„Schlimmer als eine Niederlage“

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„Schlimmer als eine Niederlage“
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T h e m e n | „Schlimmer als eine Niederlage“
Gerald Karpa
„Schlimmer als eine Niederlage“
Vor 4 0 J a h r e n w u r d e d e m 1 .   FC  Union Berlin
die E u r opa po k a l -Te i l na hm e ­v e r w eh r t
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Logo des 1. FC Union seit 1966
Vor vierzig Jahren beginnt für den
1. FC Union ein gutes Fußballjahr. Der zu
dieser Zeit erfolgreichste Berliner Vertreter, der FC Vorwärts Berlin, Meister von
1965/66 und bisher vierfacher Titelträger,
schwächelt. Bei Vorwärts Berlin, der sportlich führenden Kraft in der DDR-Hauptstadt, müssen die Verantwortlichen den
weiteren Aufschwung des 1. FC Union aus
dem Oberschöneweider Industriegebiet
registrieren. Weniger sportlich erfolgreich,
so rücken sie doch in der Gunst der Fußballanhänger Ost-Berlins mehr und mehr
nach vorn. Die Armeesportler vom Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark in Prenzlauer
Berg geben in der Stadt fußballerisch den
Ton an, Dynamo aus Hohenschönhausen spielt in der Bedeutungslosigkeit der
zweiten Liga. Union, ein Name, der schon
vor dem Krieg einen großen Klang hatte,
ist auf dem Vormarsch, der alte Schlachtruf „Eisern Union“ ist republikweit immer
lauter zu vernehmen.
Vo n den Oberschöneweider
S c h l o s s er­j u ng s z um 1.  FC Union
Am Rande der Berliner Wuhlheide sind
seit jeher die „Schlosserjungs“ am Ball.
Der SC Union 06 Oberschöneweide holte
1920, 1923, 1940 und 1948 die Berliner
Meisterschaft. Bis zum 20. Januar 1966
bringen die Köpenicker Fußballer eine
Namenswechsel-Flut hinter sich. An jenem
Tag wird schließlich der 1. FC Union Berlin
gegründet. Ein Politikum, denn 1950 ist ein
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­Journalis
großer Teil der Spieler von Union Oberschöneweide nach West-Berlin geflohen.
Die Wahl des Namens für den neuen Arbeitersportklub – auf diese Ausrichtung legen
die Verantwortlichen großen Wert – ist
demokratisch legitimiert. In der Presse und
im Rundfunk hatten die Funktionäre die
Berliner Fußballinteressierten aufgerufen,
über beides zu entscheiden. Mit überwältigender Mehrheit votierten sie für den
traditionsreichen Namen. Der 1. FC Union
spielt bei seiner Gründung noch in der
zweiten Liga, steigt mit der Saison 1965/66
ins Oberhaus auf und kommt in seiner
ersten Oberligaspielzeit auf den sechsten
Tabellenplatz.
Auch im zweiten Oberligajahr, der
Saison 1967/68 wird im Stadion „An der
Alten Försterei“ zunächst passabler Fußball
gespielt. Zur Winterpause allerdings liegt
Union auf dem vorletzten Rang. Kampf um
den Klassenerhalt heißt die Devise für die
Männer unter Trainer Werner Schwenzfeier. Mühsam kommen sie voran und beinahe unscheinbar arbeiten sie sich auch im
FDGB-Pokalwettbewerb Runde um Runde
weiter, bis der 1. FC Union das Finale des
17. Pokalwettbewerbs erreicht hat.
Der größte Tr i u m p h
Das Finale des Gewerkschafts-Pokalwettbewerbs ist für den 9. Juni 1968 im halleschen Kurt-Wabbel-Stadion angesetzt.
