Jazztexte

Transcrição

Jazztexte
robert stubenrauch
rezensionen
cd – dvd – buch – konzert – info – hintergrund
RoJaC
Robert's Jazz Corner
online: www.geocities.com/rstubenrauch
print: Jazz Live Magazin
CD-Besprechungen
...................................................................................... Seite 6
Rabih Abou-Khalil
The Cactus of Knowledge
2001-08
African Head Charge
Shrunken Head
2003-10
Bidinte
Iran Di Fanka’s
2001-08
Faruq Z. Bey with The Northwoods Improvisers
19 Moons
2002-02
Faruq Z. Bey with The Northwoods Improvisers
Ashirai Pattern
2004-04
34th N Lex
2003-06
Café Drechsler
2002-09
Ornithologies
2002-09
Sound Museum - Three Women /
Hidden Man
Colors
1995
1996
Haunted Heart & Other Ballads
2002-02
Sira Fila
2004-02
Shy Angels
2002-06
Bill Dixon
Odyssey
2002
Bill Dixon & Tony Oxley
Papyrus Vol. 1 & 2
1999
Bill Dixon, Franz Koglmann, Steve Lacy
Opium
2001-08
75th Birthday Celebration
2004-02
Drechsler / Steger / Tanschek feat.
Lorenz Raab
Dubblestandart
The Monk in all of us
2005-04
Streets of Dub
2002-02
Easy Star All-Stars
Dub Side of the Moon
2003-10
Dreams That Went Astray
2002-06
James Emery
Luminous Cycles
2001-06
James Emery / Joe Lovano / Judi Silvano / Drew
Gress
James Emery
Fourth World
2002-02
Transformations
2003-06
Vanishing Point
2002-02
Hors de Portées
2002-09
Lucille's Gemini Dream
2002-09
Flower Machine
Dancing On Monday
2002-11
frimfram collective
Reality Music
2004-09
Funky Butt
The Glove
2004-09
Charlie Haden with Michael Brecker
American Dream
2002-11
Herbie Hancock / Michael Brecker / Roy
Hargrove
Marilyn Harris
Directions In Music
2002-09
Future Street
2004-09
The Eight House - Riding With Pluto
2002-02
Hiromi
Another Mind
2003-06
Inside Out
Soleil
2003-06
Randy Brecker
Café Drechsler
Yves Cerf / Frédéric Folmer / Raúl Esmerode
Ornette Coleman
Ornette Coleman & Jochim Kühn
Marc Copland Trio
Mamadou Diabate & Bekadiy
Sussan Deyhim
Eric Dolphy
Jon Eberson Group
Ellery Eskelin
Fanfare du Loup
Avram Fefer Quartet
Wendell Harrison
2
Jazz Bigband Graz
A Life Affair
2004-09
Jobutsu Project
Listen in Clear Light Vol. 1 - Prologue
2002-09
Venus in Transit
2001-08
Watercolours
2002-11
It's Me!
2004-02
Charles Lloyd
Hyperion With Higgins
2001-10
Charles Lloyd / Billy Higgins
Which Way Is East
2004-05
Charles Lloyd
Jumping the Creek
2005-04
Trialogue
2004-02
Thieves and Poets
2004-02
Mühlbacher usw.
05.04.03
2004-09
Plastic Art Foundation
Glutmut's Erzählung / Sandbrot
2003-06
Der Rote Bereich
Live in Montreux
2005-04
Tomas Sauter
Tranceactivity ... flora
2002-11
Martin Schrack
Mosaic
2004-09
From Paris With Love
2002-06
Identity
2003-06
Klaro!
2003-04
Taylor / Dixon / Oxley
2002-11
Early Dawn
2004-09
Essencia
2001-10
Blood & Burger - Guitar Music
2003-06
South Delta Space Age
1996
One More Time
2002-11
Bugge Wesseltoft & New Conception of Jazz
Live
2003-06
Bugge Wesseltoft & New Conception of Jazz
FiLM iNG
2004-05
In the North
2003-06
various artists
Desert Blues
2002-11
various artists
Island Blues - Entre Mer et Ciel
2002-09
various artists
red and blue - neither nor way
2002-11
various artists
Percussion Profiles (CD zum Buch)
2002-06
various artists
Respekt! (CD zum Buch)
2004-09
Franz Koglmann
Bertrand Lajudie
Abbey Lincoln
Berndt Luef & Jazztett Forum Graz
John McLaughlin
Skatalites
Miki Skuta
Karolina Strassmayer
Cecil Taylor / Bill Dixon / Tony Oxley
Franck Tortiller
Gebhard Ullmann
James Ulmer, Rodolphe Burger & Meteor Band
Blood
Third Rail (James Blood Ulmer)
Mal Waldron
Andreas Willers feat. Paul Bley
DVD-Besprechungen ................................................................................... Seite 37
Charles Lloyd
Live in Montreal
2005-04
Miles Davis
miles electric: a different kind of blue
2005-04
Ornette Coleman
John Cage/ Roland Kirk
Ornette Coleman Trio
Sound
2005-04
Sonny Rollins
Ben Webster
Live at Laren
Big Ben in Europe
2005-04
3
Buchbesprechungen
Michael Bettine
Trevor Taylor
................................................................................... Seite 40
Percussion Profiles
Portraits der wichtigsten improvisierenden Percussionisten
unserer Zeit (inkl. CD).
2002-07
Respekt!
Interviews mit Jazzmusikern des New Thing", einst & jetzt.
2004-09
Werner Burkhardt
Klänge, Zeiten, Musikanten
Ein halbes Jahrhundert Jazz, Blues und Rock in Essay, Kritiken
und Anschauungen.
2002-11
Richard Cook
Blue Note – Die Biographie
Zeitgeist in Sound & Design, Kultlabel, Sammelobjekt,
Musikgeschichte ...
2004-09
Coleman Hawkins - Sein Leben, seine Musik, seine
Schallplatten
Das unverzichtbare Buch über den legendäre "Erfinder" der
Tenorsaxophons" im Jazz.
2000
John Coltrane – Sein Leben, seine Musik, seine
Schallplatten
Eine entmystifizierende Bio-Diskographie des Tenorgiganten.
2002-11
Sozialgeschichte des Jazz
Neuausgabe des Klassikers, fortgeführt bis in die Gegenwart.
2003-06
Ashley Kahn
Kind Of Blue – Die Entstehung eines Meisterwerkes
Eine fesselnde Zeitreise: Die Entstehung des legendären
Albums.
2001-10
Ashley Kahn
A Love Supreme - John Coltranes legendäres Album
Der nächste Streich des Erfolgsautors.
2005-04
Martin Kunzler
Jazz-Lexikon, Vol. 1 & 2
Das deutschsprachige Nachschlagewerk in Sachen Jazz.
2003-08
Miles Beyond – The Electric Explorations of Miles Davis
1967-1991
Das bislang einzige Buch über die so wichtige "elektrische"
Epoche des großen Miles.
2001-10
Christian Broecking
Teddy Doering
Ralf Dombrowski
Ekkehard Jost
Paul Tingen
wiener musik t,o,n,f,o,l,g,e,n, - soundportraits
Begleitschrift zum Fest anlässlich des 20-jährigen Bestehens der
galerie
Wiener Musik Galerie.
2002-11
Peter Wilson
Niklas
Reduktion - Zur Aktualität einer musikalischen Strategie
Musikerportraits & Analysen (inkl. CD)
2004-09
Peter Wilson
Niklas
Ornette Coleman - His Life and Music
Alles über die Freejazz-Ikone.
2000
Peter Wilson
Niklas
Miles Davis - Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten
Kompakte Übersicht über das gigantische Werk & ein Blick auf
den Menschen dahinter.
2001-10
DIXONIA - A Bio-Discography of Bill Dixon
Leben und Werk des unangepassten Trompeten-Altmeisters und
ewigen Avantgardisten.
1999
Ben Young
4
Konzertbesprechungen
.......................................................................... Seite 54
•
Wiener Staatsoper, 2.7.02: Charles Lloyd Quartett / Deodato
•
Graz Meeting „African Roots“, 25.-27.4.02
Zim Ngqawana, Pharoah Sanders, Yusef Lateef, Trevor Watts, Cornelius Clemens Kreusch,
Ramadu & African Vibes, Jali Keba Cissokho
Artikel ..................................................................................................................................... Seite 57
•
Miles Tributes & Projects
Die Vielfalt der musikalischen Huldigungen an den großen Meister
•
Mal Waldron - I’m Gonna Be Around A Long Time
Ein Nachruf auf den großen Individualisten
•
Teilen und Bewegen
Ein neues Konzept von Bugge (Wesseltoft)
•
Charles Lloyd: Beinahe hätte er den Jazz gerettet!
Die "Supergroup" mit Keith Jarrett und ihre Aufnahmen für Atlantic in den 60er-Jahren
•
Dixonia: Im Brennpunkt von Schönheit und Nonkonformismus
Ein Portrait Bill Dixons
•
The Birth of Fusion – Fünf spannende Jahre 1968-1973
Über die frühen und kreativen Jahre der Fusion
•
Reggae und Dub zwischen Pink Floyd und Voodoo
Dub Side of the Moon / African Head harge (Musik für Jazzfreunde #1)
•
Bohren & der Club of Gore
Musik für Jazzfreunde #2
5
CD-Besprechungen
Rabih Abou-Khalil: "The Cactus of Knowledge"
Enja ENJ-9401 2
Rec. Juli 2000
Der Baum der Erkenntnis hat Stacheln, seine Früchte
hingegen scheinen Erdbeeren zu sein. Das aufwendig
gestaltete Package ist vielseitig, vielsprachig, vielfärbig, die
abgedruckte Erzählung vielschichtig. Die Band hingegen ist
vielköpfig und enthält einen Sound Engineer. Sie spielt Musik
mit vielen Noten (bewiesen im Booklet!) und viel Rhythmus
(natürlich orientalischem). Manchmal kling es ein bisschen wie
eine New Orleans Brass Band zum Marschieren oder
wahrscheinlich eher zum Tanzen. Wie ist das Verhältnis von
Erdbeeren zu Stacheln? Doch wohl günstiger als Eins zu
vielen Hundert! Viel-leicht muss man diese Musik vielmals
hören, um das Verhältnis noch zu verbessern.
Faruq Z. Bey with The Northwoods Improvisers: "19 Moons"
Entropy ESR011
Rec. live, 16.6.2001
Faruq Z. Bey (ts, ss); Mike Gilmore (vib, bone g); Mike Johnston (b); Nick Ashton (dr); plus Len
Bukowski (cl); Patrick Boyer (tambura)
Ägyptische Schriftzeichen am Cover, ein arabischer Künstlername, ein glühendes Tenorsaxophon.
Ein entspannter Bass-Vamp, dazu indische Tambura als kosmische Untermalung. Spiritueller WorldFreejazz der 60er-Jahre? Sun Ra? Pharoah Sanders? Nein, jedenfalls nicht leibhaftig (wenn man
nicht an Mehrfach- bzw. Reinkarnation glauben mag). Außerdem ist da das recht zurückhaltend
gespielte Vibraphon, das nicht so recht in dieses Klischee passt. Bey nutzt das bekannte Idiom in
persönlicher, zurückhaltender Weise. Er ist ein hörenswerter Improvisator, der sich Zeit lässt und in
träumerischen, langen Linien denkt; Coltrane in Zeitlupe, gewissermaßen. Die Gruppe folgt also
ausgetretenen Pfaden ohne die Ekstase der Vorbilder zu versuchen (das wäre doch von vornherein
aussichtslos, oder?), und sie tut es recht effektiv. Das führt zu Dejavu-Erlebnissen der angenehmen
Art. Die Titelnummer hat mit ihrem dynamischen Aufbau originelle Momente. Die Nummer, die an
Aylers Klanghimmel erinnern soll, ist sicherheitshalber gleich entsprechend betitelt. Das Publikum und
wir applaudieren friedlich und zufrieden - könnte ewig so weitergehen!
Faruq Z. Bey with The Northwoods Improvisers: "Ashirai Pattern"
Entropy ESR 013
Rec. Juni-Nov 2002, studio/live
Faruq Z. Bey (ts,as,ss,fl,words), Mike Carey (ts,fl,words), Mike Gilmore (vib,marimba,cheng), Mike
Johnson (b,sho,perc), Nick Ashton (dr,perc) + auf einem Track: Len Bukowski (contra-acl), Mike
Khoury (violin)
Wie schon auf der Vorgänger-CD "19 Moons", so folgt die Gruppe um den 61-jährigen – nichtsdestotrotz fast unbekannten - Bey auch hier der Tradition der "Great Black Music", wie sie etwa von Sun Ra
(dessen Komposition "Shadow World" interpretiert wird) und dem Art Ensemble of Chicago vorgelebt
6
wurde, allerdings auf stark reduzierter "Flamme". Eine kurze Rezitation von "Black Poetry",
abwechslungsreiche Klänge auf wechselndem Instrumentarium, freie Improvisation auf stark
rhythmischer Grundierung, das sind die bewährten Zutaten. Es gibt aber auch lange getragene,
meditative, hymnische Momente. Zusammen ergibt sich ein Wechsel zwischen spannungsgeladener
und auffallend entspannte Musik mit "spiritueller", mystischer Grundstimmung. Trotz der recht offenen
Strukturen der Kompositionen kommt es nicht zu Powerplay-Exzessen, Bey strahlt authentische Ruhe
und Reife aus. Insgesamt nicht gerade eine Offenbarung an Neuem, aber durchaus hörenswert.
Bidinte: "Iran Di Fanka’s"
Intuition INN 1110-1
Trotz des anhaltenden Weltmusik-Booms ist Guinnea-Bissau
wohl eher noch immer eine Unbekannte in der musikalischen
Landschaft. Nicht mehr, denn nun gibt es Bibinte! Er singt,
spielt Gitarre und jede Menge von Percussion-Instrumenten.
Die Musik wirkt recht fröhlich und so wird man auf den Boden
der Realität zurück geholt, wenn man im hübschen Booklet
die Liedtexte liest (in Englisch, Portugiesisch, und in der
Landessprache). Oft geht es darin um Bürgerkrieg und Armut,
die auch dieses afrikanische Land plagen. Einmal mehr also
der Versuch von Musik als heilender Gegenpol.
Insgesamt eine sehr reizvolle und natürlich wirkende Mischung von afrikanischer und flamencobeeinflusster spanischer Musik (mit viel akustischer Gitarre!), aber auch mit Funk und Pop-Anklängen.
Randy Brecker: "34th N Lex"
ESC/EFA 03684-2
Rec. May 2002
Randy Brecker (tp), Michael Brecker (ts), David Sanborn
(as), Ronnie Cuber (bs), Fred Wesley (tb), Adam Rogers
(g), Gary Haase (key), Chris Minh Doky (b) u.a.
Wer zwischen Hochglanz-Fadesse, kitschiger Belanglosigkeit und schlaffen Balladen nach funkiger Energie
sucht, findet auch diese in Spuren. Weiters auf der HabenSeite dieser Produktion sind einige der Themen, die
durchaus Ohrwurm-Qualitäten aufweisen. Die Ausführung in
typischer Perfektion hat man erwartet. Was fehlt dann hier noch, um aus der technisch einwandfreien
Musik einen Genuß zu machen? Vielleicht etwas mehr Gefühl, Spontaneität, und lockere Freude und
etwas weniger angespannte, glatte Perfektion? Der unvereinbare Gegensatz von "down-to-earth"
Groove und kopflastiger Komplexität der Strukturen bleibt jedenfalls auf schmerzhafte Weise
unaufgelöst.
7
"CAFÉ DRECHSLER"
Universal 0184412
Rec. Rec. März 2002
Ulrich Drechsler (ts, bcl), Oliver Steger (b), Alex Deutsch
(dr) + Gäste
Café Drechsler (die Band) ist ursprünglich ein rein
akustisches Trio aus Wien, das sich auf die Fahnen
geschrieben hat "die zeitgenössische elektronische
Musik (Drum'n'Bass, Trip-Hop, Breakbeat etc.) weiter in
die nächste Phase - die akustische" zu führen. Die
Musik entsteht spontan aus dem Moment, ohne
Vorgaben. Soweit der Anspruch. Während dieses
einfache Konzept auf dem CD-Erstling (in limitierter
Eigenauflage 2001 erschienen) noch rigoros und herzerfrischend umgesetzt wurde, wurde auf diesem
Debut auf einem Major-Label die akustische Prämisse fallengelassen; nun ist neben dem Kern-Trio
jede Menge Studioelektronik zu hören, ja sogar Remixer haben mitgemischt. Weiters zu hören:
Studio-Chat zwischen den Tracks und Gesangseinlagen mit reichlich Echo. Hingegen ist das jazzige
Saxophon des Leaders nur noch selten zu vernehmen. So stellt sich die Vielfalt als Stilunsicherheit
dar und ist zum Hauptmerkmal dieser Produktion geworden. Was nicht heißen soll, dass die Musik
nicht Spaß machen und in die Beine fahren kann, cool & trendy ist. Musikalität und kreatives Potenzial
sind enorm. Eben deswegen: Wozu der viele unnötige Firlefanz? PS: Besonders freue ich mich
darauf, Drechslers Solo-Bassklarinetten-Monk-Projekt.endlich auf CD zu hören. Es lebe die Vielfalt!
Yves Cerf / Frédéric Folmer / Raúl Esmerode: "Ornithologies"
Altri Suoni AS 067
Rec. Rec. 1999
Yves Cerf (sax), Frédéric Folmer (b), Raúl Esmerode (perc)
Aus der gleichen Ecke wie "Fanfare du loup" (man Vergleiche die Namen) und ähnlich spannend und
gleichzeitig unterhaltend ist diese Produktion. Der Titel gibt schon den Hinweis: Das Trio ließ sich vom
Gesang verschiedener Vögel inspirieren. Dies kann recht konkret nachverfolgt werden, da die
gefiederten Solisten selbst oftmals auf der CD zu hören sind. Entweder um - ganz in bester JazzTradition - einleitend ein Thema zu präsentieren oder um die Musiker in kollektive Improvisationen zu
verstricken. Ein riskantes Konzept, aber es geht auf. Der Grund dafür liegt wohl weniger in der
Singfreude der Vögel als an der Spielfreude des hochintegrativen menschlichen Musikertrios. Von
simpel gestrickten Melodien bis zu schräger Komplexität reicht das Spektrum der Möglichkeiten.
Entspannter Swing herrscht meist vor, und hie und da ein erfrischender Schuss Humor.
Ornette Coleman: "Sound Museum - Three Women / Hidden Man"
Harmolodic/Verve, Juli 1996
Das Werk in Form von zwei separaten CDs nennt sich "Sound Museum" mit den Untertiteln "Three
Women" und "Hidden Man" und bezieht sich konzeptuell auf die Idee eines Bilder-Museums, was
durch entsprechende Covergestaltung unterstützt wird. Das Material der CDs spannt einen Bogen
über die letzten 30 Jahre von Colemans Schaffen. Hauptsächlich sind es Stücke, die man in
verschiedensten Varianten von Prime Time schon gehörte hat, jedoch befinden sich auch alte Hits im
Repertoire, wie der Walzer "European Echoes", erstmals aufgenommen 1965. Eine Gospelvariation
läßt aufhorchen ("What A Friend We Have in Jesus"), eine Vokalnummer dagegen eher weghorchen.
Triefend vor Emotion - nein, nicht von Coleman gesungen - rüttelt sie einen hoch und läßt einen
Augenblick an einen Fehler des CD-Wechslers denken.
8
Diese Produktion bietet in mehrfacher Hinsicht Besonderheiten:
Es ist die erste akustische Aufnahmen seit fast 10 Jahren, und
es ist im wesentlichen die erste Aufnahme mit einem Pianisten
seit 1958, ganz am Beginn seiner auf Tonträgern
dokumentierten musikalischen Tätigkeit. Geri Allen ist die ideale
Partnerin: sensibel und schnell reagierend, immer im
Hintergrund - aus dem sich nur Coleman ständig abhebt - und
doch stets präsent. Sie vermag den Schattierungen der
Coleman'schen Tonkunst noch weitere Nuancen hinzuzufügen,
ohne sich in den Vordergrund spielen zu müssen. Soli im
herkömmlichen Sinn gibt es in dieser Musik sowieso keine,
genauso wenig wie "Begleitung". Auch der Bassist ist neu in der
Band, wenn auch kein Unbekannter: Charnett Moffett, Sohn des
Charles Moffett, Schlagzeuger in Colemans Trio Mitte der 60-er
Jahre. Moffett spielt - in auffallendem Gegensatz zu Coleman
seinerzeitigem Bassisten Charlie Haden - gerne sehr viele schwirrende Töne, setzt öfters auch
wuchtig-krachende Akzente und greift häufig zum Bogen.
Dieses Quartett ist also mit hochkarätigen Solisten besetzt, was
man von der momentanen Besetzung der Prime Time nicht
sagen kann. Sogar Denardo Coleman, der seit seinem DrumDebut als 10-jähriger in seines Vaters Band regelmäßig als AntiDrummer verhöhnt wird, spielt variantenreich, und scheint seine
Kritiker endgültig in die Schranken weisen zu wollen. Ja, oft ist
tatsächlich so etwas wie abstrakter Swing oder Puls zu spüren,
der sich am musikalischen Geschehen der Anderen orientiert.
Die Aufnahmen sind kurz, im Schnitt um die 3 Minuten.
Faszinierend, zu welch intensiver Dichte sich die Klanggebäude
in so kurzer Zeit auftürmen können. Nicht langsame Entwicklung
und Steigerung ist das Ziel, sondern das rasche Abgeben der
überbordenden musikalischen Energie soll Befreiung bringen, so
scheint es. Die Gruppe ist äußert homogen, und geradezu
nachtwandlerisch die Kommunikation, vor allem zwischen Allen und Moffett. Die "Rhythmusgruppe" eine gänzlich ungeeignete Bezeichnung für dieses Trio - ist eine wirkliche Einheit; sein Bandbreite
reicht von freien impressionistischen Klanggemälden bis zu swingenden Passagen. Ornette schwingt
sich - fast möchte man sagen unabhängig davon - darüber auf; er spielt die Melodien, die einen wie
eh und je unweigerlich in ihren Bann ziehen mit ihrer phantastischen Einfachkeit. Sein Ton ist voller
als zuletzt, er wirkt in allen Phasen konzentriert - in hektischen Klangkaskaden ebenso wie in den
klagenden blues-getränkten Balladen.
Wodurch unterscheiden sich nun die beiden CDs? Könnte man die eine gegenüber der anderen
hervorheben? Nein, sie sind gleichwertig und gehören zusammen. Die Tatsache, daß beide CDs
praktisch die gleichen Kompositionen enthalten ist irrelevant. Man widersteht leicht derVersuchung,
einzelne Versionen einem direkten Vergleich auszusetzen; denn wer in Colemans Musik eintaucht, für
den existieren alle Melodien gleichzeitg in allen möglichen Varianten. So ähnlich muß es auch
gemeint sein, wenn Coleman in den Liner Notes wieder einmal versucht, sein harmolodisches
Konzept zu erklären: "Angewandte Harmolodik wird - wo eine Antwort oder ein Konzept eine Meinung
ist - die gleiche Beziehung zu allen Informationen erlauben". Zum Glück muß man das nicht
verstanden haben, um die Musik wirken zu lassen.
Mit dieser Gruppe schafft Coleman noch einmal den Rahmen für jenen zeitlos rauschhaften Zustand,
wie man ihn beim Hören der frühen Prime Time Aufnahmen oder des Doppelquartetts Anfang der 70er Jahre erfahren kann. Für Ornette Colemans ein Meilenstein und für den Jazz Aufnahmen von
bleibender Gültigkeit.
PS: Übrigens gibt Coleman diesen Sommer zwei Duo-Konzerte mit dem deutschen Pianisten Joachim
Kühn, der kürzlich zu Colemans Label Verve übergewechselt ist. Offenbar ist Ornettes Lust auf Piano
noch nicht gestillt!
9
Ornette Coleman + Joachim Kühn: "Colors"
Harmolodic / Verve
Ornette Coleman: as, tp, v
Joachim Kühn: p
Live aufgenommen am 31.8.1996 in der Leipziger Oper
Ornette Coleman hat das Material für diese musikalische
Begegnung (die sich zuvor nur noch in Verona und danach
heuer in Paris ereignet hat) eigens neu komponiert, so kann
man lesen. Wer aber neuartige, vielleicht überraschende
musikalischen Strukturen erwartet hat, verkennt Coleman.
Seit eh und je variiert er - ganz im Sinne seiner harmolodischen Theorie - eher das "Environment", die
Szenerie, in die er seine musikalischen Äußerungen stellt, als diese Äußerungen selbst. Längst sind
die Elemente seines Sound-Kosmos fertig entwickelt; durch die Wechselwirkung mit anderen Welten
werden sie allerdings gelegentlich in neue Umlaufbahnen gestoßen. Und das tun sie hier, wie auch in
den letzten Coleman-Produktionen, ganz ordentlich.
So ist die Überraschung dieser Einspielung natürlich die Wahl des Duo-Partners: Joachim Kühn ist
einer, der schwer in Ornettes Welt paßt, so könnte man meinen. Pianist zu sein allein ist ja seit
Colemans Arbeit mit Geri Allen kein Argument mehr gegen eine Zusammenarbeit mit ihm. Kühn aber
ist ein hörbar klassisch ausgebildeter Pianist mit sehr europäischem Touch, bei aller Intensität und
Spontaneität doch immer sehr kontrolliert, abstrakt. Nicht einmal in rhythmisch intensiven Phasen, bei
denen sich der Gedanke an Gospel aufdrängt, gibt es dieses ekstatische "Abheben", das man sich in
diesem Zusammenhang erwarten - und wünschen - könnte. Zuweilen denkt man: Wie würde Jarrett
das spielen! Tatsächlich geht das Gerücht um, Ornettes Wunschpianist für ein New Yorker Konzert
unlängst wäre Jarrett gewesen, was dieser - jedenfalls aus gesundheitlichen Gründen - ablehnen
mußte. Aber zurück zur Realität: Kühn ist am besten in den romantischen, impressiontischen - eben
europäischen - Ausflügen, zu denen er hier reichlich Gelegenheit hat - auch solo.
In für Coleman typischer Weise wechseln hektisch-intensive Nummern mit wunderschön
schmachtenden Melodien, die etwas archetypische Einfaches an sich haben. Immer wieder blitzen in
den "Neukompositionen" bekannte Elemente aus fast allen früheren Schaffensperioden auf. Colemans
Musik ist ein immer wieder neu gelegtes Mosaik aus den gleichen Bausteinen. Das betrifft sowohl die
komponierten - so singbaren - "Melodien" als auch die Improvisationen. Wenn dann aus dieser
vertrauten Welt der unkonventionellen Harmonie Tonfolgen an Bizarrheit oder Schönheit noch
herausragen sind es wirklich große Momente. Selten seit Colemans Trio in den 60-er Jahren und den
Duos mit Charlie Haden hatte man Gelegenheit, seine Improvisationen so klar und pur zu verfolgen.
Coleman ist von den heute noch wirkenden Schöpfern des Freejazz der frischeste; er vereint
persönliche Integrität mit zeitgemäßer Kreativität und ist in diesem Sinne ein wirklicher Künstler. Die
Bandbreite seiner Aktivitäten der letzten Jahre ist erstaunlich und endlich scheint in seiner Person die
Intergation von breiter Anerkennung und kompromißloser Kreativität Realität zu werden. Während
andere glauben, den "Jazz" in Ehre retten zu müssen, indem sie dessen halbe Geschichte konserviert
präsentieren, wandelt Coleman in faszinierender Konsequenz entlang eines Weges, den nur er sich
selbst vorgibt. Manche Teile dieses Weg beschritt er schon mehrmals und manche mögen sie dann
für ausgetreten gehalten haben, aber in den letzten Jahren wurde der Weg durch das Einmünden
verschiedenster Seitengäßchen geradezu dramatisch breiter. Wir erwarten mit Spannung den
nächsten Einblick, der uns gewährt wird.
10
Marc Copland Trio: "Haunted Heart & Other Ballads"
HatOLOGY 581
Rec. 2.4.2001
Marc Copland (p), Drew Gress (b), Jochen Rueckert (dr)
Ein Klaviertrio interpretiert Balladen, und zwar Standards. Das mag nicht gerade als originell
zukunftsweisendes Konzept erscheinen, aber dieses intime Format ist immer wieder der Boden für
erstaunliche, höchst individuelle, nicht selten zeitlose musikalische Äußerungen. Es fordert geradezu
die persönliche Positionierungen im Strome der Tradition und Copland liefert eine wertvolle
Bereicherung des Genres. Seine Variante ist ausdrücklich keine Hommage an Coltrane, obwohl sich
das Programm fest im Repertoire des Meisters verankert, eingerahmt von drei Kurzversionen von "My
Favorite Things" plus Crescent und Greensleeves. Andere Nummern sind von Gershwin, Waldron,
Sting, Porter, und auch ein Copland-Original findet sich. Die Interpretationen sind durchwegs
thematisch stark verwurzelt, lösen sich aber schnell von der Vorlage und entwickeln sich zu einem
Dialog mit ihr in ruhiger, unsentimentaler Konzentration. In der Zurücknahme auf das Wesentliche liegt
hier die Virtuosität, sowohl was die Emotion, als auch was die Struktur betrifft. Swing ist erlaubt, muss
aber nicht sein, und wird jedenfalls nie zum vordergründigen Selbstzweck.
Mamadou Diabate & Bekadiya: "Sira Fila"
Extraplatte EX 610-2
Rec. 2002/03 ?
Mamadou Diabate (balafon, djembe, lunga, dundun, pi), Thomas
Berghammer (tp, flh), Werner Wurm (tb), Achim Tang (b), Shayan
Fathi (dr), Nicholas Baker (kpanlogo), Louis Sanou (balafon,
djembe, voc); feat. Fatoumata Dambele (voc)
Afro-Jazz aus Wien. Auf der dritten Extraplatte-CD des aus Burkina
Faso stammenden Diabate gehen afrikansche Komponenten eine
schöne Verbindung mit Jazzelementen ein, ohne wirklich mit ihnen
zu "verschmelzen". Die Welten bestehen vielmehr nebeneinander,
wobei die afrikanische eindeutig die Grundlage bildet, auf der sich
die Unisono-Melodielinien und jazzigen Solo-Einsprenglser der Bläser entfalten können. Vor allem die
entspannten Beiträge des Posaunisten vermitteln ein sehr souliges Gefühl, der Akustik-Bass ist Anker
und Schwerpunkt im wirbelnden Afrobeat. Diabete gibt an Balafon und Djembe die Richtung der Musik
vor, die erwartungsgemäß sehr stark rhythmusorientiert ist. Das Spektrum reicht dabei von komplexverzahnten Polyrhythmen bis zum einfachen Groove. Gelegentlicher Gesang in der Landessprache
der Sambla (dem Volk, as dem Diabate stammt) bereicht die klangliche Bandbreite. Und für die
Freunde des puren Trommelfiebers gibt es zwei Djembe-basierte Leckerbissen zu hören. Insgesamt
eine runde, anregende Sache, nicht nur zum Tanzen und nicht nur für Afro-Fans!
Sussan Deyhim: “Shy Angels”
Reconstruction and Mix Translation of “Madam of God” by Bill Laswell
Crammed Discs craw 26
Sussan Deyhim (voc), mit Reggie Workman (b), Bill Laswell (b, synth), Zakir Hussain (tabla), Hamid
Drake (dr, tabla), Aiyb Dieng (chatan) u.a.
Die Exil-Iranerin Deyhim hat vor Jahren auf ihrer CD „Madman of God“ Interpretationen persischer
Sufimeister geliefert, die in ihrer spirituellen Verbindung von traditionellem orientalischem Gesang und
Instrumentierung mit westlichen Elementen durchaus erfolgreich war. Bill Laswell meinte, auch diese
aktuelle Produktion „rekonstruieren“ zu müssen, wie zuvor schon historische Aufnahmen von Miles
Davis, Bob Marley und Carlos Santana. Wer Laswell kennt ist vom Ergebnis nicht überrascht. Er greift
11
selbst in die Basssaiten und unterlegt die Musik mit seinen
bekannt tiefen Grooves. Am anderen Ende des Spektrums
ein bisschen der so hippen Tabla-Loops, dazu rockige
Drums, mal als hypernervöse Breakbeats, mal coolrelaxed. Weitere Zutaten: Spaciges E-Piano, ein bisschen
Sitar und die stimmungsvollen akustischen Instrumente der
ursprünglichen Fassung. Mit dem richtigen Schuss
exotischer Spiritualität und der sinnlich-himmlischen
Stimme ist die neue Version fertig für den Dancefloor, aber
auch fürs Chill-Out. Die Scheibe muss laut gehört werden,
damit die erwünschte Derwisch-mäßige Trance eintreten
kann. Intensiv ist die Sache jedenfalls allemal!
Bill Dixon: "Odyssey – Solo Works"
Archive Edition 510-1925 1 (Eigenverlag Bill Dixon)
5 CDs hauptsächlich mit Solo-Trompete, 1 CD mit gesprochenem Wort, eine Broschüre mit 13
Farbreproduktionen von bildnerischen Werken, eine Broschüre mit Texten vom und über den Künstler
(u.a. mit Beiträgen von Graham Lock und Ben Young): das ist die geballte Ladung Bill Dixon, die man
mit dieser Box bekommt. Von Dixon selbst produziert und in einer nummerierten und signierten
Auflage von 1000 Stück im Eigenverlag erschienen ist dieses Werk sein definitives Statement zum
Thema Solo-Spiel und individueller Trompetentechnik.
Die meisten Aufnahmen sind Archivaufnahmen aus den 70-er Jahren, als Dixon am Bennington
College lehrte und seinen musikalischen Entwicklungsprozess akribisch auf Band festhielt. Aber nicht
alle Nummern sind Solo-Trompete: Dixon spielt auf etlichen Nummern Solo-Piano bzw. mithilfe von
Overdubs Duos mit sich selbst (auf Trompeter und/oder Piano); und auch ein Duo mit einem
Keyboarder findet sich!
Die Musik lässt sich vielleicht am ehesten durch das NICHT charakterisieren: sie ist nicht rhythmisch,
nicht thematisch, und abgesehen von elektronischem Echo gibt es Wiederholungen weder im Kleinen
noch im Großen. Dennoch ist jedes Stück ganz klar als individuelle Entität und Ganzheit erkennbar;
die Präsenz des Künstlers ist in jedem Moment sehr eindringlich spürbar. Die Musik hat meist eine
starke erzählerische Qualität, oft getragen von einer melancholischen Grundstimmung. Die
Mitteilsamkeit Dixons gipfelt auf CD Nr. 6 darin, dass er tatsächlich spricht, und zwar nicht unter
Verwendung eines Instrumentes, sondern seiner Stimmbänder! Auch dieser sonoren Stimme zu
lauschen, die über Musik spricht, über Solo-Trompete, Musikunterricht, über das Business, über die
Schwarzen in Amerika, über Odyssey ... auch das ist ein äußerst anregendes, informatives
Vergnügen!
Dixon gelingt in seiner Musik auf magische Weise die Vereinbarung scheinbarer Gegensätze:
Konzentration und Gelassenheit, Schönheit und Rohheit, Dichte und Klarheit und schließlich höchste
Abstraktion mit dem Ausdruck tiefer Emotion. Das Rätsel darüber, wie solches gelingt, macht einen
großen Teil des Reizes dieser Musik aus. Aber wie tief auch immer man in diesen Klang-Kosmos
einzutauchen vermag, er scheint immer weitere Rätsel bereithalten. Sind möglicherweise die hektisch
hingeworfenen Phrasen nichts anderes als selbst-referenzierende Kopien der getragenen, so
einsamen Klagetöne an anderen Stellen? Eine Analogie zu den unendlich verschachtelten
Landschaften der Chaostheorie?
Ist die Musik auch in höchstem Grade magisch, so ist ihr Schöpfer doch in keinem Moment ein
Verschleierer oder Mystifizierer. Obwohl Dixon manch diskographisches Detail unterschlägt (u.a.,
dass Material der Box im Ausmaß von ca. 2 CD bereits früher – wenn auch auf schwer erhältlichen
Vinyl-Ausgaben - erschienen war): die beigelegten Texte und die gesprochenen Ausführungen zu
verschiedensten Themen zeigen, dass es ihm sehr daran gelegen ist, seine Musik und deren
Einbettung in Gesellschaft, Kultur und Business (bzw. die Abgrenzung davon) möglichst akkurat zu
beschreiben. Doch trotz all des beeindruckend präzisen sprachliches Ausdruckes und der so klar
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logischen Gedankenflüsse bleibt Dixon sich letztlich selbst ein Rätsel; der 75-jährige sucht und findet
das Wunder des Kosmos in sich selbst.
Der Gedanke an Narzissmus mag sich aufdrängen, doch Dixon hat längst bewiesen, dass er kein
selbstverliebter Solo-Trompeter ist, sondern zielstrebig sein ureigenstes künstlerisches Konzept in
vielen musikalischen Konfigurationen verfolgt und zur persönlichen Reife bringt. Seine Werke für
größere Ensembles harren indes größtenteils der (Wieder)Veröffentlichung bzw. der Realisierung; aus
ökonomischen Gründen. Odyssey: ein Steinchen im Mosaikbild der Kunst Bill Dixons, ein Meilenstein
auf einer einsamen, mutigen Reise durch das Unbekannte.
Bill Dixon with Tony Oxley: "Papyrus"
Vol. 1: Soul Note 121308-2
Vol. 2: Soul Note 121338-2
rec. 22 & 23.6.1998
Bill Dixon: tp, p
Tony Oxley: dr, perc
Bill Dixons Output ist spärlich. Die letzten Aufnahmen (Vade
Mecum 1&2) stammen aus dem Jahre 1993 und damals
begann auch die musikalische Partnerschaft mit Tony Oxley.
Dixon wie Oxley sind Meister der Essenz, der Destillation auf
das Wesentliche - und im Destillat findet sich ja bekanntlich der Geist der Dinge, der Spirit.
Die meisten Nummern auf diesen beiden CDs sind sensible Meditationen, rhythmisch und melodisch
frei, in einer Balance von Emotion und Intellekt jeweils der präzis-konzentrierte Ausdruck eines
Bewusstseinszustandes. Die klangliche Bandbreite ist beachtlich und sorgt für ermüdungsfreie
Spannung über die 140 Minuten der beiden CDs hinweg: Die Trompete kann lyrisch sanft,
schneidend, stechend klar, amorph verwischt, oder auch organisch tief klingen. Dixon ist
erfreulicherweise auch einige Male am Piano zu hören. Auch in diesen kurzen Solopiano-Titeln, die
jeweils einer Persönlichkeit des Kulturlebens gewidmet sind, überzeugt er durch intime Klangvielfalt;
auch am Klavier ist er unverwechselbar. Oxley fungiert meist als minimalistischer Unterstützer Dixons,
mit zischelnder Percussion und einem guten Maß an Stille, er kann aber auch durchaus lärmend
beunruhigende Puls-Ströme erzeugen. Bei aller Spontaneität ist Dixon dem Einsatz elektronischer
Produktionsmethoden nicht abgeneigt: Man findet Echoeffekt, und in einigen Nummern wird das Duo
durch Overdubbing zum Trio.
