von zarter Gesundheit ist, würde seine militärische Leistung zu dem unersetzbaren Schaden, der den wertvollsten kulturellen Besitzstand durch Barlachs Verlust träfe, in allzu großem Missverhältnis stehen. Wir bitten deshalb, eine Verwendung des Barlach zu einer Tätigkeit, die sein Leben und seine Gesundheit nicht gefährdet, tunlichst ermöglichen zu wollen. Unterschrieben von sämtliche greifbaren Berliner Kunst-Größen, u.a. den Malern Slevogt und Liebermann, zirkulierte der Revers in der nächste Woche bei den oberen Dienststellen. Barlach erhielt die Nachricht darüber am 20. Januar, Bewegung war in die Sache schon gekommen: Lieber Gaul, ich habe wegen der bevorstehenden Fahrt ins Lockstedter Lager zum Schießen alle militärischen Kleinigkeiten im Kopfe und in den Händen ich kann ihnen gerade noch einen militärischen Gruß schicken, damit sie doch wissen, dass ich ihre Botschaft bekommen habe. Ihr Schritt hängt offenbar zusammen mit der Aufforderung, einen Lebenslauf einzureichen, die ich am selben Montag auf ihrem Brief bekam. Die Woche im Lockstedter Lager, auf den Schießständen bei Bücken und im Schierenwald, mit Graben-Gefechtsübungen und Gepäckmärschen auf der damals noch unkultivierten Heide ließ ihm wenig Ruhe. Insgesamt hielten sich im Lager ungefähr 18.000 Mann auf (115.000 Mann durchliefen in diesem Krieg pro Jahr die holsteinische „Soldatenfabrik“). Nur an Kaisers Geburtstag am 27. Januar war etwas Luft: Aus Itzehoe kam sein Vetter, er schrieb auch eine Karte nach Hause: >Kaisers Geburtstag, Lockstedter Lager, 27.1.1916 Liebe Mutter, Seit Montag wohnen wir hier in Baracken, schlafen auf dem Strohsack, 33 Mann in einer Stube, mir gefällt es sehr gut, der Dienst ist nicht schwer, nur das Wetter ist schlecht, die Straßen im Lager sind Sumpf. Abends stehe ich im Dunkeln im Schlamm bei der Pumpe und putze die Zähne, oder wasche die Stiefel, wenn ich dann zurück bin sind sie wieder voll Schmutz, es ist ein bisschen Dostojewski hier, wenn man den Blick dafür hat. Sonnabend geht´s wieder heim. Grüß Klaus Euer Vater und Sohn Ende Januar wieder in Sonderburg, schilderte er Gaul seine einzige Woche echtes Soldatenleben: Lieber Gaul, zurück vom Lockstedter Lager finde ich Ihren Brief. Nach einer Woche „Barackenleben“: Schlafen auf dem Strohsack, Zusammensein mit 33 Kameraden, sind ein warmes Zimmer und Stille rundherum eines Sonntagnachmittags wunderbare Annehmlichkeiten. Doch hat es mir in Lockstedt gefallen, wir wären alle viel lieber dort geblieben, als hierher zurückzukehren, ( ... ) Unser Hauptmann (Depotführer, d.h. Leiter des Rekrutendepots, aus dem wir demnächst heraus in die Kompanie kommen) ist Hagemann. Er hat uns heute zum zweiten Mal auftragsgemäß zu verstehen gegeben, vielmehr mitgeteilt, dass, wer bei einem feindlichen Gasangriff weicht, sofort erschossen wird. (...) Ich hätte nie geglaubt, dass man in der unausgesetzten, Tag und Nacht durch, Gesellschaft von zusammengewürfelten Leuten so einsam sein kann. Ich meine im guten Sinne, ungestört, unbelästigt. Ich habe mich diese Woche hindurch sehr glücklich gefühlt, gewissermaßen. Die Kameradschaft ist eine schnurrige Sache. Man putzt, schmiert, näht, redet dazwischen oder nicht, ganz ohne Rechenschaft zu schulden über Höflichkeit oder ihr Gegenteil, es gibt keinen Zwang außer dem zum allgemeinen Besten. Wer klug ist, teilt mit andern, nicht weil er dafür geliebt wird, sondern weil es stilgerecht