Gegner ist der FC Carl Zeiss Jena, der
Meister. „Einige Tage im Trainingslager
in Bad Saarow mussten uns zur Vorbereitung genügen“, erzählt Unions AuswahlVerteidiger Wolfgang Wruck fast 40 Jahre
später. Die Jenaer hingegen mit ihren
zahlreichen europapokalerfahrenen und
auswahlerprobten Spielern sind haushoher Favorit. Namen wie die der Brüder
Roland und Peter Ducke haben einen
großartigen Klang, ebenso der des Torhüters Wolfgang Blochwitz.
„Es war ein Gänsehautgefühl“,
be­s chreibt Union-Verteidiger Hartmut
Felsch die Atmosphäre im Rückblick. Nur
wenige Sekunden nach Spielbeginn holt
Union-Schlussmann Rainer Ignaczak das
Leder aus seinem Tor – Werner Krauß hat
für die Zeiss-Elf das 1 : 0 geschossen. Die
Berliner zeigen sich nur kurz beeindruckt
und nehmen ihr Spiel auf. Immer öfter
dringt Union-Stürmer Günter „Jimmy“
Hoge, neben Wolfgang Wruck der zweite
Nationalspieler in den Reihen der Außenseiter, in den Strafraum der Jenaer ein.
Nach 29 Spielminuten jubeln die Berliner
Anhänger zum ersten Mal. Schiedsrichter Rudi Glöckner pfeift Handelfmeter für
Union. Meinhard Uentz legt sich den Ball
auf den Strafstoßpunkt, Sekunden später
übertönt der Torschrei der Unioner alles.
Mit dem 1 : 1-Zwischenstand geht es in die
Kabinen zur Pause. Die Thüringer Mannschaft drängt zu Beginn der zweiten Halbzeit energischer, doch die Eisernen können
dagegenhalten und werden bestimmender,
je nervöser ihre Gegner nun aufspielen.
Union-Stürmer Ralf Quest nimmt in der
63. Minute ein mustergültiges Zuspiel
seines Mannschaftskapitäns Ulrich Prüfke
auf, umspielt Jenas Tormann und vollendet so zum 2 : 1-Endstand. Die Anhänger
laufen zu den Spielern auf den Rasen und
umarmen sie immer wieder. Es dauert eine
Weile, bis die Mannschaft sich ums Protokoll kümmern und den Pokal entgegennehmen kann. Stolz recken der Kapitän und
seine Mitspieler die schwere Bronzestatue
in die Höhe, während die Jenaer bedrückt
in die Kurve zu ihren Anhängern gehen
und für die Unterstützung danken.
Wolfgang Wruck erinnert sich noch
heute immer wieder gerne an seinen einzigen Titelgewinn mit Union: „Wir wollten
allen beweisen, dass wir an diesem Tag
besser sind als Jena. Die hatten in der
Meisterschaft ziemlich arroganten Fußball gespielt und uns haben sie schon nach
Horch und Guck 1/2008 | Heft 59
A u fbru ch n a ch Europa
Die Fußballwelt Ost-Berlins ist in rotweiße Farben getaucht. Dem 10. Juli 1968
wird mit Spannung entgegen gesehen. Im
Genfer Hotel Intercontinental werden die
Ansetzungen für die ersten Runden der
Europapokalwettbewerbe ausgelost. Erster
Gegner für Union soll der jugoslawische FK
Bor sein.
Nach dem wohlverdienten Urlaub heißt
es für die Union-Spieler, die Jerseys, Hosen
und Trainingsanzüge wieder hervorzuholen. Am 16. Juli gibt es einen ersten Höhepunkt im Programm der Wuhlheider. Der
brasilianische Spitzenklub FC Portuguesa
São Paulo tritt während
seiner Europatournee in
Berlin auf. Nicht Vorwärts
darf diesen Höhepunkt
bestreiten – der 1. FC
Union bekommt die Zuteilung durch die Verbandsfunktionäre und tritt unter
Flutlicht gegen die Süd­
amerikaner an. Eine – trotz
des Pokalsieges – ungewöhnliche Entscheidung,
bedeuten doch gerade
für Union internationale
Freundschaftsspiele in
der Regel Begegnungen
mit polnischen und tschechoslowakischen Vereinen, für die Zuschauer wie
auch für die Spieler sind
das meist wenig attraktive
Paarungen. Im Stadion des
Friedrich-Ludwig-JahnSportparkes, der Heimstätte des Armeeklubs,
Union-Torwart Rainer Ignaczak mit
Mannschaftskamerad Wolfgang Wruck
sehen mehr als 25 000 Zuschauer die
Unio­ner durch Harald Zedler sogar in Führung gehen, bevor die Ballzauberer aus São
Paulo am Ende als sicherer 4 : 1-Sieger das
Stadion verlassen können.