Beim wiederholten konzentrierten Hören ergeben sich erstaunliche Assoziationen: Aus dem
Improvisationsfluss heraus sind gleichsam als Kristallisationen immer wieder aufblitzende
"Mikrothemen" erkennbar. Und wenn Dixon tiefe Urklänge bläst drängt sich zusammen mit Oxleys
Percussion der Gedanke an die rituellen Klänge der Tibeter auf, die mit Hörnern und Trommeln den
Kontakt mit den spirituellen überirdischen Kräften suchen. Der Magie von Lebendigkeit und Intimität
dieser Musik kann man sich schwer entziehen. Gleichzeitig hinterlässt sie Ratlosigkeit über den Grund
der Faszination. Nach dieser extrem reduzierte Musik fragt man sich auch, wohin der nächste Schritt
der musikalischen Reise Dixons noch führen kann; er arbeitet zur Zeit an einem Orchesterwerk.
Bill Dixon, Franz Koglmann, Steve Lacy "Opium"
betweeen the lines btl 011 / EFA 10181-2
Rec. 26.4.1973, Dec 19.12.1975 und 6.8.1976
Franz Koglmann (tp, flh), Steve Lacy (ss), Bill Dixon (tp), Josef Traindl (tb); Cesarius Alvim Botelho
(b), Aldo Romano (dr), Steve Horenstein (ts), Alan Silva (b); Walter Mali (cymbals); Toni Michlmayr
(b), Gerd Geier (elec)
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Die CD vereint drei frühe Sessions unter der Leitung von Franz Koglmann, die ursprünglich in kleiner
Auflage auf zwei LPs in dessen Eigenverlag (Pipe Records) erschienen. Endlich kann man diese
Treffen des jungen Wieners mit anerkannten Meistern des improvisierten Jazz nachhören.
In den Aufnahmen mit Steve Lacy (er trägt auch zwei Kompositionen bei) ist ein starkes gegenseitiges
Verständnis der Musiker spürbar, sowohl in kompositorischer, als auch in improvisatorisch Hinsicht.
Lacy sorgt in seinen Improvisationen wie immer für erstaunlich unkonventionellen Swing, gepaart mit
einem gehörigen Maß Freiheit. In dieser Umgebung kann sich auch die typisch zurückhaltenden Art
von Koglmann zaghaft entfalten.
Herausragend ist das von Bill Dixon beigesteuerte - und mit über 17 min bei weitem das längste Stück For Franz. Mit dem Bassisten Alan Silva hatte sich Dixon hier die profunde Ausgestaltung der
ihm so wichtigen tiefen Lagen gesichert; das getragene Thema sollte sich in späteren Aufnahmen von
Dixon wiederfinden. Koglmann kommt hier über die Rolle des Bewunderers und Vollstreckers der
Ideen Dixons allerdings nicht hinaus. Immerhin, es ist Koglmanns Verdienst, die einzige Plattenveröffentlichung mit Bill Dixon in den Jahren zwischen 1967 und 1980 erreicht zu haben!
Die Original-Tonbänder der Aufnahmen sind leider verloren gegangen. Die Klangqualität der von
offenbar stark geschädigtem Vinyl „gemasterten“ Musik ist streckenweise so schlecht, dass der
diesbezügliche Ärger deutlich vom musikalischen Geschehen ablenkt. Dass Teile der ursprünglichen
LPs (mit Kompositionen österreichischer Kollegen), deren Liner Notes und Fotos ersatz- und
kommentarlos gestrichen wurden, ist ein weiteres außermusikalisches Manko dieser Produktion.
Während die klare Linie von BTL bei Neuerscheinungen besticht, wäre eine andere Richtung bei
historischen Reissues diskussionswürdig.
Eric Dolphy: "75th Birthday Celebration"
ZYX FANCD 6085-2 (3 CDs)
Rec. 1.4.1960-4.4.1964
Eric Dolphy (as,fl,bcl,cl) mit verschiedenen Gruppen, inkl. Ron Carter (b,cello), Roy Haynes (dr),
Booker Little (tp), Jaki Byard (p), Oliver Nelson (as), Don Ellis (tp), Mal Waldron (p), Ed Blackwell (dr),
Richard Davis (b), John Coltrane Quartet, Charles Mingus Sextet
Die Möglichkeiten von Label-Fusionen werden in Produktionen wie
dieser deutlich: durch den Zusammenschluss von Prestige,
Riverside, Pablo und Jazz Workshop unter dem Dach von Fantasy
liegt der Großteil des dokumentierte Schaffens von Eric Dolphy in
einer Hand (es fehlen natürlich seine legendäre Platte "Out to
Lunch" für Blue Note und die Session um "Iron Man /
Conversations"). Die Chance wird genutzt, indem man den
genialen Intrumentalisten, Komponisten und Improvisator Dolphy
zum runden Geburtgag mit einer Anthologie feiert, wie schon zuvor
Thelonious Monk, Milt Jackson und Dexter Gordon in
entsprechenden Produktionen. Statt Sammler mit teuren LuxusBoxen mit einem oder zwei Bonus-Tracks zu gängeln, geht es hier
wirklich um die Musik: die in schlichtem Schwarzweiß aufgemachte
Produktion im Klappdesign besticht durch ein 27-seitiges Booklet mit genauen diskographischen
Angaben und einem exzellenten Essay (in Englisch und Deutsch), in dem Dolphy als der Vorreiter der
Postmoderne charakteristiert wird, weil er schon damals, in der Frühzeit des Freejazz, keinen
Widerspruch zwischen Swing, Latin-Rhythmen, Indischem und komplex Freitonalem sah, alles
verbunden mit instrumentaler Virtuosität und unglaublicher Musikalität. Mehr ist hier auch zur Musik
selbst nicht zu sagen, das würde den Rahmen sprengen. Die Kompilation enthält in chronologischer
Reihenfolge repräsentative Beispiele aus fast allen wesentlichen Produktionen der Jahre 1960 bis
1964, und aller von ihm gespielten Instrumente, bis zum legendären Bassklarinetten-Solo über "God
Bless The Child". Auch Aufnahmen als Sideman bei Ron Carter, Mal Waldron, Oliver Nelson, George
Russell (diese Version von "'Round Midnight"!) und John Coltrane ("My Favorite Things") sind
vertreten. Sie schließt mit "So Long Eric", live mit Charles Mingus zwei Monate vor seinem Tod
aufgenommen.
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3 CDs (3 Stunden, 45 Minuten!) fast zum Preis von einer, das ist ein weiterer Kaufgrund für alle, die
wenig von Dolphy kennen, oder die ihre vielen Dolphy-LPs nur selten auf den Plattenteller legen
wollen.
Gratulation, Eric! Gratulation, Fantasy! Gratulation den Hörern!
Drechsler / Steger / Tanschek feat. Lorenz Raab: "The Monk in all of us"
Crack 112004003
Rec. 24.8. & 3.9.04, live im Porgy and Bess, Wien
Ulrich Drechsler (bcl, contra-bcl), Oliver Steger (b), Harald Tanschek (dr) + Lorenz Raab (tp)
Hommagen an Thelonious Monk sind ja nicht gerade selten, im Trio mit einer Bassklarinette als
führender Stimme erweckt die Sache aber doch Neugierde. Auf sechs der zehn Tracks ist außerdem
die klare Trompete von Lorenz Raab zu hören. Monks Musik wird respektvoll nahe am Original in
beboppiger Weise - die Ballade in "angemessener" Weise recht getragen - ohne Überraschungen
interpretiert. Auffällig ist zeitweise lediglich eine besonders starke groovende Grundierung durch den
Bass Stegers, der dann eine lässige Funkyness generiert, die an eine Café-Drechsler-Session
erinnert. Hervorstechend auch Stegers solo-Interpretation von "Ruby, My Dear". Lorenz Raab trägt mit
Ideenreichtum und Tonvarianz viel dazu bei, das Interesse des Hörers wach zu halten. Insgesamt
eine schöne Produktion, der etwas weniger ehrfurchtsvolle "Originaltreue" und dafür etwas mehr Mut
zum Experiment durchaus gut getan hätte.
DUBBLESTANDART "Streets of Dub"
Select Cuts 2007 (Ixthuluh)
Dubblestandart ist die österreichische Dub-Formation. Dub
ist der schwere träge Groove, der in seiner Monotonie
hypnotisiert und weitgehend ohne Gesang auskommt. Das
Genre ist reich an klischeeartigen Mustern, die auch hier
bisweilen etwas zu ausgiebig zelebriert werden.
Dubblestandart sind jedoch offen gegenüber anderen
Formen der zeitgenössischer Underground- Musik der
elektronischen Art. So finden sich Schnittstellen zu Dance,
Drum'n'Bass und natürlich sind auch Remixer zugelassen.
Die Musik ist für vielfältigen Gebrauch geeignet, nicht nur
für die Party, sondern auch als Hintergrundmusik zu allem
Möglichen. "Vibrations" und entspannter "Fun" stehen wie
erwartet im Vordergrund
Jon Eberson Group: “Dreams That Went Astray”
Jazzland 013 421-2
Rec. Jänner und August 2000
Jon Eberson (g), Bugge Wesseltoft (key, synth-b), Tom Erik
Antonsen (b), Pal Thowsen (dr), Pal Strangefruit (vinyl), Beate
(voc)
Es beginnt rockig-funky im Stile des übermächtigen John Scofield.
Wie er ist auch Eberson Meister eines entspannten Groove, der
nichtsdestotrotz einen hohen Dichtegrad erreichen kann. Bugge
Wesseltoft spielt Keyboards, für Sample-Zusätze sorgt ein
gewisser Strangefruit am Vinyl, auf drei Nummern ist souliger
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Gesang von Beate zu hören. Hervorzuheben ist der gelassen grummelnde E-Bass, der den Anker im
abwechslungsreichen Geschehen darstellt. Eberson selbst drängt sich solistisch nie auf und dient
lieber dem Allgemeingeschehen, großzügig aufgebauten Spannungsbögen, die sich meist auf
ruhigem Bluesfeeling mit einem Schuss Funk aufbauen und Zeit haben sich zu entfalten. Es ist nicht
bedeutend, dass es sich um die CD eines Gitarristen handelt. Aktueller Jazzrock von solider Qualität,
offen für neue Strömungen!
James Emery: "Luminous Cycles"
Between the lines btl / EFA 10185-2
Rec. Oktober 2000
James Emery: ac-g; Marty Ehrlich, Chris Speed: sax, cl; Drew Gress: b; Gerry Hemingway: dr,
glockenspiel; Kevin Norton: marimba, vib, tympani, bowed tam-tam
Diese Musik überzeugt in mehrfacher Hinsicht: da ist der wunderbare kammermusikalische
Ensembleklang dieser rein akustischen Besetzung (allein der Reiz der Kombination von akustischer
Gitarre, Vibraphon und Klarinette!). Dann ist da die starke, sich ständig verschiebende rhythmische
Grundierung von Hemingway, verstärkt durch Norton. Und nicht zu vergessen die Reibung des
Zusammenklanges der zwei Holzbläser! Alle Kompositionen stammen vom Leader und ergeben
zusammen ein äußerst homogenes, dennoch sehr vielschichtiges Ganzes. Da ist die Spannung
zwischen den thematisch gebundenen Phasen (verwurzelt in der Tradition des einleitenden Themas)
und den oft parallelen Improvisationen, die jedoch immer recht kontrolliert erscheinen. Jede Sekunde
kann eine Überraschung bringen; diese Musik ist unglaublich abwechslungsreich und lebendig.
Obwohl ein klares Konzept dahinter steht, ist eine große Freiheit spürbar. Postmoderner Jazz, der
uneingeschränkt Spaß macht und doch den Intellekt anspricht.
James Emery / Joe Lovano / Judi Silvano / Drew Gress: "Fourth World"
between the lines btl 020 / EFA 10190-2
Rec. 15-16.5.2001
James Emery (ac g), Joe Lovano (ts, ss, C melody sax, as, cl, perc, dr, gongs), Judi Silvano (fl, voice);
Drew Gress
Die Platte startet beschwingt-boppig, wird in der nächsten Nummer trance-fördernd und taucht danach
bald in tiefe Soundbäder kollektiver Improvisation ab. Verschiedene Gruppenvarianten von Duo bis
Quintett (jawohl!) erlauben vielfältige Klangkombinationen, wie das reizvolle Aneinanderreiben von
weiblichem Scatgesang oder Flöte mit Sopransaxophon. Der Duktus der Musik wird in Folge immer
abstrakt-spröder und manchmal droht das Geschehen in strukturlose Beliebigkeit abzugleiten, die
man anderweitig schon zu hören vermeint haben mag. Immer wieder jedoch sind komponierte
(Rettungs)Anker griffbereit. Am Saxophon gebietet Lovano über eine erstaunliche stilistische
Bandbreite, kann Assoziationen von Lee Konitz bis Steve Lacy evozieren und bleibt dabei doch immer
er selbst. An Schlagzeug und Percussion erweist er sich als zurückhaltender, sensibel
akzentuierender Rhythmiker. Die Kompositionen sind zur Hälfte von Emery und Lovano, aber durch
die Omnipräsenz Lovanos kommt diesem klar die dominante Rolle zu. Das Bewusstsein, dass seine
instrumentelle Zweifaltigkeit nur durch Overdubbing entstanden sein kann, mag die Illusion von
Spontaneität trüben, aber das ist das Problem des Hörers, nicht der Musik. Hat man am Beginn der
CD belebende Frische verspürt, so fühlt man nach der Mitte eine gewisse Erschöpfung ob des
gnadenlosen Ausgesetztseins an diese permanente Kreativität, die keine Sekunde des Verbleibens
erlaubt. Doch Durchhalten heißt die Parole! Die CD schließt mit einer wundervollen Ballade, gefolgt
von einer fröhlichen Bossa, in der Lovano beweist, dass er auch in solch konventionellem Umfeld ein
Feuerwerk der improvisatorischen Kreativität zünden kann, und Emery, wozu die Gitarre schon immer
gut war. Das Gesamtspektrum dieser CD hinterlässt Verblüffung und eine gewisse Irritation.
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James Emery: "Transformations"
Between the lines BTL 027 / EFA 10197
Rec. September 2001
Klangforum Wien unter der Leitung von Emilio Pomárico; Tony Coe
(ts,cl), Franz Koglmann (fl-h), James Emery (ac-g), Peter Herbert (b)
Das 40-minütige "Transformations" nennt sich auch schlicht "Musik
für 3 Improvisatoren und Orchester", besteht aus fünf Sätzen und
drei Interludien und ist kurzweilig anzuhören. Rhythmische
Gebundenheit, Improvisation und Intensität kommen vom Jazz,
komplex vielschichtiger Ensembleschönklang von der Neuen Musik.
Dass auch die Mitglieder des Klangforums durchaus zu swingen verstehen, dürfte sich inzwischen
herumgesprochen haben. Die solistischen Einsprengsel sind willkommen, haben an der Definition des
Gesamten aber nur geringen Anteil. Die große Menge der verschiedensten klanglichen und
rhythmischen Bausteine, die in schneller Abfolge zum Einsatz kommen, erweckt zeitweise den
Eindruck von hektischem und etwas ziellosem Probieren in neuem Terrain. Fehlt hier mehr Mut zum
Abenteuer oder mehr Bekenntnis zur Stabilität? Oder eine klare Entscheidung zugunsten eines der
beiden Prinzipien? Der zweite, kürzere Teil der CD besteht aus vier Quartetten, gespielt von Emery,
Koglmann, Coe und Herbert. Auch hier ist alles drinnen zwischen sperrigen, arhythmischen Neutönen
bis zu lässig swingenden Jazzthemen, immer mit der gebotenen emotionalen Zurückhaltung.
Ellery Eskelin: "Vanishing Point"
HatOLOGY 577
Rec. 16.12.2000
Ellery Eskelin (ts), Mat Maneri (viola), Erik Friedlander
(cello), Mark Dresser (b), Matt Moran (vib)
Die Musik, die auf dieser CD festgehalten ist, entstand
improvisiert, ohne Proben und nach nur minimalen
Absprachen. Der Kopf des Ensembles ist ein
Saxophonist, der sich zum Jazz bekennt und klassische
Musik mag. Trotz der Streicher will er diese CD aber
nicht als Klassikversuch verstanden wissen. Die Mitte
des Ensembles bilden also Streicher, die gestrichen
komplexe Klangflächen und gezupft Multiimpulse hervorbringen. Der Rahmen wird geschlossen vom
metallische Vibraphon. Trotz der scheinbar uneingeschränkten Freiheit gehen die Musiker mit
äußerster Vorsicht ans Werk um ihre filigranen Klangschöpfungen nicht durch unkontrollierte
Spontaneität zu gefährden. Eskelins Technik ist umfassend aber er kommt ohne Protzerei aus, ja fast
möchte man sagen, er zeichnet sich durch Understatement aus. Er ist kein radikal freier Improvisator.
Wiederholungen und lineare Entwicklung sind ihm Teil der Möglichkeiten und bieten dem Zuhörer
Nachvollziehbarkeit in für derart freie Musik unerwartet hohem Maß. Die gesamte Gruppe harmoniert
in der Angemessenheit der Mittel; sogar klassisch geschultes Streichervibrato ist gestattet. Eine
Übung in Disziplin und Freiheit, genussvoll und lehrreich zugleich für den Hörer.
FANFARE DU LOUP: "Hors de Portées"
Zone 14
Rec. Rec. 8.7.2001
Ian Gordon-Lennox (tp,tuba), Bill Holden (tp,voc), Yves Massy (tb), Marco Sierro (as), Chistophe
Berthet (ss), Yves Cerf (ts), François Chevrolet (bs), Chistian Graf (g), Jean-Luc Riesen (b), Sandro
Rossetti (b,perc), Raul Esmerode (dr,perc,voc)
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Eine rätselhafte CD und eine große Überraschung. Diese Schweizer Bigband bringt multikulturelle
Vielschichtigkeit, schrägen Humor, satte Harmonik, harten Rockbeat, groovenden Swing, sensible
Ethnoklänge aus allen möglichen Weltgegenden - und das alles wie aus einem Guss. Das Ensemble
zählt, nicht solistische Egotrips. Keine oberflächlichen Effekte und dennoch keine Sekunde
Langeweile. Die spärlichen Informationen am hübschen CD-Cover und im Internet lassen gerade
soviel erahnen: Es ist eine Art musikalisches Theater, das wir hier verfolgen dürfen. Ja, Dramatik und
Theatralik sind tatsächlich weitere Attribute, die wir nennen möchten. Riecht stark nach unverhofftem
Geheimtipp, oder?
Avram FEFER Quartet "Lucille's Gemini Dream"
CIMP #237
Rec. Rec. 11&12.1.2001
Avram Fefer (cl,ts,as,ss), Steve Swell (tb), Wilber Morris (b), Igal Foni (dr)
Vom Label CIMP ist man Freebop in perfektem Klang gewohnt. Diese CD erfüllte diese Erwartungen
voll und ganz (und nicht zufällig gehören Well und Morris sozusagen zur Hausband von CIMP).
Boppig singbare Themen, die ohne Ornette Coleman nicht denkbar wären, und schon geht es ab in
die freie Improvisation - und wieder zurück in swingende Gefilde. Dazwischen ausgedehnte Soli, auch
unbegleitet. Die Musik lebt von diesem Wechsel, hat jedoch kaum erkennbare Struktur, die darüber
hinaus geht. Auch die spieltechnischen und musikalisch-kreativen Leistungen der Solisten bleiben im
Rahmen des Gewohnten. Trotz der (potenziellen) Spontaneität mangelt es der Sache an Intensität
und Originalität, vielleicht auch an Spaß. Erstaunlich, wie verwechselbar hochkomplexer,
hochindividueller improvisierter Jazz sein kann. Ein Musterbeispiel dafür, wie Freiheit in unbedeutende
Beliebigkeit führen kann?
Flower Machine: "Dancing On Monday"
Dacapo 9464
Rec. 8.-9.2.2001
Thomas Agergaard (ts, alto-fl), Simon Spang-Hanssen (ss, as, ts), Klavis Hovman (b), Marilyn Mazur
(dr, perc)
Die von den Saxophonen unisono in ausgedehnten, komplexen Themen vorgetragene Passagen
können ermüden; trotz des ansatzweise funky agierenden Bassisten und des dynamischen Spiels von
Mazur. Da gehen die ruhigeren Phasen mehr in die Tiefe und erlauben klangliche Entfaltung. Dann
lässt ein intensives Solo am orientalisierendem Sopransax aufhorchen. Auch der Einsatz der Alt-Flöte
lohnt sich und bring mit einem Hauch japanischer Zen-Meditationsmusik willkommene Entspannung
und an anderer Stelle an Dolphy erinnernde Spielfreude. Der dem Bass eingeräumte solistische
Spielraum wird unspektakulär genutzt. Insgesamt eine gute Produktion, die sich aber kaum durch
markante Eigenheiten von Vergleichbarem abhebt.
frimfram collective: "Reality Music"
frimfram production ff 02
Carsten Netz (ts, cl, fl, voice), Jo Ambros (g), Uwe Lange (b), Torsten Krill (dr, perc)
+ Dirk Blümlein (el-b), Uwe Schenk (p), Hans Peter Ockert (flh), Hansmartin Eberhardt (as), Uli Röser
(tb)
Hier also der nächste Streich von frimfram, und wieder eine gelungene, runde Sache. Nachdem wir
bei einem lyrischen Lied, so erfrischend wie klare Bergluft, schon ins Träumen abgegleitet sind, reißt
uns das Dröhnen einer heavy Stromgitarre heraus - in die "Reality" eben! Ja, die Gitarre, der hier eine
tragende Rolle zukommt, ist zu Vielem fähig. Diese Musik entspricht perfekt der Realität des
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postmodernen Städters, der zwischen Stress und Entspannungssuche pendelt. Elegisches,
Orientalisches, Rockiges. Der Atem der Zeit, zwischen reduziertem, wohlgesetzten Schönklang und
wohldosiertes Chaos zulassenden Energieausbrüchen lässt Raum für Gegebenheiten und
Sehnsüchte. Liedhafte Musik zum Nachdenken, Träumen, Abarbeiten, Zurückblicken, Fröhlichsein,
Kräftesammeln.
Funky Butt: "The Glove"
Sonor Records SONCD 8005
Rec. 18.6.2003
Vidar Sæther (sax), Kåre Nymark jr. (tp), Even Skatrud
Andersen (tb), Anders Aarum (p), David Gald (tuba), Knut
Lothe (dr)
Es schrummt und trötet nach Herzenslust, das Tanzbein
und der Hintern schwingen (der hüsche Bandname ist
übrigens inspiriert von einem bekannten Lokal gleichen
Namens in New Orleans) und man meint sich
schweißgebadet inmitten einer New Orleans Marching
Band. Allerdings haben die keine Pianos dabei und außerdem spielt sich die Szene in Oslo,
Norwegen ab. Ja, auch das können die Norweger also: ordentlich grooven und die Trommel rühren,
dass es funkt! Die solistischen Glanzpunkte sind zwar unauffällig, die Kompositionen dieser
Produktion hingegen großteils originell bis ausgesprochen ohrwurmartig - und oft gleichzeitig elegant.
Die Aufnahme wurde standesgemäß naturbelassen „live im Studio“ durchgeführt, was die Atmosphäre
belebt. Die Spannung kann allerdings nicht permanent gehalten werden und so gibt es etliche
Kreativpausen (und damit sind nicht die wohltuenden Balladen gemeint). Sei’s drum, das Marschieren
und die lustigste Party erfordern Pausen! Jedenfalls ist diese Sache weit mehr als eine Kuriosität!
Nordic Marching!
Charlie Haden with Michael Brecker
"American Dreams"
Universal 064 096-2
Rec. Mai 2002
Charlie Haden (b), Michael Brecker (ts), Brad Mehldau (p),
Brian Blade (dr), and a 34 piece orchestra
"Musik zum Träumen", eine Radiosendung, irgendwann
nach Mitternacht, als Soundtrack zu einem Film der
Einsamkeit. Oder der Romanze. Ich habe mich immer
gefragt, woher die Programmmacher solche Musik wohl
nehmen mögen. Auf einen wie Charlie Haden wäre ich dabei nie gekommen. Aber der Ex-Freejazzer
und Revoluzzer ist ja längst ins Lager der Bewahrer übergewechselt. In diesem ist er nun u.a.
zuständig für diejenige Art von Emotionalkitsch, für die die Amerikaner besonders anfällig zu sein
scheinen. Von Streichern unterlegte American Dreams, die wohl als Ausgleich zu den realen
Albträumen dienen mögen, die die Amerikaner plagen. "Music is a healing force" einmal anders. Aber
ganz ehrlich: Ist sie nicht einfach zum schmachten schön, diese Musik? Die Produktion kann durchaus
mit interessanten Momenten aufwarten, zumal das Star-Quartett sensibel und einfallsreich agiert und
auch ohne Orchester zu hören ist. Hadens Solos sind sowieso auf großartige Weise einfach anders
und bei Ornette Colemans "Bird Food" ist schließlich jeder Wiederstand gebrochen. Derartiges gibt
uns Kraft, die Sentimentalität zu genießen, ohne der süßen Verschnulzung gänzlich zu erliegen.
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Herbie Hancock / Randy Brecker / Roy Hargrove: "Directions In Music"
Verve 589 654-2
Rec. live 25.10.2001
Herbie Hancock (p), Michael Brecker (ts), Roy Hargrove
(tp, flh), John Patitucci (b), Brian Blade (dr)
Die angesagte Supergroup des Jubiläumsjahres 2001
bringt perfekten modalen Jazz im Stile der mittleren 60erJahre. Also Musik, die damals mögliche Sensibilitäten und
Freiheiten an der Grenze zum Freejazz auslotete und
darin Standards setzte, die bis heute Gültigkeit haben.
Dieser Konzertmitschnitt ist also eine historische Schau,
die demonstriert, wie das Jonglieren mit Themen,
perfektes Interplay und technisch virtuose Improvisation
zu musikalischen Spannungsbögen führen können, die dem Zuhörer Staunen abgewinnen und
angenehme Schauer über den Rücken jagen können. Womit der Beweis geführt wäre.
Welcher Beweis? Na der, dass mit John Coltrane und Miles Davis (denen die Angelegenheit
gewidmet ist) der Zenith des Jazz bereits vor Jahrzehnten überschritten war. Der Untertitel der CD
("Live at Massey Hall") verweist in aufdringlicher Weise gar auf noch weiter zurückliegende JazzÄonen - 1953 fand in ebendieser Halle ein legendäres Konzert von Bebop-Heroen wie Parker und
Gillespie statt. Wenn also der Jazz seit Jahrzehnten tot ist, ist auch die Gestaltung des CD-Booklets in
dezentem Trauer-Grau durchaus passend.
"Directions in Music", das war für einige Jahre der Spruch, den Miles Davis auf seine Platten setzen
ließ - mit berechtigtem Stolz auf die von ihm begangenen neuen Wege. Dieser Spruch als Titel der
vorliegenden CD ist schlichte Anmaßung. Trotz alledem: Wenn man den Ballast der historischen
Anspielungen und Überheblichkeiten über Bord wirft, bleibt gute Musik und spannende LiveAtmosphäre. Nicht mehr und nicht weniger.
Marilyn Harris: "Future Street"
Wrightwood Records WRCD-1580
Rec. Nov & Dec 2003
Marilyn Harris (p, voc), Wayne Bergeron (flh), Dave Carpenter (b),
Pete Christlieb (ts), Larry Corbett (cello), Mario De Leon (violin),
Dan Higgins (as,ts,fl), Piotr Jandula (viola), Bob Leatherbarrow
(dr,vib), Bill Liston (bs,fl), Warren Luening (flh), Andy Martin (tb),
Bruce Otto (tb), Michelle Richards (violin/concertmaster), Dave
Stone (string bass), Mark Winkler (voc), Mark Wolfram
(voc,perc,key)
Freunde des klassischen Vokaljazz (ich selbst zähle mich da ja weniger dazu) sollten diese CD
versuchen. Dies ist kein weiteres Herunterleiern abgedroschener Standards sondern frisches
Songmaterial, das teilweise das Zeug dazu hat, selbst zu Standards zu werden. Man bedient sich
erfolgreich aller bewährten Ingredenzien - und wohl auch Klischees - um makellos niveauvolle,
jazzmäßige Unterhaltung ohne jede Bruchstelle zu produzieren: Geschmackvolle arrangierte
Bläsersätze, schwellendes Vibraphon, kurze Jazzsoli, dezenter Swing, ein wenig Latintouch, zum
Glück noch weniger Streicherschnulz. Und natürlich eine samtige, obwohl kräftige weibliche Stimme
gänzlich ohne Irritationen, die sich ab und an auch mit einem männlichen Gegenpart in ein Duett
verstrickt. Die Mischung ist äußerst wohlklingend, und öfters meint man unweigerlich, man habe das
schon irgendwo einmal gehört. Aber, wie gesagt: keine Standards, sondern alles neues Material.
Erstaunlich, irgendwie!
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Wendell Harrison: "The Eight House - Riding With Pluto"
Entropy ESR009
Rec. ?
Wendell Harrison (sax, cl); Juma Santos (perc) auf einigen Tracks
Solo-Saxophonisten haben es schwer. Harrison bietet weder spieltechnisch oder klangmäßig
Besonderes, auch keine interessanten Themen oder Strukturen. Der improvisatorische Einfallsreichtum scheint eng umgrenzt, so etwas wie Intensität kommt nur selten auf. Bruchstückhafte
thematische Fetzen dienen als Ausgangspunkte für ausgedehnte Improvisationen, die meist auf
einem simplen Beat basieren oder keinem durchgehenden Metrum folgen. Klare Richtungen sind
meist kaum erkennbar, diverse Spielklischees dagegen öfters. An der Klarinette klingt die Musik etwas
frischer, weniger bemüht und stärker fokussiert. Vielleicht, weil auf diesem Instrument die Zahl der
übergroßen Vorbilder nicht ganz so groß ist. Gänzlich überflüssig ist das zäh-einfallslose CongaGetrommel von Juma Santos - glücklicherweise nur auf einigen wenigen Tracks. Zu allem Überdruss
lässt die Soundqualität dieser Produktion streckenweise zu wünschen übrig, was gerade bei derart
intimer Musik stört.
Hiromi: "Another Mind"
Telarc CD-83558
Rec. September 2002
Hiromi Uehara (p,key), Mitch Cohn (el-b), Dave DiCenso (dr) +
Gäste: Anthony Jackson (b), Jim Odgren (as), Dave Fiuczynski
(g)
Die 24-jährige, in Boston lebende Japanerin legt ein
hörenswertes Debut vor. Ihre eingängigen Eigenkompositionen
mit Hang zum Pathos zeigen eine erstaunliche Bandbreite zwischen energetischem Post-Bop,
funkigem Jazzrock, groovigem Soul, rockig-quirligem Hochgeschwindigkeits-Boogie und Stride, mit
einigen balladesken Verschnaufpausen. Die Musik ist technisch brillant vorgetragen, mit vollem Sound
und einer gewissen lässigen Eleganz auch in komplexen Phasen, die verstehen lässt, warum gerade
Ahmad Jamal uns die Dame besonders empfiehlt. Das Trio ist wunderbar aufeinander eingespielt und
ohne besonders innovativ zu sein macht die gesamte Produktion einen runden, frischen Eindruck.
Dennoch: die in den Medien hochgejubelte Pianistin wird in den nachfolgenden Produktionen erst zu
zeigen haben, zu welcher Entwicklung sie fähig ist. Das Potential dazu ist jedenfalls beachtlich.
Inside Out: "Soleil"
Altri Suoni AS 138
Rec. live, November 2001
Serge Kottelat (el-g), Popol Lavanchy (ac-b), Amthieu Schneider (fl), Alain Tissot (dr)
Die reizvolle Besetzung mit den Gegenspielern Gitarre und Flöte definiert den individuellen
Gruppensound. Dezent kraftvoller Rockjazz ist die eine Säule der Musik, gefühlvoll ruhige
Introspektion die andere. Ökonomisch eingesetztes Blues-Feeling an der Gitarre, klassisches
Feingefühl an der Flöte und ein fundierter Beat verdichten sich in der Atmosphäre der Live-Aufnahme
mit prägnanten Themen zu einem entspannten und doch anregenden Hörerlebnis.
21
Jazz Bigband Graz: "A Life Affair"
Universal 9866181
Rec. live at the Generalmusikdirektion Graz, 28.4.2003
Heinrich von Kalnein, Robert Friedl, Klaus Gesing, Christian
Bachner, Martin Harms: sax; Andy Pesendorfer, Axel Mayer, HortMichael Schaffer, David Jarh: tp; Wolfgang Messner, Reinhard
Summerer, Helgi Jonsson, Hans Radinger: tb; Olver Kent (p), Uli
Rennert (key, synth), Henning Sieverts (b), John Hollenbeck (dr,
perc)
Die von Heinrich von Kalnein und Horst-Michael Schaffer geleitete
JBBG hat sich zu einer weiteren tragenden Säule der österreichischen Bigband-Szene gemausert. Die
suitenartige Musik dieser Liveproduktion - ausschließlich Eigenkompositionen von Bandmitgkliedern ist als Soundtrack zu einem imaginären Roadmovie konzipiert und führt uns durch vielgestaltige
Klanglandschaften. Moderner, klassischer Bigbandsound des anspruchsvollen Mainstreams, ohne
Swing-Seligkeit, aber auch ohne Avantgarde-Kanten oder Überraschungen. Satter Bigbandsound,
feine Klangflächen, komplexe Themen, lebendige Soli, munterer Groove. Bei der spanisch
angehauchten Schlussnummer kommen starke Reminiszenzen an Gil Evans / Miles Davis auf - soll
uns auch recht sein! Bigband-Fans werden sowieso nicht an dieser CD vorbeikommen, also der Aufruf
an alle, die glauben - noch nicht - zu dieser Schar zu gehören: Reinhören!
PS: Ein Extraplus für die originelle Covergestaltung mit dem musikalischen Stadtplan!
Jobutsu Project
"Listen in Clear Light Vol. 1 - Prologue"
Last Call 3076212
Eine Gruppe japanischer Elektronik-Musik macht sich auf den
Weg nach Tibet, um sich hier musikalisch mit der Spiritualität
der buddhistischen Mönche auseinander zu setzen. Das
Marketing verspricht vollmundig tiefe Verbindungen östlicher
Weisheit mit modernen Beats. Kann das gut gehen? Nein!
Die Doppel-CD in der aufwändig gestalteten Box bringt fade
Elektronik-Musik auf Basis locker groovenden Beats. Als
unaufdringlicher Hintergrund in Kaufhäusern vielleicht
geeignet. Nanu - ab und zu ist Gemurmel von tiefen
Männerstimmen herauszuhören. Hmmm? Ach ja, die tibetischen Mönche, die mit der Spiritualität!
Alles klar! Es ist beschämend genug, religiöse Rituale für Kommerz zu missbrauchen. Gerade
tibetische Gebete und begleitende Geräusche (Schellen, Trompeten) wollen ausdrücklich nicht als
unterhaltende Musik verstanden werden, sondern sind "amusikalische" Hilfsmittel, die die Meditation
unterstützen sollen. Aber was kümmert das die Unbekümmerten beim Dance und beim Chill-Out?
Vorsicht: Weitere Folgen der Serie sind angekündigt! PS: Der Autor wäre an Gegenmeinungen
interessiert - es muss doch positive Aspekte geben! Bitte!
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Franz Koglmann: "Venus in Transit"
Between the lines btl / EFA 10185-2
Rec. Februar 2001
Franz Koglmann: tp; Chris Speed: ts, cl; Michael Rabinowitz:
bassoon; Mat Maneri: viola; David Fiuczynski: g; Peter
Herbert: b; John Mettam: cocktail dr, perc; Wolfram Igor
Derntl: voc
In der für Koglmann typisch vielschichtigen Art ist Venus in
Transit gleichzeitig die Musik für ein Theaterstück und eine
Widmung an Marilyn Monroe. So erklärt sich die
unterhaltsame Grundtendenz der Musik und die Interpretationen von I Wanna Be Loved By You und
Some Like It Hot, die sich unter die Kompositionen Koglmanns mischen. Die kurzen Stücke von
Venus leben vom abwechslungsreichen Ensembleklang und - auf die Gefahr hin, ein Klischee
heraufzubeschwören – vom augenzwinkernden, trägen Wiener Schmäh, der immer wieder aufblitzt.
Die andere Hälfte der CD nennt sich Wahlverwandtschaften und bezieht sich auf Goethes
Feststellung einer Analogie zwischen Musik und Architektur. Dieser Idee folgend werden drei
bekannte Gebäude musikalisch vorgestellt. Es sind komplexe, suitenartige Stücke kammermusikalischer Grundstimmung. Die Wiener Urania wird durch ein Duo Cello/Fagott-Duo dargestellt,
die Maison à Bordeaux und das Case Study House von Los Angeles entwickeln in voller Besetzung
durchaus auch jazzmäßig metrische Elemente. Die Musik ist stark durchkomponiert und –arrangiert;
auch in den atonal-freien Passagen ist sie immer kontrolliert, sodass das Ausmaß von Improvisation
schwer abschätzbar bleibt. Eine CD für aufmerksame Hörer!
Bertrand Lajudie: "Watercolours"
Altri Suoni AS109
Rec. 2002
Bertrand Lajudie (p, key), Bernard Paganotti (b), Antoine Paganotti (dr), Denys Lable (g), Mino Cinelu
(perc), Eric Seva (ts, ss), Stephane Guillaume (bcl), Nicolas Folmer (tp, flh), Claude Egea (tp, flh),
Jacques Bolognesi (tb), Denis Leloup (tb), Lionel Surin (fr.h), Eric Karcher (fr-h)
Wer sich angesichts der Großbesetzung Bigbandfreuden erwartet wird enttäuscht: nur ab und zu wird
das Basisquartett erweitert; für klanglichen Reichtum soll dagegen öfters der Synthesizer sorgen.
Strukturell und kompositorisch ist die Produktion angesiedelt zwischen jenem Fusionbereich, in dem
Weather Report zuletzt vor ungefähr 25 Jahren für Höhepunkte gesorgt hatte und einem an Bill Evans
(den Pianisten) erinnernden Lyrizismus. Die paar Anleihen an Gil Evans machen dabei das Kraut nicht
fett. Und die technisch unauffälligen solistischen Leistungen verstärken eher den Eindruck von
mangelndem Ideenreichtum und fehlender Originalität.
Abbey Lincoln: "It's Me"
Verve / Universal 038 171-2
Rec. Nov 2002 / Feb 2003
Abbey Lincoln (voc), Kenny Barron (p), Ray Drummond (b), Jaz
Sawyer (dr), Julien Lourau (ts,ss), James Spaulding (fl,as),
Laurent Cugny (arr,cond), Alan Broadbent (arr,cond)
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Bei all den Wellen von weiblichen Gesangs-Stars und Sternchen, mit denen uns alljährlich die großen
Musikkonzerne überschwemmen (immer noch jünger, noch blonder, noch "sinnlicher") tut so eine CD
gut. Nicht nur, weil sie zeigt, dass Alter keine Schande ist (auch wenn uns das betont auf jugendliche
Faltenlosigkeit getrimmte Coverbild einer flippigen 73-Jährigen diesbezüglich etwas verunsichert), und
dass Kontinuität im künstlerischen Schaffen möglich ist, sondern auch weil die Musik schlicht gut ist.
