Nicht mit dir und nicht ohne dich

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Nicht mit dir und nicht ohne dich
Samstag, 5. März 2016
Freiburger Nachrichten
magazin am wochenende
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Als Filmkritiker, als Schauspieler und vor allem als Regisseur hat François Truffaut das französische Kino geprägt wie kaum ein
anderer. Die Cinémathèque française hat ihm jüngst eine grosse Ausstellung gewidmet, die jetzt bei der Stiftung APCd in Marly
zu sehen ist. Die Inszenierung in den ehemaligen Ilford-Räumen macht den Besuch zu einem einzigartigen Erlebnis.
«Nicht mit dir und nicht ohne dich»
Organisation:
Die Stiftung
APCd und das Fiff
CAROLE SCHNEUWLY
M
ehr als zwanzig
Spielfilme, mehrere Kurzfilme,
Hunderte von Artikeln über das Kino und nicht
zuletzt das legendäre Buch «Le
Cinéma selon Alfred Hitchcock»: Der französische Regisseur, Schauspieler und Filmkritiker François Truffaut hat ein
beeindruckendes Werk hinterlassen, obwohl er erst 52 Jahre
alt war, als er 1984 an einem
Hirntumor verstarb. Seine Filme eröffnen ein bildgewaltiges
Universum, in dem es immer
wieder um jene Themen geht,
die Truffaut ein Leben lang beschäftigten: Kindheit, Jugend
und Erwachsenwerden, Gefühle und Obsessionen und natürlich die Liebe, die Leidenschaft,
das ewige Spiel zwischen Mann
und Frau, magisch, aufwühlend, bitter-süss und oft verhängnisvoll. «Tut Liebe weh?»
lässt Truffaut Catherine Deneuve in «Le Dernier Métro» («Die
letzte Metro, 1980) fragen, und
ihr Filmpartner Gérard Depardieu antwortet: «Ja, Liebe tut
weh: Sie kreist über uns wie
grosse Raubvögel, hält sich in
der Schwebe und bedroht uns.
Aber diese Bedrohung kann
auch eine Verheissung für
Glück sein. Du bist schön, Héléna, so schön, dass dich ansehen Schmerz bereitet.»
D
ie Ausstellung «François Truffaut – Passionnément» ist ein
Projekt des französischen
Filminstituts Cinémathèque
française. Sie wurde erstmals
2014 in Paris und anschliessend in São Paulo gezeigt.
Anlass für den Halt in Marly
ist die 30. Ausgabe des Internationalen Filmfestivals Freiburg (Fiff), das vom 11. bis
zum 19. März stattfindet.
Dessen Hauptthema sind die
Frauen im Film – ein Thema,
das sich auch durch Truffauts
komplettes Werk zieht. Gastgeberin im Marly Innovation
Center ist die Stiftung APCd,
die hier seit Juni 2015 ansässig ist, initiiert vom Galeristen
und Sammler Pierre Eichenberger. Ihr Ziel ist, Werke und
Kunstschaffende abseits der
etablierten Szene zu zeigen.
Neben der Organisation von
Wechselausstellungen unterhält die Stiftung eine eigene
Kunstsammlung und ein «Laboratorium», in dem Kunstschaffende neue Zugänge zur
Kunst erproben können. cs
Die Atmosphäre der ehemaligen Ilford-Labors verleiht der Ausstellung einen besonderen Charme.
Filmkunst in Ilford-Labors
Catherine Deneuve und Gérard Depardieu sind nur eines
von vielen starken Liebespaaren bei François Truffaut: Deneuve und Jean-Paul Belmondo, Depardieu und Fanny Ardant, Jean Desailly und Françoise Dorléac, Charles Aznavour und Marie Dubois … Die
Magie, die Truffaut mit ihnen
und vielen anderen auf die
Leinwand zauberte, ist jetzt in
einer Ausstellung bei der Stiftung APCd in Marly neu zu
entdecken. Bemerkenswert ist
nicht nur die Vielzahl der ausgestellten Objekte – Filmauszüge, Fotografien, Briefe und
andere Originaldokumente –,
sondern auch die Inszenierung in den ehemaligen Räumen des Fotopapierherstellers
Ilford. Die APCd, die hier seit
2015 eingemietet ist, hat an
den Räumlichkeiten kaum etwas verändert, sondern nutzt
den Charme der ehemaligen
Labors, Büros und Lagerräume für ihre Zwecke. Die Truffaut-Ausstellung erstreckt sich
über rund 300 Quadratmeter,
verteilt auf etwa zwanzig Säle
in zwei Stockwerken: die Kunst
des bewegten Bildes inszeniert
an einem Ort, an dem früher
Material für die Fotografie entwickelt und hergestellt wurde –
stimmiger könnte der Gesamteindruck kaum sein.