Publikums l ie b li n g J im m y H o ge
Eines der folgenden Testspiele wird Nationalspieler Jimmy Hoge zum Verhängnis. Bei einem Spiel gegen den polnischen
Zweitligisten Lech Poznań bricht sich der
Publikumsliebling das linke Wadenbein.
Damit ist klar, dass er beim Meisterschaftsauftakt am 17. August gegen den FC Hansa
Rostock nicht auf den Rasen auflaufen
kann. So erlebt der Stürmer die 3 : 4-Heimniederlage mit Gipsbein von der Tribünenbank aus. Dabei sollte 1968 für Jimmy
Hoge der zweite Karriere-Frühling werden.
Ende 1961 war der damalige VorwärtsSpieler wegen „Disziplinlosigkeiten“ aus
dem Armeeklub ausgeschlossen und zum
Stadtligisten Motor Köpenick „delegiert“
worden.
Die Maßregelung bedeutete auch die
Verbannung aus der Nationalmannschaft.
Erst im Oktober 1967, inzwischen beim
1. FC Union Berlin angekommen, wurde
er wieder eingesetzt und glänzte als Flügelstürmer und Vorlagengeber beim
1 : 0‑Erfolg der DDR gegen Ungarn. Seine
Rückkehr ins Auswahltrikot verhilft ihm
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Quelle: Union-Archiv/Gerald Karpa
einer Minute ein Gegentor verpasst. Das
war ja ein Staraufgebot. Wir haben uns
zusammengerissen.“
Aus Halle fahren die Spieler direkt nach
Berlin zur spontan organisierten Feier ins
Hotel Berolina und begießen bis in den
Morgen die Sensation. Am folgenden Vormittag empfängt Oberbürgermeister Herbert Fechner die Truppe, alle bekommen
eine Medaille aus Meißener Porzellan mit
dem Relief des Roten Rathauses überreicht
und tragen sich in das Goldene Buch der
Stadt ein. Eine einmalige Ehre für einen
Fußballklub, sie wird später dem MielkeVerein BFC Dynamo auch als zehnfachem
Meister nie zuteil.
im Januar 1968 zu einer Reise nach Chile.
Beim Torneo Octogonal bringen ihn große
Auftritte auf die Titelseiten der dortigen
Fußballzeitungen. Weltstar Pelé wird nach
dem Auftaktspiel – Jimmy Hoge hatte
dabei den vierten von fünf Treffern für die
DDR erzielt – von der DDR-Fachzeitung
Fußballwoche zitiert: „Der Mann mit der
Nummer 7 auf dem Rücken (Hoge, d. Red.)