Begleitet von einer einfühlsamen Jazzgruppe um den großartigen Kenny Barron interpretiert sie
sowohl fremde („Skylark“) als auch eigene Kompositionen, sowie den traditionellen Gospel-Titelsong
(im grandiosen Duo mit Barron). Die Orchesterbegleitung – glücklicherweise nicht auf allen Tracks mit sülzigen Streichern und nervigem Flöten-Gefiepe ist entbehrlich, trägt aber immerhin etwas zur
Abwechslung bei. Die Stimme Lincolns hat schon immer etwas unangepasst Brüchiges, das – ähnlich
wie bei Nina Simone, oder bei Lincolns großem Vorbild, Billie Holiday - ihr authentische Tiefe verleiht.
Man erinnert sich: Lincoln hat sich in den 60er-Jahren mit ihrem damaligen Mann Max Roach aktiv für
die Emanzipation der Schwarzen in den USA eingesetzt, was vom Establishment entsprechend mit
einem Quasi-Boykott ihrer Musik beantwortet wurde. Auch wenn sie inzwischen längst das direkt
Kämpferische abgelegt hat, mit „It’s Me!“ macht sie einmal mehr ihren sehr persönlichen Standpunkt
deutlich.
Charles Lloyd
“Hyperion With Higgins”
ECM 1784
Charles Lloyd (ts, taragato), Billy Higgins (dr, perc), John
Abercrombie (g), Larry Grenadier (b), Brad Mehldau (p)
Rec. Dec 1999
Enthielt die erste Tranche dieser Session (erschienen auf
dem Vorgängeralbum „The Water Is Wide“) neben
Eigenkompositionen auch Traditionelles (Gospels,
Ellington), so ist dieser zweite Teil ausschließlich Originals
gewidmet. Nach den Jahren nordischer Elegie und
fernöstlich gestimmter Meditation wird mit dieser Musik das
Bekenntnis zur afro-amerikanischen Tradition weiter
vertieft. Lloyd, der große, reife Meister verweigert sich dem Zwang, in „Projekten“ dem Zeitgeist
nachzulaufen. Er spielt großteils seit vielen Jahren konsequent immer wieder die gleichen Themen,
auch wenn er sie regelmäßig neu betitelt (fast, als wolle er uns weismachen, er habe sie jeweils neu
erschaffen). Sie sind zu seinem höchstpersönlichen Vokabular geworden, das den Aufbau
großzügiger musikalischer Spannungsbögen und Strukturen erlaubt.
Diese Band ist die richtige, um Charles Lloyd von seinen Soundwolken immer wieder auf den Boden
zurückzuholen. Die Grundierung liefern die lebhaften Rhythmen Billy Higgins’ (eine seiner letzten
Aufnahmen), Entspannung kommt von Abercrombies lockeren Soli (eine E-Gitarre ohne Effekte, sehr
angenehm und effektvoll!). Dazwischen immer wieder unbegleitete Soloeinsprengsel von Mehldau,
der auch sonst für frische Überraschungen sorgt. Und das Ganze kann auch fröhlich und intensiv
swingen, so wie man Lloyd auf CD-Produktionen der letzten Jahre kaum gehört hat.
Charles Lloyd ist tief verwurzelt in der Tradition des Hymnischen, Spirituellen und der authentischen
Suche nach einem persönlichen, intensiven Ausdruck, der die Musik als ein Mittel sieht,
Transzendenz in diese Welt zu bringen. Seine stetige Reifung ist generell bemerkenswert, ganz
besonders aber die Entwicklung seines Sounds zu einem Medium sehr intimen Ausdrucks in feinsten
Nuancen. Zusätzlich gesegnet mit einem tiefen Sinn für Dynamik und einem beständigen solistischen
Ideenreichtum ist Lloyd zweifellos in die Reihe der ganz großen Tenorsaxophonisten des Jazz
einzureihen. Die Anerkennung seines Repertoires als bedeutender, bleibender Beitrag zur
Jazzgeschickte wird folgen, wenn es sich von der starken, persönlichen Interpretation seines
Schöpfers ablösen kann.
24
Charles Lloyd & Billy Higgins: "Which Way Is East"
ECM 1878/79 (2 CDs)
Charles Lloyd (ts, as, fl, p, taragato, Tibetan oboe, perc,
maracas, voice), Billy Higgins (dr, g, guimbri, Syrian 'one
string', hand drums, Juno's wood box, per, voice)
Rec. Jänner 2001
Der Buddhist Lloyd harmoniert mit dem Moslem Higgins auf
dem spirituellen Weg gen Osten. Die zweieinhalb Stunden
Duos und Solos, die auf dieser Doppel-CD zu hören sind,
wurden von Dorothy Darr, Charles Lloyds Lebenspartnerin,
im Wohnzimmer der Lloyds aufgenommen und waren
ursprünglich nicht für die Veröffentlichung gedacht. Ein Grund
dafür mag gewesen sein, dass die Aufnahmen tontechnisch
nicht so ganz dem Standard entsprechen, insbesondere nicht
dem von ECM selbst gesetzten. Umso mehr ist ECM dafür zu
danken, diese Aufnahmen zugänglich gemacht zu haben, denn es handelt sich in mehrfacher Hinsicht
um bemerkenswertes Material. Die Tatsache, dass Billy Higgins drei Monate nach diesen Sessions
verstarb, verleiht dieser Produktion natürlich besonderes Gewicht, aber die Qualität der Musik besteht
unabhängig davon. Stilistisch, atmosphärisch und klanglich wird eine ungeheure Vielfalt geboten, die
durchdrungen ist vom Geist spontaner Kreativität, der Freude am Zuhören und am Miteinander. Beide
Musiker lassen durch den Einsatz von Instrumenten aufhorchen, die man üblicherweise nicht mit
ihnen assoziiert. Higgins spielt neben Schlagzeug diverse arabische Saiteninstrumente und
Handtrommeln, sowie Gitarre, und er singt in mehreren Sprachen. Lloyd spielt neben seinen
Stamminstrumenten Tenorsaxophon und Flöte viel am Altsaxophon (das er ca. 40 Jahre nicht mehr
gespielt hatte!) und überrascht mit sensiblen Piano-Solostücken von Satie-hafter Zartheit. Die freien
Duette von Saxophon und Schlagzeug sind eingebettet in die lange Tradition, in deren Zentrum die
Begegnung zwischen John Coltrane und Rashied Ali steht. Lloyd, dem Kritiker ja immer wieder
vorgeworfen haben, eine Art Coltrane-Klon und -verwässerer zu sein, lässt am Altsaxophon hier aber
öfter an Ornette Coleman denken, als an Trane. Die musikalische Universalität der beiden Musiker
lässt immer wieder erstaunliche, ungeahnte Facetten aufblitzen. Wahrhaft grandiose Musiker machen
grandiose Musik, weil sie tief empfunden ist, und dabei ist er unerheblich, dass manche Ausführung
auf einem "Nebeninstrumenten" vielleicht technisch nicht ganz so perfekt gerät. Die intime
musikalische Reise geht kreuz und quer durch die verschiedensten Kulturen: Zu hören sind
brasilianische Bossa, Sufi-Meditation, Tibetische Klänge, afrikanische Rhythmen und ... Blues! Higgins
singt "Lord have mercy" und begleitet sich dabei an der Gitarre. Angesichts des nahen Todes, der ihm
wohl bewusst war, bereitet diese Darbietung nicht nur musikalischen Genuss; sie verweist uns
eindringlich auf das transzendentale Potenzial von Musik. In hoffnungsvoller Introspektion und mit
Heiterkeit hilft Musik, die Realität anzunehmen. Diese CD ist World-Music und Freejazz höchster
Güte, aber für den offenen Hörer hat sie mehr parat: Kraft, Trost, Befreiung.
Charles Lloyd
"Jumping The Creek"
ECM 1911 982 4130
Rec. Jänner 2004
Charles Lloyd (ts, as, taragato), Geri Allen (p), Robert Hurst
(b), Eric Harland (dr)
Mit den Musikern dieses Quartetts war Altmeister Lloyd seit
Jahren auf Tourneen zu hören, dies ist jedoch der erste
Tonträger dieser Gruppe. Es fällt die starke Präsenz des
Altsaxophons auf, eines Instrumentes, das Lloyd nach 40jähriger Pause erst vor Kurzem "wiederentdeckt" hat. So ist
sein Sound dünner geworden, aber auch generell scheinen sich die Strukturen aufzulösen. Dies ist
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eine der freiesten, befreitesten Platten von Lloyd bisher, das musikalische Gewebe ist lose, die
Gruppe formiert sich ständig in verschiedenen Duo- und Triokombinationen um, es gibt
überraschende Rhythmuswechsel und längere Phasen der Kollektivimprovisation. Alles ist im Fluss.
Kaum hört man die eindringlichen, singbaren Themen, die man sonst von Lloyd gewohnt ist.
Ausnahme ist lediglich die "Georgia Bright Suite" - eines der bekanntesten und ältesten Themen
Lloyds entsteigt einer freien Einleitung und entfaltet sich zu großer Intensität. Ansonsten herrscht oft
durchaus ruhige Gelassenheit vor, in der aber öfters vor allem Harlands energischer Spielwitz
aufblitzt. Geri Allen tastet sich - ob als Begleiterin oder im Solo - immer sensibel an die Essenz des
Moments heran und gebietet dabei über eine beeindruckend große Bandbreite von Spielweisen.
Schließlich endet die CD mit "Song of the Inuit", das in einer geradezu halsbrecherischen TrioSequenz eine unglaubliche, rasante Interaktion zwischen Allen und Harland offenbart.
Neben Eigenkompositionen Lloyds wird auch Ellingtons "Come Sunday" interpretiert, und das
melancholische "Ne me quite pas" des Chansonier Jacques Brel. Jazztradition, Songs und östliche
Mystik verbinden sich in der Klangwelt des Charles Lloyd. Eine CD, die sich in der ganzen Tiefe erst
bei wiederholtem Hören preisgibt.
Berndt Luef & Jazztett Forum Graz "Trialogue"
Extraplatte EX 594-2 038 171-2
Rec. 15.5.2002, 13.5.2003. 14.7.2003
Berndt Luef (vib), Axel Mayer (tp,flh), Micahel Bergbaur (tb),
Reinhard Summerer (tb), Mathias Auchter (as), Georg
Gratzer (as,ss), Klemens Pliem (ts,ss), Thomas Rottleuthner
(bs,bcl), Dragen Tabakovic (g), Thorsten Zimmermann (b),
Dusan Novakov (dr)
Berndt Luefs „Jazzett Forum Graz“, das 2003/04 sein
zehnjähriges Bestehen feiert, ist längst zu einer der
beständigsten Jazzformationen Österreichs geworden, deren
Schaffen dank der Unermüdlichkeit des Leaders auch regelmäßig auf Tonträgern dokumentiert wird.
Anspruchsvolle Kompositionen für den reichen Klangkörper einer „Little Big Band“, das sind auch
wieder die soliden Eckpfeiler der neuesten CD. Erwartungsgemäß bewegt man sich auf dem
gesicherten Territorium modernen „klassischen“ Arrangierens (bezeichnenderweise ist eine der
Kompositionen Oliver Nelson gewidmet). Die komplexen Kompositionen Luefs sind rhythmisch und
stimmungsmäßig äußerst vielfältig, von introspektiven Balladen bis zum fröhlichen Rockbeat und
folkloristischen Tänzen, und reichen von kompakten Eineinhalbminütern bis zu ausgedehnten Suiten.
Immer liegt der Schwerpunkt der Musik auf der Struktur, die solistischen Einlagen sind wohlgesetzt
und genau kalkuliert in ihrer Wirkung. Eine Trio-Nummer rundet die Produktion mit einer
willkommenen - klanglichen reduzierten - Abwechslung ab und bietet Gelegenheit, intensiv dem
perfekt-sensiblen Zusammenspiel von Luef, Zimmermann und Novakov zu lauschen. Auf die nächsten
zehn Jahre!
John McLaughlin
"Thieves and Poets"
Emarcy / Universal 0602498010754
Rec. 2002
Deutsche Kammerphilharmonie (Dirigent: Renato
Rivolta), Aighetta Quartet
Diese Produktion besteht aus zwei Teilen, deren
Gemeinsamkeiten mit den Begriffen "akustische Gitarre"
und "Romantik" umrissen werden können. Der erste Teil
ist die 26-minütige Titel-Komposition für Gitarre und Orchester, die McLaughlin schon vor vielen
Jahren unter dem Arbeitstitel "Europe" geschrieben und auch aufgeführt hatte. Das über weite
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Strecken spanisch-romantische, aber durchaus lebendige Grundgefühl erinnert an Gitarrenkonzerte
von Joaquín Rodrigo, mit dem man im Jazzkontext wiederum Miles Davis' und Gil Evans'
Interpretation von dessen "Concierto Aranjuez" verbindet. Und man weiß ja, welche Bedeutung Davis
für McLaughlin hat. Solche Gedankenketten sind hier durchaus erlaubt, denn das "Thieves" im Titel ist
eine Anpielung darauf, dass McLaughlin in seinem Leben von sehr vielen Menschen und Strömungen
beeinflusst wurde. Er fragt sich im Booklet, wo die Grenze zwischen "gestohlenem" und "originalem"
Gedanken ist. Sehr gute Frage, die wir hier gleich so im Raum stehen lassen wollen!
Für den zweiten Teil der CD ist die Frage geklärt: es gibt keine "Original"-Kompositionen, sondern es
werden vier Standards interpretiert, und der Gitarren-Maestro widmet sie vier verschiedenen ...
Pianisten! Wie schon vor zehn Jahren auf seinem Bill Evans Tribute "Time Remembered", so lässt er
sich auch hier von einem Gitarren-Quartett begleiten. Die fünf Gitarristen emulieren also quasi ein
Klavier.
Fazit? Trotz perfekter Technik des Meisters (hätten wir fast vergessen zu erwähnen) und durchaus
spürbarer Spielfreude wirkt die Sache insgesamt etwas ziellos. Was das Orchesterwerk an Originalität
vermissen lässt, gleicht der pure Musikgenuss jedoch etwas aus, in dem es sich beim Hören der
höchtsensiblen Standard-Interpretationen schwelgen lässt. Wobei dieses Schwelgen den Hörer
durchaus nahtlos in den Schlaf überleiten kann.
Und es muss gesagt werden: ein Minus für das schwer lesbare, unübersichtliche Booklet!
Mühlbacher usw.: "05.04.03"
Extraplatte EX-DVD 004 (DVD)
Rec. live at Porgy & Bess, 5.4.2003
Gerald Preinfalk (cl, bass-sax); Aneel Soomary, Lorenz Raab,
Franz Hautzinger (tp); H.G. Gutternigg (ophikleïde); Cyriak Jäger
(tuba); Alexander Machacek, Martin Siewert (g); Michael Hornek
(key); Charly Petermichl (elektronics); Tibor Kövesdi (b);
Christian Mühlbacher (dr); Lauro Bandeira (perc); Georg
Mittermayr (Fische, Unterwassermovies); Willy Wysoudil (visual
effects, video remix)
Ein genaues Studium der Besetzungliste macht stutzig: Fische!?
Visuelle Effekte !? Aaah, es handelt sich also um eine DVD, ein Video! Aaah, deswegen meldet der
CD-Player nur: Error. Na gut, also eine Herausforderung an mehrere Sinneskanäle? Wenn es
gestattet ist, würde ich mich dennoch lieber auf das klangliche Ereignis konzentrieren - die Fische, ob
einzeln oder in Schwärmen, ob vorwärts oder rückwärtsschwimmend, ob in Zeitraffer, gespiegelt oder
"natur", ob mit oder ohnen menschliche Begleiter, sie lassen mich seltsam unberührt, so bunt und
ästhetisch sie auch sein mögen. Und die seltenen Einblendungen der live agierenden Musiker, egal
wie verfremdet, sind zu wenig, um einen Bezug zum musikalischen Strom herzustellen (außer ganz
oberflächlichen, wie: Hai=aggressiv, Rochen=majestätisch). Ja, schlimmer: sie lenken die
Aufmerksamkeit von der zarten Entwicklung der musikalischen Strukturen ab. Denn die
atmosphärische Musik braucht sehr viel Zeit um sich zu entfalten, sie atmet in großen Zügen.
Kosmische, und ja, zugegeben: ozeanische Assoziationen drängen sich auf. Ohne Unterbrechung
entsteht eine lange Suite von Ambient-Elektrogroove-Bigband-Jazzfunk-Heavyrock. Einigermaßen
eklektiscch, aber durchaus stimmig. Solange man die Bilder weglässt. Ich würde diese Musik gerne
öfter hören und meine eigenen Bilder in meinem Kopf dazu entstehen lassen. Wenn mich der CDPlayer nur ließe. Schade!
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Plastic Art Foundation
"Glutmut's Erzählung" / "Sandbrot"
Golton AG, keine Nummer
Rec. June 2001
"Glutmut's Erzählung": Carlo Crameri (ac-g,el-g,text,voc),
Heiri Känzig (b)
"Sandbrot": Carlo Crameri (el-g,Chinese weding
chalmei,text,voc), Carola Wirth (voc), Heiri Känzig (ecello,b,el-b,gongs), Marc Halbheer (dr,batarukkaperc,gongs,background voc)
Wenn ein Universalkünstler zu viele Talente hat, muss er
eben auch CDs produzieren. Der bildende Künstler Crameri hat sich schon früher auch musikalisch
betätigt, die poetische Ader hat sich ebenfalls irgendwann erschlossen. Das Resultat ist eine
Herausforderung an unsere Offenheit: Ziellos anmutendes Gitarrengezupfe, das auch durch Känzigs
kompetente "Begleitung" nicht gerettet werden kann. Spätestens bei der krächzend vorgetragenen
"Poesie" lässt uns Gänsehaut der unangenehmen Art endgültig erschaudern, zumal die Textfetzen
eine nur noch größere trostlose Leere hinterlassen. "Sandbrot" bietet mit doppelt so vielen Beteiligten
eine größere klangliche Bandbreite und daher mehr Spannung, folgt aber insgesamt dem gleichen
Prinzip. Ach ja, wie gesagt: Crameri ist eigentlich bildender Künstler. Daher wollen wir nicht unerwähnt
lassen, dass die Cover Art beider CDs durch den Künstler wirklich gelungen ist.
PS: Kunst muss und kann nicht immer "schön" sein (was immer man darunter verstehen will), sondern
kann und soll durchaus auch auf anderen Bedeutungsbenen Relevanz zeigen. In diesem Sinne mag
sich denjenigen, die sich auf diese Werke einlassen, eine positive Sinnhaftigkeit erschließen, die dem
Rezensenten nicht zugänglich war.
Der Rote Bereich: "Live in Montreux"
ACT 9434-2
Rec. 9.7.2001, Montreux Jazz Festival
Frank Möbus (g), Rudi Mahall (bcl), John Schröder (dr)
Frank Möbus' Berliner Trio bietet ein nervös-feinfühliges,
heftig-dichtes Rhythmusgewebe als Grundlage. Darauf
aufbauend entfalten eckige Themensplitter - oft unisono
von Bassklarinette und Gitarre vorgetragen, Begleitakkorde
an der Gitarre - mal lieblich, mal brachial heavy-metallisch und ein feines Pulsieren ihre Wirkung. Die einzelnen
Stücke sind kompakt und kurz, man lässt sich auch durch die Liveatmosphäre nicht zu unnötiger
Abschweifungen verleiten. Es gibt durchaus Momente von leichter Flockigkeit, aber die generell hohe
Konzentration bei einem ebenso hohen Energielevel führt dazu, dass beim Hören keine Sekunde
Langeweile aufkommt. Je sperriger die Themen, und je rockiger der Rhythmus, desto mehr ist man an
den "No-Wave" der 80er-Jahre erinnert, z.B., als James Blood Ulmer auf David Murray oder George
Adams traf. Dennoch ist der Angelegenheit eine gewisse Frische nicht abzusprechen.
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Tomas Sauter: "Tranceactivity ... flora"
Altrisuoni AS116
Rec. Juni 2001
Tomas Sauter (g, loops), Urban Lienert (b), Christoph Staudermann (dr)
Der erste Teil des Titels der CD ist treffend gewählt: Der monoton-nervöse Rhythmusteppich á la
Drum'n'Bass, die dazu im Kontrast stehenden tiefkühlen Bassgrooves, die psychedelisch-epischen
Verzerrungen der Stromgitarre: All dies kann uns in Trance versetzen. Und ist insofern zeitgemäß
exakt auf dem Punkt. Wir brauchen heilende Ritualmusik, die uns von unserem Intellekt befreit. Wenn
simple, aber effektive Verzahnung zu einem integrierten Ganzen führt, dann können wir sogar auf
herkömmliche "Virtuosität" verzichten, die doch immer wieder einer solchen Einheit im Wege steht.
Und: Diese Art von Monotonie hat nichts mit langweiliger Einfallslosigkeit zu tun. Deshalb hat man
neben "klassischen" Jazzrock-Passagen auch nette kleine Themen eingestreut, richtig zum Mitsingen,
teilweise auch zum Entspannen. Und das ganze mit viel Improvisation gewürzt. Vielleicht erklärt das
den zweite Teil des Titels der CD: Flora. Monotonie der Trance gegen pflanzlich-musikalisches
Wuchern? Aha, deswegen die Grassamen in der Juwelbox!
Martin Schrack: "Mosaic"
frimfram production ff 01
Martin Schrack (p), Markus Bodenseh (b), Torsten Krill (dr)
+ Harald M. Winkler & Andreas Ticozzi (violin), Martha Ticozzi (viola), Stefan Susana (cello), Libor
Sima (bassoon, ts), Christian Weidner (as)
Ein neues Label betritt die Bühne: frimfram, betrieben vom Stuttgarter Schlagzeuger Torsten Krill. Die
ersten beiden CD-Produktionen machen einen sehr soliden, ja reifen Eindruck. Schon das dezente
Design und die sinnliche-stabile Qualität der Verpackung, die ohne Kunststoff auskommt, geben den
Ton vor, der auch die Musik bestimmt. Gediegene Qualität ohne Kompromisse.
Das Label hat sich auf die Fahnen geheftet "Musik der 4. Art" zu produzieren. Was das sein soll, wird
nicht erklärt, aber vielleicht muss man nur den historischen "Third Stream" in die postmoderne
Gegenwart katapultieren? Eine Anbiederung an Gegenwartstrends ist dennoch nicht festzustellen: Auf
"Mosaic" ist keinerlei Elektronik zu vernehmen, die Musik ist rein akustischen Ursprungs. Das
musikalische Ausgangsmaterial ist extrem vielfältig: Bartok, Ellington, die Beatles, ein deutscher
Schlager. Und natürlich Eigenkompositionen von Schrack. Aber egal, woher die Substanz stammen
mag, es wird alles mit sehr individueller Note transformiert: in Schlagerartiges, Volksliedhaftes. Jazz
sowieso, aber auch Romantisches mit Untermalung eines Streichquartett. Keine Angst, es wird nie
kitschig, immer ist eine gewisse frische Kantigkeit zu spüren. In den lebhaften Passagen kommt sogar
so etwas wie Hardbop- oder Rockfeeling auf, und es kann fast Jarrett-artig grooven. Und dann ist da
eine kurze, durchkomponierte "Prelude & Fugue" für Streichquartett! Ein sehr abwechslungsreiches,
unterhaltendes, anspruchsvolles, anregendes, entspannendes Hörerlebnis, das sich im Kopf festsetzt.
Jedenfalls "Musik der vielfältigen, interessanten Art", für die es in dieser Kombination vielleicht
tatsächlich noch keine Schublade gibt. Aber dorthin wollen wir sie sowieso nicht stecken.
Skatalites: “From Paris With Love”
Celluloid 13692-3 (Ixthuluh)
Rec. 2001
Lloyd Knibbs (dr), Lloyd Brevett (b), Ken Stewart (key),
Johnny Dizzy Moore (tp), Lester Sterling (as), Cedric
Brooks (ts), Doreen Schaffer (voc)
Die Skatalites schufen vor nunmehr vierzig Jahren auf
Jamaica den Ska, den Vorläufer von Reggae, Dub und
allem, was den heute bei Acidjazz und Remixern so
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begehrten lockertiefen Groove hat. Unglaublich, aber wahr: es gibt sie noch, die Skatalites. Letztes
Jahr waren sie auf Tour und haben die vorliegende Studio-CD aufgenommen. Und die alten Herren
grooven, was das Zeug hält! Wer dabei ruhig sitzen bleiben kann, dem ist nicht mehr zu helfen.
Unbeschwert fröhliche Musik mit netten Bläsersoli und dem „phatten“ Bass; alles lässig und mit viel
entspanntem Gefühl. Nette Themen zum Mitsummen; simpel und dennoch nicht banal; rettungslos
altmodisch und doch aktuell. Da kann man über ein kleines Manko hinweg sehen: auf drei Nummern
ist mittelmäßig schmalzig-dümmlicher Gesang zu hören. Ansonsten besonders empfohlen für die
Sommerparty und fürs Auto.
Miki Skuta: "Identity"
Foundation - Center for Contemporary Arts FW 0001 2 331
Rec. October 2002
Juraj Bartos (tp), Gerald Preinfalk (ss), Radovan Tariska (as), Edi
Köhldorfer (g), Miki Skuta (p, synth), Peter Herbert (b), Ingrid
Oberkanins (perc), Alex Deutsch (dr)
Diese slowakisch-österreichische Produktion enthält eine Reihe
hervorragenden Zutaten, darunter Spielfreude, Abwechslung, Witz, Geschmack. Skuta setzt die
vielfachen Klangmöglichkeiten des Oktetts gekonnt in seinen intelligenten Kompositionen und
vielschichtigen Arrangements ein. Dabei reicht die Bandbreite von Freebop über Latin und einen
"Instrumental-Rap" (in dem Köhldorfers Gitarre allerdings so sehr nach Mickeymaus klingt, dass
Assoziationen an Rapper sofort wieder abgewürgt werden) bis zu getragenen Balladen und
Sphärischem. Auf der sehr soliden Rhythmusbasis von Herbert und Deutsch können sich die Musiker
maßvoll entfalten, aber virtuose Soloausritte stehen nicht im Vordergrund dieser Musik, sondern
ausgereifter Ensembleklang. Öfteres Hören ist empfohlen, es fördert jedes Mal neue Tiefenschichten
zu Tage!
Karolina Strassmayer: Klaro!
KlaroMusic KS4445
Rec. Sept 2002
Karolina Strassmayer (as,ss,fl), John di Martino (p), Thomas Bramerie (b), Drori Mondlak (dr), +
guests Ray Vega (tp), Wycliffe Gordon (tb)
Das Debut der jungen Österreicherin, die nach einem Studium an der Grazer Musikhochschule bereits
in den USA Fuß gefasst und dort u.a. mit Altmeister Chico Hamilton zu hören war, lässt aufhorchen.
Stilistisch sicher im Boden zwischen Be- und Hardbop verankert, mit den "natürlichen"
Soulverästelungen von Soul, Funk Boogaloo, lässt Strassmayer besonders am Altsaxophon
angenehme "innere Hörbilder" von Charlie Parker über Cannonball Adderley bis Phil Woods
entstehen. Im Quartett von einer hervorragenden Band begleitet (einige Male um zusätzliche Bläser
erweitert), überzeugt sie in den Uptempo-Stücken mit spritziger Phrasierung, intensivem Soulfeeling
und lebhaftem Spielwitz, wie es dieses Genre erfordert. Das Material - alles Eigenkompositionen streift aber auch modernere und ruhig-balladeske Gefilde und erinnert dann etwa an den modalen
Hardbop der 60-Jahre. Ein gelungener Senkrechtstart auf starker Basis, der viele Richtungen für den
Weiterflug offen lässt.
30
Cecil Taylor / Bill Dixon / Tony Oxley
Victo cd 082
Rec. live at Victoriavill Festival, 19.5.2002
Cecil Taylor (p), Bill Dixon (tp, flh), Tony Oxley (dr, perc)
Ein Gipfeltreffen von drei legendären Meistern der improvisierten Musik. Und ein historisches dazu,
denn Taylor und Dixon waren zuletzt 1966 auf einer gemeinsamen Aufnahme zu hören. Die beiden
haben seit damals ihre persönlichen Musiksprachen auf extreme Gegenpole hin bewegt: Taylor auf
manisches Powerplay, basierend auf einem wie Lava brodelnden musikalischem Urthema, das seit
Jahrzehnten ausgelotet wird. Dixon in Richtung einer Auflösung in Stille und Feinheit des Tons. Tony
Oxley ist nun das Bindeglied; er spielt seit Jahren mit beiden, kann zwischen den Welten vermitteln
und setzt herausfordernde Akzente. Das Experiment gelingt nur teilweise. Dixons lyrisch-verhangenen
Ton, der bis in Tubalagen hinabsteigen kann, klagen kann, gehaucht, von Echo gefangen, der aber
auch schneidend zornig werden kann, kennt man so von seinen Aufnahmen der letzten Jahre. Aber
Taylor? Wenn er Dixons leise Introspektion nicht zudecken will muss er anders sein als sonst. Er
lauscht auf Dixon, reagiert ungewöhnlich sanft, reflektiert das elektrische Trompeterecho am Piano.
Und Oxley ist überall und doch so zurückhaltend, dass man ihn kaum wahrnimmt. In den 42 Minuten
der ersten Improvisation geht der Fokus mehrmals verloren. Kaum zieht sich Dixon etwas zurück,
schon wird Taylor ein bisschen forscher und lässt seine Welten aufblitzen! Und Oxley geht sofort mit!
Fast meint man dann, sie würden froh das Mehr an Freiheit nutzen wollen, das ihnen ohne Dixon
gegeben ist. Es ist kein eingespieltes Team, sondern es sind trotz grundsätzlicher Übereinstimmung
fremde Welten, die hier aufeinander prallen. Ein gegenseitiges Abtasten. Aber auch eine Übung in
Einfühlsamkeit, Toleranz und Freiheit: Wie viel Selbst ist neben dem Anderen möglich? Die acht
Minuten der zweiten Improvisation sind konzentrierter, das Zusammenspiel zwingender, Spannung
und Kreativität werden bogenförmig gehalten. Es folgt noch ein Einminutensolo Taylors und schon ist
das Ereignis vorbei!
Franck Tortiller Trio: "Early Dawn"
altrisuoni AS160
Franck Tortiller (vib, marimba, xylophone), Yves Torchinsky (b), David Pouradier
Duteil (dr)
Es ist schwer, dem metallischen Wohlklang des Vibraphons und der holzig-trockenen Klangfülle von
Marimba und Xylophon nicht zu erliegen, besonders, wenn sie in geschmackvolle Kompositionen
eingebettet sind und getragen von locker swingenden Rhythmen (satter Bass, leichte Besen!)
daherkommen. Das wussten schon die Herren vom Modern Jazz Quartett. Und genau das passiert
auch hier auf dieser CD des Vienna-Art-Orchestra-Mitgliedes Tortiller: entspannende Genussmusik,
die auch höchstem Qualitätsanspruch genügt, und die sich so dem Innovationszwang entziehen kann.
Die Lust am Klang kann sich in den reifen, eleganten Kompositionen voll entfalten. Und doch ist
reichlich Raum für solistische Exkursionen. Es knistert nur so vor Spielfreude. Wieder ist Altri Suoni
ein großer Wurf gelungen. Einziger Kritikpunkt: 44 Minuten sind nicht genug.
Gebhard Ullmann, feat. Carlos Bica
“Essencia”
betweeen the lines btl 017 / EFA 10187-2
Gehbard Ullmann (ts, ss, bcl), Jens Thomas (p), Carlos Bica
(b)
Rec. 22.-24.2.1999
Essencia ist kammermusikalisches, konzentriertes
Konzertieren in verschiedensten atmosphärischen und
strukturellen Gegebenheiten. Ob gospelhaft, reduziert31
meditativ, dadaistisch-absurd, schönklingend elegisch, oder freitönend klangbetont, immer versucht
das Trio der Essenz des jeweils manifesten Daseinszustandes musikalisch näher zu kommen und
evoziert dabei sehr unterschiedliche Stimmungen, die jedoch immer intime Wärme ausstrahlen. Die
Bandbreite ist erstaunlich und dennoch überzeugt die Produktion durch Konsistenz auf höchster
Ebene. In den 12 Stücken werden die musikalischen Karten unter den Mitspielern jeweils neu verteilt
und die tragende Funktionen (Rhythmus, Melodie, Klangfarbe) können schwerpunktmäßig von allen
möglichen Instrumentenkombinationen getragen werden. Besonders reizvoll sind dabei die
Verzahnungen des Klanges von Holzblasinstrumenten und gestrichenem Bass. Im Wechsel zwischen
komponierter Thematik und spontaner Improvisation lebt eine gesunde Balance von Kopf und Bauch.
James Blood Ulmer, Rodolphe Burger & Meteor Band
"Blood & Burger - Guitar Music"
Altri Suoni AS 138
Rec. live, Juni 2002
James Blood Ulmer (g,voc), Rodolphe Burger (g,voc,key),
Madeo (b,voc), Arnaud Dieterlen (dr)
Daumengitarrist Ulmer läuft mit dem Franzosen Burger zur
Höchstform auf, wie schon lange nicht. Sein tiefschwarzer
Blues trifft auf den klassischen Strom-Rock der Franzosen.
Die Gitarristensänger sind sich Echo und umkreisen sich
spielerisch. Das Material ist setzt sich zu gleichen Teilen aus
Ulmerschem Song-Urgestein in neuem Gewand ("Blues
Allnight" ...) und aus Kompositionen Burgers zusammen (plus eine Rolling-Stones-Nummer!). Die
Sache lebt vom Kontrast der beiden "Frontmen", gitarristisch und stimmlich. Ulmers herrlich
krächzendes Wiehern! Und wenn Burger dezent auf Französisch singt findet man sich plötzlich mitten
in einem "Chanson". No-Wave-Blues-Rock-Chanson. Die kochende Live-Atmosphäre trägt dazu bei,
auch dem Hörer Schweißperlen auf die Stirn zu treiben. Und der Bonus: Die CD enthält ein gut
gemachtes Live-Video!
THIRD RAIL "South Delta Space Age"
Antilles / PolyGram
James "Blood" Ulmer (g,voc), Bill Laswell (b), Joseph
"Zigaboo" Modeiste (dr, perc), Bernie Worrell (Hammond B3 Organ, Cavinet), Amina Claudine Myers (Hammond B-3
Organ, el-p, voice)
Naturbelassener bluestriefender Delta-Sumpf,
verschmolzen mit zeitgemäßem Funk, untermalt mit dem
"spacigem" Groove der Hammond-Orgel, das präsentiert
sich hier als die "Dritte Schiene" (welche sind wohl die
anderen zwei?). Daß dahinter James "Blood" Ulmer steckt
(alle Titel stammen aus seiner "Feder") wird nicht gleich auf
Anhieb vermutet, erweist sich jedoch auf den zweiten Blick
durchaus als schlüssig. Daumengitarrist Ulmer ist ja stark im Blues verwurzelt und seine Lehrjahre hat
er in den Bands der Organisten Hank Marr und John Patton zugebracht, als in den 60er-Jahren die
groovy Orgelsounds Rock- und Jazzfans gleichermaßen zum Swingen brachten. Sein Repertoire
pendelt seit jeher zwischen Blues, Funk und dem von Ornette Coleman's harmolodischem Konzept
beeinflußtem "No Wave Jazz". Ulmer als modernen Jimi Hendrix zu bezeichnen geht jedoch schon
angesichts der verschieden gelagerten Dimensionen instrumentaler Virtuosität völlig daneben, es sei
denn man bezieht den Vergleich auf die vokaltechnische Ebene, die Ulmer auch hier auf mehr als der
Hälfte der Songs zum Entfalten bringt.
32
Sehr cool und relaxed geht es da meist zu, und man sucht vergeblich nach Höhepunkten, die durch
Intensität oder Originalität herausragen. Jedoch, die Sache kann durchaus schweißtreibende Aspekte
haben; vor allem, wenn man dem sehr simplen Rock-Funk-Beat auf der Tanzfläche nachgibt. An
einigen Stellen kommt es leider zum Abgleiten in glatte Gefilde des Pop, aber das ist ja bei Ulmer
nicht ganz unbekannt. Insgesamt aber eine recht homogene Angelegenheit, in der Ulmer seine
Rockambitionen ohne jegliche jazzige Anhängsel bisher am überzeugendsten zu verwirklichen weiß.
Tausendsassa Bill Laswell wird ihn dabei als Co-Produzent - mehr als in seiner Rolle als Bassist kräftig unterstützt haben.
Wenn Ulmer "Funk All Night" mit sehr undeutlichem "n" singt wird endgültig klar, daß diese Musik nicht
Kopffutter, sondern Anregung für tieferliegende Körperregionen ist. Rock 'n' Roll eben, oder?
Mal Waldron: "One More Time"
Sketch SKE333023
Rec. 29,30.1.2002
Mal Waldron (p), Jean-Jacques Avenel (b), Steve Lacy (ss)
Mal Waldron ist eine eigene Kategorie. Seine Musik ist spröde, einfach, berührend, introspektiv,
individuell, eindringlich, tief empfunden, zeitlos, meditativ, konzentriert, unkonventionell, schön, intim,
Blues und Trance. Diese wunderbare CD zeigt all diese Aspekte in zwei Solostücken, vier Duetten mit
dem einfühlsamen Bassisten Avenel und zwei Trio-Einspielungen, bei denen mit Steve Lacy ein
langjähriger Weggefährte Waldrons am einsamen Pfad der Authentizität mit dabei ist. Der technisch
brillante Avenel ist mit seinem akzentuierten, einfallsreichen Spiel ein idealer Partner Waldrons (wie er
auch schon oftmaliger Partner Lacys war). Das kompositorische Material bringt - wie bei Waldron
erwartet - keine Überraschungen, sondern wurzelt in einem persönlichen Vokabular, das über
Jahrzehnte gereift ist. Altbekannte Titel wie "The Seagulls of Kristiansund" und "Soul Eyes" sind mit
dabei, aber auch in den neuen Kompositionen blitzen die typischen Waldron-Phrasen immer wieder
deutlich auf. Der 76-jährige Waldron schreibt im Booklet, er sei extrem glücklich diese Aufnahme als
einen Höhepunkt seines Lebens zu haben. Das Glück diese CD hören zu dürfen ist ganz unser!
Bugge Wesseltoft: "New Conception of Jazz - Live"
Jazzland / Universal 0440 038500-2 6
Rec. live, April 2000 - Dez 2002
Bugge Wesseltoft (fender-p, p, sounds), Ingebrigt Flaten (b),
Anders Engen (dr), Paolo Vinaccia (mixing), Jonas Lönna
(vinyl, electronic rhythm, sounds) + John Scofield (g) u.a.