ist, es ist die Form des Anstands, die hier gilt, wo sonst jeder nach seinen rüpelhaften oder ordinären Gewohnheiten lebt. Prachtvoll sind die Nächte, wenn sich die seufzenden Bedürftigen von ihrem Lager hochrecken wie Auferstehende, die tausend Jahre im Grabe gelegen haben. So schlurft es fast die ganz Nacht an den Füßen der Schlafenden vorbei wie eine Mischung von Dieben und Traumgestalten. Dann steht man draußen unterm Sternenhimmel und hat, was man sich vorgenommen hat. Über den niedrigen langen Barackendächern häufen sich die Sterne, dass man erschrickt. Fast den ganzen kaiserlichen Geburtstag habe ich in der Baracke zugebracht. Da drücken sich die Siebensachen, die man im Tornister mitschleppt, auf einem Regal, von dem einem ca. 75 cm zusteht, durcheinander, Brot, Butter, Wurst, Strümpfe, etwas Wäsche sonst, Stiefelputz- und Gewehrreinigungsdinge, Nähzeug, Seife, Handtuch, Zigarren, Zahnbürste –na, kurz und gut, ich habe Aussicht, ein ordentlicher Soldat zu werden. Patrouillengehen im Stockfinstern wird wohl mein Talent sein, dafür habe ich eine Art Spürnase. Es ist der dritte Sonntagnachmittag, dass ich Sie brieflich heimsuche. Grüßen Sie Cassirer und Frau Durieux, viel Glück zur Ausstellung! Der Rest der Zeit in Sonderburg war seltsamer Schwebezustand. Einerseits blieb er dem ganz normalen Kommiß ausgesetzt, andererseits mehrten sich Anzeichen, dass der schützende Einfluss von oben ihm das Los seiner Kameraden ersparen würde. Nach dem „Lager“-Test dividierte man die Ersatz-Kämpen in „k“ („kriegsverwendbar“) und „g“ („garnisonsdienstfähig“) auseinander, Barlach, zunächst „k“ , wurde – vermutlich manipuliert – dann doch zu den Heimathelden der „g“-Truppe gesteckt. August Gaul gegenüber bekannte er dazu am 10. Februar gemischte Gefühle: Am Mittwoch vor acht Tagen wurde ich plötzlich zur Untersuchung befohlen, und dies neue, denke ich, ist die Folge des ärztlichen Befunds. Als ich heut auf dem großen Platz, während wir so ein bisschen Gefecht muschelten, die Kameraden vom Depot aus dem Wald brechen und in kurzen Sprüngen ihren Angriff vorwärtstreiben sah, wurde mir zwar etwas jämmerlich zumute. Aber mein Gott, man kann nicht alles erleben, und seit dem Lockstedter Lager weiß ich ziemlich genau, dass der vollbepackte Tornister mich erwürgt hätte, wenn er für die Kriegsdauer auf mich gelegt wäre. Jugendfreund Friedrich Düsel gegenüber wurde er deutlicher: Wir haben gegen den im Depot nur gelinden Dienst, aber alles, was mir rechte Freude machte: Märsche, Felddienst, Nachtübungen usw. (wir sind nämlich direkt für die Front bestimmt gewesen) fällt weg. Aber Wachtdienst und tödliche Langeweile. Griffe, rechtsum, linksum und stehen – stillstehen – warten, warten, warten. „G“-Trüppler waren zudem karg ausstaffiert, ohne Drillich, nur mit dem, was sie am Leib trugen, im Fall Barlach ein Kittel mit fettigem zerrissenen Futter, schadhaften Säumen, mit klaffenden Rissen und stümperhaft geflickten und zur Not mit grobem Zwirn verkoppelten Löchern. In diesem Aufzug mit einem alten Schiessprügel demnächst ein Treibstoffdepot oder ein Bahngleis zu sichern, war nicht sein militärischer Geschmack. Wenn ich an die Front geschickt wäre, so Barlach zu Düsel, so glaube ich zwar, dass der schwere Tornister mich umgebracht hätte, aber ich hätte keinen Finger gerührt oder rühren lassen, um mich wieder zurück zufördern. Die öde Etappe dagegen hatte wenig Urerlebnis