muss auf seinem verlängerten Rücken
einen Motor eingebaut haben. Er war 90
Minuten in Bewegung und gönnte sich
keine Verschnaufpause!“
Allerdings steht Jimmy Hoge auch
immer unter besonderer Beobachtung
durch die eigenen Leute. So hat beispielsweise Union-Klubsekretär Paul Fettback
Sorgen, Hoge könnte vielleicht einem möglichen Angebot eines westlichen Vereins
nicht widerstehen. „Unser Problem war
immer Jimmy, an dem waren sie national wie auch international immer dran“,
erzählt er von den Problemen eines Verantwortlichen zu dieser Zeit. Der Mangel
an sozialistischer Linientreue des Stürmers
ist ebenso bekannt. Rückblickend bestätigt
Jimmy Hoge heute, mehrfach Kontakte zu
Westvereinen gehabt zu haben. Schon in
seiner Zeit bei Vorwärts hätten die Glasgow
Rangers ihr Interesse an ihm nachhaltig
bekundet. Auch in Chile kam man auf ihn
zu. „Anderlecht hat mich angesprochen“,
sagt er heute, und es wurmt ihn wohl noch
immer ein wenig, die Chance auf eine
Karri­ere bei dem belgischen Spitzenverein
ausgelassen zu haben. „Ich wurde dort in
Chile gefeiert. Ich war doof, ich hätte dort
abhauen müssen. Ein Mannschaftskamerad sagte noch zu mir, dass es meine letzte
Chance sei, abzuhauen ...“
So aber kommt er in der DDR in
Bedrängnis. Im ersten 69er-Heft der vierteljährlich erscheinenden Klubzeitschrift
Union-Informationen werden die Anhänger
von der Nachricht überrascht, Jimmy Hoge
sei für die Zeit vom 17. Oktober 1968 bis
zum 31. Mai 1969 „für jeglichen Spiel- und
Sportverkehr gesperrt“. Mit einiger Verzögerung gibt der Verein so den Beschluss des
Fußballverbandes, der auf einen Vorschlag
seiner Rechtskommission sowie der Disziplinarkommission des 1. FC Union zurückgeht, bekannt. Dieses Urteil bedeutet den
Ausschluss aus dem Oberligakollektiv des
Klubs und geht einher mit dem Ausschluss
aus dem Kader der Nationalmannschaft.
Begründet wird es mit den Folgen seiner
„charakterlichen Schwächen, die beson-
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T h e m e n | „Schlimmer als eine Niederlage“
ders in seiner Überheblichkeit liegen“.
„Wiederholt stand er unter Alkoholeinfluss und beleidigte seine Mannschaftskameraden gröblichst.“ So spielt der
„Sportfreund Günter Hoge“ fortan zur
Bewährung in der zweiten Mannschaft
des Klubs in der Stadtliga.
P r a g, Bor un d Mo s kau
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Bereits im Sommer überschatten die
politischen Entwicklungen in der ČSSR
die sportlichen Pläne des 1. FC Union
Berlin. Drei Tage vor dem 1 : 0-Auswärtssieg der Mannschaft bei Sachsenring Zwickau rücken sowjetische Panzer
in Prag ein. Mit politischen Protesten
meldet sich der italienische Meister als
Union-Fans beim FDGB-Pokal-Endspiel 1968 in Halle
einer der ersten Klubs zu Wort. Der AC
Mailand wolle, so meldet die Berliner
Mit 7 : 2 Stimmen bei einer Enthaltung
Morgenpost am 25. August, den Ausschluss
bestätigt das Gremium die Entscheidung
der „Vertreter der UdSSR, Bulgariens,
vom 30. August. Aus der Begründung zitiert
Polens, Ungarns und der Zone“ beantragen.
am folgenden Tag der Berliner TagesspieDas Blatt zitiert den Mailänder Vereinsprägel: „Der Beschluss des Dringlichkeitsaussidenten Fanco Carraro mit den Worten:
schusses wurde ohne jede Diskriminierung
„Unter den gegenwärtigen politischen Vergefasst. Er sollte mögliche Schwierigkeiten,
hältnissen lehnen wir die Reise zum Hindie außerhalb der Kontrolle der UEFA
spiel der ersten Runde bei Levski Sofia ab.“
standen, für die erste Runde ausschalÄhnlich der Tenor auch aus Richtung des
ten“, und schreibt weiter, dass „spezielle
FC Zürich und des schottischen Vertreters
Bestimmungen“ notwendig seien, „um den
Celtic Glasgow. Norwegens Fußballverregulären Ablauf eines Wettbewerbes zu
band sagt ein für November vorgesehenes
gewährleisten.“ Erst von der zweiten Runde
Länderspiel gegen die DDR ab. Der euroan soll es wieder das normale Auslosungspäische Fußballverband UEFA sieht sich
prozedere geben. Am 13. September fällt
nun zum Handeln gezwungen. Ein Dringim Präsidium des DDR-Fußballverbandes
lichkeitskomitee tagt am 30. August in
die endgültige Entscheidung.