Er sei stolz, auf diesem Album ohne Overdubs und "Repairs"
zu demonstrieren, wie man nur auf der Basis eines
elektronischen Beats spontan Musik und guten "Spirit"
schaffen kann. Das bringt den Großteil der Musik dieser CD
tatsächlich auf den Punkt: Übungen in Rhythmus, die in langen
minimalistischen Entwicklungsbögen (dazu geben die 76
Minuten Hörzeit reichlich Gelegenheit!) Körper und Geist des
Hörers durchdringen, sei es in entspanntem Schaukeln oder
ekstatischer Intensität. Das Ziel ist in einem Trancezustand ganz im Sinne von Drum'n'Bass und
"Dance" erreicht, wenn man nicht mehr nach solistischen Höhepunkten im Jazzgeist fragt (die aber
dennoch jederzeit passieren können), sondern ganz in diesem Geschehen aufgeht. Dementsprechend
sind keine Solisten an Blasinstrumenten vertreten, um die Rhythumssuppe mit jazziger Würze zu
versehen, wie das auf früheren NCOJ-Alben der Fall war (John Scofield, der auf einer Nummer
gastiert, fügt sich gut als Rhythmusgitarrist ein, kann oder will darüber hinaus aber nicht wirklich
hervortreten). Feinheiten spielen sich vor dem Anwerfen der Rhythmusmaschine ab: In den
Einleitungen kann es lyrisch-leichte Return-to-Forever-Reminiszenzen am Fender Piano geben oder
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schräge bis wunderschöne Klänge am gestrichenen Bass von Ingebrigt Flaten, der die tragende
Kontinuitätsrolle glänzend spielt. Durchatmen bei dezent-ruhigem Schönklang am Konzertflügel. Das
Material ist teils neu, teils basiert es auf bekannten Nummern, deren Interpretationen hier durchwegs
originell anders klingen als die ursprünglichen Studioeinspielungen, deren hohen Standard aber kaum
erreichen können. Am Schluss wird es doch noch "jazzig", wenn die Band auf ein "klassisches"
akustisches Klaviertrio reduziert - und lediglich mit dezenter Elektronik hinterlegt - zeigt, dass man
auch auf diese Art Intensität erzeugen kann. Swing meets Groove meets Beat. Fazit? Mit dieser
schönen CD sollte Wesseltoft einen Bogen abgeschlossen haben und sich jetzt neuen Horizonten
zuwenden, bevor es zum kreativen Stillstand kommt. Nach sieben Jahren des "neuen Jazzkonzeptes"
scheint der Plafond erreicht, auch wenn die Marketing-Strategen das geniale Etikett "New Conception
of Jazz" nicht gerne aufgeben werden.
Bugge Wesseltoft & New Conception of Jazz: "FiLM iNG"
Jazzland / Universal 060249866 1 239
Rec. Juni – Dezember 2003
Bugge Wesseltoft (p, key, Hammond B3), Ingebrigt Flaten (b),
Anders Engen (dr), Paolo Vinaccia (mixing), Jonas Lönna (vinyl,
electronic rhythm, sounds) + Joshua Redman (ts, ss); Dhafer
Yousef (voc, oud), Bvidar Johansen (bs), Øyonn Groven Myhren
(voc), u.a.
Gut, lassen wir die Bemerkung, dass an diesem "New Concept of
Jazz" nicht mehr viel Neues dran ist, denn auch diese Feststellung würde nichts Neues mehr bringen. Solange Wessetofts
Musik so spannend und gleichzeitig leicht genießbar bleibt, stellt
sich die Frage nach "Neuschöpfung" doch nicht, oder? Geschmackvoll und stilsicher (egal, wo man in
diese CD hineinhört, die Musik ist sofort als "Bugge" erkennbar) geht es wieder durch verschiedene
Sphären von trancigem Jazz, stimmungsvollem Drum'n'bass und Worldmusic, gespickt mit
interessanten Sample-Effekten. Die Besetzungen variieren dabei stark, von Solo bis Septett. Nach
einem lebhaften Beginn, bei dem das Tanzbein unweigerlich zuckt, kehrt ein wenig Ruhe ein; es wird
"chillig", wie man in Fachkreisen sagt. Die Gastmusiker sorgen für Abwechslung in der sowieso schon
sehr vielfältigen Musiklandschaft, allen voran ein jazziger Joshua Redman und ein Dhafer Yousef mit
gewohnt betörender Stimme, die eine pastoral anmutende Atmosphäre heraufbeschwört.
Demgegenüber wirken Wesseltofts Solostücke mit gespenstischem Synthihauch und mechanischen
Maschinerhythmen recht unterkühlt. Wobei in der Kälte immer etwas Melancholie durchschimmert.
Insgesamt ist diese Hörreise also ein kalt-warmes Wechselbad der Gefühle. Wenn man dran bleibt,
wird man mit einigen prickelnden Höhepunkten belohnt, deren Wirkung noch einige Zeit anhält.
Andreas Willers feat. Paul Bley: "In The North"
Between the lines BTL 026 / EFA 10196
Rec. April 16 & 17, 2001
Paul Bley (p), Andreas Willers (ac-g, el-g), Horst
Nonnenmacher (b)
Diese Musik ist eine Verbeugung vor Jimmy Giuffre. Stark
verkürzt dargestellt könnte man sagen, dass der Klarinettist
Giuffre Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderst als
Weißer einen wesentlichen Gegenpol zum schwarzen
Powerplay des schwarzen Freejazz gesetzt hat, und damit
trotzt musikalisch großartiger Beiträge lange Zeit auf Ablehnung stieß (vor allem in den USA). Im
schlagzeuglosen Trio mit Giuffre spielte damals Paul Bley, der auch auf dieser CD auf einigen Tracks
zu hören ist, deren Material sowohl "alte" Kompositionen von Giuffre und Bley, als auch neue der
beteiligten Musiker umfasst. Gemäß dem Geiste Giuffres ist die Grundstimmung der kurzen Nummern
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meist ruhig und introspektiv, die Musik komplex und ohne durchgängigen Beat. Sphärenklänge an der
E-Gitarre lassen an Pat Metheny erinnern und erlauben ein Regenerieren des angestrengten Geistes.
Aber auch hektische Freitöne sind zu hören. Für Höhepunkte sorgt Bley mit wunderschönen lyrischklaren Beiträgen, dargebracht in bekannter Ökonomie. Musik, die geduldiges Zuhören offener Ohren
erfordert.
"Desert Blues 2"
Network 22.762
erhältlich bei Zweitausendeins
Nach dem sagenhaften Erfolg des ersten Teiles liegt nun die zweite Folge der Serie Wüstenblues vor,
in bewährter Network-Luxusausführung von 2 randvollen CDs in einem hochformatigen Doppelpack
mit ausführlichem buntem Booklet. Die Reise führt von den Mittelmeergestaden Nordafrikas über die
Sahara bis an den Rand des Dschungels und wartet dementsprechend mit einem reichhaltigen
Stilgemisch afrikanischer Balladen auf. Die Bandbreite reicht von traditioneller Stammesmusik mit
spirituellem Hintergrund über lokale Klassik bis zu zeitgenössischer Unterhaltung, die auch Aspekte
der globalen Popmusik einbezieht. Dann kann in Rhythmus, Instrumentierung (Harmonika, Gitarre!)
und Gesangsstimmen tatsächlich ein sehr intensives Blues-Gefühl aufkommen. Die Grundstimmung
ist meist gelassen, aber konzentriert und ernsthaft, die rhythmische und harmonische Vielfalt ist
erwartungsgemäß groß. Ist es möglich, dass diese Bluesvarianten, die dort entstehen, wo die globale
(US-)Musikkultur fein verästelt in der authentischer Kreativität lokaler Kulturen aufgeht, frischer,
lebendiger, spannender sind als das US-Vorbild, das inzwischen so oft in Klischees erstarrt erscheint?
Kompilationen wie die vorliegende können uns diesbezüglich die Augen, nein, die Ohren öffnen!
"Island Blues - Entre Mer et Ciel"
Network 21.262 (Ixthuluh)
erhältlich z.B. bei Zweitausendeins
Ist Inselmusik besondere Musik? Dieser Frage geht diese sehr schön aufgemachte Doppel-CD mit
ausführlichem Booklet nach. Es ist eine Reise rund um den Globus, die auf den Komoren beginnt,
über Indonesien, die Karibik, die Südsee und das Mittelmeer bis nach Irland führt. Die präsentierte
Musik ist nicht notwendigerweise "authentische Musik der Eingeborenen", sondern die lebendige
Musik an der Grenze zwischen lokaler Tradition und globalem Musik-Business, die jeweils ganz
typische Ausprägungen findet. Und vielleicht ist ja Inselmusik tatsächlich besonders intensiv in der
einen oder anderen Form. Weil man auf einer Insel isoliert ist? Oder, ganz im Gegenteil: Weil man
immer wieder von verschiedenen Kulturen angesteuert wird? Oder wegen der Offenheit des weiten
Horizonts, die einen selbst klein erscheinen lässt? Wie auch immer - beim Hören dieser CDs lässt sich
gut über diese Fragen sinnieren, oder aber ins Träumen über ferne Länder abgleiten.
"red and blue - neither nor way"
EFA CD 60202 /cs 056
Kaada, Eivind Aarset, Krøyt, Supersilent, Ring, Nils Økland,
Jaga Jazzist, Scool Days, Wunderkammer, Beatroute, Nils
Peter Molvær, Kim Hiorthøy, Motorpsycho, Stian
Carstensen, Cafe Romantica, Folk & Røvere, Jazzkammer,
Monopot, Phono, Wibutee, Scorch Trio, Bugge Wesseltolft
Norwegen ist in. Das Land zwischen Licht und Dunkel
versorgt die Musikwelt seit einigen Jahren mit immer neuen
Wellen von trendigen Innovationen. Ganz im Zentrum der
Medien steht dabei eine neue Art der Fusion von Jazz,
Elektronik und Avantgarde, die mit den Zugpferden Bugge
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Wesseltoft, Wibutee und Nils Peter Molvaer an der Spitze auch populäre Domänen eroberte. Die
vorliegende Doppel-CD, vollgepackt hauptsächlich mit bisher unveröffentlichtem Material (aus dem
Studio und live), bietet einen hervorragenden Querschnitt durch die aktuelle Szene. Neben den Stars
werden auch weniger bekannte Gruppen vorgestellt, die nichtsdestoweniger faszinierende Steinchen
zum Gesamtbild beitragen. Die rhythmische Bandbreite reicht von leichtem Funk über schweren
Hardrock bis zu nervösem Techno, von monotonen Drummachines bis zu a-metrischer, akustischer
Improvisation. Unter den klanglichen Zutaten finden sich meditative Flöte, fetter Akustikbass, FolkloreFiedel, diverse Samples, Kirchenorgel, allerlei Jazzbläser, Rockgitarre, solo Akkordeon, zarte
Frauenstimme, Elektrokrach. Ein Gipfeltreffen von Folkore, Avantgarde und Unterhaltung. Alles
gleichzeitig und alles "weder noch", wie der Titel der Produktion genial andeutet. Brandaktuell,
fordernd und spannend! Einziger Wermutstropfen: Das ansonsten sehr gelungene, informative
Booklet lässt uns im Stich, wenn es um durchgehend detaillierte diskographische Angaben geht.
Schade, gerade bei einer derartig repräsentativen Sammlung.
"Respekt!"
Universal
Musik von Billy Holiday, John Coltrane, Charles Mingus, Max
Roach, Art Blakey, Archie Shepp, Ornette Coleman, Sam
Rivers, Steve Coleman, Cecil Taylor und William Parker.
Die CD zum gleichnamigen Buch von Christian Broecking
(Siehe Buchbesprechung) bietet einen repräsentativen
Querschnitt durch die Geschichte selbstbewusster,
„respektfordernder“ afroamerikanischer Musik, die ihren
Ausdruck zwischen leidvoller Introspektion, offenem politischen Angriff, und künstlerischer Freiheit
findet. Die CD beginnt schlüssig mit Billy Holidays „Strange Fruit“ von 1939, dem Ursprung allen
expliziten Protestausdrucks im Jazz, und spannt den Bogen über die politischen Protestsongs von
Charles Mingus („Fables of Faubus“) und Max Roach, den spirituellen Antworten John Coltranes auf
das Leid des Rassismus („Alabama“, „A Love Supreme“) und reicht u.a. über die Neuentdeckung des
Blues und der Tradition in den 70-er Jahren durch Archie Shepp, Sam Rivers universellen
Postmodernismus und Cecil Taylors beharrliche Selbstauslotung bis zu den „Jungen“, die durch Steve
Coleman repräsentiert sind. Mit Ornette Colemans „Broken Shadows“ ist sogar eine ausgesprochene
Rarität vertreten, wurde doch die Platte „Crisis“, von der das Stück stammt, noch nie auf CD
veröffentlicht. Dass sich die Zusammenstellung nicht ganz mit den Schwerpunkten des Buches deckt,
ist klar. Einerseits können viele Musiker nicht mehr selbst Stellung nehmen, andererseits sind die
wirtschaftlichen Grenzen der Labels zu beachten. Durch die geistreichen Kommentare Broeckings zu
den einzelnen Musikstücken und zusammen mit dem Buch ergibt sich jedenfalls ein kraftvolles,
lehrreiches, aber durchaus auch unterhaltendes „Medienpaket“ rund um ein spannendes Thema –
musikalisch, kulturpolitisch und gesellschaftspolitisch.
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DVD-Besprechungen
Rhapsody Films (Vetrieb: EFOR Films) bringt laufend eine lange Serie historisch wertvoller JazzDokumentationen, Portraits und Konzertmitschnitte auf DVD heraus; oft werden dabei zwei Filme auf
einer Scheibe gekoppelt. Das Material hat schwankende Qualität - vieles wurde den für den
"Underground" typischen low-Budget Bedingungen produziert - aber der historische Wert ist
durchwegs hoch. Mancher Film, in dem auch Gesprochenes wichtig ist, erfordert mangels deutscher
Untertitel gute Englisch-Kenntnisse, so etwa "The Universal Mind of Bill Evans", ein Streifen, in dem
der Piano-Meister ausgiebig über Kreativität und Improvisation referiert. Wir stellen hier zwei
besonders interessante DVDs der Serie vor:
Ornette Coleman Trio
1966, von Dick Fontaine, ca. 26 min
Sound?? - feat. Roland Kirk & John Cage
1966, von Dick Fontaine, ca. 27 min
EFOR Films 2869045 (Rhapsody Films)
Double-sided PAL/NTSC (schwarz-weiß)
Diese DVD verbindet zwei Arbeiten von Dick Fontaine. Leider gibt es keine deutschen Untertitel. Die
amateurhafte wirkende Ornette-Coleman-Doku in zittrigen Bildern eist in eindrucksvoller Beleg
ungebremster Kreativität auf mehreren Ebenen und unter einfachsten Gegebenheiten: Coleman nahm
1966 in Paris den Soundtrack zum Avantgarde-Film "Who's crazy?" auf. Die Doku zeigt das Trio mit
David Izenzon am Bass und Charles Moffett im Studio, wie sie live zu den (w)irren Bildern auf der
Leinwand improvisieren. Ausschnitte aus dem Film wechseln mit Einblicken ins Geschehen im Studio.
Berührend, mit welch simplen Mitteln hier bleibende Qualität produziert wurde - zumindest was die
Musik betrifft, der Film "Who's is crazy?" bleibt weiter in Obskurität versunken. Kurze Statements aller
Musiker runden die Sache ab, bevor das Trio zum Pariser Flughafen begleitet wird: die Trommeln am
Autodach, die Formalitäten werden erledigt - und weg war Ornette Coleman.
Der zweite Teil bringt eine faszinierende Gegenüberstellung der ekstatischen Musik Roland Kirks und
der Gedanken John Cages. Der Film hat ein ausgereiftes Konzept und wirkt schon wesentlich
abgerundeter als die Coleman-Doku. Man sieht Kirk am Höhepunkt seiner berstenden Kreativität: in
Konzertauschnitten, Pfeifchen ans Publikum austeilend; im Park, wie der Rattenfänger von Hameln
voranflötend, gefolgt von einer Schar pfeifenspielender Kinder; im
Zoo mit den Tieren im Käfig kommunizierend usw. Diese vor Leben
vibrierenden Szenen werden abgewechselt von ruhigen Sequenzen,
in denen John Cage - der Pionier der Stille - seine poetischphilosophischen Gedanken und Fragen zum Thema Musik and
Sound "vom Blatt" liest ("Is sound music? Is music music?" ...). Kirk
und Cage sind nie gemeinsam im Bild, sie repräsentieren
Gegenpole von musikalischen Zugangsweisen, die jedoch am
Schluss konvergieren, wenn Cage - schließlich im Studio
angekommen - Kommentare zur damals aktuellen AvantgardeGeräusch-Musik gibt, und elektronisch verfremdete Töne im
Mittelpunkt stehen. Kurz danach sieht man auch Kirk, wie er
interessiert an Knöpfchen dreht und damit allerlei Elektronik-Sound
hervorbringt. Ein einfühlsamer, anregender Film mit hohem
historischen Wert, der aber auch heute noch jeden
Musikinteressenten fesseln sollte.
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Sonny Rollins: "Live at Laren"
1973, ca. 30 min, Farbe
Ben Webster: "Big Ben in Europe"
1967, von Johan van der Keuken, ca. 30 min, S/W
EFOR Films 2869043 (Rhapsody Films)
Double-sided PAL/NTSC
Diese DVD koppelt zwei sehr unterschiedliche Filme, in deren Zentrum jeweils ein legendärer TenorSaxophonist steht. Leider muss man wieder ohne deutsche Untertitel auskommen. Der erste Film hält
in matter Farbe und matschigem Ton ein Konzert des Sonny Rollins Quintetts im niederländischen
Laren im Jahre 1973 fest (Walter Davis Jr.: p, Yoshiaki Masuo: g, Bob Cranshaw: b; David Lee: dr).
Rollins hatte bereits den Höhepunkt seiner kreativen Phase überschritten und war längst dazu
übergegangen, von mittelmäßigen Begleitmusikern umgeben, seine ungebrochen brillanten
Improvisationen über das gut eingeführte Repertoire zu bieten. Dementsprechend ist auch dieses
Konzert zu werten. Der Film hat keinerlei Aufwertung, etwa in Form eines Interviews zu bieten.
Ein wahres Juwel bringt jedoch der zweite Teil dieser DVD: Ein einfühlsames Portrait des großen Ben
Webster. In einprägsamen, ruhigen Schwarzweiß-Bildern wird er durch den Tag begleitet: Beim Üben
auf seinem Zimmer (er begleitet eine Fats-Waller-Platte), beim Schwatz über die vergangene Zeiten
mit Duke Ellington, beim Klavierspielen, Spaziergang durch den Zoo, und schließlich beim Üben mit
seiner Band und kurzen Ausschnitten aus den Abenden der Clubzonzerte (inkl. Ein Duo mit Don
Byas). Lebendige und authentische Jazzgeschichte mit einem der ganz Großen - berührend
menschlich.
Charles Lloyd: "Live in Montreal"
Universal 0602498240113
NTSC, 125 min Konzert + 35 min Interview
Charles Lloyd (ts, fl), John Abercrombie (g), Geri Allen (p), Marc Johnson (b),
Billy Hart (dr)
Rec. Live at Montreal 2001 (ca. 125 min), Interview: 1994 (ca. 35 min)
Das - vermutlich - vollständige Konzert des Charles Lloyd Quintetts aufgenommen beim Montreal Jazz
Festival 2001 bringt uns diese hervorragende Produktion ins Haus. Die über zwei Stunden erfordern
etwas Geduld beim Hörer/Seher, denn es braucht einige Zeit, bis es dieser Spitzentruppe gelingt, die
professionelle Routine hinter sich zu lassen und zu Höherem aufzubrechen. So steigert sich die
Intensität (was nicht notwendigerweise heißt: Lautstärke oder Rasanz) bis zum Ende kontinuierlich.
Besonders Allen bringt mit überraschenden Einfällen immer wieder neue Impulse ein, und Hart brilliert
am Schlagzeug mit gut strukturierten, gewohnt unaufdringlichen Soli.
Lloyds wirren Ansagen kann man kaum folgen, sie sind aber ein kleiner Vorgeschmack auf den
"Bonus": Das amateurhaft aufgenommene Interview - eigentlich mangels Fragen eher ein Monolog aus dem Jahre 1994. In einem streckenweise etwas konfus wirkenden Wortschwall erzählt er von
seinem künstlerischen Leben, von seiner Mission: Anfangs, in den wilden 60er-Jahren dachte er noch,
er könne mit Musik die Welt verändern. Er musste jedoch erkennen, dass er sich zunächst selbst
verändern muss - und das tut er immer noch. In verklärt-verklärender Weise schwärmt er von den
musikalischen Wurzeln, die seine Verankerung darstellten, und lässt sich dabei auf ein beeindrucken
wollendes Namedropping ein: Hawkins, Monk, Dolphy, Ornette samt Quartett, Hendrix .... zu allen
steht er irgendwie in Beziehung. Die eine Säule seines Wirkens ist also die Tradition, die andere die
Spiritualität, vor allem diejenige östlicher Prägung. Was uns Lloyd wahrscheinlich im Prinzip sagen
will, ist, dass jeder ehrlich hervorgebrachten, zumal kollektiv produzierten Musik etwas innewohnt, was
unsere alltägliche Banalität übersteigt. Das haben wir schon länger vermutet. Die DVD bietet ein
lebendiges Bild von Charles Lloyd, dem Musiker und Menschen.
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Miles Davis
"miles electric - a different kind of blue"
Eagle Vision EREDV263
PAL, 123 min, deutsche Untertitel verfügbar
Miles Davis (tp), Gary Bartz (as, ss), Chick Corea (el-p), Keith Jarrett
(org), Dave Holland (el-b), Jack DeJohnette (dr), Airto Moreira (perc)
So nahezu perfekt die verschiedenen musikalischen Phasen des Miles
Davis bislang auf diversen CD-Box-Editionen aufbereitet wurden, so
dünn gesät ist das verfügbare visuelle Material über den Meister. Diese
DVD stellt darin bislang den Höhepunkt dar. Im Zentrum steht das
vollständige und ununterbrochene 38-minütige Konzert von Miles'
Gruppe beim letzten und größten aller klassischen Rockfestivals, dem
auf der Isle of White von 1970.
Zur Vorbereitung darauf gibt es Szenen rund um das Festival (im Helikopter über die 600.000
Besucher!), ein wenig musikalische Vorgeschichte und kurze Konzertausschnitte aus früheren Zeiten,
und vor allem Interviews mit "Zeitzeugen" wie Carlos Santana (seines Zeichens glühender MilesVerehrer) und praktisch allen musikalischen Mitstreitern aus der Ära rund um die Zeit des Konzertes
(Keith Jarrett, Chick Corea, Gary Bartz, Airto Moreira, Dave Holand, Jack DeJohnette ...), davor
(Herbie Hancock) und danach (Dave Liebman, Pete Cosey, Marcus Miller), sowie kurze Statements
von Miles selbst, aus Interviews nach seinem Comeback in 80-er Jahren. Die allgemeine Lobpreisung
von Miles Davis wird - beinahe grotesk - nur vom ultrakonservativen Kritiker Stanley Crouch nicht
geteilt. Er verweigert sich in amüsant-lächerlicher Weise immer noch der Realität und bleibt stur bei
seinem 34 Jahre alten Fehlurteil: Miles "verkaufte" sich an die Rockwelt und "Bitches Brew" ist nimmer noch - nicht anzuhören!
Höhepunkt der DVD ist natürlich der Konzertmitschnitt selbst, der uns in klaren Bildern und brillantem
Sound in sehr direkter Weise an einem typischen Miles-Konzert der Zeit teilhaben lässt. In der kurzen
Show wird wie gewohnt eine ununterbrochene Sequenz von bekannten Themen gegeben. Interaktion
auf hohem Niveau, auf diffizile Weise von Davis gesteuert. Als Bonusmaterial finden sich erweiterte
Interviewbeiträge sowie spontane musikalische Hommagen an Miles von einigen, die ihm musikalisch
besonders nahe standen. Hancock scheint die Aufgabe fast zu groß, Airtos spontane Performance
gerät zu einem lebhaften Spektakel.
Als DVD-ROM in den PC eingeschoben enthüllt die Scheibe außerdem einen umfassende, interaktive
"Sessionography" der elektrischen Periode, erstellt vom geschätzten Experten Enrico Merlin. Alles in
allem: unverzichtbar.
39
Buch-Besprechungen
Michael Bettine & Trevor Taylor
“Percussion Profiles“
Buch: Soundworld 2001, englisches Original
386 Seiten, Paperback
ISBN 1-902440-04-8
http://www.fmrrecords.com/swbooks/percbook/percbook.htm
CD: Percussion Profiles; FMR CD74-1100
79 min, 22 tracks, 12 Musiker
Die zwei Autoren - selbst improvisierende Percussionisten
beiderseits des Atlantiks (Bettine ist Amerikaner, Taylor
Brite) – präsentieren Interviews, Artikel und Diskographien
zu 25 der „kreativsten Percussionisten der Welt“, nämlich
G.Bendian, P.Burwell, P.Clarvis, A.Cline, Ensemble Bash,
P.Favre, E.Glennie, F.Hauser, G.Hemmingway, S.Hubback, Sh.Jackson, Le Quan Ninh, P.Lytton,
M.Mazur; P.Motian, G.Müller, T.Oxley, F.Perry, G.Robair, R.Schulkowsky, G.Sommer, F.Studer,
D.Wachelaer, und P.Wertico. Die Auswahl der vorgestellten Musiker ist aus der Sicht der Autoren
bewusst subjektiv und basiert auch auf persönlichen Einflüssen und Beziehungen zwischen ihnen.
Vollständigkeit wäre ja auch angesichts der Vielfalt des Genres von vornherein ein unerreichbares Ziel
gewesen.
Jedem der vorgestellten Musiker ist ein Kapitel gewidmet, in dem nach einer kurzen Biographie
persönliche Ansichten über kreative Prozesse, generelle Gedanken zum Thema Percussion, aber
auch technische Hintergründe zu Instrumenten und Spielweisen in Interviews und kurzen Essays
dargestellt werden. Das äußerst reichhaltige Fotomaterial stillt die visuelle Neugier, die ja gerade bei
Percussion-Musik oft eine natürliche Begleiterscheinung des Hörgenusses ist. Viele der Musiker
spielen auf einem exotisch anmutenden Instrumentarium, das teils auch selbst konstruierte
Instrumente enthält. Die Kapitel schließen mit Auswahldiskographien, die Einblicke in die jeweiligen
Tonträger-Produktionen gewähren.
Beim Kauf des Buches bekommt man dazu eine CD (auch separat erhältlich), die auf über 79 Minuten
Spielzeit 13 der vorgestellten Musiker mit 22 Tracks auch akustisch nahe bringt (eine zweite CD mit
den restlichen Musikern ist in Arbeit). Das Spektrum an Spielweisen dieser Stücke (die meisten solo
und speziell für dieses Projekt produziert) ist groß und reicht vom fast „traditionellen“ Solo am
Standard-Jazzdrumkit über exotisch-spirituell Weltenklänge (inspiriert von balinesischen GamelanKlängen, diversen Gongs, tibetischen Klangschalen usw.) bis zu Naturklängen, Lärm und elektronisch
verarbeiteter Percussion. Von metrisch gebundenem Vortrag über frei pulsierende Sequenzen bis zu
Soundgemälden ohne erkennbaren Rhythmus, aber auch Melodien, die auf gestimmten Instrumenten
erzeugt werden. Mit Ausnahme der elektronischen und der „Noise“-Stücke ist die Musik durchwegs
auffallend leise, reduziert, oft meditativ, also stark im Gegensatz zu dem meist lauten Schlagzeug, wie
man es aus dem Jazz kennt. Insofern mag dieser gelungene Querschnitt manchem Hörer die Ohren
öffnen für unbekannte Territorien des Klanguniversums. Die präsentierten Musiker sind allesamt
innovative Individualisten von großer Sensibilität; eine verstärkte Spiritualität scheint eine
Begleiterscheinung auf ihrem Weg durch ihre Klangwelten zu sein. Die Botschaft könnte sein: Good
Vibrations durch Percussion!
Bei der Auswahl der im Buch reproduzierten Fotos und CD-Covers wäre ein etwas selektiverer
Zugang angebracht gewesen; die Bildqualität unterschreitet leider öfters die Grenze des Erträglichen.
Auch Text, Druck und Bindung des Buches sind technisch nicht immer perfekt, was uns jedoch nicht
daran hindert, dieses Buch samt CD(s) jedem Percussion-Interessierten wärmstens zu empfehlen. Im
Moment ist das wahrscheinlich das beste Material zum Thema. Das Kombi-Pack bietet einen breiten
Überblick über eine spannende Nische in der Musikwelt und macht Lust darauf, sich auf eine
Entdeckungsreise nach mehr zu begeben.
40
Christian Broecking: "Respekt!"
Verbrecher Verlag, 2004, 133 Seiten, Broschur
Broeckings zweite Interviewsammlung setzt thematisch die erste
("Der Marsalis-Faktor") fort und stellt elf Gesprächspartnern die
beharrliche Frage nach dem Status und der gesellschaftlichen
Relevanz der afroamerikanischen Musik damals in den 60-er
Jahren, als das "New Thing" entstand, und in der heutigen Zeit, in
der der Neokonservativismus des Wynton Marsalis die Oberhand
gewonnen zu haben scheint (womit auch der Anknüpfungspunkt
zum ersten Interview-Band Broeckings gegeben ist). Mit Sonny
Rollins, Wayne Shorter, Bill Dixon ("Oktoberrevolution des Jazz"
1964, Gründer der Jazz Composers' Guild), Max Roach (als
Schöpfer der "Freedom Now Suite" und als Positiv-Rassist
Langzeit-Geächteter des Jazzbusiness), Ornette Coleman (als
Individualist par excellence eine Kategorie für sich selbst), Archie
Shepp (einer der "Zornigen"), Roswell Roswell (einer der wenigen Weißen des "New Thing"), Sam
Rivers (Vermittler zwischen Tradition und Avantgarde), William Parker, und den Jungen Steve
Coleman und James Carter (der mehrfach von den anderen als Einziger Junger genannt wird, der die
Idee des "New Thing" fortlebt) kann man sich kaum eine Runde vorstellen, die das Thema
kompetenter diskutieren könnte. In der Gemeinsamkeit ihrer Aussagen entsteht ein authentisches,
lebendig schillerndes Bild der Jazz-Szene einst und jetzt und eine vielschichtige Betrachtung
afroamerikanischer Kultur in den USA. Die Ansichten sind kontroversiell: von radikal politisch - Roach
würde gerne die Segregation wieder reingeführt sehen - bis pragmatisch - Rivers räumt mit der
Legende auf, es hätte keine öffentliche Unterstützung der Loft-Szene gegeben; man müsse sich eben
um die Gelder kümmern. Klar ist, dass es allen Interviewpartnern gelungen ist trotz der widrigen
Umstände ihre künstlerischen Vorstellungen weitestgehend umzusetzen. Dixon und Ornette Coleman
repräsentieren die entsprechende kompromisslose Haltung des "kreativen Individuums unter allen
Umständen" vielleicht am besten.
Die inhaltliche Bandbreite der Aussagen korrespondiert mit den verschiedenen Erzählstilen. Ähnlich
wie bei ihrer Musik, so findet auch die sprachliche Eloquenz der Künstler ihren Niederschlag zwischen
Präzision, Poesie und Philosophie. So sind die Interviews ein Beitrag zum besseren Gesamtverständnis der Musiker als Kulturschaffende, Kreative, politisch Denkende, und schlicht als
Mitmenschen. Manch eines der Interviews mag dem Leser schon in einer Zeitschrift untergekommen
sein (leider wird keine genaue Auskunft darüber gegeben), der kleine Sammelband ist dennoch ein
Muss für alle, die an afroamerikanischer Musik Interesse haben. Stehen auch die außermusikalischen
Aspekte im Vordergrund, so wird doch deren untrennbare Verwebung mit dem künstlerischen
Schaffen deutlich und damit bietet das Buch eine erweiterte Sicht über eine spezifisiche, vielfältige
musikalische Landschaft.
Broecking hat zum Buch eine Begleit-CD (siehe CD-Besprechung) zusammengestellt, die uns die
Musik, von der die Rede ist, in repräsentativer Weise auch sinnlich erlebbar macht.
41
Werner Burkhardt: „Klänge, Zeiten, Musikanten“
Ein halbes Jahrhundert Jazz, Blues und Rock
OREOS 2002, 318 Seiten, gebunden; mit Fotos
Werner Burkhardt ist in seiner Universalität eine Seltenheit und ein
Glücksfall: er schreibt seit 50 Jahren über Musik und hat dabei seine
Bandbreite stetig erweitert: von Jazz über Blues, Rock und Pop, bis
hin zur Oper. Für diesen Band hat er einige der interessantesten
und amüsantesten Essays, Reportagen, Portraits und
Konzertkritiken aus den Bereichen Jazz, Blues und Rock
zusammengestellt. Der Autor erweist sich dabei als scharfsinniger
Beobachter und Analytiker nicht nur der musikalischen
Geschehnisse selbst, sondern auch der menschlichen und
gesellschaftlichen Begleiterscheinungen. Er bringt uns pointiert
persönliche Eigenheiten der Künstler nahe, arbeitet (kultur)politische
Zusammenhänge und Hintergründe auf und zeigt über die
Jahrzehnte hinweg Verständnis für die jeweiligen soziologische
Grundströmungen des Zeitgeistes, die das kulturelle Klima und die
hervorgebrachten Phänomene mit bestimmen. Burkhardt schreibt –
immer fesselnd aus sehr persönlicher Perspektive - u.a. über Louis
Armstrong, Mahalia Jackson, Oscar Peterson, Duke Ellington, Keith
Jarrett, Little Richard, James Brown, Jimi Hendrix, die Beatles,
Rolling Stones, über Frank Sinatra und Sammy Davis jr. Der Schwerpunkt ist also beim Mainstream;
dort scheint sich Burkhardt am wohlsten zu fühlen. Die abnehmende Treffsicherheit und Schärfe
seiner Kommentare, die zunehmende persönliche Distanz am Rande dieses Feldes wird z.B. deutlich,
wenn er die Musik Jimmy Giuffres von 1961 als „konsequent atonal und trotzdem improvisiert“
bezeichnet. Aber im historischen Rückblick wird natürlich manches etwas zurechtgerückt und vielleicht
macht gerade dieser authentische Hauch des Altmodischen ein bisschen vom Charme des Buches
aus. Dass das Kapitel mit Beiträgen zu Max Roach, Joachim Kühn, Keith Jarrett, den beiden Marsalis,
und eben Giuffre mit „Modern Jazz“ überschrieben ist, passt hiezu!
Aber die Perspektiven ändern sich und es gibt keine allein oder ewig gültige Sichtweise auf
Kulturprodukte und deren Bewertung. Burkardt versucht immer in positiver Weise die Musik zu
verstehen; wenn sich das Verständnis auch nicht immer vollständig einstellen kann, so ist das für ihn
aber noch lange kein Grund die Musik abzuwerten. Toleranz und Offenheit sind dem Autor immer
oberstes Gebot. Das Buch ist zugleich lehrreich und unterhaltsam für Freunde der jeweiligen
Musikrichtungen, aber auch für Leser, die über Genregrenzen den Rand ihres eigenen
Geschmackshorizontes hinaus blicken wollen und an historischen Perspektiven interessiert sind.
42
Richard Cook: "Blue Note - Die Biographie"
Argon Verlag, 2004, 303 Seiten, gebunden
Der legendäre Status von Blue Note rechtfertigt eine Dokumentation
der Lebensgeschichte dieses Labels, beruht er doch auf den
jahrzehntelangen Beiträgen, mit denen diese "Institution" das
Jazzgeschehen aufgezeichnet und auch mitgestaltet hat. In höchster
Qualität wurden Zeitgeschmack und Entwicklungen festgehalten, und
das nicht nur im künstlerischen Kernbereich, der Jazzmusik, sondern
auch durch herausragende Tontechnik (Toningenieur Rudy Van
Gelder ist vielleicht die einzige Berühmtheit in dieser Zunft) und
optische Gestaltung (die Covergestaltungen von Reid Miles mit den
Fotos von Frank Wolff haben ähnliche Bedeutung wie die Musik).
Cooks Buch begleitet die beiden deutschen Emigranten und LabelGründer Alfred Lion und Frank Wolff durch alle Höhen und Tiefen auf
ihrem Weg als Jazzproduzenten, der 1939 in New York begann.
Hotjazz, Bebob, Souljazz, modaler Jazz der 60-er Jahre, "Groove" und aalglatter Funkkitsch der 70-er
Jahre waren die wesentlichen stilistischen Stationen des Labels. Nach einem Stillstand folgte - längst
ohne Lion und Wolff - Anfang der 80-er Jahre ein Neubeginn und die Wiederauferstehung zum
anspruchsvollen und erfolgreichen Mainstreamlabel der Jetztzeit.
Salopp geschrieben und schludrig übersetzt ist das Buch dort am wertvollsten, wo interessante
Einblicke in das Jazz- und allgemein ins Musikleben der verschiedenen Epochen gewährt werden und
die mitbestimmenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Randbedingungen angesprochen
werden. So stellt sich die Geschichte von Blue Note als eine schwindelerregende Gratwanderung
zwischen herausragendem Qualitätsanspruch einerseits und ökonomischem Zwang andererseits dar.
Die Eigendynamik des endlosen "Fusionskarussells" in der Musikszene (angefangen mit der
Übernahme durch Liberty Ende 1965) und die Stilzwänge des Marktes werden eindringlich
geschildert. Reizvoll ist auch die einfühlsame Darstellung der Menschen, die die Sache am Leben
erhielten und der familiären Atmosphäre, die zwischen den Stammmusikern und den Produzenten
herrschte.
Die Kommentare zur Musik, die einen großen Teil des Buches ausmachen, sind stark vom
persönlichen Geschmack des Autors gefärbt. Freejazz und Funk scheinen nicht zu seinen Vorlieben
zu gehören und so werden in knapp 20 Seiten die entsprechenden Blue-Note-Produktionen
"moderneren Stils" mit knappen lakonischen Bemerkungen abgetan oder ätzend kritisiert. Letzteres
trifft besonders für die vielen Soul-Funk-Produktionen ab etwa 1970 zu, wo Cook in die übliche
pauschale Aburteilung der überlieferten Kritik einstimmt. Dies ist schade, denn angesichts des
heutigen Funk- und Groove-Revivals, das oftmals gerade auf Blue-Note-Scheiben dieser Zeit
zurückgreift (original oder als "Sample") wäre eine etwas differenziertere Sichtweise angebracht. Was
dem Buch ebenfalls fehlt ist der Versuch zu analysieren, warum gerade Blue Note ein derartig
populäres Kultlabel geworden ist. Original Blue-Note-Vinyl erzielt Spitzenpreise, Fotos und Covers
werden auf Ausstellungen gezeigt, Diskographien und jetzt eben auch das vorliegende Buch werden
veröffentlicht. Warum eigentlich? Welche Bedürfnisse werden damit beim Publikum erfüllt? Eine
kulturhistorische und soziologische Aufarbeitung der entsprechenden Aspekte steht noch aus und
würde womöglich ganz neue Meta-Sichten des Phänomens Blue-Note zutage fördern.
Das Buch kommt ohne eine detaillierte Diskographie und ohne ein einziges Bild - sei es Foto oder
Plattencover - aus; beides ist ja auch anderweitig ausreichend dokumentiert. Die unterhaltsame
Lektüre bietet viele neue Einblicke, aber keine wirklich neuen Erkenntnisse. Möge es potenzielle
Autoren inspirieren mit angemessenem Weitblick auch die Geschichten anderer unabhängiger Labels
zu schreiben. Gerade in Europa gab und gibt es davon eine Vielzahl.