zu bieten: Schießen tun wir in der III.K. auch ein bisschen. Aber im Lockstedter Lager in der Heide – das war schön. Und als einsame Patrouille im Stockdunkeln war´s nicht anders Indianerspielen in den Ratzeburger Waldesgründen. Als in der Kaserne schließlich Meldelisten für Rüstungsbetriebe umliefen (jüngere, fronttaugliche Arbeiter sollten ersetzt werden) fühlte er sich endgültig zweckentfremdet, Rheumatismus in beiden Armen (sie hatten bei einer Übung in Eiswasser gelegen) erleichterte ihm – nach weiterer Untersuchung – zusätzlich den Abschied. Am 19. Februar hielt er seine Entlassungspapiere in Händen – die Vollzugsmeldung an August Gaul geriet melancholisch: Zufällig lief ich heute Abend fast allen früheren Kameraden in den Weg und konnte jedem einzeln Adjö sagen. Es ist mehr als sonderbar, so was, eine gute Menge Brüderlichkeit macht sich fühlbar und ich konnte es nicht übers Herz bringen, ihnen zu sagen, dass die Entlassung vielleicht auf immer sein würde. Ich log ihnen vor, dass es nur zeitweilig, für die Dauer einer Arbeit sein würde. Auch daheim in Güstrow wurde er sie nicht los: Ich möchte sie modellieren: Bromanns Kopf, Wurmers Augen, über denen eine Wolkenstirn lastete. In den Köpfen ist Schicksal. Ich habe noch nie solche gewaltigen Augen gesehen, soviel Trauer in den Schädelhöhlen hocken ... Hätte ich bloß Dietrichs heisere Struppigkeit nachgeschrieben...Der Mann war echt, der hätte auch im Granatfeuer heiser gespöttelt. In Lockstedt wehte Kriegsluft – da bin ich als Soldat glücklich gewesen, schrieb er kurz darauf an den Philosophen Moeller van den Bruck. Nach über 4 Jahren Massensterben des I. Weltkriegs war auch er selbstverständlich gänzlich anderer Meinung. Ohne die Hartnäckigkeit August Gauls aber hätte es all seine Hauptwerke – - Güstrows „schwebenden Engel“, Kiels „Geistkämpfer“ oder den „Fries der Lauschenden“ vermutlich nie gegeben, ebenso, – später Gruß an seine Landsturm-Kameraden ohne Schutzpatron, – die Soldatenfiguren seines Magdeburger Dom-Ehrenmals von 1929, die unmittelbar von seinen Erlebnisen im Lockstedter Lager inspiriert sind. 4) Das Lockstedter Lager, in dem sich Ernst Barlach aufhielt, ist im heutigen Hohenlockstedt teilweise noch zu erkennen: große Teile der Breiten Straße mit Garnisonsverwaltung; Seniorenheim- und Mietshaus-Kasernenblocks, dem ehemaligen Proviantamt sowie den letzten erhaltenen Pferdeställen am Ortsausgang bis vor einiger Zeit auch noch der leerstehende Kasino-Supermarkt tragen noch immer unverkennbar wilhelminisches Gepräge. Auf dem Schulgelände, dem ehemaligen Lagerpark, hat sich neben der Gemeinschaftsschule ein kleines Denkmal für Bismarck, Roon und Moltke erhalten, bis zum Abriss standen auf dem Bürstenfabrik-Geländeauch noch letzte Ruinen des riesigen Pferdestall-komplexes herum. Von den eingeschossigen Lagerbaracken, die damals zu Dutzenden den Ortskern bildeten, sind nur noch wenige erhalten. Sie standen im wesentlichen auf dem heute von der Finnischen Allee, der Breiten Straße, der Kieler Straße und der Birkenallee begrenzten Areal. In baulich stark abgewandelter Form sind des das Fahrradgeschäft Timm, das Haus Breite Straße Nr. 16 sowie die Gebäude hin zur Ecke Finnische Allee/Birkenallee, auf der einen Seite die ehemaligen Küchen 4 und 5 (heute Lola-Treff) auf der anderen Seite die ehemalige Mannschaftsbaracke 47 – etwa wie dieses Gebäude sah Ernst Barlachs Unterkunft damals aus.