Zürich und beschließt nicht nur eine NeuBeim 1. FC Union Berlin sind bereits
auslosung der Ansetzungen für den PokalEintrittskarten gedruckt, der Verein weist
sieger- und den Meistercup – es nimmt sie
noch am 14. September, vier Tage vor der
für eine Reihe von Mannschaften, nicht für
vorgesehenen Begegnung gegen Moskau,
alle, auch gleich vor. In getrennten Ostim Programmheft zum Heimspiel gegen
und Westgruppen sollen die jeweils ersten
den FC Karl-Marx-Stadt seine FördermitRunden der Wettbewerbe nun ausgetragen
glieder darauf hin, dass ihre Mitgliedswerden. Statt gegen FK Bor aus Jugoslaund die Ehrenkarten für den Europapokal
wien soll Union nun im ersten Spiel gegen
nicht gültig seien. Zugleich wird aber im
Dynamo Moskau antreten.
selben Heft schon kein EC-Spielpartner
Doch die osteuropäischen Fußballvermehr namentlich erwähnt. Trainer Werner
bände protestieren gegen die NeuausloSchwenzfeier schreibt in seinem aktuellen
sung, die sei eine Verletzung der Statuten
Gruß an die Zuschauer sehr zurückhaltend
der UEFA. Neben der Sowjetunion, Polen,
davon, dass „unter Umständen“ auch noch
Ungarn und Bulgarien interveniert auch
eine „anstrengende Reise“ anstehe. OffenFrankreich. Rumänien, Jugoslawien und
bar wird zu diesem Zeitpunkt eine weidie ČSSR dagegen werden offiziell nicht
tere Neuansetzung nicht ausgeschlossen.
aktiv. Die protestierenden Verbände hoffen
Den aktuellen Stand der Entwicklungen
auf eine kurzfristig für den 9. September
kennt Werner Schwenzfeier beim Redakeinberufene Sitzung des UEFA-Exekutivtionsschluss des Heftchens noch nicht, am
komitees in Zürich. Hier aber scheitert der
Spieltag selbst aber kennt ihn jeder BerliWiderstand der kleinen Ostblock-Fraktion.
Quelle: Union-Archiv/Gerald Karpa (2)
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ner. Union wird nicht mit den großen europäischen Klubs um den Cup spielen.
„Das haben wir vormittags beim Training erfahren“, erinnert sich Stürmer
Jürgen Stoppok an den Tag im September 1968, „und haben es völlig bedeppert
aufgenommen, wir konnten es nicht verstehen und sind sauer gewesen.“ Günter
Mielis hatte den Spielern die Nachricht
überbracht. „Ich musste das erläutern
und hab ihnen klar gemacht, dass diese
Neuauslosung von den Verbänden der sozialistischen Länder nicht anerkannt würde
und wir deshalb nicht teilnehmen können.
Damit war das erledigt.“ Nicht ganz, denn
Diskussionen und Ärger sind damit programmiert. „Das mussten sie gar nicht
privat sagen, das konnten sie auch offiziell.
Die waren alle enttäuscht, das ist doch ganz
klar. Ich konnte nichts anderes tun, als die
gegebene Argumentation verwenden. Die
Begründung war gar nicht so schwierig,
denn die UEFA hatte mit der Neuauslosung
gegen ihre eigene Satzung verstoßen. Die
Tragik ist, dass wir Unioner zwischen die
Mühlsteine der Geschichte geraten waren.