43
Teddy Doering: „Coleman Hawkins“
Sein Leben, Seine Musik, Seine Schallplatten
OREOS, 2001 (Collection Jazz)
239 Seiten, Hardcover
Coleman Hawkins hat das Saxophon im Jazz etabliert und es „davor
gerettet, im Zirkus in Vergessenheit zu geraten“ (Johnny Griffin). Von
1922 bis 1969 sind Aufnahmen von ihm erhalten. Im
deutschsprachigen Raum war längst eine biographische und
diskographische Aufarbeitung seines Beitrages zur Jazzentwicklung
überfällig und das vorliegende Buch leistet einen sehr guten Dienst,
dieses gewaltige Werk in einem komprimierten Werk informativ,
unterhaltsam, und übersichtlich darzustellen. Hawkins war zwar nicht
der erste Saxophonist des Jazz, wie oft behauptet wird, aber er
verlieh dem Instrument persönlichen Ausdruck wie keiner davor und
war für lange Zeit ein „Modell“, dem die meisten Zeitgenossen folgten
(bis er in Lester Young einen ebenbürtigen Konkurrenten fand). Zwischen 1944 und 1947 waren seine
Bands Brutstätten des modernen Jazz, der damals Bebop hieß; Dizzy Gillespie, Thelonious Monk,
Max Roach und Miles Davis spielten in dieser Zeit mit ihm. 1948 folgte die legendäre Solo-Aufnahme
„Picasso“, ein weiterer Meilenstein seiner Karriere.
Wenn Hawkins selbst seine Spielweise auch kaum an die Avantgarde anpasste, so zeigte er doch Zeit
seines Lebens erstaunliche Flexibilität, wenn es darum ging, sich in den Kontext neuer
Musikströmungen zu integrieren. In den 60-er Jahren folgten Sessions mit Avantgarde-Musikern wie
Sonny Rollins, Paul Bley und Max Roach („Freedom Now Suite“).
Die vielen Stationen von Hawkins’ langem musikalischem Schaffen werden in einem kompakten
biographischen Teil des Buches kenntnisreich dargeboten, dem Kapitel über den Stil von Hawkins,
seine jazzhistorische Bedeutung und die Rolle des Saxophons im Jazz vor Hawkins folgen. Den
größten Teil des Buches (ca. zwei Drittel) nimmt der Teil mit den Plattenbesprechungen ein.
Angesichts der überwältigenden Fülle der Einspielungen Hawkins’ hat man allerdings den Anspruch
der Vollständigkeit aufgegeben und konzentriert sich auf die wichtigsten und auf CD vorliegenden
Aufnahmen. Die CD-Besprechungen sind angereichert mit biographischen Hintergründen und bieten
leicht verständliche musikalische Analysen, die das Wesentliche hervorkehren. Dies ist besonders
wichtig, um „alte“ Aufnahmen verstehen und schätzen zu können, da aus der heutigen, modernen
Sicht oft kein „natürliches“ Verständnis für Musik dieser Expochen mehr gegeben ist. Wie bei allen
OREOS-Produkten, so runden auch hier hochwertiges Fotomaterial und kleine Coverabbildungen das
Lesevergnügen ab.
Ein wesentlicher Bestandteil der Collection Jazz und jedem empfohlen, der sich für Coleman Hakwins
und eine halbes Jahrhundert Jazz interessiert.
44
Ralf Dombrowski: „John Coltrane“
Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten
OREOS 2002, 240 Seiten, gebunden; mit Coverabbildungen und
Fotos
John Coltrane starb vor 35 Jahren, nachdem er in weniger als 10
Jahren den Jazz von Grund auf revolutioniert hatte. Sein Schaffen
hat den Weg geebnet für neue Dimensionen der Spiritualität und
Intensität in der populären Musik, wie sie ohne ihn nicht denkbar
wären. Coltrane ist eine Ikone, ein Heiliger. ... Coltrane war ein
Mensch und ein Musiker mit Stärken und Schwächen, sagt dieses
Buch. Der Autor macht Schluss mit unkritischer Verehrung und
unterzieht das Leben und die Musik Coltranes einer anerkennenden,
aber oftmals durchaus relativierenden Betrachtung aus der Distanz
der Zeit. In sehr kompakter, sachlicher Weise folgt der knapp 100seitige biografische Teil durch die menschlichen und künstlerischen
Höhen und Tiefen des Giganten des Tenorsaxophons. Den Großteil
des Buches nimmt aber eine umfassende Werkbesprechung anhand
von Plattenveröffentlichungen ein. Die ausführlichen Besprechungen bleiben sachlich informativ auch
dort, wo vergleichbare frühere Publikationen unter Bezugnahme auf religiös-spirituelle Motivationen
lediglich „metaphysische“ Interpretationsversuche unternahmen, dabei dem Leser aber die
musikalischen Abläufe selbst nicht näher bringen konnten.
Auch die aktuellen Neuerscheinungen bzw. Neuzusammenstellungen, die das Coltrane-Jubiläumsjahr
2001 gebracht hat, werden diskutiert, und die Luxus-Boxsets zu den verschiedenen
Schaffensperioden (dokumentiert auf diversen Labels) finden sich erwähnt, sodass dem Leser eine
praktisch Hilfe bei Kaufentscheidungen gegeben wird. Mit schönen Fotos und kleinen
Coverabbildungen der besprochenen CDs ist dieses Buch - wie alle aus der Reihe Collection Jazz auch handwerklich erste Klasse und jedem empfohlen, der sich ernsthaft mit Coltrane befassen will.
Ekkehard Jost: „Sozialgeschichte des Jazz"
Zweitausendeins
gebunden, 420 Seiten
Josts Werk ist seit seiner Erstausgabe 1982 eines der lesenwertesten Bücher zum Thema. Nun liegt
eine aktualisierte Neuausgabe vor, die in 100 Seiten die Betrachtungen auf die letzten 20 Jahre der
Entwicklung ausdehnt („Das letzte Kapitel?“). Dabei hat der Autor die Abschnitte, die die Zeit bis 1980
abdecken, unverändert übernommen und dies verlangt vom Leser ein besonderes Maß an kritischer
Wachsamkeit. Denn je kürzer seinerzeit die Ereignisse zurücklagen, desto fragwürdiger erscheinen
aus heutiger Sicht manche damals aufgestellten Behauptungen und lassen die Kapitel unfreiwillig
selbst zu „Geschichte“ werden. Die pauschale Verdammung der „Fusion“ der 70er Jahre (getreu nach
dem Dogma, jede kommerziell erfolgreiche Kunst könne nicht anders als unkreativ sein) und die
konsequente Verurteilung von Miles Davis als „Verräter an der Sache“ lässt sich heute in dieser
Schärfe sicher nicht mehr halten. Einerseits stellt sich die Szene inzwischen durch eine Vielfalt
seinerzeit nicht verfügbarer Tondokumente um einiges differenzierter dar, andererseits scheint Jost
damals selbst vom Sog einer negativen „Fachpresse“ erfasst gewesen zu sein. Etwas wovor er selbst
wohl energisch gewarnt hätte, hätte er nur den leisesten Verdacht gehegt. Jost spricht die Problematik
der fehlenden historischen Distanz im Vorwort an, ohne jedoch spezifisch zu werden.
Die Erstausgabe des Buches von 1982 hieß mit Recht präzisierend „Sozialgeschichte des Jazz in den
USA“. Jost bestätigt zwar, dass die wesentlichen Impulse der letzten 20 Jahre aus Europa kamen und
der kreative Jazz ohne die Begeisterung des europäischen Publikums längst tot wäre, beschränkt sich
bei der Aufarbeitung dieser Zeitspanne aber dennoch auf die Analyse rein amerikanischer
Phänomene: auf den „Jazzkrieg“ rund um den Ultrakonservativen Zirkel von Wynton Marsalis, die
Knitting Factory, den Kreis um John Zorn und Steve Colemans M-Base. Wie schon in der FusionPeriode, so verstellt die Konzentration auf „unangepasste Innovation“ dem Autor auch den Blick auf
einige Phänomene der letzten 20 Jahre (das „Groove-Revival“ und dessen Verbindungen zur
Sampling- und Elektronik-Szene, Strömungen des Acid- und Nu-Jazz, „World Music“ usw.). Ob
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„kommerziell“ oder nicht, ob willkommen oder abgelehnt, sie hätten – gerade in sozialgeschichtlicher
Hinsicht - zumindest eine Erwähnung verdient, ohne gleich (ab)gewertet werden zu müssen. Das
neutrale Aufzeigen von Entwicklungen scheint dem Autor allerdings – einst wie jetzt - nicht leicht zu
fallen.
Trotz – oder wegen – der Fülle an kontroversiellen Aspekten: das Buch ist spannend und stilvoll
geschrieben und damals wie heute ein mutiger, kompetenter und wertvoller Beitrag, über „Jazz und
verwandte Musikarten“ mit einer breiteren Perspektive zu diskutieren. Wenn der Leser dabei vergisst,
dass sich bei solch einem Unterfangen die persönliche Sicht (letztlich Geschmack und
Weltanschauung) nie gänzlich ausblenden lässt, ist er selbst schuld.
Ashley Kahn: "Kind Of Blue – The Making of the Miles Davis Masterpiece"
Da Capo Press, 2000
223 Seiten, englisches Original
Das beste Album aller Zeiten! Das einflussreichste, erfolgreichste
Album aller Zeiten! In derartigen Superlativen wird über Kind of Blue
gesprochen. Oder: das Jazz-Album, das sogar die lieben, die
ansonsten Jazz verabscheuen. Das Album, das vorzeigt, dass
höchste künstlerische Qualität und kommerzieller Erfolg keine
Widersprüche sind.
Wie durch die Sicht eines Fischauges blicken wir auf zwei
Jahrzehnte von Karriere und Musik des Miles Davis. Im Zentrum
stehen zwei Aufnahmesessions, die zu einem legendären Album
werden sollten. Wir fokussieren also auf das Frühjahr 1959: Davis
hat sein Quintett, dem John Coltrane seit drei Jahren angehört, mit
Cannonball Adderley zum Sextett erweitert. Der junge weiße Pianist
Bill Evans bringt das modale Konzept George Russells ein, das größere musikalischen Freiheiten
erlaubt, als die ausgetretenen Pfade das Hardbop. Miles Davis bringt nur musikalische Skizzen mit ins
Studio, die die meisten Mitmusiker noch nie gesehen haben, oder verändert spontan Material, das die
Gruppe seit Monaten live gespielt hat. So ist frische, aber dennoch vorsichtig tastende Musik das
Resultat dieser Sessions.
Die geniale Integration von Coolness, Swing, Freiheit, und der Melancholie des Blues war damals ein
sofortiger Erfolg und ist heute immer noch ungeschlagen. Man kann die Musik nicht als revolutionär
bezeichnen aber ihre Neuheit öffnete in vielerlei Hinsicht Tore in die Zukunft und gerade das ist der
Grund warum die Wirkung dieses Album so weit in das Heute ausstrahlte. Zehn Jahre nach Kind of
Blue sollte Miles mit In a Silent Way ein weiteres Mal mit dieser Methode der kontrollierten
Spontaneität Erfolg haben und eine neue musikalische Ära (diesmal die des Rock-Jazz) einläuten.
Solche Zusammenhänge macht Khan klar, und unterstreicht damit die historische Bedeutung von Kind
of Blue. Die Wirkung des Albums entfaltet sich nachhaltig, auch kommerziell: das Album verkauft sich
in den letzten Jahren besser denn je.
Kind of Blue von Ashley Khan ist rundum gelungen. Die musikalischen Analysen sind auch für NichtMusiker verständlich und es werden eine Fülle von Details rund um die Aufnahmesessions geboten,
die die Arbeitsweise von Miles Davis verständlich machen. Neben historisch wichtigen Fragen (Wie
spontan waren die Sessions wirklich? Gab es Proben? etc) gibt es viele nette Nebensächlichkeiten,
wie etwa das Faksimile der Liner Notes von Bill Evans, Abbildungen von Original-Rechnungen und
Verkaufsstatistiken, Geschichtchen zu Aufnahmetechnik und Studio. Positiv fällt auch das sehr
hübsche Layout auf, sowie die vielen – großteils bisher unveröffentlichten - Fotos. Das Buch ist
uneingeschränkt empfehlenswert, nicht nur für Freunde der Musik von Miles Davis, sondern für alle
Kulturinteressierten!
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Ashley Kahn: "Kind Of Blue - Die Entstehung eines Meisterwerkes"
Rogner & Bernhard, exklusiv bei Zweitausendeins, 2002
233 Seiten, gebunden, deutsche Übersetzung
ISBN 3-8077-0176-1
Es ist eine Freude, dass dieses schöne Buch nun auch in einer deutschsprachigen Ausgabe vorliegt.
Das englische Original wurde ausführlich in Jazz Live Nr. 132/2001 besprochen und empfohlen.
Daher bleibt hier nur anzumerken, dass diese deutsche Ausgabe in allen Punkten der Ausstattung der
hohen Qualität des Originals in nichts nachsteht. Spannend und informativ. Geschmackvolles Layout,
hochqualitative Fotos. Lesenswert und ein Muss für jede private Musikbibliothek.
Ashley Kahn
"A Love Supreme - John Coltranes legendäres Album"
Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins
342 Seiten, geb., 85 Abbildungen, ISBN 3-8077-0030-7
Vorwort von Elvin Jones
Kahn, der schon mit "Kind of Blue - Die Entstehung eines Meisterwerkes" der
Jazzliteratur eine neue Gattung gegeben hat, macht hier mit seinem
Erfolgsrezept weiter. Nach Miles Davis' Klassiker ist fast zwangsläufig Coltranes hymnisch-spirituelle
Offenbarung an der Reihe, in allen Aspekten bis aufs Feinste durchleuchtet zu werden. Der Leser wird
durch Coltranes persönliche und musikalische Vorgeschichte bis zu dem Punkt geführt, an dem er nach mehrtägiger Isolation in seinem Arbeitszimmer - verkündet, er habe zum ersten Mal ein
gesamtes Werk auf einmal empfangen. "Es war, als stiege Moses vom Berge Sinai herab", erinnert
sich Alice Coltrane, und damit ist auch schon die starke, geradezu übermächtige religiös-spirituelle
Konnotation ausgedrückt, die diesem Album von Anbeginn anhaftet, und der sich auch Kahn nicht
entziehen kann. In einem lebendig-schillernden Kaleidoskop wird uns dann von der AufnahmeSession erzählt, inkl. der legendären, erst kürzlich veröffentlichten Sextett-Version vom Folgetag mit
Archie Shepp und Art Davis. Es folgen die packende Schilderung der einzigen Live-Aufführung der
Suite, Hintergrundinformation zum beständigen kommerziellen Erfolg der Platte, Interviews mit vielen
Zeitzeugen und Mitmusikern, und Analysen des nach- und anhaltenden Einflusses dieser Platte,
insbesondere auch auf die Rockmusik. Mit den sorgfältig erstellten Anhängen, den vielen Bildern, dem
ansprechenden Layout, und der bei Rogner & Bernhard üblichen hochwertigen Aufmachung ist das
Buch unverzichtbare Informationsquelle über einen der wesentlichsten Jazzmusiker und über eine
ganze Musikepoche. Und zugleich fesselnder Lesegenuss.
Martin Kunzler: "Jazz-Lexikon"
2 Bände, Paperback, 1604 Seiten, rororo 2002
"Der Kunzler" liegt also nach 14 Jahren endlich als gründlich
überarbeitete und ergänzte Neuausgabe vor. Eine auch nur
einigermaßen griffige und gleichzeitig präzise Definition des Begriffes
"Jazz" ist heute kaum noch möglich, auch wenn Kunzler selbst in den
nur sechs Seiten des Vorwortes eine konzise Annäherung
dahingehend gelingt. Gerade deshalb ist es sinnvoll, dass sich das
Werk auf den "Jazz im eigentlichen Sinne" konzentriert, also auf den
"Kern" der Jazzentwicklung, und dabei Randerscheinungen aus
Blues, Rock und anderen verwandten Bereichen unbehandelt lässt.
Die einzelnen Einträge zu den Musikern sind umfassende
Kurzbiographien, wobei durchaus auch Anekdotisches und Zitate aus
der Literatur Platz haben. Platteneinspielungen sind bis in die jüngste
Zeit weitgehend lückenlos erwähnt. Diese Ausführlichkeit der
vorhandenen Artikel hat zur Folge, dass auf der anderen Seite einige Namen, die man sich erwartet
hätte, gänzlich fehlen. Die bewusste Entscheidung zugunsten hochwertiger, narrativ dargebrachter
Inhalte und gegen das bloße Aufzählen dürftiger biographischer Daten hebt das Buch aber letztlich
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auf sein hohes Niveau und verspricht bleibenden Wert. Ein am Internet verfügbarer Index mit
sämtlichen Querreferenzen ergänzt das Namensregister der Papierausgabe und steigert den Nutzen
nochmals. Insgesamt ein unverzichtbares Werk für jeden ernsthaften Jazzinteressenten und im
deutschsprachigen Raum ohne Vergleich.
Paul Tingen: "Miles Beyond”
The Electric Explorations of Miles Davis 1967-1991
Billboard Books, 2001
352 Seiten, englisches Original
Miles Beyond ist das erste allgemein verfügbare Buch, das sich ausschließlich mit der „elektrischen
Periode“ von Miles Davis befasst und ist damit ein längst überfälliger Beitrag zum Gesamtverständnis
des Werkes dieses großen Musikers. Der Zeitabschnitt, der hier abgehandelt wird, umfasst immerhin
ungefähr die Hälfte der gesamten Schaffenszeit von Miles Davis und spannt einen Bogen über eine
große Anzahl verschiedener Strömungen, die Davis in dieser Zeit in seine Musik einbezog: Soul-Funk,
Weltmusik, europäische Avantgarde, Pop und anderes mehr.
Während die Alben In a Silent Way und Bitches Brew von 1969
heute allgemein als Meisterwerke anerkannt werden, die die Ära
des Rockjazz einläuteten, gibt es daneben eine Reihe von
Aspekten der Musik von Davis aus der Zeit von 1970 bis 1975, die
bis heute nicht analytisch verstanden, geschweige denn gewürdigt
wurden. Dem gegenüber hat die populäre Musikentwicklung des
letzten Jahrzehnts immer wieder nachträglich bestätigt, dass Miles
Davis seiner Zeit voraus war: die Editierarbeit im Studio mit dem
genialen Produzenten Teo Macero, die „pastoralen“ Stücke, die
heute als Vorläufer von Ambient gelten, die Integration von
indischen Elementen, von Loops und zyklischen Bassfiguren
gaben eine Vorahnung von heutigen Stilen wie Drum&Bass, TripHop oder Trance, lange bevor diese geschaffen wurden. Die
Abwendung von Virtuosität und Melodie und die Hinwendung zu
größeren Sound-Strukturen auf der Basis zyklisch-komplexer
Rhythmik waren die zukunftsweisenden Eckpfeiler dieser Musik.
Dass sie auf teilweise extreme Ablehnung stieß (bei Kritikern
stärker als beim Publikum) ist zum Teil dadurch zu erklären, dass
Jazzkritiker die Falschen waren, über solche Musik zu urteilen.
Paul Tingen korrigiert dieser Situation: als Rockgitarrist blickt er aus dem richtigen Blickwinkel auf die
elektrische Musik von Miles Davis. Äußerst detailreich und spannend beschreibt er die musikalische
Entwicklung von Davis und stützt sich dabei besonders stark auf die Aussagen von Zeitgenossen
(Mitmusikern, Partnerinnen, Familienmitgliedern ...), die er extra für sein Projekt interviewt hat. Tingen
liebt besonders die Musik, die zwischen 1969 und 1975 geschaffen wurde, behandelt aber in der
gleichen Qualität das letzte Jahrzehnt von Davis, in dem die Musik nach einer 5-jährigen
krisenbedingten Pause nicht mehr das Niveau von zuvor erreichte. Dass Tingen die Musik auch
bewertet und dies offen als subjektiven Akt erkennt, macht ihn symphatisch und erfüllt die
analytischen Abhandlungen, die ohne Musiktheorie auch für den Laien gut verständlich sind,
zusätzlich mit Leben.
Der Autor scheut sich auch nicht, auf die schwierigen Elemente der Persönlichkeit von Miles Davis
einzugehen. Er sieht die Person des Künstlers als integrale Gegebenheit und deren problematische
Komponenten als nicht loslösbar von seiner Musik. Dem bekannten Aspekt der Drogensucht von
Davis setzt er beispielsweise spekulativ hinzu, dass der Akt des Musikschaffens für Davis ein
Suchtmittel gewesen sein könnte, das ihm half, mit den Schmerzen fertig zu werden, die ihm ein
Hüftleiden bereitete. Schließlich ist da die Art und Weise, wie Davis seine Gruppe leitete und seine
Mitmusiker mit minimaler, oft absurd erscheinender Kommunikation zu ein Maximum an Kreativität
und Spontaneität anregt. Tingen verdichtet diese Charakterisierung des magischen Bandleaders zur
gelungenen Analogie mit einem Zenmeister.
48
Neben einem guten Register ist ein wichtiger Bestandteil von Miles Beyond die hervorragend
gemachte Diskographie des Davis-Forschers Enrico Merlin. Diese beschränkt sich allerdings – und
das gilt leider auch für die analytischen Ausführungen im Textteil – auf offizielle Alben. Die
Dokumentation der Livebands wurde von Sony/Columbia aber nur sehr lückenhaft durchgeführt und
so fehlen etwa offizielle Aufnahmen der ausgedehnten Tourneen von 1971 und 1973, von denen
andererseits etliche Bootlegs im Umlauf sind. Wenn das auch auf Kosten der musikalischen Studie
geht, man könnte dieses Vorgehen noch mit Loyalität zum Musikbusiness zu erklären versuchen.
Noch schwerer wiegt allerdings, dass Tingen auf die Bitte von Sony hin die bisher unveröffentlichten
Aufnahmen im Ausmaß von ca. 10 CDs, die 2001 und 2002 erscheinen, unberücksichtigt lässt,
obwohl sie ihm bereits als Referenz-CDs vorlagen. So wird man also in einem Jahr über die dann
aktuellsten Davis-CDs nichts in diesem Buch finden – schade! Eine weitere kleine Schwäche des
Buches ist das recht spärliche Bildmaterial: bescheidene 8 Seiten mit qualitativ eher unbefriedigenden
Fotos finden sich in der Mitte des Buches.
Trotz dieser kleinen Enttäuschungen ist das Buch ein Muss für jeden Miles-Davis-Fan, aber auch für
jeden, der sich für Rockjazz oder generell für die Musik der letzten 30 Jahre interessiert. Es erhellt die
zweite Hälfte der musikalischen Welt von Miles Davis, die damit hoffentlich eine noch größere
Hörerschaft finden wird.
t,o,n,f,o,l,g,e,n, - soundportraits
20 jahre wiener musik galerie
wiener musik galerie 2002, 208 Seiten, japanische Bindung
erhältlich bei www.wmg.at
Das diesjährige Festival der Wiener Musik Galerie – Tonfolgen - war ein besonderes, galt es doch,
anlässlich des 20-jährigen Bestehens dieser „Institution“ Rückschau zu halten und über das Erreichte
nachzusinnen. Immerhin hat man mit Beharrlichkeit dem “neuen Third Stream”, dem coolen
Changieren zwischen Improvisation und Komposition auf der Basis von permanenter Selbst- und
Kulturreflexion eine beachtliche Fließgeschwindigkeit in einem breiten Flussbett verschafft, und
darüber international Beachtung und – nicht unerwünschte – Kontroverse erreicht. Aber trotz des
retrospektiven Charakters des Ereignisses kommt für die beiden Seelen der Musik Galerie - Ingrid
Karl programmatisch und Franz Koglmann musikalisch - ein Erstarren in verklärter Reminiszenz
natürlich nicht in Frage. Stattdessen werden geschickt Fäden der Vergangenheit aufgegriffen,
weitergesponnen und mit gänzlich Neuem verwoben. Dies gilt für das Programm des Festivals selbst
genauso, wie für die begleitende Schrift, für die die Bezeichnung „Programmheft“ schlicht
unangemessen wäre. Zweisprachig (englisch/deutsch) und buchbinderisch originell, geriet sie zu einer
gedanklichen Aufarbeitung des besagten 20-jährigen Weges samt diversen Verästelungen in der
Musikgeschichte. Beiträge u.a. von Robert Bilek, Thomas Miessgang, Laurie Anderson, Bill
Shoemaker, und Wolf D.Prix, sowie der auftretenden Musiker, u.a. Skuli Sverrisson, Bill Dixon, den
Icebreakers, Mike Svoboda, Koglmann (aufgetreten mit dem Monoblue Quartet) und Peter Herbert
bringen ein Kaleidoskop an Analyse, Diskussion, Historie, Theorie und Erlebtem. Und sogar die lange
Reihe von Lobreden und Gratulationen diverser Persönlichkeiten enthalten lesenswerte Gedanken zur
Wiener Musik Galerie und damit zu der bedeutenden Strömung heutiger Musik, für die sie steht. Musik
ist für Koglmann immer mehr als bloß Tonfolge: „Das Einfache, die direkte Wirkung ist mir verdächtig“
sagt er und dieser Band ist die perfekte papierene Entsprechung dieser Haltung.
49
Peter Niklas Wilson: "Reduktion"
Zur Aktualität einer musikalischen Strategie
edition neue zeitschrift für musik, Schott Musik, 2003, gebunden,
139 Seiten, mit CD
Der 2003 allzu früh verstorbene Peter Niklas Wilson, Autor von
lesenswerten Büchern über Jazzmusiker wie Miles Davis, Sonny
Rollins, Anthony Braxton und Albert Ayler, und selbst Musiker, legt
hier eine Arbeit über ein musikalisches Phänomen vor, das dem
Geist des Jazz in weiten Bereichen diametral entgegen gestellt zu
sein scheint. Reduktion ist in dieser Musik, wo die
Qualitätsmaßstäbe meist Virtuosität, Intensität, ständige Neuschöpfung durch Improvisation sind, selten anzutreffen. Umso
interessanter mag es für Jazzinteressierte sein, in ganz andere
Bereiche zeitgenössischer Musik hinein zu blicken. Jazz ist in dieser
Abhandlung tatsächlich kaum ein Thema, das Spannungverhältnis
zwischen Improvisation und Reduktion allerdings sehr wohl.
Wilson stellt in Portraits wichtige Musiker und deren "Schulen" vor, gibt einen Abriss der historischen
Entwicklung zum Thema (so z.B. die Beziehung zu und die Abgrenzung von der visuellen "Minimal
Art" und der "Minimal Music") und lässt vor allem wichtige Protagonisten in Interviews und Statements
selbst zu Wort kommen. Auf seine zwei Fragen, nämlich einerseits der nach dem Stellenwert der
Reduktion in ihrem eigenen Schaffen und andererseits der Frage nach der allgemeinen Bedeutung
der Reduktion in der Musik der Gegenwart finden sie ein breites Spektrum von radikalen Antworten.
Von sehr persönlichen Erfahrungen und philosophischen Gedanken über gesellschaftsanalytische
Überlegungen, die unseren kulturellen "Zeitgeist" und die Rolle von Musik und Kunst hinterfragen, bis
hin zu spirituellen Gedanken - aber auch deren schroffe Ablehnung. Sinnlichkeit und abstrakter
Intellekt sind vereinbar. Faszinierend auch die verschiedenen Wege, über die die Musiker zur
Reduktion gefunden haben; man denke nur an Radu Malfatti, der ja als ein Ex-Freejazzer nun einen
der extremsten Standpunkte der Reduktion vertritt. Reduktion also als "Weniger ist mehr", als Antwort
auf das "anything goes"? Mitnichten lässt sich das Thema auf derartig simple Positionen vereinfachen!
Die Stille und ihre Weggefährtin, die Pause, kommen zu ihrem Recht, dennoch - oder gerade
deswege - ist das Resultat des Einsatzes einfacher Mittel oftmals aber geradezu unheimlich intensiv:
Veränderte Maßstäbe (Dauer, Lautstärke, Klangqualität) lassen uns die Musik konzentriert wie durch
ein Mikroskoop erscheinen und verleihen dem einzelnen, auch noch so unscheinbaren, klanglichen
Ereignis Bedeutung. Wilson gelingt eine vielschichtige, schillernde Darstellung dieses Themas, bei
dem Uneingeweihten leicht Langeweile assoziieren könnten.
Die hübsche Gestaltung des sorgfältig edierten Buches erfreut den Leser ebenso wie Wilsons
wunderbar klare und präzise, aber dennoch geradzu poetische Sprache. Die beigelegte CD macht
viele der besprochenen Schlüsselstücke hörbar. Durch diese repräsentativ Tonbeigabe werden die
oftmals doch recht abstrakten Ausführungen auch für diejenigen Leser erlebbar und nachvollziehbar,
die keine tiefergehenden musiktheoretischen Grundkenntnisse mitbringen und keinen Zugriff auf diese
- ansonsten teilweise wohl schwer aufzutreibenden - Aufnahmen haben. Ohren auf, Achtung:
Horizonterweiterung!
50
Peter Niklas Wilson: “Ornette Coleman - His Life and Music”
Foreword by Pat Metheny
Berkeley Hills, 1999
244 pages
Ornette Coleman has for the last 40 years substantially shaped the music we call jazz. This books
gives an overview of the live of the free jazz pioneer (leaving the details to John Litweilers "A
Harmolodic Life", now out of print) but more importantly is a concise guide to his music. The structure
of the biographic section - perfectly illustrated with black and white photos by the great Val Wilmer nicely reflects Coleman's large periods of creativity and silence.
The core of the book however deals with the music of the artist. Approaching Coleman's somewhat
vague Harmolodic theory the author - himself a musician - analyses a number of Coleman's
compositions and improvisations and illustrate them with transcriptions of sample scores. While a
detailed understanding of this small section requires quite some knowledge of musical theory, it might
provide even the not-so-knowledgeable music lover with a glimpse of what makes Coleman's music so
unique.
More than half of the book's volume is taken by a guide to Coleman's recorded output available on
commercial recordings. Organized in a chronological way of recording, each record lists personnel,
recording dates and track titles and is supplemented by a black and white image of its cover art. In an
informal way, background stories, musical analyses and professional critique are then mixed to build
an easy-to-read comment on each record. While most essential recordings are reviewed, the insisting
Coleman collector will realize that a number of harder to find records (most of them illegal "bootleg"
recordings) are missing. In a few cases this must be considered a shortcoming of this publication: The
high-quality, widely available Belgrade Concert of 1971, the CD Jazzbühne Berlin 1988 or Coleman's
recent appearance on a CD of the French saxophone player Jochk'o Seffer have to be mentioned
here. The author's justification that he wants to focus on easily available releases cannot be accepted
as he for instance reviews a next-to-impossible to find Paris Concert. The arbitrary omissions on the
one hand and listing of extremely rare albums on the other hand simply seems to be a result of the
authors limited collection. The explanation might be that this book is basically an extended translation
of a German release of 1989, published by OREOS. At that time almost all albums published then
where reviewed. Obviously and unfortunately the author lost the energy or the interest to keep track of
all the paces of Coleman after this date.
These shortcomings prevent me from calling this publication the definitive guide to Ornette Coleman's
music but they are not serious enough to keep me from recommending this book to every music lover
who wants to know more about the man, his music, and his records.
51
Peter Niklas Wilson: „Miles Davis“
Sein Leben, Seine Musik, Seine Schallplatten
OREOS, 2001 (Collection Jazz)
232 Seiten, Hardcover
Dank des OREOS Verlages mit seiner profilierten Reihe „Collection
Jazz“ gibt es im Miles-Jahr 2001 (75. Geburtstag, 10. Todestag) auch
ein deutsches Buch zum Thema. Wie alle Bücher dieser Reihe ist
auch dieses in zwei Hälften geteilt, wovon die zweite eine
kommentierte Diskographie darstellt, die mit kleinen SchwarzweißAbbildungen der Covers auch das visuelle Informationsbedürfnis
nicht ganz ignoriert; die erste Hälfte wird üblicherweise von einer
Biographie eingenommen. Im vorliegenden Fall hat man sich aber
berechtigterweise dafür entschieden, der Fülle an bestehenden
biographischen Quellen zu Miles Davis – die ausgiebig zitiert werden
- nicht grundlos eine weitere hinzuzufügen. Das Leben des Musikers
wird hier also auf nur 27 Seiten knapp, aber ausreichend informativ
erzählt, um Platz zu geben für einen essayistischen Teil, der sich
ausführlich mit einigen spezifischen Themen rund um Miles Davis,
seiner Person und seiner Musik, auseinandersetzt. Es geht um die
Klangwelt, den Bandleader, den Solisten, Studiotechniken und um „Miles und seine Maske“:
Die musikalischen Themen arbeitet Wilson - selbst praktizierender Musiker - in gewohnt
professioneller Manier auf, oft unter Einbeziehung von Notenbeispielen, trotzdem meist auch für
musikalische Laien durchaus verständlich. Die Analysen (auch im diskographischen Teil) sind
scharfsinnig hellhörig und oftmals durchaus kritisch. Und das tut gut, besonders wenn über einen
„Jazzgott“ wie Miles Davis geschrieben wird.
Die Plattenbesprechungen im zweiten Teil sind informativ und unterhaltend zugleich. Neben
Hintergrundinformationen sind es vor allem die analytisch-scharfsinnigen Beobachtungen des
musikalischen Vorganges, die dazu anregen, die Platten noch einmal, und noch genauer zu hören.
Eine zwölf Einträge umfassende, ausgiebig kommentierte Liste von Büchern anderer Autoren zu Miles
Davis ist ein erfreulicher Bonus. Und die seltenen Fotos (von Ralf Quinke und Val Wilmer) sowie die
gewohnt gelungene Cover-Grafik von Niklaus Troxler werten dieses sehr kompakte Werk zusätzlich
auf.
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Ben Young: „Dixonia”
A Bio-Discography of Bill Dixon
Greenwood Press
ISBN 0-313-30275-8
418 Seiten, gebunden
Im Sommer 1998 erschien bei Greenwood Press das Buch "Dixonia - A Bio-Discography of Bill Dixon"
von Ben Young; es soll eine möglichst lückenlose Dokumentation des musikalischen Schaffens von
Bill Dixon bieten. In chronologischer Folge werden alle musikalischen Äußerungen Dixons aufgeführt
und teilweise detailliert kommentiert, häufig unter Zuhilfenahme von Originalzitaten Dixons, der an
diesem Projekt stark mitgewirkt hat. Angeführt werden alle "musikalischen Ereignisse", soweit sie
sicher dokumentiert sind, oder auch nur "sicher erinnert" werden. In erstere Kategorie fallen natürlich
alle (wenigen) Aufnahmen, die auf Platten erschienen sind, sowie alle Aufnahmen (ob bei öffentlichen
Konzerten mitgeschnitten, oder bei Proben mit Studenten), die Dixon selbst gemacht hat und die nun
in seinem Archiv lagern. In die Kategorie der "erinnerten" Ereignisse gehören zeitlich nicht genau
datierbare musikalische Zusammentreffen, die vor allem in den 60er-jahren oft Episodencharakter
annehmen. Dazu zählen ein Erfahrungsaustausch auf der Straße mit Don Cherry in einer verregneten
Nacht 1961, Trompetenstunden für Ornette Coleman im gleichen Jahr, oder ein kurzes
Zusammenspiel mit Albert Ayler in Stockholm 1962, der Dixon für deine ersten Plattenaufnahmen
gewinnen wollte - erfolglos! Nur beim Lesen dieser kurzen und oftmals unerwarteten Geschichten
kommt manchmal so etwas wie Unterhaltungsgefühl auf - ansonsten herrscht eher "trockene"
Atmosphäre vor.
Dixonia dokumentiert auch die Tätigkeit Dixons als Produzent und Lehrer und führt daher alle von ihm
produzierten Platten und Konzerte auf (u.a. die der "October Revolution of Jazz" 1964) und gibt einen
Überblick über die von ihm geleiteten Studienlehrgänge am Bennigton College. Insgesamt ist die Fülle
an Information beachtlich und auch die offensichliche Akribie, mit der die Informationen
zusammengetragen wurde. Der Wille des Autors, dem imposanten Werk Dixons dokumentarisch
gerecht zu werden und es zu ordnen, kommt klar zum Ausdruck.
Obwohl vielfach mit Kommentaren von Dixon bereichert, ist dies alles freilich weniger für den Freund
von Dixons Musik interessant als für den Wissenschafter, der aufbauend auf diesen Fakten Studien
anstellen will (musik-theoretische? soziokulturelle?, diskographische?). All jenen, die einen Einblick in
Dixons Kunst oder seine Gedankenwelt erhalten wollen, wird dieses Buch wenig weiterhelfen. Es ist
gut, daß Dixons Werk Wertschätzung verliehen wird. Es ist fragwürdig, ob es damit getan ist, Fakten
zu listen und den Meister selbst kommentieren zu lassen, da dieser Zugang weder kritischen Abstand
noch gebührende Würdigung erlaubt. Autor Ben Young betont allerdings ausdrücklich, daß genau
dieses nicht das Ziel von Dixonia war, sondern daß er mit diesem Werk die objektive Grundlage für
darauf aufbauende Arbeiten Anderer legen will. Sei es!
Gesamtheitlich betrachtet fehlen in Dixonia wesentliche Aspekte von Dixons Schaffen, vor allem sein
bildnerisches Werk, das gar keine Erwähnung findet. Ein Werkverzeichnis seiner Bilder und eine Liste
der Ausstellungen und Galerien, in denen seine Werke zu sehen waren, wäre eine durchaus sinnvolle
Ergänzung gewesen. Auch das eine oder andere Foto hätte dem dokumentarischen Wert dieser
Publikation wohl keinen Abbruch getan. Und schließlich: Trotz des hohen Preises dieser
"Bibliotheksausgabe" ist das Druckbild alles andere als befriedigend.
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Konzert-Besprechungen
Wiener Staatsoper: Charles Lloyd / Deodato, 2.7.2002
Charles Lloyd Quartett
Erstaunlich: Charles Lloyds Ton wird immer noch zarter! Nur in kurzen Momenten lässt er geballte
Energie in Form von coltrane-eskem Tonschwall und überblasenen Kreischtönen aufblitzen. Dann
weiß man: er gebietet über das gesamte Repertoire von Technik am Tenorsaxophon. Aber sein Ziel
ist nicht die Virtuosität, denn sein persönlicher, sehr intimer Ausdruck ist immer mehr der der sanften
Introspektion. Was nicht heißen soll, dass er darin nicht genausogut ein erstaunliches Niveau an
konzentrierter Intensität erreicht. Zumal er mit John Abercrombie an der Gitarre und Billy Hart am
Schlagzeug zwei Kollegen zur Seite hat, die ebenfalls über ein großes dynamisches Spektrum
verfügen. Abercrombie steuert erfinderische Blues-Soli an der E-Gitarre bei, Hart fasziniert durch
raffinierte rhythmische Details.
Die musikalischen Strukturen basieren oftmals auf kräftigen Blues- und Gospelgerüsten, wobei das
Material teils aus traditioneller Gospelquelle stammt ("Go down Moses ... let my people go!"). Der
Großteil der Musik beruht jedoch auf den bestens bekannten Lloyd-schen Originalen, die er nun
teilweise seit 40 Jahren immer wieder spielt, sie immer wieder zu neuem Leben erweckt, ihnen immer
wieder andere Charaktereigenschaften einhaucht. Geschöpfe aus Musik, mit denen er spirituelle
Zwiesprache hält über Schönheit, Abschied, Erhabenheit und Weltschmerz.
Wenn Lloyd zu den Maracas greift, um sich von der tiefen Zartheit frei zu schütteln, dann mag das
therapeutische Notwendigkeit sein, musikalisch zwingend ist es wohl nicht. Vielleicht ist dieser halbe
Abend auch zu kurz um auf andere Art die Erdung wieder herzustellen, z.B. indem die musikalische
Glut zur lodernden Flamme wird, wie man es anderorts schon erlebt hat, wenn die Musik Zeit hatte,
sich zu entfalten.