Zahlreiche Dokumente wie Fotografien und Notizen lassen Truffauts Schaffen lebendig werden.
hat uns angefragt, und wir waren sofort begeistert», sagt
Martial Mingam, der künstlerische Leiter der APCd. Die Ausstellung passe perfekt zum
Leitbild der Stiftung: «Wir wollen die vielfältigen Wege zeigen, die zur Kunst führen.» Genau das tue die TruffautSchau, die von der Kindheit
des Regisseurs über seinen
Werdegang bis zur Rezeption
in der Gegenwart reicht. Für
Pierre Eichenberger, Gründer
und Präsident der Stiftung, ist
ein Traum wahr geworden:
«Diese Ausstellung exklusiv in
der Schweiz zeigen zu dürfen,
ist eine grosse Ehre.» Doch es
sei viel mehr als das: «Truffauts
Filme haben mich sehr geprägt. Immer wenn ich sie sehe, werden Erinnerungen
wach.»
Beim Rundgang durch die
Ausstellung hält Eichenberger
in dem Raum inne, in dem ein
Ausschnitt aus «Jules et Jim»
(1962) mit Jeanne Moreau
läuft, und gesteht: «Jedes Mal,
wenn ich diese Szene sehe,
kommen mir die Tränen.» Wer
wie Eichenberger in truffautschen Erinnerungen schwelgen will, erhält dazu in Marly
reichlich Gelegenheit: Zu allen
Etappen von Truffauts Leben
und Schaffen werden Filmausschnitte gezeigt, die man in
den originell gestalteten Räumen geniessen kann. Dazu
kommen zahlreiche Fotografien, etwa von Dreharbeiten,
Filmplakate,
Drehbücher,
Briefe, Notizen und weitere
Trouvaillen wie zum Beispiel
der Presseausweis, mit dem
Truffaut 1957 als 25-jähriger
Bilder Charles Ellena
Filmkritiker am Filmfestival
von Cannes unterwegs war.
Die Ausstellung, deren Begleittexte eigens für den Halt in
Marly ins Deutsche übertragen
wurden, ist thematisch aufgebaut. Im Kapitel zur Kindheit
und Jugend Truffauts zeigt sich,
wie engagiert sich dieser schon
in jungen Jahren für den Film
interessierte. Briefwechsel des
Teenagers mit Produktionsfirmen wie Paramount zeugen
davon ebenso wie ein Austausch mit Henri Langlois, dem
Gründer und Leiter der Ciné-
Von Paris nach Marly
Mit ihren Räumen und ihren
Ideen hat die APCd auch die
Cinémathèque française überzeugt, ihre 2014 entwickelte
Ausstellung, die bisher nur in
Paris und in São Paulo zu sehen war, jetzt in Marly zu zeigen. Den Anstoss dazu gab
Thierry Jobin, der künstlerische Leiter des Internationalen Filmfestivals Freiburg, der
die Ausstellung zur 30. Ausgabe des Festivals nach Freiburg
holen wollte. «Thierry Jobin
....
Immer wieder die Frauen und die Liebe: Jean-Paul Belmondo und
Catherine Deneuve in «La sirène du Mississippi» (1969) …
… und Truffauts Lebenspartnerin Fanny Ardent in seinem zweitletzten Film «La femme d'à côté» (1981).
Bilder zvg
mathèque française. Ein wichtiger Teil der Ausstellung widmet sich Truffauts Bedeutung
für das neue Autorenkino der
Nouvelle Vague ab den späten
1950er-Jahren. Mit «Les Quatre
Cents Coups» («Sie küssten
und sie schlugen ihn») feierte
Truffaut 1959 seinen ersten
grossen Erfolg, gekrönt mit
dem Preis für die beste Regie
am Filmfestival von Cannes.
Die internationalen Erfolge
und Kontakte Truffauts sind
ein weiteres Thema; hier ist er
etwa bei der Verleihung des
Oscars zu sehen, den er 1974
für «La nuit américaine» («Die
amerikanische Nacht») erhielt.
Die Essenz der Liebe
Viel Gewicht erhalten die
zwei grossen Themen, die
Truffauts Schaffen prägten: Da
ist zum einen seine Beschäftigung mit dem Erwachsenwerden, die besonders deutlich
wird in dem fünfteiligen Antoine-Doinel-Zyklus, der mit
«Les Quatre Cents Coups» begann und in dem Pierre Léaud
als Truffauts Alter Ego vom
Teenager zum erwachsenen
Mann heranreift. Zum anderen
ist da das immer wiederkehrende Thema der Liebe und
der Leidenschaft, verdichtet
auf den Punkt gebracht in jenem unscheinbaren Schaukasten, in dem nur ein schlichter
Notizzettel aus Truffauts Nachlass ausgestellt ist: «Ni avec toi
ni sans toi» steht da, «Nicht mit
dir und nicht ohne dich». Der
Satz von Madame Jouve aus
Truffauts zweitletztem Film
«La Femme d’ à côté» («Die
Frau nebenan», 1981) sei gewissermassen die Essenz der
leidenschaftlichen Liebe bei
Truffaut, schreibt Serge Toubiana, der Kurator der Ausstellung. «Im tragischen Ende liegt
das Fundament von Truffauts
romaneskem Kino überhaupt.»
APCd, Marly Innovation Center, Marly.
Bis zum 29. Mai. Mi. bis Fr. 10 bis 18 Uhr,
Sa. 10 bis 17 Uhr, So. 10 bis 16 Uhr.
Details: www.apcd-fondation.com.

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