Ein Spielball der Politik.“
In der nächsten Ausgabe der UnionInformationen, die wenige Tage später
planmäßig erscheint, lesen die UnionAnhänger unter dem Datum des 14. September eine „Erklärung“ des „Oberligakollektivs“, in der sich die Spieler „voll und
ganz hinter den Beschluß des Präsidiums
des Deutschen Fußballverbandes der DDR
mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen“ stellen. „Das hat man dann so in
der Öffentlichkeit vermittelt. Wer konnte
Horch und Guck 1/2008 | Heft 59
denn damals etwas sagen?“, meint Wolfgang Wruck rückblickend zu diesem Text,
der die Meinung aller Union-Spieler wiedergeben sollte.
Die Enttäuschung der Aktiven, Trainer und Klubfunktionäre ist groß, doch
öffentlich müssen sie eine sozialistisch gute
Miene zum traurigen Spiel zeigen und sich
offiziell zu dieser Absage bekennen. „Das
Gegenteil war richtig“, sagt Paul Fettback
heute, „aber was wolltest du machen?“
J i m m y Hog es Fa ll
Zu den Ernüchterten zählt auch Jimmy
Hoge. „Da brach eine Welt zusammen“,
beschreibt er heute seine Gefühle jener
Tage, „das war schlimmer als eine Niederlage.“ Seine Bestrafung durch den
Fußballverband wird auch mit deftigeren
politischen Äußerungen in Zusammenhang
gebracht. Er ist zur Unperson geworden.
Ein handschriftlicher Brief des Union-Anhängers und fördernden Mitgliedes Emil
Lahmer vom 5. Dezember 1968 an Klubsekretär Paul Fettback, beginnt mit dem Satz:
„Das in der Fuwo Nr. 49 veröffentlichte
Foto der 1. Mannschaft des 1. FC Union, auf
dem Berlins populärster Fußballer, Günter
Hoge, herausretuschiert wurde, empört
mich und alle mir bekannten Anhänger des
Clubs aufs tiefste.“
Paul Fettback hat keine Erinnerungen
an das Schreiben. Aber es zeigt ein Aufbegehren, wenngleich ein leises. Und es spiegelt die Sympathie für den Fußballer wider,
der sich tatsächlich aus der zweiten Mannschaft und der dritten Liga wieder nach
oben spielt.
Abstürze
Union unterliegt zunächst im November
im aktuellen FDGB-Pokal-Achtelfinale im
heimischen Stadion „An der Alten Försterei“ mit 0 : 1 jenem FC Carl Zeiss, der fünf
Monate zuvor so sensationell bezwungen
worden war. Zum Jahresende 1968 stehen
die Eisernen auf dem drittletzten Tabellenplatz, später, im Frühsommer 1969 müssen
sie als Vorletzter den Weg in die Zweitklassigkeit antreten.
Der Abstieg als amtierender Pokalsieger wird einmalig in der DDR-Fußballgeschichte bleiben. Von Jimmy Hoge, dem
Star des Jahres 1968, ist öffentlich wenig
zu lesen, vergessen ist er nicht. Die Autoren
der „Union-Informationen“ haben offen-
bar Anlass, ihn im Frühjahr 1969 in einem
Interview mit dem Cheftrainer zum Thema
zu machen, wenn auch nur kurz und knapp.
„Wie steht es gegenwärtig um den Sportfreund Hoge? Besonders erfindungsreiche
Zeitgenossen haben da ja so manche Mär
gesponnen.“ Er trainiere und gehe fleißig
und pünktlich seiner Arbeit nach, antwortet Werner Schwenzfeier, „und hat sich
die Achtung seiner Kollegen erworben, die
den Standpunkt vertreten, die Erziehungsmaßnahmen hätten ihren Zweck erfüllt.“
Tatsächlich ist Jimmy Hoge in der Zweitligasaison 1969/70 wieder im Aufgebot und
spielt regelmäßig. Vorläufig. Die Berliner
müssen in der letzten Saisonbegegnung
bei Lok Stendal unbedingt gewinnen, ein
Remis reicht zum Aufstieg nicht. Mit einem
3 : 0-Sieg unter einem neuen Trainer lösen
die Rot-Weißen die schwere Aufgabe beim
direkten Aufstiegskonkurrenten souverän.