Deodato
Der Kontrast ist groß und stellt höchste Ansprüche an die Anpassungsfähigkeit des Publikums: Nach
der Pause das, was die Promoter offenbar als die eigentliche Sensation des Abends ansehen: The
Deodato Revival Band featuring Deodato himself! Nein, im Ernst: schlicht und einfach derjenige
Deodato - hauptsächlich Arrangeur, weit weniger Pianist, wie er selbst in netter Bescheidenheit meint
- der vor 30 Jahren mit seiner Jazzclassicrock-Bigband-Crossover-Version von Straußens "Also
sprach Zarathustra" einen Megahit landete. Seit 17 Jahren ist er erstmals wieder auf Tour, aber keine
Angst, die Musik ist haarscharf die gleiche geblieben. Zwei Alben waren es seinerzeit, die damals voll
den Zeitgeist trafen und Deodato zum Star gemacht haben. Beide sind zufällig gerade frisch poliert
wieder aufgelegt worden und ergeben zusammen einen netten Abend, besonders, wenn man sie nicht
vom CD-Player spielen lässt, sondern von einer 10-köpfigen lustigen Truppe, die enorm daran Spaß
zu haben scheint (das Saxophon mutiert zur Luftgitarre!). Tatsächlich: zwischen dem Staunen ob der
vielen Dejavu-Erlebnisse kommt auch beim Zuhörer Freude auf. Die Stromgitarre wird ordentlich
gewürgt, der Bass forsch geschnepft, das Schlagzeug in bester Rock-Manier malträtiert, dazwischen
der fette Bläsersatz. Und die Musik bleibt immer noch gleich gut im Ohr haften wie damals in den
guten alten Siebziger-Jahren! Spaß muss eben sein, oder?
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Graz Meeting „African Roots“, 25.-27.4.2002
Das Motto des diesjährigen Jazzfestivals „Graz Meeting“ (wie immer im Grazer Orpheum) war „African
Roots“. Ein lohnendes, aber auch sensibles und riskantes Thema, sind doch die afrikanischen
Wurzeln Inspiration und eine Grundlage nicht nur des Jazz, sondern ragen auch tief in Bereiche
populärer Musik des 20. Jahrhunderts hinein, die von manchen „Jazzpuristen“ (als ob es „reinen“ Jazz
geben könnte) rigoros abgelehnt werden. Das Erkennen und Anerkennen dieser Zusammenhänge
erfordert also ein gewisses Maß an Offenheit. Das nächstjährige Festival wird übrigens europäischen
Grundströmungen gewidmet sein. Man hat anscheinend eine programmatische Schiene gefunden,
von der man sich einige Zeit leiten lassen könnte.
Der in Österreich lebende Senegalese Jali Keba Cissokho eröffnet alle drei Abende mit dem Vortrag
von Griots, das sind traditionelle Gesänge aus seiner Heimat, begleitet auf der Kora, einer Art
Mischung aus Harfe und Laute. Die über Generationen überlieferten Lieder sind lebendig gehaltenes
Kulturgut aus dem „echten Afrika“, wie Veranstalter Gerhard Kosel meint. Also quasi der Boden, in
dem die Wurzeln sprießen, um die es in weiterer Folge geht. Auch wenn uns die Inhalte der
Geschichten verborgen bleiben, so eröffnet uns die freundliche Grundstimmung des Gesangs mit der
rhythmusbetonten Begleitung die Möglichkeit, in uns selbst hineinzuhorchen und unseren eigenen,
inneren Geschichten zu lauschen. Eine leichte Trance als Einstieg in den Abend – gelungen!
Die erste Gruppe und eine Österreichpremiere ist das Quartett des Südafrikaners Zim Ngqawana, der
in seiner Heimat ein gefeierter Star, bei uns aber praktisch unbekannt ist. Die Band in der
traditionellen Quartettbesetzung (Bläser, Piano, Bass, Schlagzeug) bringt nichts Überraschendes,
sondern gediegenen Jazz der südafrikanischen Art, wie man ihn etwa von Abdullah Ibrahim kennt.
Eine Mischung aus melancholisch-süßen Melodien und expressiven Soli auf dem Boden intensiver
Gospelrhythmen. Ngqawana sing (und schnalzt mit der Zunge), er spielt neben Saxophonen auch
Flöte, Pfeife, Hupe, Mundharmonika und Beethoven. Letzteres in Form einer Mini-Spieluhr – seine
Form der Auseinandersetzung mit Österreich und der mitteleuropäischen klassischen Musik, wie
immer man sie interpretieren möge. Neben Eigenkompositionen wird eine wunderschöne Version von
Ellingtons „In a sentimental Mood“ gegeben. Anregende Musik, aber der letzte Funke, der dem
Publikum seine Zurückhaltung nehmen könnte, bleibt aus.
Nach der Pause der erste Star des Festivals: Pharoah Sanders! Der spirituelle Mann mit dem
Rauschebart ist in traditionelle, bunte afrikanische Gewänder gehüllt und strahlt nur so vor innerer
Glückseligkeit. Er verkörpert die Quintessenz der African Roots im Jazz.
Schnitt!
Glattrasiert, farblos schlicht gekleidet, das Gesicht mürrisch versteinert, so steht er vor uns. Aber
lassen wir die Äußerlichkeiten und hören wir, was der erfahrene Mann zu sagen hat. Eines dieser
typisch meditativen, ruhig auf und abschwellenden Themen. Das Problem: die Sache stockt und die
Einleitung will und will kein Ende nehmen. Sanders überlässt die Bühne seinen bedauernswerten
Musikern. Besonders der Pianist William Henderson, langjähriger Gefährte von Sanders, ist ein
Meister der inhaltsleeren, aber umso großzügiger ausgeschmückten Überleitungen quer über die
Tastatur. Dann versucht sich Sanders als Hardbopper und scheitert an der dafür erforderlichen
Präzision. Besser geht er als Blues-Shouter durch. Am besten kommen aber immer noch seine
Sounds, für die er berühmt ist: die verschliffenen, überblasenen Klänge, reich an Obertönen, den
afrikanisch inspirierten. Eben!
Währenddessen gibt die Rhythmusgruppe ein klägliches Schauspiel zwischen einfallslosem Walking
Bass und Ding-ding-a-ling-Schlagzeug. Da helfen auch Themen wie „Giant Steps“ nicht. Buhrufe aus
dem Publikum, das sich lichtet. Doch was geht es den Meister an, wenn seine Kunst nicht gefällt.
Seine Musiker sind alle so „great“, dass er es einfach hinausbrüllen muss wie ein Marktschreier.
Der Freitag bringt die Versöhnung und Beispielhaftes zum Thema Altern in kreativer Würde.
Altmeister Yusef Lateef ist mit seinen 81 Jahren zum ersten Mal hierzulande zu hören. Er war unter
den ersten, als er sich auf persönliche „Wurzelsuche“ begab, in den Vierzigerjahren den
moslemischen Glauben annahm und 1957 unter Einbeziehung arabischer Instrumente und Strukturen
Aufnahmen lieferte, die zu einem Eckpfeiler dessen wurden, was später einmal World-Jazz genannt
werden sollte. Nach diversen stilistischen Ausflügen ist er seit den 90-er Jahren endgültig zu einem
spirituellen Leader der Szene gereift.
An diesem Abend spielt Lateef im intimen Duo mit dem Percussionisten Adam Rudolph sensible
Musik der intensivsten Art. Die Bandbreite reicht von gebetsartigen Rezitationen zum Thema Frieden
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über einen sich ruhig entfaltenden Blues (Flöte/Kalimba) zu entspannten Grooves, wie sie subtiler
kaum vorstellbar sind. Lateef akzentuiert konzentriert und sparsam, ob mit robust-erdigem Ton auf
seinem Stamminstrument, dem Tenorsaxophon, oder als abstrakt-minimalistische Einsprengsel am
Piano. Auf orientalischer Oboe und verschiedenen Flöten werden schöne Melodiebögen eingebracht.
Die Stille als Gestaltungselement ist immer dabei und erlaubt es, einzelnen Tönen nachzuhören, so
lange, wie es notwendig ist. Rudolph ist der feinsinnig reagierende Dialogpartner, der unterstützt, sich
aber nicht in den Vordergrund drängt. Dann überrascht Lateef am Piano als Sänger mit fast jugendlich
anmutender Stimme. Was er schmunzelnd in der Art einer fesselnden Pop-Ballade singt könnte eine
autobiographische Grundlage haben: „Death in the morning time“, die Geschichte eines alten Mannes,
der dem Tod begegnet ist. Ein außergewöhnliches Konzerterlebnis, aufbauend auf beeindruckender
spiritueller Überzeugung und Erfahrung einer singulären Persönlichkeit. Die Kraft, aus allgemeinkulturellen Wurzeln gesaugt, kann eine höchst individuelle Blütenpracht entfalten!
Trevor Watts’ Moire Music Group, mit der der Freitag endet, ist ungewollt zum Power-Trio mutiert.
Der afrikanische Percussionist ist nicht erschienen und so produziert Watts in der jetzt rein
europäischen Gruppe mit Saxophon, E-Bass und Schlagzeug hochenergetische Musik, die an JazzRock angelehnt ist, und in den als komplexe Endlosschleifen vorgebrachten Themen klar von Afrikas
Polyrhythmen inspiriert ist. Grundlage sind ein trocken-präzises Schlagzeug und ein großartiger
Schnellfinger Colin McKenzie am E-Bass mit einem warmen Ton, der an Jaco Pastorius erinnert. Der
fehlende Afropercussion-Part hätte wohl gut getan, es geht aber auch ohne!
Für die Afro-Night am Samstag war Abtanzen angesagt. Es eröffnet der deutsche Wunderpianist
Cornelius Claudio Kreusch mit der Gruppe Fo Doumbé, in der er der einzige Weiße ist. Eine
tanzbare und gelungene Verbindung von Jazzrock, Afrobeat und Funk. Neben Kreuschs prägnanten
Beiträgen am Piano (er spielt neben einem akustischen Flügel auch ein herrlich altmodisch
waberndes Fender-Rhodes E-Piano) fallen der entspannt groovende Bass von Zaf Zapha auf („deep“
und „phat“ sind hier die richtigen Worte) und die im Gegensatz dazu sehr heiße, authentisch
afrikanische Stimme der Leadsängerin Fanta Diabape. Sie widersteht in wohltuender und
eindringlicher Weise der Versuchung, Klangklischees zu reproduzieren, die uns aus Jazz- und
Popwelt zum Thema „schwarze“ Sängerin vorgegeben werden. Afrikas Stimmen klingen anders!
Mit Ramadu & The Afro-Vibes hat man schließlich den Jazz endgültig hinter sich gelassen. Die
ungefähr zehn Musiker machen in gemischt afrikanisch-europäischer Besetzung heißen Afrorock mit
Ausflügen in folkloristischen A-Capella-Gesang, Soul, Funk, und mehr. Dazu Tanzeinlagen wie es sich
für eine Afroparty gehört. Leadsänger Ramadu ist eine Stimmungskanone und unterhält mit netten,
nachdenklichen und erzieherischen Geschichten aus seiner Heimat Simbabwe. Die Band hat das
Zeug zum Erfolg!
Dass Ramadu seit Jahren in Graz lebt und die Band dementsprechend einige heimische Musiker
aufweist (u.a. den Grazer Percussion-Tausendsassa Franz Schmuck) ist ein erfreulicher
außermusikalischer Aspekt. Hat doch Graz eine große afrikanische Gemeinde, die sich auf diese
Weise ins rechte kreative Licht zu setzen weiß und derart wohl auch zur Verständigung zwischen
verschiedenen Gruppen beiträgt.
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Artikel
Miles Davis - Tribute CDs
Musikalische Huldigungen an den Meister
Von Robert Stubenrauch - Die Urversion des folgenden Artikels erschien in einer Sondernummer
anlässlich des 10. Todestages von Miles Davis in Jazz Live Nr 132/2001.
Es ist fraglich, ob Miles Davis all die Tribute-CDs geschätzt hätte, die in den letzten Jahren erschienen
sind. Es ist gut denkbar, dass er sinngemäß gesagt hätte: „Was soll der Scheiß? Mein altes Zeug
nachspielen!?“ Nun, da Miles bereits im Götterhimmel des Jazz weilt und daher seine Kritik nicht mehr
zu fürchten ist, trauen sich die Kollegen doch immer öfter und geben dem Drang nach, dem Meister
Tribut zu zollen.
Unter den ersten waren die Mitstreiter seines legendären „Second Great Quintet“ aus den 60-er
Jahren: Wayne Shorter, Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams konnten das Ableben
ihres Meisters gar nicht abwarten können und fanden sich schon 1977 (also in der Schaffenspause, in
der Miles schon als so „gut wie“ tot galt) in einer Miles-Davis-Ghostband namens V.S.O.P. zusammen,
um dem modalen Jazz der 60-er Jahre zu frönen. An der
Trompete damals: Freddie Hubbard. Als Miles dann wirklich tot
war übernahm auf A Tribute to Miles schließlich Wallace
Roney den Part. Von allen hier besprochenen CDs hätte diese
die größte Chance, von Miles mit obigem fiktiven Ausspruch
bedacht zu werden. Das Konzept von damals, die Musik von
damals, die Musiker von damals. „Wenn ich zurückblicke, sterbe
ich“ hat Miles gesagt. Seine ehemaligen Kollegen sind frei von
derartigen Ängsten. Auch wenn die Musik noch so perfekt
gespielt wird: was soll’s?
Ein paar Jahre danach versucht dann Herbie Hancock in
anderer Konfiguration auf der Live-CD Directions in Music eine
kombinierte Aufarbeitung der klassischen Miles Perioden von
Miles Davis und John Coltrane, die ja Ende der 50-er Jahre gemeinsam wegweisende Arbeiten
geleistet haben und danach getrennt ganz unterschiedliche, aber jeweils stilbildende Wege
eingeschlagen haben. Diesen Wegen wird hier in hoher Qualität, aber in eher "konservierender"
Weise nachgespürt (siehe auch Rezension).
Ein Bezug zwischen dem World Saxophone Quartet und
Miles Davis? Naja, immerhin spielt auf Selim Sivad mit Jack
DeJohnette einer mit, der Wesentliches zur Platte Live Evil,
auf der sich dieses Titelstück findet, beigetragen hat. Damit
ist der - künstlich hergestellt - Bezug aber auch schon wieder
erschöpft. Die Spannweite des Repertoires auf dieser CD ist
gewaltig: von Kind of Blue Material über die 60-er, bis zu den
80-ern (Tutu). Die Stücke werden sehr frei interpretiert,
schwere afrikanische Trommelrhythmen sind in komplexen
Bläser-Arrangements verwoben. Das Ganze wird durch freie
Passagen kräftig durcheinander gewirbelt. Diese sehr
eigenwilligen Interpretationen von Davis-Material (man höre
die stampfende Nummer mit Kalimba-getriebenem Beat,
Sprechgesang und Afrojodeln, die sich Freddie Freeloader
nennt!) funktionieren wohl umso besser, je mehr man sich als
Hörer möglichst von allen Erinnerungen an die Original-Versionen lösen kann - und das ist keine
einfache Aufgabe. Jedenfalls: diese Musik ist mehr WSQ als Miles, aber was sonst hätte man vom
WSQ erwartet?
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Dave Liebman, der auf Miles Away ausschließlich
Sopransaxophon spielt, war zwischen 1972 und 1974 Mitglied
der elektrischen, Soulfunk- und Rockorientierten Miles DavisBand. Er beschränkt sich hier aber nicht darauf, nur diese
Musik zu interpretieren, sondern versucht, einen Bogen über
das gesamte musikalische Spektrum von Miles Davis zu
spannen, wobei er sich aus den 80-er Jahren rückwärts bis zu
Birth of the Cool, vorarbeitet. So wird die beeindruckende
Bandbreite dieses Lebenswerkes erkennbar. Das ehrgeizige
Vorhaben Liebmans leidet etwas unter der unvermeidlichen
Inhomogenität eines solchen Musikmixes. Dennoch gelingen
einige frische Interpretationen bekannten Materials.
Weder Gitarrist Henry Kaiser, noch Trompeter Leo Smith
haben mit Miles Davis gespielt. Auf Yo Miles! erweisen sie
dennoch sehr explizit der elektrischen Musik von Miles Davis
von 1972 bis 1975 ihre Referenz. Mit Interpretationen dieser
Musik beschreiten sie Neuland und sie tun dies mit Akribie,
hohem Energieeinsatz, großer „Authentizität“, was
musikalische Strukturen und Instrumentierung angeht, und
Ausdauer: Die Doppel-CD ist randvoll mit Grooves, denen
Zeit zur Entwicklung gegeben wird, so wie das in der echten
Miles-Davis-Band der Fall war (der längste Titel dauert 35
Minuten); der Faktor Dauer ist entscheidend bei dieser
Musik! Wenn man Smiths Vergangenheit als Avantgardist
kennt ist man über seine Miles-Fähigkeit überrascht. Die
sehr informativen Liner-Notes von Enrico Merlin
unterstreichen die Ernsthaftigkeit dieses Projektes.
Eine Verbeugung von Keith Jarrett an Miles Davis kommt
etwas überraschend, wenn man bedenkt, dass Jarrett seine
Jahre an den Keyboards von 1970 und 1971 regelrecht
verleugnet und danach praktisch nie mehr elektronische
Instrumente anrührte. Wer sich von Bye Bye Blackbird allzu
explizite Referenzen erwartet hat wird enttäuscht und kennt
Jarrett nicht. Jarretts Standard Trio (dem auch Jack
DeJohnette, Kollege aus jenen Miles-Tagen, angehört) spielt
sowieso Standards, wieso also nicht auch Bye Bye Blackbird,
das eine zeitlang zufällig auch zum Repertoire von Miles
gehört hatte. Dann ist da noch das 18 Minuten lange For
Miles, in dem Jarrett vielleicht auf die Freiheit und die große
angelegten Strukturen in der Musik von Miles Davis anspielt.
Und da ist das letzte Stück, das kurze Blackbird, Bye Bye,
das mit der für Jarrett typischen gospel-orienterten
hymnischen Intensität vielleicht zeigt, dass Jarrett genau
diese Energie schon 1970, und zwar gewinnbringend auch in
die Musik der Davis-Band einbrachte, trotz der Verwendung
eines Keyboards. Vielleicht ...
Cassandra Wilson hat als Sängerin zusätzlich zur Musik die
Möglichkeiten, Gedanken und Gefühle um Miles Davis direkt
durch Texte auszudrücken. Sie tut das auf Traveling Miles
in Form von stimmungsvollen Anspielungen, die dem Hörer
einen großen Interpretationspielraum lassen. Ihr
musikalischer Ausdruck bleibt dabei der, den man von ihren
sehr erfolgreichen Vorgänger-Alben kennt, auch wenn sie
58
Nummern von Miles Davis interpretiert (z.B. ein sehr atmosphärisches Tutu) oder Standards, die er oft
gespielt hat. Auf Run The VooDoo Down kommt mit einem sehr funky akustischen Bass von Dave
Holland, ein authentisch-lässiger Groove auf, der starke
Assoziationen zum Original erweckt, ohne eine Kopie zu sein.
Das Silent Way Project von Trompeter Mark Isham ist eine
Jazzrock-Band (2 Gitarristen!) die sich der Interpretation der
elektrischen Musik von Miles Davis widmet, wobei zwei
Eigenkompositionen im Stile der späten 80er-Jahre, eine sehr
gelungene Reggae-Version von All Blues, sowie ein mit In A
Silent Way verwobenes Milestones diesen Rahmen etwas
erweitern. Ishams Interpretationen sind ordentlich, aber gerade
diese Qualität kann im Hinblick auf die Originalität des
Originals irritieren. Diese CD ist ein Indiz dafür, dass die einst
als schwierig eingestufte Musik des elektrischen Miles
inzwischen so weit in das allgemeine Musikverständnis
eingesickert ist, dass sie Stoff für neue Standards gibt; daran
werden wir uns gewöhnen müssen.
Joe Henderson selbst hat mit Miles Davis nur einige Wochen im Jahre 1967 gespielt. Mit John
Scofield, Dave Holland und Al Foster hat er hier eine Super-Group aus Leuten zusammengestellt, die
zu verschiedenen Zeiten essentielle Rollen in den Gruppen
von Miles Davis spielten. Auf So Near, So Far interpretiert er
hauptsächlich weniger bekannte Davis-Nummern auf
wunderbar entspannte Art. Obwohl es nur ein Quartett ist,
gelingen harmonisch sehr volle, geschmackvolle
Arrangements, wobei Scofields einfallsreicher Begleitung eine
tragende Rolle zukommt und Fosters solide, intelligente
Rhythmusarbeit die swingende Basis legt. Dies ist nicht nur
eine der schönsten Miles-Tribute-CDs sondern auch eines der
besten unter den vielen großartigen Alben von Joe
Henderson.
Lange hat es gedauert, bis sich auch Big Bands über das
Repertoire des "elektrischen" Miles Davis gewagt haben, aber
inzwischen liegen zumindest zwei hörenswerte Produktionen
in diesem Bereich vor. Interessanterweise sind beide
europäischen Ursprungs. Der Franzose Laurent Cugny
arrangiert für das Orchestre National de Jazz auf Yesternow recht nahe am Original und erreicht
eine unspektakuläre und lockere Flüssigkeit des Vortrages, die dieser Musik angemessen ist. Cugny,
als Autor eines - leider nur im französischen Original erhältlichen - Buches zum Thema "elektrischer
Miles" ein ausgesprochener Experte, lässt die kompositorische Kraft der Musik für sich sprechen und
kann so auf solistische Höhepunkte weitgehend verzichten. Diese CD ist leider außerhalb Frankreichs
nie erschienen und daher schwer zu bekommen,
Im Gegensatz zur Geschlossenheit dieser Produktion bietet
das finnische UMO Jazz Orchestra unter der Leitung von Eero
Koivistoinen auf Electrifying Miles mehreren Arrangeuren die
Gelegenheit, Miles' Musik zu interpretieren, und entsprechend
vielfältiger - aber eben auch inhomogener - ist der
Gesamteindruck. Das Orchester navigiert durchwegs präzise
und druckvoll durch die Arrangements, die teilweise mit
Überraschungen aufhorchen lassen . Als ein Schwerpunkt
zieht sich der Faden der solistischen Einsprengsel von
Gasttrompeter Tim Hagans durch diese Produktion. Hagans
glanzvolle Beiträge ziehen die Aufmerksamkeit des Hörers
allerdings etwas von der großartigen Struktur der Miles'schen
Klangwelt ab und provozieren Vergleiche mit dem Original (man höre ihn an der "elektrischen"
Trompete!). Und das ist schade.
59
Schließlich hat das Yo Miles! Projekt von Henry Kaiser und
Wadada Leo Smith nun endlich eine Fortsetzung erfahren (und
weitere sollen folgen). Sie heißt Sky Garden und bietet mit mehr
Eigenkompositionen und mit Tabla-Guru Zakir Hussain als Gast
eine größere Bandbreite als Teil eins. Man entfernt sich etwas
vom Zwang, Miles auf direktem Weg möglichst nahe zu kommen.
Stattdessen sucht man eher die Parallelen im kreativen Prozess
selbst und in der atmosphärischen Grundhaltung, die jetzt
weniger dicht, weniger komplex ausfällt. Entspanntere
Bluesstimmung herrscht vor. Smiths Verinnerlichung von Miles'
Ton ist erstaunlich. Nicht besser oder schlechter als Teil eins anders! Auch Miles hatte ja viele Seiten!
Die CDs
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Hancock / Shorter / Carter / Roney / Williams „A Tribute To Miles”
Qwest/Reprise 9362-45059-2 (rec. 1992)
Hancock / Brecker / Hargrove “Directions In Music”
Verve 589 654-2
Dave Liebman “Miles Away”
Owl 830485 2 (rec. 1994)
Henry Kaiser & Wadada Leo Smith “Yo Miles!”
Shanachie 5046 (rec. 1998, 2 CDs)
Cassandra Wilson “Traveling Miles”
Blue Note 7243 8 54123 2 5 (rec. 1999)
Keith Jarrett “Bye Bye Blackbird”
ECM 1467 (rec. 1991)
Mark Isham “Miles Remembered: The Silent Way Project”
Columbia CK 69901 (rec. 1996)
Joe Henderson “So Near, So Far”
Verve 517 674-2 (rec. 1992)
World Saxophone Quartet feat. Jack DeJohnette “Selim Sivad - A Tribute to Miles
Davis”
Justin Time JUST 119-2 (rec. 1998)
Laurent Cugny & Orchestre National de Jazz “Yesternow”
Verve/Universal 522 511-2 (1994)
UMO Jazz Orchestra „Electrifying Miles”
A-Records 73153 (1997)
Henry Kaiser & Wadada Leo Smith “Yo Miles! Sky Garden”
Cuneiform RUNE 191/192 (rec. 1999?, 2 CDs)
Weitere Miles Tribute CDs, im Text (noch) nicht erwähnt:
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Shirley Horn “I Remember Miles”
Verve / Universal 557199 (1998)
Eddie Henderson “So What”
Columbia 87172 (2003)
Children on the Corner “Rebirth”
Sonace 823787100820 (2003)
60
Mal Waldron - I’m Gonna Be Around A Long Time
Ein Nachruf auf den großen Individualisten
Von Robert Stubenrauch
Die Karriere des Pianisten Mal Waldron, Jahrgang 1926 (oder 1925, die Angaben variieren), beginnt
Mitte der 50-er Jahre im Jazz Composers Workshop von Charles Mingus, in dem Third-Stream
Experimente mit Bebop und ersten Ahnungen von Freejazz-Avantgarde verschmelzen. Mingus, der
Pianist, sei sein größter Einfluss gewesen, Monk ein weiterer, sagt er. Mit Billie Holiday schließlich,
deren letzter Pianist er ist, verbindet ihn eine tiefe Freundschaft und die Erkenntnis, dass das
Bewusstmachen der jeweiligen Songtexte seinen Soli eine zusätzliche Tiefe verleiht. Ende der 50-er
Jahre ist Waldron als vielbeschäftigter Hauspianist bei Prestige als Begleiter und als Komponist an
unzähligen Plattenaufnahmen beteiligt. Zur Dämmerstunde des Freejazz ist er bei wichtigen Sessions
u.a. mit John Coltrane, Eric Dolphy und Max Roach dabei. Musikalische und politische Radikalität sind
die Zeichen der Zeit. Und es kommt zur ersten einer lebenslangen Serie von Kooperationen mit Steve
Lacy: Sie spielen Monk-Themen.
Waldrons Produktivität ist Anfang der 60-er Jahre enorm. Aber ihr steht ein ebenso enormer Druck
gegenüber. Schlechte Arbeitsbedingungen, Rassismus, kulturelle Ignoranz, Alkohol und Drogen
beherrschen den Alltag des Jazzmusikers. Nur knapp entgeht Waldron dem tragischen Schicksal
vieler seiner Kollegen, die zu früh das kreative oder gar das physische Ende erleiden. Als
Langsamentwickler braucht er eben länger als Dolphy oder Coltrane, die in wenigen Jahren ihren
gültigen Beitrag formulieren und dann abtreten können. 1963: Einjähriger Klinikaufenthalt nach einem
Totalzusammenbruch. Elektroschocks. Er lernt zum zweiten Mal, Klavier zu spielen, indem er seine
eigenen Aufnahmen zu Hilfe nimmt. 1965: Emigration nach Europa, wo er endlich die ersehnte
Anerkennung erfährt und einen förderlichen Kulturboden vorfindet. Er lässt sich in München nieder
und wird zu einem wesentlichen Bestandteil der europäischen Jazzszene. Zwei seiner Alben stehen
am Anfang von ECM und ENJA und einer großen Fülle von weiteren Plattenaufnahmen mit den
verschiedensten Formationen und musikalischen Partnern. Vermehrt spielt er auch solo und im Duo,
oft mit seinem Alter Ego Steve Lacy, einem anderen Wahleuropäer. Seine Spielweise wird gleichzeitig
freier, einfacher und ausgeprägter. In Japan wird er zum gefeierten Star.
"Ich werde noch lange Zeit hier sein, weil meine Sache noch nicht abgeschlossen ist; sie müssen mich
hier unten lassen bis es soweit ist". Das sagt Mal Waldron vor 19 Jahren. Sein Leben entwickelt sich
langsam. Er braucht Zeit, seine Kunst zu entfalten. Das sind die Konstanten in seinem Schaffen: Zeit
und Entwicklung. Entwicklung braucht Zeit. Sein persönlicher Stil entfaltet, vertieft und verbreitert sich
über Jahrzehnte hinweg - von Swing über Third Stream zu Bebop und Free - in der gleichen Weise,
wie er ein musikalisches Thema seziert und breit klopft, die Noten auswringt, bis sie nichts mehr
hergeben, und sich dann den nächsten zuwendet. Darin ist er ein Verwandter Thelonious Monks. Die
Kraft der Wiederholung ist die Kraft der Verstärkung. Ihr Ziel und Zweck ist jedoch das Freilegen
tiefster Emotion, nicht musikalische Strukturanalyse. "Ich will nur emotional spielen, auf emotionaler
Ebene reagieren, ohne dass die Musik eine Form, rhythmische Muster oder harmonische Struktur
hat." Seine Musik hat zwar all das, aber entscheidend ist, dass ihr eigentliches Wesen auf einer
höheren Ebene angesiedelt ist: auf der Gefühlsebene. Und vielleicht zielt sie sogar noch weiter, in
Richtung Transzendenz. Einfachheit, Intensität und Schönheit sind die Begleiter dorthin.
Mal Waldron repräsentiert den raren Typus des ausdauernden, zielstrebigen Künstlers, der die Kraft
hat, seinen Weg trotz vielfältiger Schwierigkeiten und anscheinend völlig unbeirrt von jeglicher Mode
zu beschreiten. Sein beständiges Schaffen hält ungebrochen bis zum Sommer 2002 an. Waldron
stirbt am 2.12.2002 in Brüssel nach kurzer Krankheit. Er wird noch lange um uns sein, sehr lange. In
Form seiner zeitlosen Musik.
(Zitate basieren auf einem Interview mit Graham Lock in dessen Buch "Chasing The Vibration")
61
Teilen und Bewegen: Ein neues Konzept von Bugge
Von Robert Stubenrauch
erschienen in Jazz Live 134/2002
Der Aufstieg des Pianisten Bugge Wesseltoft zu einer Leitfigur der kreativen norwegischen
Musikszene war kein Schnellschuss. Wesseltoft, dessen Vorname wie Boogie ausgesprochen werden
soll, war seit Beginn der 90er-Jahre fest mit der Entwicklung des norwegischen Jazz verbunden. Er ist
präsent etwa auf CDs des "Übervaters" Jan Garbarek und von Arild Andersen, (auf denen er
hauptsächlich als Keyboarder wirkt) und war Mitglied der Gruppe von Terje Rypdal. Eine Solo-Piano
CD mit romantischen Interpretationen von Weihnachtsliedern und anderen eingängigen Volksweisen,
sowie Duo-CDs mit seiner Landsfrau und Sängerin Sidsel Endresen sind weitere Produkte der letzten
fünf Jahre des Schaffens von Wesseltoft.
Mit dem Label Jazzland betreibt er darüber hinaus eine
wichtige Plattform zur Veröffentlichung zeitgenössischer
norwegischer Musik. Programmschwerpunkt ist die
Schnittstelle zwischen Jazz und elektronischer Musik.
Womit auch schon der Übergang zum aktuellen Schaffen
gemacht ist.
Die entscheidende Wende im Werk von Wesseltoft kam
1995 mit der ersten einer Serie von CDs, die unter dem
selbstbewussten Übertitel "New Conception Of Jazz"
stehen. Wie alle Neuerungen, so ist auch diese nicht
spontan aus dem leeren Raum entstanden. Wesseltofts
"Neue Konzeption des Jazz" nimmt Bezug auf
Strömungen aktueller Musik, nimmt daraus einzelne
Komponenten und verbindet sie auf sensible Weise
Elemente mit eigenen, sehr persönlichen Stilelementen.
Die zeitgeistigen Bausteine, die Wesseltoft zum Einsatz bringt, kommen aus der Richtung von
Electronica, Trip-Hop, House und Dance, allesamt Musikrichtungen, die in den letzten Jahren für
mancherlei befruchtende Impulse für den Jazz gesorgt haben. Wesseltofts urpersönliche Beigaben
kontrastieren in reizvoller Weise mit den Grundcharakteristika dieser Musikformen: Seine
musikalische Seele ist wesentlich geprägt von Romantik mit einem Hang zu der als typisch
norwegisch empfundenen elegischen Grundstimmung.
Die New Conception CDs bieten eine große dynamisch-rhythmische Bandbreite: Von sanft dahin
fließenden Soundimpressionen ohne erkennbares Metrum
bis zu stampfenden, Dancefloor-geeigneten Pulsorgien ist
alles möglich. Meist liegt dem musikalischen Geschehen
ein solider Groove zu Grunde. Klangmäßig sind die
Grundklangzutaten der Musik in auffallender Weise
hauptsächlich akustischer Natur: Wesseltoft selbst spielt
meist akustisches Piano, der rhythmische Boden wird von
einem fetten Kontrabass (Ingebrigt Flaten) beigesteuert. Als
Zusatz zum "echten" Schlagzeug (Anders Engen) gibt es
des öfteren ein "Drum Programming". Gastmusiker sind
Saxophonisten (u.a. Hakon Kornstad), Trompeter (u.a. Nils
Petter Molvaer) und wieder die Stimme von Sidsel
Endresen. Dazu gelegentlich Prisen der guten alten B3
Hammond-Orgel, Cello, Synthi, Vinyl. Verschlafener
Sprechgesang vermittelt Menschlichkeit und kleine
Sinnbotschaften, wenn man auf den Text hören will. Das
Ganze wird dann noch durch Programming verfeinert; ein zeitgeistiger Anstrich kommt von Samples
und Loops.
62
Die Abwechslung in allen Aspekten dieser Musik macht
wohl einen großen Teil ihres Reizes aus. Sie ist Musik für
viele Lebenslagen und Emotionen für Menschen des
frühen 21. Jahrhunderts: von Introspektion bis Spaß, von
Dance bis Chill-Out. Die Grundstimmung ist meist positiv,
ja fröhlich. Aber wie im Leben braucht man auch hier den
Gegenpol, und der findet sich in der Ruhe der nordischen
Weite.
Die vorläufig letzte CD der Serie, "Moving" knüpft nahtlos
mit unverändertem Konzept an den Vorgänger an. Aber
man meint, etwas mehr Kühle und eine verstärkt
robotermäßige Rhythmik zu verspüren, bei etwas weniger
Variantenreichtum als auf "Sharing".
Wesseltofts Musik ist keine genuine Avantgarde. Aber die
Jazzgeschichte ist voll von Beispielen, wo die Verschmelzung von Stilen zu einem Strom neuer Musik
geführt hat, der dann zum neuen Stil wurde, oftmals zur Avantgarde. Es wird spannend, in welche
Richtung Wesseltoft sich bewegen wird, jetzt nachdem er mit großem Medien-Einsatz zum Star
erhoben wurde. Möge die neue Konzeption diesem Druck standhalten und ihr reichlich Kreativität
entgegensetzen.
• New Conception Of Jazz
Jazzland/Sonet 537 251-2, 1996
• New Conception Of Jazz – Sharing
Jazzland 538 278-2
(mit 3 Bonus Tracks auf extra CD), 1998
• New Conception Of Jazz – Moving
Jazzland 013 534-2, 2001
• New Conception Of Jazz - Live
Jazzland / Universal 0440 038500-2 6
siehe Rezension
• New Conception of Jazz: "FiLM iNG"
siehe Rezension!
63
Charles Lloyd: Beinahe hätte er den Jazz gerettet!
Die "Supergroup" mit Keith Jarrett und ihre Aufnahmen für Atlantic in den 60er-Jahren
Von Robert Stubenrauch
Coverstory, erschienen in Jazz Live Nr. 127/2000 (Seiten 6-7)
Charles Lloyd konnte in den 60er-Jahren innerhalb kürzester Zeit
Erfolge feiern wie kaum ein Jazzmusiker zuvor: 1967 wurde er
vom Magazin Down Beat zum "Jazz Man Of The Year" gewählt,
und sein Album Forest Flower war eines der ersten Jazzalben,
das mehr als eine Million mal verkauft wurde. Als einer der ersten
Jazzmusiker konnte er das Rock-Publikum in Scharen
begeistern, ohne große künstlerische Zugeständnisse machen zu
müssen. 1967 spielte er sogar in der Sowjetunion ein umjubeltes
Konzert, ein einmaliges Ereignis für eine zeitgenössische
Jazzgruppe in Zeiten des Kalten Krieges. Dann nahm er eine
Hippie-Erscheinung an, wurde Teil der Flowerpower-Bewegung
und seine Konzerte wurden zu Festen der Sehnsucht nach "Love
& Peace". Aber noch bevor die Hippie-Ära selbst zu Ende ging
(mit dem tragischen Ende so vieler Rockmusiker) wurde das
erfolgreiche Charles Lloyd Quartett mit Keith Jarrett und Jack
DeJohnette aufgelöst. Es folgte ein kreativer Abstieg und mehr
als ein Jahrzehnt obskurer Aktivitäten, unbeachtet von der
Öffentlichkeit. Bizarre Tondokumente bleiben aus jener Zeit, wie
z.B. Aufnahmen mit den Beach Boys!
Aber dann das triumphale Comeback mit Michel Petrucciani im Jahre 1982! Mit frischer Kraft,
gewohnter Sensibilität und Kreativität erfreute er wieder sein Publikum, getragen von großem Ernst
und tiefer Spiritualität. Bis heute folgte ein ungebrochenes künstlerisches Wachstum mit einer Reihe
von großartigen Alben (nun mit Bobo Stenson am Piano) und regelmäßigen Konzerttouren durch alle
Welt. Das Leben des Charles Lloyd ist also zweifellos interessant; er hat Charisma, Erfahrung und
Glaubwürdigkeit wie wenige andere im Jazzbusiness.
Wie aber steht es um die Bewertung seines musikalischen Beitrages in den 60er-Jahren? Zu einer
Zeit, als Jazz einerseits Gefahr lief, sich mit intellektuellen oder politischen Zielen zu überfrachten, und
Rockmusik andererseits Vielen als die einzige Alternative erschien, konnte Lloyd erfolgreich beides
vereinen: Musik, die Spaß machte und direkt die Emotionen der Hörer ansprach, die aber dennoch
zeitgemäß und von hoher Qualität war. Der Kritiker Mike Hennessey sagte damals (zitiert aus dem
Begleittext zu Forest Flower), Jazz leide unter zwei Syndromen: Entweder fiel er in die Kategorie "Hab'
ich alles schon gehört" oder in die Kategorie "Das will ich nie wieder hören". Charles Lloyd habe
diesen Gegensatz aufgehoben, indem er sich quer durch alle Kategorien bewegte, und mit brillanter
Virtuosität modalen Jazz, Bop, Abstraktion und Rock miteinander verband. Auf diese Art hat Charles
Lloyd neue Richtungen aufgetan.