Union hat wieder die Klasse gewechselt,
Jimmy Hoge kann noch einmal den Jubel
der Union-Fans – mehr als 1 000 sind in
die Altmark mitgereist – genießen.
Der 1. FC Union tritt vom Spätsommer
1970 wieder in der Oberliga an, aber der
Ex-Nationalspieler ist nicht mehr dabei.
Erneut trifft ihn eine Sperre, nun dauerhafter. Für den inzwischen fast 30jährigen
bedeutet die Bestrafung das Ende seiner
leistungssportlichen Laufbahn. Ehemalige
Mitspieler sprechen von einem ausschweifenden Trinkgelage, das ihm zum Verhängnis wurde. Er selbst, so sagt er, kenne
keine Erklärung dafür. „Ich hatte meinen
ehemaligen Trainer Werner Schwenzfeier
zufällig in Ahrenshoop im Urlaub nach
dem Aufstiegsspiel in Stendal getroffen.
Im Fernsehen wurde das
Spiel Deutschland/Italien
gezeigt, das haben wir uns
gemeinsam angesehen.
Sie warfen mir vor, ich
hätte die deutsche Nationalhymne gesungen.
Dabei kenne ich den Text
bis heute nicht. Später
wurden dann Klausch,
Schwenzfeier und ich
vorgeladen. Schwenne
wurde gesperrt, Klausch
bekam eine Verwarnung,
ich wurde dann für sechs
Jahre gesperrt.“
Für die Betriebssportgemeinschaft Ingenieurhochbau stürmt er fortan,
kommt über Motor Friedrichshain zum
Bezirksligisten Motor Hennigsdorf, muss
hier wegen der Sperre zeitweise in der
zweiten Mannschaft spielen, bis er über die
Station Motor Ost als Trainer bei Fortuna
Biesdorf arbeiten kann.
N e u e r Tr i u m p h u n d s p äte Pr e m i e r e
Im Berliner Olympiastadion sitzt Jimmy
Hoge 31 Jahre später mit Tränen in den
Augen an der Seite von Meinhard Uentz,
Ralf Quest, Ulrich Prüfke, Jürgen Stoppok und vieler anderer Mannschaftskameraden von 1968 beim DFB-Pokalfinale. Der
1. FC Union Berlin spielt 2001 gegen den
FC Schalke 04. Allein der Einzug in dieses
Endspiel gleicht der Sensation von 1968.
Auch dieses Mal reicht die Finalteilnahme,
um im Europapokal dabei zu sein, denn
Schalke startet in der Champions League.
Fast hätten die neuen Pokalhelden die Sensation geschafft. Die 0 : 2-Niederlage der
Eisernen ist ein höchst achtbares Resultat
für den Drittligisten gegen den Deutschen
Vizemeister.
Auch die verspätete EuropapokalPremiere gelingt den Wuhlheidern. Beim
finnischen FC Haka Valkeakoski erreichen
die Profis ein 1 : 1, gewinnen das Heimspiel
klar mit 3 : 0 Toren, müssen sich dann
aber in der zweiten Runde Litex Lovetsch
aus Bulgarien geschlagen geben. Die DDR
und der DFV sind längst Geschichte – der
1. FC Union Berlin aber schreibt in diesem
Jahr Geschichte und sieht nach dem Aufstieg in die Zweite Bundesliga einem guten
Fußballjahr entgegen.
GK
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Stolz mit dem Pokal: Wolfgang Wruck, Ulrich Prüfke und Ralf Quest.
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