Die Zahl der innovativen "Tenor-Giganten" war besonders groß in den 60er-Jahren; man denke an
Coltrane, Rollins, Shorter, Ayler, Shepp, Sanders. Lloyd war ein großer Komponist und ein starker
Integrator und Kommunikator, aber verglichen mit diesen Zeitgenossen war er weder ein Innovator am
Instrument, noch ein revolutionärer Improvisator. Das "Original Quartet" mit Jarrett und DeJohnette
(am Bass folgte Ron McClure auf Cecil McBee) war nicht die Band eines Starsaxophonisten plus
Rhythmusgruppe, sondern eine organische Einheit, die spontan reagierte, wie man es sonst nur im
Freejazz kannte. Lloyd, dem die Kommunikation mit dem Publikum immer besonders wichtig war,
schaffte es, das magische Dreieck Lloyd-Jarrett-DeJohnette auf das Publikum auszudehnen, das auf
diese Weise Teil des Geschehens wurde. Sein Verdienst war es, eine Plattform für all das zu bieten:
Seine Kompositionen, oft blues-betonte, eingängige Melodien, manchmal freie, impressionistische
Klang-Landschaften mit orientalem Flair, immer stark rhythmisch verankert, waren das perfekte
Vehikel für die Improvisationen, zu denen Jarrett und DeJohnette ihre waghalsige Virtuosität und
telepathische Spontaneität beitrugen. Dennoch, die Musik war nie "Powerplay"; das Publikum fühlte
sich nie durch "musikalische Gewalt" überfordert. Lloyd's Musik war auch in den ekstatischsten
Momenten von Leichtigkeit und Fröhlichkeit getragen.
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Vielleicht wurden in Lloyds Person die relaxte Hipness eines Miles Davis und die intensive
Freiheitssuche eines John Coltrane wieder zusammengeführt, die 1960 getrennte Wege gegangen
waren. Anscheinend waren die Zeit und das Publikum reif dafür, entsprechend marktgerecht und
medienwirksam unterstützt, dies auf breiter Basis stürmisch als neue Strömung willkommen zu
heißen. Der Titel des Artikels von Martin Williams in der New York Times vom 15.9.1968 spricht für
sich: "Will Charles Lloyd Save Jazz for the Masses?". Die Erwartungen an Lloyd als "Retter des Jazz
für die Massen" waren also durchaus hoch und es stellt sich aus heutiger Sicht die Frage sowohl nach
der Machbarkeit, als auch der Erwünschtheit einer solchen Rettung.
Man hat oft kritisierend behauptet, Charles Lloyd habe John Coltranes radikal innovative Konzepte
"verflacht" und für die Massen verträglich gemacht. In mancherlei Hinsicht erinnert Lloyd tatsächlich
an Coltrane, musikalisch wie spirituell. Allerdings: Kaum ein Saxophonist nach Coltrane konnte sich
dem Einfluss des Meisters entziehen; nicht alle waren freilich so erfolgreich wie Lloyd. So sehr Lloyds
Stellenwert einige Zeit überbewertet gewesen sein mag, so sehr wird er heute immer noch schnell als
bloßer Coltrane-Epigone abgetan, ohne seine Weiterentwicklung zu einem in allen Aspekten sehr
persönlichen Stil und den in seiner Reife wichtigen und kontinuierlichen Beitrag zum zeitgenössischen
Jazz zu sehen.
Bezeichnenderweise bestand das "Original Quartet" nur für weniger als drei Jahre. Nachdem die
Richtung vorgegeben war, war kaum noch eine Entwicklung in der Gruppe bemerkbar; jedes Abgehen
vom erfolgreichen Pfad hätte die enorme Akzeptanz beim Publikum gefährdet. Im Wesentlichen war
nur eines der bei Atlantic herausgekommenen Album (das erste der Gruppe!) im Studio
aufgenommen, die anderen sieben waren Live-Aufnahmen. Die Gruppe fand keine Zeit, systematisch
neue Ideen in der Atomsphäre eines Studios zu entwickeln. Ein guter Teil des Repertoires des
Quartetts stammte sogar noch aus den Zeiten Lloyds bei Chico Hamilton zwischen 1962 und '64
(auch der Hit Forest Flower), was umso erstaunlicher ist, als diese Musik auch im "Flower-Power"Kontext noch zu funktionieren schien.
Die Potenziale der Gruppenmitglieder waren zu groß, um in diesem wenig dynamischen Umfeld auf
längere Zeit gebunden zu werden. Besonders Keith Jarrett hatte sich in kurzer Zeit mit seiner
unbändigen Virtuosität und Kreativität selbst zum Star gemausert, der nun nicht selten seinen Leader
in den Schatten stellte. Das Quartett zerbrach also. Während Charles Lloyd mehr als ein Jahrzehnt
brauchte, um sich wieder in der Szene zu etablieren, begannen Keith Jarrett und Jack DeJohnette ihre
eigenen Karrieren und schrieben bald Jazzgeschichte. Miles Davis hatte gefallen, was er bei Charles
Lloyd gesehen hatte (schließlich war er selbst auch auf der Suche nach dem Massenerfolg) und
benutzte nun Jarrett und DeJohnette, um seine eigene Entwicklung in Richtung Fusion
voranzutreiben. Einer der subtilen und indirekten Einflüsse Charles Lloyds.
Warum dauerte Lloyds Erholungsphase so lange? Der enorme Erfolg des Quartetts ist nicht einfach
auf "natürliche" Weise, nur durch die hohe Qualität der Musik, zu erklären. Die Erfolgs-Story der
Gruppe ist unvollständig, wenn der Mann nicht erwähnt wird, der ihre Entwicklung zielbewusst
gesteuert hat: Produzent George Avakian. Avakian war seit den 50er-Jahren erfolgreich für Columbia
tätig (wo er sich u.a. um Größen wie Duke Ellington, Louis Armstrong und Miles Davis kümmerte) und
hatte vor dem Wechsel zu Atlantic auch die beiden ersten Alben Lloyds für dieses Label produziert
(mit anderen Bandmitgliedern). Er hatte früh das Potenzial Charles Lloyds erkannt und entwickelte
einen brillanten strategischen Plan, es kommerziell zu verwerten. Zuerst wollten sie Europa erobern,
erst danach die USA (schließlich schafften sie sogar die Sowjetunion!). Dabei würden sie ihr Publikum
schrittweise in Richtung Rock ausweiten. Aus welchen Gründen auch immer - der Plan funktionierte
perfekt! So hatte Avakian das öffentliche Bild des Charles Lloyd entscheidend mitgestaltet. Schon bald
stellte sich für Lloyd allerdings heraus, dass er in der für ihn bestimmten Rolle gefangen war und auch
seine Mitmusiker merkten, dass ihnen nur ein untergeordneter Anteil an dem Spiel zugewiesen war,
das sie nicht länger mitmachen wollten. Der Dream Weaver war dem Musik-Business in die Falle
gegangen. "Der Aufstieg und Fall des Charles Lloyd" - und sein Wiederaufstieg! Insgesamt ein
Lehrstück über Zeitgeist, Musik und deren Vermarktung. Heute - über 30 Jahre danach - ist der Status
von Lloyds damaliger Musik historisch und der seiner heutigen Musik zeitlos. Sein Comeback und sein
beständiges Reifen haben bewiesen, dass sein künstlerisches Potenzial auf lange Sicht stärker war
als Avakians kurzfristiger Marketing-Plan.
Wer sich selbst ein Bild von der Musik machen will, die Charles Lloyd zum Star und die Welt auf Keith
Jarrett und Jack DeJohnette aufmerksam gemacht hat, kann dies jetzt endlich tun, nachdem die
meisten der Atlantic-Alben lange Jahre vergriffen waren. Erstmals liegen nun alle Aufnahmen auf CD
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vor, wenn auch von unterschiedlichen Labels in sehr unterschiedlicher Qualität herausgegeben. Eine
technisch einwandfreie und ordentlich edierte Gesamtausgabe ist nicht in Sicht. Auch Sonys Legacy
Label, das uns schon so viele exzellente Werkschauen geliefert hat, lässt mit einer Ausgabe von
Lloyds Aufnahmen für Columbia aus den Jahren 1964 und 1965 (mit Sidemen wie Gabor Szabo, Tony
Williams und Ron Carter) auf sich warten.
Das Reissue-Label Collectables hat fünf von Lloyds Atlantic Alben herausgebracht, jeweils zwei auf
einer CD, wobei dabei der Track "Voice In The Night" von Soundtrack der Kapazitätsgrenze der CD
zum Opfer gefallen ist. Alle Collectables zeichnen sich durch schlechte Tonqualität aus, die
offensichtlich auf dilletantische Versuche mit Rauschunterdrückung zurückzuführen sind, die zu
regelrechten Verzerrungen geführt haben. Zum Glück ist man nicht ganz auf derartige
Schmuddelware angewiesen: Zwei der Alben auf Collectables-CDs kann man auch auf anderen
Ausgaben mit besserer Qualität finden: Soundtrack im günstigen Kombipack mit dem Hitalbum Forest
Flower (die Empfehlung!) und In Europe als preiswerte Atlantic-Jubiläumsausgabe. Zusätzlich ist auf
32Jazz eine nette Doppel-CD unter der Titel Just Before Sunrise erschienen, die das einzige StudioAlbum, Dream Weaver, mit Love-In kombiniert - ebenfalls eine empfehlenswerte Zusammenstellung,
die auch gut manch kreative Abnutzung und Fahrigkeit der Konzerttätigkeit der Frische des ersten
Studio-Dates gegenüberstellt. Diejenigen, bei denen die Alben noch in Vinyl-Form rotieren, müssen
enttäuscht sein: Leider sind nirgendwo Bonus-Tracks zu finden. Insgesamt ist die Situation um diese
Ausgaben recht unübersichtlich - daher der nachfolgende Überblick.
Original-Titel der Atlantic-Alben:
Dream Weaver
studio, 29.3.66, (1)
A
Forest Flower
studio, 8.9.66; live, Monterey, 18.9.66, (1)
B
The Flowering
live at Antibes & Oslo, 23.,24.7.67 & 29.10.66, (1)
D
In Europe
live, Oslo, 29.10.66, (1)
E, F
Journey Within
live, Fillmore Auditorium, San Francisco, 27.1.67, (2) E
Love In
live, Fillmore Auditorium, San Francisco, 27.1.67, (2) A
In The Sowjet Union live at Tallin, UdSSR, 14.5.67, (2)
C
Soundtrack
live, Town Hall, NYC, 15.11.68, (2)
B, C
Musiker:
(1) = Charles Lloyd, Keith Jarrett, Cecil McBee, Jack DeJohnette
(2) = Charles Lloyd, Keith Jarrett, Ron McClure, Jack DeJohnette
Aktuelle Wiederveröffentlichungen auf CD:
A = Just Before Sunrise, 32Jazz 32117
B = Forest Flower / Soundtrack, Atlantic/Rhino 8122-71746-2
C = Soundtrack / In the Sowjet Union, Collectables COL-CD-6237
D = The Flowering / Warne Marsh, Collectables COL-CD-6285
E = Journey Within / In Europe, Collectables COL-CD-6236
F = In Europe, Atlantic 7567-80788-2
Eine ausführliche, komplette Diskographie Charles Lloyds ist zu finden unter
http://www.geocities.com/rstubenrauch/start.htm
66
Dixonia: Im Brennpunkt von Schönheit und Nonkonformismus
Ein Portrait Bill Dixons
Von Robert Stubenrauch
Coverstory, erschienen in Jazz Live Nr 124/99
Bill Dixon ist eine singuläre Erscheinung: Als Free-Jazz-Musiker der
ersten Stunde (Trompete und Flügelhorn, später auch Piano),
bildender Künstler, "New-Thing-Aktivist", Musik-Lehrer und
Produzent kann er auf eine langes und produktives Schaffen
zurückblicken. Dennoch ist nach 40-jährigem musikalischen Wirken
nur eine Handvoll Tonträger im Handel erhältlich und sein Werk ist
nur Insidern bekannt.
Wer also ist Bill Dixon? Geboren 5.10.1925 in Nantucket, USA, studierte Malerei, fand spät zur Musik
und zur Trompete. Von 1962 bis 1965 kooperierte er mit Archie Shepp, mit dem er gemeinsam eine
Gruppe leitete und erste Platteneinspielungen machte (bis heute nicht auf CD wiederveröffentlicht). Im
Oktober 1964 organisierte er die legendäre "Oktoberrevolution des Jazz", ein viertägiges AlternativFestival im Cellar Cafe in New York, in dem er die damals unbekannte und von Major-Labels
unabhängige Avantgarde präsentierte. Unter den - heute - bekannten Namen waren u.a. Sun Ra, Paul
Bley, Joe Maneri, John Tchicai, Roswell Rudd, Jimmy Giuffre, Alan Silva und Giuseppi Logan. Zur
selben Zeit gründete er ein Musiker-Kollektiv genannt Jazz Composers Guild, das die Interessen der
jungen Avantgarde gegenüber Veranstaltern und Plattenfirmen vertreten und sie aus dem
"Underground"-Status herausführen sollte. Die Gründungsmitglieder waren Cecil Taylor, Sun Ra,
Archie Shepp, Carla und Paul Bley, Roswell Rudd, Mike Mantler und Burton Greene. Um ein starkes
gemeinschaftliches Auftreten zu ermöglichen sahen die Regeln dieser Vereinigung vor, daß Verträge
mit dem etablierten Musik-Business nur nach Absprache mit dem gesamten Kolletiv angenommen
werden sollten; der Künstler sollte Herr seiner Kunst sein! Nach diesem Motto war fortan Bill Dixons
künstlerisches Leben ausgerichtet und ist es immer noch - Nonkonformismus extrem! An diesen
hohen Ansprüchen zerbrach jedoch die Guild schnell;
auch Archie Shepp war unter denjenigen, die ohne
Absprache einen Vertrag mit einem Label annahmen
(in seinem Fall Impulse). Mit der Guild-Initiative war
Dixon jedenfalls einer der ersten, der dem starken
künstlerischen Selbstverständnis der "alternativen"
Jazzmusiker einen entsprechenden formalen
gesellschaftlichen Status verleihen wollte (ein Vorläufer
war die Jazz Artists Guild, die 1960 u.a. von Charles
Mingus und Max Roach als Gegenpol zum Newport
Jazz Festival gegründet worden war). Inzwischen will
Dixon allerdings lieber als "Künstler" angesprochen
werden, denn als "Jazzmusiker".
Neben reger Auftrittstätigkeit war Dixon in den 60erJahren als Produzent für das Savoy-Label und als
Musiklehrer tätig. Zwischen 1966 und 1968 gab es eine
Phase der intensiven Zusammenarbeit mit der
Tänzerin Judith Dunn, die zu gemeinsamen MusikTanz-Performances führte. Die Gelegenheiten zu
Plattenaufnahmen waren allerdings rar: Außer auf den
erwähnten zwei Platten mit Archie Shepp ist Dixon nur
auf der wegweisenden Platte "Conquistador" von Cecil
Taylor (Blue Note) zu hören, wo er mit seinen lyrischabstrakten Linien einen wunderbaren Beitrag abliefert,
sowie auf seiner eigenen ambitionierten Platte "Intents and Purposes" (RCA), auf der ihm erstmals
eine gültige Umsetzung seiner Vorstellungen für größere Ensembles gelang. Leider ist dieses
Meisterwerk nie auf CD erschienen und nach Dixons Aussage ist es fraglich, daß dies jemals der Fall
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sein wird, da bis jetzt kein Wiederveröffentlichungsprojekt eine authentischer Präsentation nach
seinen Vorstellungen gewährleistet hätte. Beide Aufnahmen stammen aus dem Oktober 1966.
1968 nahm Dixon eine Position als Lehrer am Bennington College in Vermont an, die er erst 1995
zurücklegen sollte. Bis 1980 sind nur wenige, teilweise von Dixon selbst produzierte Aufnahmen am
Markt erschienen. Diese Platten dokumentieren die Entwicklung seines Solospieles, aber auch
Projekte, die er in verschiedenen Formationen mit seinen Studenten durchführte. Dabei war ihm die
Darstellung des künstlerischen Prozesses immer wichtiger als eine marktgerechte Präsentation
"fertiger" Musikprodukte. Akribisch legte er in selbstbewußt-trotziger Reaktion auf das Desinteresse
des Musikbusiness ein möglichst lückenloses Archiv seines Musikschaffens an. Proben mit
Studenten, Solospiel, öffentliche Auftritte: Alles wird gleichermaßen für wert befunden, auf Band
festgehalten zu werden. Aus diesem Fundus wählt Dixon immer wieder Aufnahmen aus (teils
Jahrzehnte nach ihrem Entstehen) um sie auf Platten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Sein
bislang letztes Projekt ist das ehrgeizigste: Auf einer selbst produzierten 6CD-Box - betitelt "Odyssey"
- werden Aufnahmen von 1970 bis 1992 zusammengeführt (viele davon solo). Eine CD wird
gesprochenem Wort vorenthalten sein; wer Dixon je sprechen gehört hat wird sich darauf besonders
freuen. Die limitierte Luxusbox wird Essays des Meisters und Repräsentationen seiner bildenden
Kunst enthalten und vielleicht noch dieses Jahrtausend erscheinen.
Andere Aufnahmen - wie Duos mit Cecil Taylor aus dem Jahre 1992 (live und im Studio!) harren indes
weiter der Veröffentlichung. Seit Dixon sich Ende 1995 aus der Lehre zurückgezogen hat ist er
allerdings wieder besonders aktiv und man kann hoffen. Ohne jede Kompromisse will er seine Kunst
nur mehr für die kleine Schar derjenigen zugänglich machen, die sie wirklich zu schätzen wissen; der
Massenmarkt hat ihn nie interessiert. Neue Technologien erlauben inzwischen, CDs in sehr kleinen
Auflagen kostengünstig herzustellen und sogar "CD-Unikate" sind möglich. Dixon denkt daran, sein
Archiv auf diese Weise Interessierten zugänglich zu machen. Leute, die seine Musik hören wollen,
sollen die Möglichkeit haben, praktisch beliebig aus seiner Aufnahmen-Sammlung CDs bestellen zu
können. Natürlich werden die guten Stücke handsigniert und daher zu "Künstlerpreisen" angeboten
werden. Dixon ist also durchaus High-Tech-bewußt und geschäftstüchtig, wie auch seine Internet
Homepage (http://www.bill-dixon.com) beweist, auf der der Hinweis prangt: "Bill Dixon is a
trademarked name"!
Dixons pointierte, immer präzis formulierten Äußerungen, ob mündlich oder schriftlich (oft als
ausführliche Begleittexte zu seinen CDs), gewähren erhellende Einsichten in musikbezogene Themen
wie Komposition, Improvisation und Musikerziehung. Aber auch kultur- und gesellschaftspolitisch
brisante Fragen der Musikbranche und insbesondere der Situation schwarzer Musikschaffender in den
USA werden in oftmals provokanter Weise angesprochen. Dixons nicht immer schmeichelhafte
Direktheit hat ihm dabei vielfach das Image einer abweisenden, schwierigen Person eingebracht, über
das man sich nur wundern kann, wenn man ihm persönlich und ohne bestimmte Absicht begegnet:
Seine Person ist geprägt von Witz, Charme und einem unüblich großen Maß an Freundlichkeit; er ist
ein brillanter Erzähler.
Zurück zur Historie, die auch einige österreichische Episoden bereithält: Der Wiener Franz Koglmann
(den mit Dixon vieles verbindet: Musikinstrument, bildnerische Tätigkeit und verbaler Scharfsinn) lädt
Dixon 1976 ein, auf einer von ihm im Selbstverlag produzierten Platte eine Seite zu gestalten ("Opium
/ For Franz"). Im Februar 1985 leitet Dixon ein fünftägiges "New Music Workshop" im Museum des 20.
Jahrhunderts in Wien. Der letzte Auftritt Dixons in Österreich war bei den Nickelsdorfer
Konfrontationen 1997, im Trio mit Barry Guy und Tony Oxley. Ihn live zu erleben ist ein äußerst rares
Erlebnis - seine Auftritte in den letzten Jahren kann man an einer Hand abzählen.
Obwohl - laut Dixons eigener Aussage - die meisten Leute ihn 1980 bereits für tot gehalten hatten,
werden erst seit diesem Jahr die meisten Aufnahmen allgemein zugänglich auf einem verbreiteten
Label herausgebracht: Auf dem italienischen Label Soul-Note (bis auf eine Ausnahme sich auch alle
anderen Platten nach 1968 auf europäischen Labels herausgekommen!) sind seit damals bislang 7
CDs unter eigenem Namen und eine Beteiligung an einer Aufnahme mit dem Tony Oxley Celebration
Orchestra erschienen. Mit letzterem war er im Herbst 1998 auch live in Deutschland zu hören - bei
Oxley Geburtstagskonzert. Noch in diesem Sommer sollen auf Soul Note unter dem Titel "Papyrus"
zwei separate Duo-CDs mit Oxley herauskommen, die im Juni 1998 aufgenommen wurden. Mit Oxley
verbindet Dixon eine musikalische Freiheit, die - gepaart mit großartiger Sensibilität - nie in Powerplay
ausartet. Schon früh setzte Dixon auf wohl-akzentuierte Klanggebilde, wobei er die gesamte
Bandbreite möglicher Besetzungen von solo bis zu Großformationen erforschte. Bald verzichtete er
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auf alle offenen Referenzen auf typisch "schwarze" Anklänge. Blues oder Standard-Interpretationen
wird man von ihm nicht hören, womit er sich klar von vielen Zeitgenossen (allen voran Shepp)
unterscheidet! Die Jazzgeschichte in dieser Form aufzuarbeiten ist ihm kein Anliegen.
Dixon hat sich ein sehr individuelles Repertoire von Klängen erarbeitet: Spaltklänge, verwischte
Klangflächen bis in extreme Tonlagen, oft kaum noch isolierbare Töne. Dann wieder einzelne, klagend
erscheinende Sequenzen von warmen reinen Tönen, zusammengefügt zu mikroskopischen MelodieSplittern. Gerne werden die tiefen Register ausgeschöpft - im Ensemble oft mit zwei Bässen oder
Tuben. Ohne herkömmlichen Rhythmus atmet die Musik in großen dynamischen Bögen. Auch
wohlklingendes Flügelhorn und kühles Piano gehören dazu; Bill Dixon, der Lyriker des Free Jazz.
Aber es ist eine Lyrik, die dem Hörer äußerste Konzentration abverlangt! Der Begriff "Schönheit" ist in
solchem Zusammenhang hochsensibel, aber ohne dieses Vokabel wäre die Beschreibung seiner
Musik schlicht unmöglich. Vielleicht sind auch noch Worte wie "Wahrheit" und "Authentizität"
brauchbar beim Versuch, Bill Dixon und seine Musik zu erfassen.
Bill Dixon allerdings ist ein "Gesamtkünstler"; wer ihn verstehen will sollte sich daher nicht nur mit
seinen musikalischen und verbalen Äußerungen befassen, sondern auch mit seiner bildenden Kunst.
Diese - meist in Form von Zeichnungen, Radierungen und Lithographien - ist leider nur sehr begrenzt
in Form von Reproduktionen auf Platten- und CD-Covers verfügbar (wobei sich diesbezüglich ein
unschlagbarer Vorteil der guten alten Schallplatte - bzw deren Verpackung - bestätigt). Dixons Bilder
sind in ihrer Abstraktheit seiner Musik ähnlich, aber auch in der Balance zwischen klar logischen,
manchmal geometrischen Komponenten einerseits und spontanen, kürzelhaften Elementen
andererseits. Das im Selbstverlag erschienene - und leider vergriffene - Buch "L'Opera" enthält eine
Sammlung von Essays, Partituren und Reproduktionen bildender Kunst und ist als wesentliche
Selbstdarstellung- und Dokumentation Dixons anzusehen. Im Moment arbeitet er sowohl an einer
Neuauflage von Band 1, als auch an einem komplett neuen Band 2; weiterer Grund für Vorfreude und
viel Geduld!
Foto: Hans Kumpf
Diskographie (komplett)
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ARCHIE SHEPP - BILL DIXON Archie Shepp/Bill Dixon Quartet Savoy 1962
ARCHIE SHEPP / BILL DIXON Winter Song Savoy 2/64
CECIL TAYLOR Conquistador Blue Note 10/66
BILL DIXON Intents and Purposes RCA 10/66-2/67
MARZETTE WATTS The Marzette Watts Ensemble Savoy 1969
BILL DIXON Bill Dixon 1982 Edizioni Ferrari 1970/73
BILL DIXON Collection (2 LPs) Cadence Jazz 1970-76
BILL DIXON Considerations 1 Fore 1972-76
BILL DIXON Considerations 2 Fore 1972/75
FRANZ KOGLMANN / B.DIXON Opium / For Franz Pipe Records 8/76
(various artists) Verona Jazz Nettle 6/80
BILL DIXON In Italy Vol. 1 Soul Note 6/80
BILL DIXON In Italy Vol. 2 Soul Note 6/80
BILL DIXON November 1981 (2 LPs) Soul Note 11/81
BILL DIXON Thoughts Soul Note 5/85
BILL DIXON Son Of Sysiphus Soul Note 6/88
BILL DIXON Vade Mecum Soul Note 8/93
BILL DIXON Vade Mecum II Soul Note 8/93
TONY OXLEY The Enchanted Messenger Soul Note 1994
Für 1999 geplante Veröffentlichungen:
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BILL DIXON / TONY OXLEY Papyrus Vol 1 Soul Note 6/1998
BILL DIXON / TONY OXLEY Papyrus Vol 11 Soul Note 6/1998
BILL DIXON Odyssey (6 CDs) Eigenverlag 70er und 80er-Jahre
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Ausgewählte Literatur:
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Ben Young: "Dixonia - A Bio-Discography of Bill Dixon", Greenwood Press, ISBN 0-31330275-8, 418 Seiten (Preis $96,- bei Amazon)
Bill Dixon: L'Opera; im Eigenverlag (vergriffen; Neuauflage und Band 2 in Vorbereitung)
Robert D. Rusch: Jazz Talk. The Cadence Interviews. 10 Jazz Masters Speak Candidly of
Their Lives and Music, Secaucus/NJ, 1984, 121-175
Andrew Jones: Profile. Bill Dixon, in: Jazziz, 12/7 (Jul.1995), 40-42;
Christian Broecking: Bill Dixon. Zirkelschluss der Bewußtlosigkeit, Jazzthetik, 9/7-8
(Jul/Aug.1995), 10-13;
Markus Müller: Beauty Is a Bill Dixon-Thing, Jazzthetik, 9/7-8, (Jul/Aug.1995), 14-17;
Gudrun Endress: Bill Dixon - der sanfte Revolutionär, in: Jazz Podium, 48/1 (Jan 1999), 20-22
Internet
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Dixons Homepage: http://www.bill-dixon.com (inklusive Kommunikationsmöglichkeit)
"Bill Dixon Online Archive" mit detaillierter Diskographie:
http://www.geocities.com/rstubenr/Dixon
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The Birth of Fusion – Fünf spannende Jahre 1968-1973
Von Robert Stubenrauch
Erschienen in 2 Teilen in Jazz Live, 128/2000 (S.14-16) und 130/2001 (S. 12-15).
Den Begriffen Fusion und Jazzrock haftet heute oft die Anrüchigkeit des allzu uninspiriert
Kommerziellen an. Die Entstehungszeit dieses Genres bietet jedoch in wenigen Jahren eine
Dichte von kreativen musikalischen Schöpfungen wie kaum eine andere Periode der
Jazzgeschichte.
Von den „wirklichen“ Jazzfreunden werden die Begriffe Fusion und Jazzrock heute manchmal wie
Schimpfworte verwendet. Ob technisch virtuos oder nicht, diese Musik wird als seelenlos,
klischeehafte und einfallslos empfunden. Tatsächlich ist die Kritik an diesem Musikstil nicht ganz
unbegründet, denn kaum eine andere Jazzform hat sich derart schnell abgenutzt. Das Genre hat sich
schnell und fast kampflos der Musikindustrie ergeben, für die die universellen Einsetzbarkeit und
Beliebigkeit dieser „Mischprodukte“ zwischen Jazz und Rock ein gefundenes Fressen waren. Spaß
macht die Musik, man kann dazu - je nach Marketing-Schwerpunkt - fetzig tanzen oder schmusen,
und sogar alls Hintergrundmusik beim Shopping eignet sich manches davon.
Jedoch: So schnell sich Fusion totgelaufen hat, so intensiv und spannend waren die ersten Jahre
dieser Musikform. Setzen wir die Kernperiode der Entstehung von Fusion und Jazzrock ungefähr
zwischen 1968 und 1973 an, so sehen wir in dieser kurzen Zeit eine unglaubliche Dichte an kreativen
musikalischen Äußerungen. Manche Musiker vollzogen in diesen Jahre atemberaubende
Entwicklungen zwischen akustischer und elektrischer Musik, zwischen deftigem Rockrhythmus und
feiner Jazzdynamik, zwischen eingängigen Melodien und freier Improvisation. Viele der so
entstandenen Tondokumenten sind in Ihrer Frische noch heute faszinierend, einiges war historisch
bahnbrechend, manches freilich führte in kreative Sackgassen. Die Musikindustrie hatte zwar schnell
erkannt, dass hier viel Profit zu machen sein würde, das Anlaufen der Marketingmaschinerie benötigte
damals aber noch einige Zeit, die die Musiker zu unbelasteten Experimenten nutzen konnten.
Der Puls Afrikas und die Lautstärke der Elektrizität
Was war das musikalisch-kulturelle Umfeld dieser Entwicklung? Mitte der 60er-Jahre hatte sich der
Freejazz um die Leitfigur John Coltranes bereits voll entfaltet, die Popularität der Musikrichtung „Jazz“
insgesamt war jedoch beständig im Sinken begriffen. Dem gegenüber hatten sich die ersten
Supergroups des Rock zu echten Massenphänomenen entwickelt, die die Schlagzeilen der
internationalen Presse dominierten. Die Beatles setzen mit dem Album Sgt. Peppers Lonely Hearts
Club Band neue Maßstäbe an ausgefeiltem Konzept (Integration von orchestralen Elementen) und der
Verwendung von Studiotechnik (Abmischen von Mehrspuraufnahmen). Die Elektronik bot aber auch
neue Instrumente und Instrumentaltechniken. So dominierten neben E-Gitarre und E-Bass auch
Vorläufer der modernen Keyboards (Fender Rhodes mit seinem typischen perlenden Klang) und erste
Synthesizer das Klangbild vieler Gruppen. Jimi Hendrix, der innovativsten aller Stromgitarristen, war in
der Verwendung der „Elektrizität“ stilbildend, indem er Feedback, Verzerrung, und Lautstärke
meisterhaft einsetzte. Daneben war er aber auch ein typischer Vertreter der psychedelischen Musik
und ein begnadeter Show-Mann, der mit seinem äußeren Erscheinung und legendären PerformanceEinlagen unvergesslich blieb. Als einziger schwarze Superstar des Rock konnte Hendrix auch
authentischen Blues höchster Qualität, und spannende Improvisationen hervorbringen, was ihn von
vielen Rock-E-Gitarristen seiner Zeit unterschied.
Parallel zur Entwicklung von Jimi Hendrix kreierte James Brown aus dem Soul praktisch im Alleingang
einen neuen Musikstil, den Funk. Knappe Bläserriffs und die Monotonie eines sich schier endlos
wiederholenden stampfenden Rhythmus, getragen von suggestivem Bass und treibendem
Schlagzeug, darüber die minimalistischen Texte und schrillen Vokalakzente des Meisters: James
Brown war in dieser hypnotischen Musik den afrikanischen Wurzeln sehr nahe. Die Instrumentierung
dieser Funk-Gruppen, mit einem Bläsersatz, der ab und zu auch solistische Einlagen bot, verstärkte
dies noch. Um 1970 entfaltete sich dieser Stil vollends, mit jungen Leuten wie Bootsy Collins am Bass;
Miles Davis war sehr angetan davon.
Es mag wie ein Klischee klingen, aber der „Black Power“ von Hendrix und Brown stand die
Intellektualität der weißen „progressiven“ Rockgruppen - oft aus Großbritannien - gegenüber. Sie
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verbanden auf der Basis des Rock klassische Elemente, Improvisation und Jazzelemente zu einem
anspruchsvollen Neuen, wobei oft die im Rock übliche Dominanz des Gesangs etwas zurücktrat. Die
Öffnung dieser Gruppen in Richtung Jazz war oft schon an der Beteiligung von Saxophonisten zu
erkennen. Zu nennen sind hier etwa Soft Machine, die um 1970 mit Elton Dean am Saxophon coole
und jazzige Höhepunkte erreichten, die intelligent-erdigen King Crimson, Colosseum mit dem
Saxophonisten Dick Heckstall-Smith und dem Schlagzeuger Jon Hiseman, aber ansatzweise auch
Pink Floyd. Generell wurden „Jam Sessions“ nun auch im Rock vermehrt praktiziert, was zu längeren
Instrumental-Improvisationen führte, zunächst auf der Bühne, später auch im Studio. Sogar die
Hardrock-Pioniere Deep Purple zeigten Einfallsreichtum mit halbstündigen Instrumental-Jams. Der
geniale Oberzyniker Frank Zappa wiederum bot herausragenden Jazzrock im Bigband-Format abseits
jeglicher Klischees, komplex und dennoch mit hohem Spaßfaktor.
Als die Fusionierung von Jazz und Rock bereits erste erfolgreiche Beispiele hervorgebracht hatte,
inspirierte die Strömung so manchen Rock- und Bluesmusiker zu genialen Würfen - man denke an die
wunderbar entspannte, akustische Jazz-Blues-Platte The Turning Point von John Mayall oder Carlos
Santanas epische Werke der früher 70er-Jahre, allen voran Caravanserai.
Spiritualität und das psychedelische Zeitalter der Flower-Power
Der Jazz verlor im Sommer 1967 mit der Tod Coltranes eine Leitfigur. Coltrane war nicht nur
musikalisch ein Innovator gewesen, er hatte auf der Basis glaubhaften Spiritualität, die auch
fernöstliche Quellen mit einbezog, neue Höhen von Intensität erreicht. Sowohl die Spiritualität als auf
die Intensität fand sich in Bereichen des „psychedelischen“ Rock wieder; man denke an die „indische
Phase“ der Beatles oder an das gewaltige Klangvolumen mancher Rockgruppen (die dabei allerdings
auf Elektrizität angewiesen waren). Coltrane kann diesbezüglich als Brücke zwischen Jazz und Rock
angesehen werden, auch wenn es zu keinem direkten Kontakt zwischen ihm und der Welt des Rock
kam (die Frage nach der Möglichkeit eines solchen Kontaktes, der durch Coltranes Tod verhindert
worden wäre, wollen wir hier nicht stellen).
Coltrane war auch – besonders gegen Ende seines Lebens – ein Mittler zwischen den Generationen,
indem er die Karrieren von jungen Musikern wie Archie Shepp, Pharoah Sanders, und Albert Ayler
unterstützte. Das jugendliche Musik-Publikum der 60er-Jahre verlangte auch im Jazz vermehrt nach
jungen Leuten, mit denen man sich identifizieren konnte. Dies hatte auch simple äußerliche Aspekte:
Angeregt durch die Popkultur tauschten ab etwa 1967 immer öfter auch Jazzmusiker ihre seit
Jahrzehnten übliche „Dienstkleidung“ – Anzug und Krawatte – gegen lockeres, poppiges Gewand, oft
im bunten Afro-Look; die Frisurmode folgte. Charles Lloyd, Gary Burtons Gruppe mit Larry Coryell,
und etwas später auch Miles Davis waren hier wegweisend und machten ihre Auftritte auch optisch zu
etwas Neuem, das auf diese Weise für Rockfans ansprechend wurde. Natürlich schlug sich das auch
auf die Covergestaltung der Schallplatten nieder, die poppiger wurden. Die Musikindustrie hatte diese
optischen Aspekte der Popularisierung früh erkannt und setzte sie durchaus gezielt ein, z.B. im
„Rocktempel“ Fillmore West, bei dem zur Verstärkung des Effektes bunte psychedelische Muster auf
die Bühne projiziert wurden. Charles Lloyd trat hier 1967 als erster Jazzmusiker mit seinem Quartett
mit Keith Jarrett und Jack DeJohnette auf, und Miles Davis war von dem unglaublichen Erfolg dieser
Gruppe fasziniert; drei Jahre später fanden sich Jarrett und DeJohnette in seiner Jazzrock-Formation
von 1970 wieder.
Miles Davis – der Innovator
Die Entwicklung von Miles Davis zwischen Mitte der 60er bis Mitte der 70er-Jahre ist wohl eines der
faszinierendsten Kapitel der Jazzgeschichte. Davis machte als Leitfigur des zeitgenössischen Jazz in
höchster Konzentration und Qualität eine waghalsige Wandlung durch, die den Jazz – ja, die gesamte
populäre Musik seitdem - nachhaltig prägte,. Er repräsentiert damit den Künstler schlechthin, der auf
der Suche nach persönlichem, zeitgemäßem Ausdruck keinen Stillstand zulassen kann. Mit dieser
Grundhaltung, immer am Puls der Zeit – oder einen Schritt voraus – zu sein ist konsequenterweise die
regelmäßige Abkehr von allzu ausgetretenen Pfaden verbunden, auch wenn diese Pfade einstmals
vom Künstler selbst erstmals betreten worden waren. Das damit einhergehenden Unverständnis des
Publikums und den Konflikt mit der Presse hat Davis nie gescheut und oft direkt gesucht.
1964 präsentierte Miles Davis nach einer längeren Zeit der Stagnation ein neues Quintett mit jungen
Musikern: Wayne Shorter (Tenorsaxophon), Herbie Hancock (Piano), Ron Carter (Bass) und der erst
17-jährige Tony Williams (Schlagzeug). Die Gruppe begann eine atemberaubende Entwicklung: Live
bestand das Repertoire noch bis Ende der 60-Jahre hauptsächlich aus den Standards, die Davis seit
72
den 50er-Jahre gespielt hatte, mit all den bekannten Eigenkompositionen. Allerdings blieb dabei kein
Stein auf dem anderen: Das Quintett war der Jazztradition verpflichtet, aber die Grenzen der
vorgegebenen Strukturen wurden in immer neuen Interpretation ständig ausgeweitet. Bekannte
Standards wurden Ausgangspunkt für immer neue musikalische Abenteuer - aus Balladen wurden
rasante Drahtseilakte ohne Netz. Die Gruppe war eine traumwandlerisch aufeinander reagierende
Einheit von virtuosen Individualisten.
In starkem Gegensatz zum Konzertrepertoire stand die Studioarbeit des Miles Davis Quintetts; auf
den Platteneinspielungen der Gruppe zwischen 1965 und 1968 sucht man Standards vergeblich. Auf
der Basis von neuen Kompositionen des Leaders und seiner Mitspieler vollzieht sich auf
allerhöchstem Niveau eine langsame, stetige Entwicklung: Davis und seine Leute können
phantastische Flexibilität und spontane Reaktion aufeinander zeigen, dabei wird aber die Virtuosität
des Einzelnen immer öfter zurückgenommen und geht im Ganzen auf. Man hört nun oft repetitive
Themen, die, von den Bläsern unisono vorgetragen, zu einem tranceartigen Höreffekt führen können.
Parallel dazu entfacht Tony Williams oft ein wahres Feuerwerk an polyrhythmischem Schlagzeugdauersolo, wodurch eine starke Spannung geschaffen wird. Der vorläufige Gipfel dieser Entwicklung
ist das halbstündige Circle In The Round. Diese Tendenz zur Länge, zur Hypnose, zur Wiederholung:
Das sind Elemente die man aus der afrikanischen Musik kennt, aber auch aus dem Soul und dem
gerade entstehenden Funk des James Brown. Miles Davis’ Hinwendung zum – ja fast kann man
sagen, seine Schaffung des - Jazzrock war also kein aufgesetzter strategischer Schachzug, sondern
hat sich organisch ergeben. Nach Jahren des behutsamen Annäherns und Forschens überstürzt sich
dann die Entwicklung: Im Jahre 1968 ersetzen Chick Corea am E-Piano und Dave Holland am Bass
ihre Kollegen; mit E-Gitarristen hatte Davis schon vereinzelt gearbeitet.
TEIL 2
Die 1968 von Miles Davis aufgenommenen Alben Miles In The Sky und Filles de Kilimanjaro zeigen,
teilweise bereits mit der neuen Besetzung, eine Musik, die man „Protofusion“ nennen könnte:
Längere, oft entspannte Nummern, teils auf soulig-federnder Rhythmus-Unterlage. Tony Williams
nahm sich in diesem neuen Kontext immer weiter zurück und agierte am Endpunkt dieser
Entwicklung, dem Album In a Silent Way, nur noch extrem minimalistisch, aber äußerst effizient als
„High-Hat Uhrwerk“. Ab dem Sommer 1969 saß dann Jack DeJohnette am Schlagzeug und ihm war
vom Meister wieder kraftvolles Powerplay zugedacht.
Zu dieser Zeit hörte und schätzte Davis Musiker wie James Brown, Sly and the Family Stone, und
lernte Jimi Hendrix persönlich kennen. Sein Outfit war jetzt das eines Hippies. Die großartige Musik
seines „Lost Quintet“ mit Shorter, Corea, Holland und DeJohnette, das live mit einer Mischung
altbekannter Standards und Material aus den kommenden Alben In a Silent Way und Bitches Brew im
Sommer 1969 sein Publikum verblüffte - ja schockierte, ist leider kaum auf CDs erhältlich. Aber auch
im Studio kannte die Kreativität des Miles Davis keine Grenzen und die Musik wurde mit vergrößerten
Gruppen zu Band gebracht: In a Silent Way im Februar, Bitches Brew im August. Mit dabei war die
Creme de la Creme der anbrechenden Fusion-Ära. Die vereinten Kräfte seiner Quintette reichten ihm
nicht; mit mehreren Keyboardern (Hancock, Corea, Joe Zawinul, Larry Young), dem Gitarristen John
McLaughlin, dem Bassklarinettisten Bennie Maupin und einer Gruppe von Schlagzeugern und
Percussionisten, schuf er einen völlig neuen orchestralen Klangkörper. Mit der Verbindung von soulorientiertem - d.h. im Gegensatz vom späteren Jazzrock noch entspanntem - Rockrhythmus, virtuosen
Solisten, und der Freiheit des John Coltrane gelang der Durchbruch zu neuen musikalischen Welten.
Neben dem spontanen kreativen Schöpfungsakt der Musiker hatte allerdings ein weiterer Faktor
entscheidenden Einfluss auf das musikalische Endergebnis: Studiotechnik. Miles Davis war einer der
ersten im Jazz, der – zusammen mit seinem langjährigen Produzenten Teo Macero – die neuen
Misch- und Schneidemöglichkeiten der Mehrspurtechnik voll ausnutzte. Das Tonband lief stundenlang
mit, während Davis im Studio das neue Material mit den Musikern interaktiv erarbeitete; danach wurde
in mühsamer Kleinarbeit und Reduktion ein vermarktbares Produkt daraus gefertigt. Diese Methode
wurde besonders intensiv bei In a Silent Way und Bitches Brew angewandt, aber auch bei
Liveaufnahmen, wo das Ergebnis jedoch manchmal fragwürdig ausfiel.
Und noch ein innovativer Ansatz in der Musik von Miles Davis in dieser Zeit: Ab Anfang 1970 setzte er
auch exotische Klänge ein, um in langen, meditativen Nummern Assoziationen an exotische
Weltgegenden zu wecken: Indische Sitar und die brasilianische Percussion des Airto Moreira. Auch
73
mit diesen World-Music Experimenten war er wieder ein Vorreiter, wenn auch diese Aufnahmen lange
Jahre in den Archiven blieben, bevor die Öffentlichkeit sie zu Gehör bekommen sollte. Man wollte
wohl das Publikum mit dieser unglaublichen Fülle an neuartiger Musik, die Miles Davis zwischen 1969
und 1970 hervorbrachte, nicht überfordern. In dieser Zeit erreichen auch seine Live-Shows
Höhepunkte an Freiheit und Intensität, wie man sie in der Musik von Miles Davis vorher und nachher
nicht kannte und die dem Jazzrock insgesamt ansonsten eher fremd war. Die Übergänge zwischen
treibendem Funkrhythmus und scheinbar chaotischer Kakophonie erzeugten eine starke Reibung und
– nicht nur musikalische - Spannung.
1970 gab es wieder Änderungen in der Besetzung der Band: Nach dem Ausstieg von Dave Holland
übernahm der blutjunge Michael Henderson den E-Bass und sollte bis 1975 fixer Bestandteil der
Gruppe bleiben. Vom Soul her kommend spielte er ideal die Rolle des Rhythmus-Ankers. Kürzere
Engagements fanden Keith Jarrett, der in dieser Zeit Keyboard und Orgel (oft gleichzeitig) spielte und
Gary Bartz am Altsaxophon. Beide blieben von Mitte 1970 bis Ende 1971 und brachten die Musik mit
hymnischer Intensität zum Kochen; besonders Bartz brachte ein starkes Gospel-Feeling ein. Aus
dieser Zeit gibt es keine Studioaufnahmen, jedoch ist eine Reihe großartiger Live-Aufnahmen
erhalten. Für den Winter 2000 plant Sony die Herausgabe einer 4CD-Box, die Aufnahmen aus dem
„Cellar Door“ vom Dezember 1970 enthalten wird. Teile dieser Aufnahmen, mit John McLaughlin als
Gast, waren bisher auf dem Album Live Evil zu hören (durch Editieren teil gekürzt).
Miles Davis – der Katalysator ...
Schon sehr früh begannen Mitglieder der Miles Davis Band die „Botschaft“ der Fusion zu verbreiten
und in eigenen Projekten weiterzuentwickeln. Unter den ersten derartigen Versuchen sind Joe
Hendersons Album Power to the People (aufgenommen im Mai 1969) mit Hancock, Carter und
DeJohnette, und Mountain in the Clouds des Bassisten Miroslav Vitous (November 1969) mit
McLaughlin, und wieder Joe Henderson, Hancock, und DeJohnette. Vitous, der später zur ersten
Weather Report gehören sollte, entwickelte erstaunliche „Funkiness“ am akustischen Bass. Beide
Alben erscheinen wie gelungene Klone der Musik von Miles Davis im Umbruch zwischen feiner
Sensibilität und schweren Rockbeat.
Praktisch die gesamte Fusionszene der frühen 70er-Jahre war von Miles Davis oder seinen
ehemaligen Mitspielern geprägt: Chick Corea mit seiner Gruppe Return to Forever, Herbie Hancocks
Sextett, die Gruppe Weather Report, gegründet von Joe Zawinul und Wayne Shorter, John
McLaughlins Mahavishnu Orchestra, und in geringerem Maße Tony Williams Lifetime und die Ntu
Troop von Gary Bartz. Nur Keith Jarrett wandte sich nach seiner elektrischen Episode bei Miles Davis
ganz vom Jazzrock ab und sollte nie wieder ein elektronisches Tasteninstrument spielen.
Chick Corea gelang mit seiner Gruppe Return to Forever für die kurze Zeit von zwei Alben die
Schaffung seines persönlichen Einstiegs in das Genre. Mit dem jungen Stanley Clarke am – damals
noch akustischen – Bass, Joe Farrell an Sax und Flöte, Airto am Schlagzeug, und dessen Frau Flora
Purims Gesang bot er wohl die heiterste, leichteste Variante der frühen Fusionmusik. Und die Gruppe
half durch die zentrale Bedeutung der dargebrachten Songs mit, den Gesang in die junge Musikform
einzuführen, während andere daran kläglich scheiterten (man denke an Tony Williams diesbezügliche
Versuche).
Eine andere Gruppe dieser Zeit, in der Gesang eine wesentliche Bedeutung hatte, war die Ntu Troop
von Gary Bartz, die Ende 1970 mit dem Vokalisten Andy Bey zwei großartige - inzwischen beinahe in
Vergessenheit geratene - Alben unter dem Übertitel Harlem Bush Music einspielte. Der Funk im
Dickicht der Großstadt, Texte kosmologischer oder politischer Natur, freudige Gospelintensität: Keine
typische Fusion, auch nicht unbedingt „elektrisch“ (weil hauptsächlich akustische Instrumente
Verwendung fanden), aber jedenfalls elektrisierend.
Herbie Hancock formte 1970 ein ungewöhnliches Sextett mit Bennie Maupin (Reeds), Julian Priester
(Posaune), Eddie Henderson (Trompete), Buster Williams (Bass) und Billy Hart (Schlagzeug). Mit
dieser Gruppe verfeinerte Hancock die soulorientierten Klangformen seiner vorausgegangenen Alben
(auf Blue Note) und führte gleichzeitig einer größere Freiheit der Form und vermehrt Percussion- und
Elektronik-Sounds ein. Der Klang wurde manchmal mystisch-kosmisch, mit blubbernden SynthesizerSounds (bald nahm er sich einen Synthi-Experten, Patrick Gleason, mit ins Boot), manchmal erdigfunkig, oftmals erstaunlicherweise auch beides gleichzeitig. Dem Zeitgeist entsprechend wurde der
starke Afrika-Bezug auch durch außermusikalische Aspekte wie die Namensgebung (alle
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Bandmitglieder erhielten Suaheli-Pseudonyme) und die Covergestaltung deutlich gemacht. Mit dieser
Gruppe nahm er drei großartige Alben auf: Crossings, Mwandishi, und Sextant. Auf letzterem war die
Spitze mit ausgedehnten wild-funkigen Nummern erreicht, in denen auch ausgiebig auf exotische
Instrumente zurückgegriffen wurde. Das extrem erfolgreiche Album Headhunters sollte 1974 folgen
und mit geänderter Gruppe und reduzierter Komplexität bei noch stärkerer Tanzbarkeit für einen
kommerziellen Meilenstein sondergleich sorgen.
John McLaughlin machte schon früh vor, was der Postmodernismus der späten 70er-Jahre bedeuten
würde. Sensible Protofusion auf seinem noch-britischen Album Extrapolation, akustische Solo-Gitarre
und Indien-Jazz auf My Goals Beyond, brachiale Power und Speed (aber auch schon wieder
abwechselnd mit akustischer Meditation) mit seinem Mahavishnu Orchestra, dazwischen etwas
psychedelischer Jazzrock mit Tony Williams’ Lifetime – und das alles in drei Jahren zwischen 1969
und 1972! Diese Flexibilität sollte ab den späten 70er-Jahren typisch für den „neuen Musikertyp“
werden: Hancock, Corea, McLaughlin und andere, sie alle wechselten später derart problemlos
zwischen akustischer und „elektrischer“ Musik, wischen Post-Bop und Funk, zwischen elitärer
Sensibilität und einfacher Derbheit, zwischen geschichtlichem Rückblick und populärer Zeitgeist, dass
sie sich mit dem Vorwurf der Beliebigkeit und des Eklektizismus auseinandersetzen mussten.
Tony Williams verlor früher als andere den kreativen Faden. Nach einigen spannenden Alben seiner
Gruppe Lifetime mit McLaughlin und dem Organisten Larry Young, der – neben der Studioelektronik den speziellen psychedelischen Sound dieser Gruppe beitrug, war es schon 1971 aus mit weiter
Höhepunkten. Seine Versuche als Sänger hatten seine ansonsten gelungenen Fusionalben stark
beeinträchtigt.
Eine ähnliche Entwicklung wie Hancocks Mwandishi-Band ging Weather Report: Auch sie begannen
mit komplex-mystischen Klangformen auf leicht-schwebendem Funkrhythmus. Der große
kommerzielle Durchbruch kam allerdings erst später, als die Themen einfacher geworden waren, und
vor allem, als Jaco Pastorious, der geniale E-Bassist dazu gestoßen war. Pastorious ist die große
Ausnahme unter den Fusion-Stars: Vielleicht als einziger konnte er nach 1975 durch seine
revolutionäre Instrumentaltechnik noch Wesentliches in das Genre der Fusion einbringen.
... und der Rest
Außerhalb ihrer eigenen Gruppen waren viele der Musiker, die aus den Miles-Davis-Bands
hervorgegangen waren auch in anderen Zusammenhängen tätig. Eine bemerkenswerte größere Band
konnte für kurze Zeit (1970-73) und drei Alben der heute kaum noch bekannte Schlagzeuger Norman
Connors im Studio um sich versammeln: In wechselnder Besetzung sorgten Hancock, Bartz, Carlos
Garnett, Eddie Henderson, Stanley Clarke, Cecil McBee, Buster Williams, Airto, Billy Hart, die
Sängerin DeeDee Bridgewater und andere mit vereinten Kräfte für eine teils gelungene, teils etwas
schwülstige Fusionierung diverser Fusion-Strömungen.
Woody Shaw hatte auf Blackstone Legacy (Dezember 1970) in einem siebenköpfigen Ensemble mit
Maupin, Bartz, Carter und Lennie White genug Miles-Davis-Musiker um sich versammelt um einen
vollen Klangkörper zu schaffen, der streckenweise an Bitches Brew erinnerte. Im Vergleich zum
Vorbild ist allerdings die Gelassenheit des Rhythmus und des Trompeterspiels weniger ausgeprägt.
Der junge Saxophonist Eric Kloss nahm im Jänner 1970 mit der Rhythmus-Gruppe von Davis’ „Lost
Quintet“ (Corea, Holland, DeJohnette) und Pat Martino an der Gitarre das Album Consciousness! auf
und sollte noch bis 1973 gelungene Platten im Stile von Miles Davis’ Protofusion um 1969 schaffen –
danach wurde es still um ihn.
Natürlich gab es auch Kreise, die ohne direkten Kontakt mit dem Miles-Davis-Clan eigene
Ausprägungen des Stils formten. Zu den ganz frühen Pionieren zählte der Vibraphonist Gary Burton,
der in seiner Gruppe mit dem Gitarristen Larry Coryell bereits 1967/68 eine gelungene Verbindung
von Jazz-, Rock- und Folkelementen geschaffen hatte. Coryell war dann mit seinen eigenen Bands
eine Zeitlang neben McLaughlin der zweite führende Jazzrock-Gitarrist, der einiges an innovativer
Instrumentaltechnik, aber auch an musikalischer Kreativität und Vielfalt einbrachte. Die Gruppe
Catalyst mit dem Kraftsaxophonisten Odean Pope machte leichten, dennoch anspruchsvollen
Jazzrock, das Roy Haynes Hip Ensemble verschmolz die intensive Rhythmusarbeit des Leaders mit
den explosiven Äußerungen der Bläser George Adams (Sax) und Hannibal Peterson (Trompete) mit
zeitgemäßem E-Piano und E-Bass zu einem schweißtreibenden, soul-getränktem Ganzen.
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Die neuen, lauten Klangkörper der Jazzrockgruppen waren offenbar auch ein guter Boden für
Flötisten, von denen zwei kurz mit interessanten Grooves in Erscheinung traten: Der Veteran Herbie
Mann und der Newcomer Jeremy Steig. Während Mann mit Mitspielern wie Coryell, Vitous, Sonny
Sharrock und Roy Ayers im typischen Memphis-Sound umrührte, spielte Steig eine partyfähige, ins
Tanzbein gehende ruppig-fetzige Mischung von Soul und Jazz auf der Basis eines fetten
Rockrhythmus. Mit dabei waren Keyboarder Jan Hammer (sonst im Mahavishnu Orchestra zu hören)
und die Bassisten Eddie Gomez und Gene Perla.
Perla und Hammer wollten später sogar Elvin Jones mit elektrischem Rockgroove versorgen, ein
gutes Beispiel für die Sogwirkung des Stils, der man sich offenbar schwer entziehen konnte. So zeigte
Jazzrock schon bald verschiedene Auswüchse, die schließlich zum frühen Ende der kreativen Phase
führen sollten: Einerseits mit großen Orchestern und Streichern versüßte Überproduktionen, typisch
für viele Platten des Labels CTI aus dieser Zeit. Andererseits eine rhythmische Austrocknung hin zum
simplen Rockbeat, die sogar vor dem genialen Polyrhythmiker Tony Williams nicht halt machte.
Zudem gewannen Gitarristen als Solisten die Oberhand und ihre Soli litten allzu oft an allzu vielen
Noten; diesbezüglich unschlagbar war wohl Al di Meola. Erst sehr viel später, mit John Scofield, sollte
wieder viel von der coolen Entspanntheit der frühen, soulorientierten Fusion ins Spiel der Gitarristen
zurückkehren.
Mit dem Ende des „klassischen“ Zeitalters des Rock, so drastisch markiert durch den Tod einiger
seiner Superstars um 1970, blieb bald auch der kreative Zufluss aus dieser Richtung aus. Die
folgende Zeit waren weniger eine der Revolution als eine der Rückbesinnung; man wollte das
Erreichte genießen.
30 Jahre danach
Um das Thema abzuschließen und den Bogen bis in die Gegenwart zu spannen müssen wir noch
einmal zu Miles Davis zurückkommen. Nach dem erfolgten Durchbruch 1970 war auch bei ihm eine
gewisse Unsicherheit zu bemerken, zumindest meinten das die Kritiker feststellen zu müssen. 1972
brachte er mit On The Corner sein wohl kontroversestes Werk heraus: Ein fast zur Gänze im selben
Rhythmus durchgehendes wild-groovendes Gebrodel von E-Gitarre, Sitar, Keyboards, viel Percussion
und darüber erstmals die Soli von Dave Liebmans Saxophon. Der Meister selbst ist nur noch an der
E-Trompete zu hören, sein einstmals so gerühmter Klang durch Wah-Wah-Effekte unkenntlich
gemacht. Der Ensembleklang und der Rhythmusteppich sind die entscheidenden Kriterien dieser
Musik geworden, die Virtuosität des Einzelnen tritt dahinter zurück. Nach diesem Werk folgen an
Plattenveröffentlichungen bis zu Davis’ Pause 1975 noch „Reste“ aus Studioproduktionen, die jedoch
weitere Schätzte bergen: Unter anderem Get Up With It mit dem Duke Ellington gewidmeten
halbstündigem Soundgemälde He Loves Him Madly und dem Reggae-orientierten Billy Preston. Davis
versuchte jetzt, Soulrhythmus mit europäisch beeinflussten Klangkonzepten (Karlheinz Stockhausen),
aber auch indischer Musik zu vereinen; nach der Schaffung der Fusion arbeitete er am nächsten
Schritt. Diese Musik blieb damals weitgehend von der Öffentlichkeit unverstanden, gilt aber heute als
bahnbrechender Vorläufer (oder zumindest als wesentliche Inspiration) für moderne Strömungen wie
Drum’n’Bass, Triphop und Ambient. Wie sich die heutige diesbezügliche Szene damit
auseinandersetzt zeigt eindrucksvoll Panthalassa, das Remix-Projekt von Bill Laswell.
Die Über-Fusion
In der Periode der frühen Fusionmusik hat sich natürlich auch abseits dieser Strömung im Jazz
einiges entwickelte, was diese Zeit umso faszinierender macht: Einerseits verstärkt und verbreitet sich
die Basis der weltmusikalischen Tendenzen, indem andere Musikkulturen stärker einbezogen werden
(durchaus auch im Jazzrock spürbar), andererseits wird die Grundlage für den akustischen,
romantischen, „kammermusikalischen“ Jazz der 70er-Jahre gelegt; als Prototyp sind hier – neben der
erwähnten Bandbreite McLaughlins - die ersten Solo-Äußerungen Keith Jarretts zu nennen.
Gleichzeitig formierte sich die zweite Generation des Free Jazz um das Art Ensemble Of Chicago und
die BAG. Viele Musiker nehmen sich immer öfter die Freiheit heraus, diese Bandbreite kreativ
auszuschöpfen. Wenn man von Fusion spricht, so könnte man also mehr als Jazzrock meinen: Das
Zusammenführen all dieser Strömungen, die Anfang der 70er-Jahre deutlich wurden.
Bei so viel Zusammenführung scheint Ausgrenzung unvermeidlich. Die frühen 70er-Jahre bedeuteten
für viele etablierten Musiker der älteren Generation einen Karriereknick oder zumindest eine
ausgedehnte kreative bzw. produktive Pause. So mancher Musiker, der sich im neuen Stil nicht
einfinden konnte oder wollte wurde aus dem Rampenlicht gedrängt. So musste zum Beispiel Joe
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Hendersons Genialität noch lange auf die verdiente Würdigung warten. CBS, der Gigant der
Musikindustrie, der fast den gesamten Miles-Davis-Clan produzierte, kündigte die Verträge mit denen,
die nicht in die neue Linie passten: Keith Jarrett, Charles Mingus und Ornette Coleman (der sich
darauf zurückzog und bald eine persönliche Antwort auf den Jazzrock gefunden hatte). Viele der alten
Bop-Veteranen werden erst gegen Ende des Jahrzehnts aus der Versenkung geholt und in
triumphalen Comebacks wieder als die wahren Könner des „echten“ Jazz aufgenommen: So
geschehen Dexter Gordon, Art Pepper und anderen.
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Musik für Jazzfreunde
Eine Serie von Anregungen, von Robert Stubenrauch
Bisher erschienen:
•
#1 Reggae und Dub zwischen Pink Floyd und Voodoo (nov 03)
Von Dub Side of the Moon zu African Head Charge
•
#2 Bohren und der Club of Gore (märz 04)
Zwischen Zeitlupentrash und Gruseljazz oder Die Gänsehaut der Meditation oder Musik der
dunklen Stille
Nun, lieber Jazzfreund, was werden wir denn in Zukunft hören, wenn denn etwas dran ist an dem
Gerücht vom "Ende des Jazz". Natürlich werden wir uns weiterhin unsere Monk-Coltrane-MingusOrnette-Miles Boxen und vielleicht sogar die Brötzmann-Taylor-Braxton-Art-Ensemble Editionen
reinziehen und es wird immer noch schön sein. Aber sonst? War das dann schon das erfüllende
(Er)Leben eines Musikfreundes?
Wenn der Jazz wirklich tot sein sollte (wer stellt eigentlich den Totenschein aus?) dann müssen wir
uns doch rechtzeitig nach Ersatz umsehen. Aber auch, wenn er noch ein Weilchen weiter lebt, kann
ein bisschen Ergänzung nicht schaden. Denn es gibt sie: Gute, hörenswerte Musik, die Intellekt und
Emotion gleichermaßen anspricht, Musik, die provokant, entspannend, instrumental, komplex,
improvisiert sein kann. Kurz, Musik, die dem hohen Qualitätsanspruch eines Jazzfreundes genügt,
und die trotzdem kein Jazz ist!
Qualität im Jazz wird von den "Kennern" oft gleichgesetzt mit einer Art von trotziger Schwierigkeit.
Jazz muss komplex sein, damit er als hochwertig wahrgenommen werden kann (und damit der elitäre
Anspruch gewahrt werden kann, durch den sich der Jazzhörer oft auch definiert). Musik sei nur dann
wertvoll, wenn sie "innovativ" ist, und sie sei nur innovativ, wenn beständig Unerwartetes in
Sekundenbruchteilen auf den Hörer einprasselt. Aber Qualitätsansprüche können immer nur relativ
zur Funktion einer Sache gesehen werden, und die funktionslose "Musik an sich" muss erst gespielt
werden. Einfach gesagt: gute Musik-zum-in-der-Badewanne-Entspannen braucht andere
Eigenschaften als gute Musik-zum-Autofahren, gute Musik-zum-Essen, gute-Musik-für-die-Ekstase
oder - ja, auch dass soll es geben - gute Musik-zum-konzentrierten-Zuhören. Moderne Technik macht
es uns heute möglich in Lebenslagen Musik zu hören, wo es früher undenkbar war. Dadurch hat sich
das Funktionsspektrum von Musik enorm erweitert. Darum muss sich auch der Jazzfreund heute nicht
mehr nur mit guter Musik-zum-Bierdrinken-und-Rauchen und guter Musik zum Sich-von-den-anderenzu-unterscheiden begnügen.
Wenn man sich durch den zeitgenössischen Genre-Dschungel von World, Dance, Electronica, Dub,
Drum'n'Bass, Ambient, Techno, Trip-Hop und Dutzende andere Erfindungen der Marketing-Experten
durchschlägt, kommt manch erstaunlicher Schatz zu Tage. Wie im Jazz, so ist es aber auch in diesen
Bereichen dort am spannendsten, wo Genres aufeinander treffen oder auch dort, wo schlichtweg
keine Kategorien mehr greifen. Entsprechend mühsam kann es sein, derartige Musik in den Läden
aufzustöbern. Besonders unwahrscheinlich ist das, wenn man gewohnheitsmäßig auf die JazzAbteilung zusteuert (wo man das findet, wovon die Marketing-Strategen glauben, dass sie am meisten
absetzen) und dort ängstlich-gelangweilt verharrt ohne je neues Territorium zu erforschen.
Für diese Serie von Anregungen werde ich mein persönliches CD-Regal durchstöbern und dem Leser
Hörerlebnisse nahe legen, die über Jazz hinausgehen. Ausgefallene ebenso wie bekannte, historische
oder auch brandaktuelle Musik, die fast nie eigentlich Jazz ist, aber die - so hoffe ich - kompatibel ist
mit dem anspruchsvollen Geschmack eines Jazzhörers. Diejenigen, die nach ätzender Kritik
Ausschau halten, oder nach lehrbuchmäßig strukturierten "gültigen Einführungen" in Genres suchen,
werden enttäuscht sein. Alle, die sich auf Hörtrips in unbekannte Richtung einlassen wollen, seien
herzlich willkommen! Und nicht vergessen: Über Geschmack lässt sich nicht streiten!
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Musik für Jazzfreunde erscheint in unregelmäßigen Abständen, damit die Dosis nicht zu hoch werden
kann. Die folgenden weiteren Anregungen sind im Moment denkbar:
1. Karl Bergers Verwandlung mit Pete Namlook, Conjoint, Arrangements für Laswell …
2. Bill Laswell's Groove durch dunkle Soundwelten
3. Asian Underground
Nusrat Fateh Ali Khan, Tabla Beat Science, DJ Cheb I Sabbah
4. Die Trance Nordafrikas: Joujouka, Hassan Hakmoun, Desert Blues
5. Musik für's Ohrenkino: The Cinematic Orchestra
6. Die Wiener Wissenschaft des Schmähs: Tosca, Vienna Scientists, Kruder & Dorfmeister,
Peace Orchestra
7. Trip-Hoppige Electronic: Orb, Lemon Jelly, Air
8. World Percussion: Japan, Africa, Arabien, Gamelan
9. Geschmacksverirrungen mit Niveau, oder: Köstlicher Kitsch bis zum Kotzen
Easy Listening einst und jetzt: Henry Mancini, Esquivel, De-Phazz
10. Stromgitarre und hochfliegende Improvisation
Live-Rock Jim Hendrix Deep Purple, King Crimson
11. Die Miles-Untoten: Baker, Byrd, Truffaz, Molvaer, Kondo, Haynes …
12. Heilige und heilende Musik aus aller Welt: Mbira, Zen, Gamelan
13. Funk beiderseits des Atlantik: James Brown und Fela Kuti
14. Santanas spirituelle Jazz-Phase
und und und ...
Reggae und Dub zwischen Pink Floyd und Voodoo
#1 (nov 03)
von Robert Stubenrauch
Im Sommer 2003 erschienen zwei bemerkenswerte
Produktionen, die ein weites stilistisches Spektrum innerhalb
des Genres Reggae und Dub abdecken.
Die Easy Star All-Stars, ein speziell zusammengestelltes
Musiker-Kollektiv des Reggae-Labels Easystar Records
coverten Pink Floyds epochales Album "The Dark Side of the
Moon", dessen Erscheinen sich heuer zum 30ten mal jährte.
Bei Dub Side of the Moon handelt es sich nicht etwa um
einen der branchenüblichen Remixes mit aufgesetzten
Zusätzen und überbordender Elektronik, sondern die Musik
wurde zur Gänze - Titel für Titel - komplett neu eingespielt
und mit einem authentischen Reggae Feeling umhüllt. So gibt
es reichlich den im Dub üblichen Hall, und da im Reggae
Gitarren-Soli eher unüblich sind, hat man sie stilgerecht durch
lässige Beiträge auf Saxofon, Posaune und Melodika ersetzt.
Die Texte sind Wort für Wort die gleichen, die Abläufe, die
Übergänge, das irre Lachen, die Uhr, die ekstatische Frauenstimme, alles ist noch dort, wo man es
seit 30 Jahren von Pink Floyd kennt und liebt. Es ist wie bei einem Wiedersehen mit einem Freund,
den man sehr viele Jahre nicht gesehen hat: nach wenigen Augenblicken ist man sich wieder vertraut.
Es ist also Pink Floyd, kein Zweifel. Und trotzdem: es ist Reggae! Beides gleichzeitig, gleichwertig! Es
gelingt sogar ein kleines Lehrstück in Sachen stilistischer Bandbreite des Genres, denn
verschiedenste Reggae-Rhythmen werden eingesetzt um den Stimmungen der Nummern gerecht zu
werden. Die Kombination von authentischem Reggae bei gleichzeitiger "Originaltreue" ist schlichtweg
umwerfend - man muss es gehört haben. Das Spannende dabei: die Charakteristik der Musik von
Pink Floyd bleibt bei der Transformation in die Reggae Vibrations unversehrt erhalten.
Dieser Aha-Effekt kann aber glücklicherweise nicht die große Musikalität dieser aufwändigen
Produktion (drei Jahre wurde daran gearbeitet!) verdrängen. Nach dem ersten Staunen bleibt auch
beim wiederholten Hören eine CD, die unglaublich Spaß macht. Das ganze Album fließt wie aus
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einem Guss, und die vier Bonus Tracks (Instrumental-Versionen und Alternates) verlängern das
Vergnügen dort, wo Pink Floyd geendet haben.
African Head Charge kommen aus einer anderen der afrikanisch-mystischen - Ecke, und sie schaffen
hoch-originelle Klangwelten. Aus Anlass des 20jährigen Bestehens der Formation rund um den
Percussionisten Bonjo Iyabinghi Noah erschien nun die
Anthologie Shrunken Head. Die mit knappen 80
Minuten prall gefüllte CD vereint Musik aus den besten
Alben der Gruppe und bringt auch bisher
unveröffentlichtes Material (als Vorschau auf ein neues
Album, das Anfang 2004 erscheinen wird) bzw.
Neuabmischungen.
Die Musik von AHC lässt sich schwer einordnen. An
der Schnittfläche zwischen Dub und Elektronica enthält
sie Zutaten wie afrikanische Trommelrhythmen,
Pygmäengesang, Einsteins Stimme, Drum'n'Bass
Anklänge und mehr. Der Groove kommt nicht aus der
Rhythmusmaschine, sondern von den Fellen der
Trommeln. Kreativ eingesetzte Studiotechnik lässt
immer wieder aufhorchen und verbindet Elemente alter Musiktradition mit dem aktuellen Zeitgeist.
Trotz der allgegenwärtigen Stimmen sind die Nummern kaum Songs im üblichen Sinne der Popmusik,
sondern wirken eher wie rituelle Stammesgesänge. Oft ist die heraufbeschworene Stimmung mystisch
beunruhigend, beklemmend fremdartig, und Assoziationen von Voodoo und psychedelischem Rausch
drängen sich auf. Nicht zufällig war eine Schlüsselszene des Psychoschockers "Wild at Heart" mit
Music von AHC unterlegt, einem Track der sich auch auf der vorliegenden CD findet.
Von der Kritik gelobt, haben AHC dennoch immer noch den Status eines Geheimtipps, wohl, weil ihre
Musik sich so schwer kategorisieren lässt. Gerade das aber ist eine Herausforderung an den Hörer.
Die vorliegende CD bietet eine großartige Gelegenheit, einen repräsentativen Querschnitt dieser
hochkreativen Gruppe zu hören, ohne die teils schwankende Qualität der Originalwerke mitmachen zu
müssen.
Easy Star All-Stars "Dub Side of the Moon", EFA CD 32112 (Ixthuluh)
African Head Charge "Shrunken Head", ON-U SOUND ONUCD1007 (Ixthuluh)
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Bohren & der Club of Gore
#2 (März 04)
von Robert Stubenrauch
Zwischen Zeitlupentrash und Gruseljazz oder Die Gänsehaut der Meditation oder Musik der
dunklen Stille oder ...
So schaurig schön wie ihre Musik ist, so irritierend
sinnlos scheint der Bandname: Bohren & der Club of
Gore. Eine Gruppe aus Mühlheim, Deutschland, kehrt
vor 10 Jahren dem Trash den Rücken und geht einen
abenteuerlich einsamen Weg, eine Gratwanderung in
Richtung minimalistischer Öde, entspanntem
Salonjazz und gänsehautverdächtigem Grusel.
Jawohl, alles gleichzeitig! Auf der Reise lauern
vielfältige Gefahren: Abgründe von tödlicher
Langeweile, geschmackloser Mittelmäßigkeit und
abgedroschenen Klischees tun sich auf. Aber die
Reise wird zum Triumph. Diese Musik ist nicht nur
Klanggenuss, sie ist ein Psychotripp! Allerdings nichts
für labile Gemüter.
Bohren beginnt als Quartett mit Morten Gass
(Keyboards), Thorsten Benning (Schlagzeug), Robin Rodenberg (Bass) und Reiner Henseleit
(Gitarre). Schon die erste CD aus dem Jahre 1994, genannt Gore Motel, und ohne viel Aufhebens an
nur einem Tag eingespielt, zeigt klar das Konzept: Entspannte Instrumentalsounds vor dem
Hintergrund stark zurück genommener Rhythmen sollen Spannung erzeugen. Beunruhigende
Geisterklänge von Gitarre und Synthi lösen sich atemhaft im Nichts auf, während ein Bass (noch
elektrisch) endlos in unglaublicher Tiefe grummelt und von Zeit zu Zeit der Besen des Schlagzeugers
metallisch zischelt. Allerdings finden sich auf dem Erstlingswerk noch belebte Reste aus der Welt des
metallischen Trashrock bis hin zu Ansätzen von hektischem Chaos.
Schon ein Jahr danach folgt ein wahrer Geniestreich: die
Doppel-CD Midnight Radio, ein atemberaubendes
Klangwerk von epischen Ausmaßen. Die Musik ist ein
Vakuum, das sich gierig mit den Stimmungen aus den
entlegensten Unterbewusstseinsecken des Hörers vollsaugt.
Einsamkeit, dunkle Nachstille. Geschehenlassen. Eine
Meditationsübung: Anspannen, Durchatmen, Loslassen.
Vielleicht Einschlafen. 140 Minuten Musik, die Tracks sind
zwischen 10 und 22 Minuten lang und unterscheiden sich
kaum im Aufbau. Der Beat (kann man das noch so nennen?)
ist noch langsamer geworden, der Bass noch tiefer, und
immer öfter akustisch, die Gitarre verliert an Dominanz.
Fender-Piano und E-Gitarre mit Echo versetzen uns in die
Zeit unserer Jugend zurück, in die grindigen 70-er Jahre.
Höchster Effekt mit billigsten Mitteln. Ein früher Höhepunkt
von Bohren und vielleicht die spannendste der ersten vier
Platten (der unnötige Bonus-Schlusstrack wird zum Malus,
weil er als versuchte Dance-Nummer komplett deplaciert ist;
Schwamm drüber).
Die nächste CD: Sunset Mission. Das Label wurde inzwischen gewechselt, die Fotos auf Covers und
im Booklet zeigen immer noch menschenlos leere, nächtliche Stadtszenen. Und die Musik? Klanglich
perfekter als vorher, glatter. Die E-Gitarre wird ersetzt durch das Tenorsaxophon von Christoph
Clöser, wodurch die Musik schlagartig stärker in einen Jazzkontext gerückt wird. Verstärkter SynthiHintergrund sorgt für dickere, etwas sülzige Atmosphäre. Dies ist die nach herkömmlichen Begriffen
"schönste" Platte von Bohren, die bekömmlichste. Kaum Grund zur Beunruhigung, auch wenn
manchmal schon dieser gewisse kalte Hauch zu vernehmen ist. Die Längen der Tracks haben wieder
erträgliche Ausmaße angenommen, der Beat lädt öfters fast schon zum Fingerschnippen ein.
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Edelkitschkrimi-Soundtrack. Womit endlich das Stichwort
gefallen ist: Bohren machen Soundtracks zu Kopfkino. Die
Musik ist die perfekte Untermalung zur Trostlosigkeit und der
psychopathischen Beengtheit von leerer Weite, wie man sie
aus Ry Cooders Paris Texas kennt. Auch an Miles
Davis/Marcus Millers Siesta und natürlich an Twin Peaks
könnte man denken.
Apropos Assoziationen: Diesbezüglich gönnt man dem Hörer
kaum Freiraum. Die Bilder und Tracktitel drängen dem Hörer
penetrant eine Schiene von stark eingeschränkten
Interpretationsmöglichkeiten auf. Zu dem, was man bei der
Musik assoziieren soll, gehören ausschließlich: Nacht,
Depression, Großstadt, Kühle, Ahnungen von Gewalt,
Okkultisches, Einsamkeit, Angst. Tod. Dies wird bis zum
Überdruss suggeriert durch die Fotos - vom kalten Blick
Bruce Lees über unzählige nächtliche Großstadtszenen der
Verlassenheit, bis hin zum schwarzen Totenschädel auf schwarzem Hintergrund (autsch!) - und durch
Musiktitel wie "Nightwolf", "Grave Wisdom" oder "Skeleton Remains" (lobenswerte Ausnahme: die
unbetitelten Tracks von Midnight Radio). Muss das sein?
Weder die Musik, noch der Hörer braucht diese aufdringliche
Art der Sinngebung, die Sprache der Musik ist deutlich
genug. Aber vielleicht denkt man ja, man müsse die Musik
am Markt verankern und ihr eine neue Schublade auftun
(wie wär's mit "Gothic minimal Jazz"?).
In diesem Sinne wird dann auch die Gruft weit geöffnet: Auf
Black Earth, dem bislang letzten Werk, schlägt einem der
Todesmuff mit jedem Besenschlag, jedem MelotronGesäusel und jedem endlosen Bassbrumm penetrant ans
Ohr. Akustisches Klavier. Nichts mehr zum Mitschnippen,
kein Spaß. Kein Trost, außer einem Anklang von Fahrstuhl
zum Schafott. Todernst. Der Hörer wird wieder gnadenlos
auf die Leere in seinem Inneren, und auf die schiere Qual
des Zeitverrinnens gestoßen. Die Musik sagt ihm: Auch
deine Zeit wird kommen. Vielleicht ist es dir ein Trost, dass
sie so langsam verrinnt wie in dieser Musik. Aber irgendwann läuft sie ab, deine Zeit!
Die CDs
Die Labels
Gore Motel Epistrophy LC 04603 (1994)
Midnight Radio Epistrophy EPI 018 (1995, 2CD)
Sunset Mission wonder won 01CD (2000)
Black Earth wonder won 08CD (2002)
epistrophy
wonder
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